Belles of London - Die Wahrheit deiner Worte - Mimi Matthews - E-Book

Belles of London - Die Wahrheit deiner Worte E-Book

Mimi Matthews

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Beschreibung

Ein Lord mit einem ungeheuren Geheimnis. Eine Lady, die an das Gute in ihm glaubt.

Die junge Erbin Julia Wychwood leidet unter einer Sozialphobie, die jedes gesellschaftliche Ereignis für sie zur Tortur macht. Ausgerechnet der düstere Kriegsveteran Jasper Blunt scheint ihre Ängste zu verstehen - aber jeder weiß, dass er nur eine reiche Frau sucht, die sich um seine Kinder kümmert. Als ihre Eltern sie mit einem alternden Lord verheiraten wollen, bietet Julia Jasper dennoch an, ihn zu ehelichen - wenn sie so viel lesen und reiten darf, wie sie will. Jasper stellt ebenfalls eine Regel auf: Sein Turmzimmer ist tabu für sie. Aber je mehr Zeit sie miteinander verbringen, desto größer wird Julias Verlangen, sein Geheimnis zu ergründen und den wahren Jasper kennenzulernen ...

"Eine betörende Liebesgeschichte voller Spannung und Geheimnisse - absolut empfehlenswert!" LIBRARY JOURNAL

Band 2 der BELLES-OF-LONDON-Reihe

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

Zitat

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

Epilog

Anmerkung der Autorin

Danksagungen

Die Autorin

Die Romane von Mimi Matthews bei LYX

Impressum

Mimi Matthews

Belles of London

Die Wahrheit deiner Worte

Roman

Ins Deutsche übertragen von Stephanie Pannen

Zu diesem Buch

Captain Jasper Blunt galt einst als Kriegsheld, die Londoner Gesellschaft interessiert sich jedoch nur noch für den Klatsch, der über ihn kursiert. Jeder weiß, dass er eine Frau braucht, die sich um seinen unehelichen Nachwuchs kümmert. Er ist das Gegenteil des romantischen Verehrers, den die schüchterne Julia Wychwood sich wünscht, und so fühlt sich die junge Erbin zunächst völlig überwältigt von der Präsenz des düsteren Lords. Julia ist zwar eine unheilbare Romantikerin, leidet aber unter einer Sozialphobie, die jedes gesellschaftliche Ereignis für sie zur Tortur macht. Allein im Sattel ihres Pferdes fühlt sie sich stark und frei. Umso erstaunter ist sie, dass sich der grimmige Jasper als unerwartet feinfühlig erweist. Als ihre Eltern sie mit einem Lord verheiraten wollen, den sie verabscheut, fasst Julia einen waghalsigen Entschluss. Sie bietet Jasper an, ihn zu heiraten – unter einer Bedingung: Er bekommt ihre stattliche Mitgift, und sie darf dafür so viel lesen und reiten, wie es ihr beliebt. Jasper willigt ein, stellt jedoch ebenfalls eine Regel auf: Das Turmzimmer seines Anwesens in Yorkshire ist tabu für sie. Doch je mehr Zeit Julia mit ihrem Ehemann verbringt, desto größer wird ihr Verlangen, sein Geheimnis zu ergründen und den wahren Jasper kennenzulernen …

Für meinen Vater Eugene.

Gütig, unerschütterlich, ehrenhaft.

Ein wahrer Held.

Die Aufregung beim Lesen eines Romans wirkt sich so stark auf das Nervensystem aus, dass die einzige Möglichkeit, sich vorübergehend Erleichterung zu verschaffen, darin besteht, sich ins nächste Buch zu stürzen, sobald das erste beendet ist.

– Bekenntnisse und Erfahrungen eines Romanlesers, 1855

1. KAPITEL

London, England

Juni 1862

Julia Wychwood war allein in der Rotten Row, und genau so gefiel es ihr.

Nun ja, nicht ganz allein.

Da war zum einen ihr Reitknecht, Luke Sechs. Und es gab einige wenige bescheiden gekleidete Männer und Frauen, die am Geländer entlanggingen. Doch sonst …

Ja. Allein.

So war es oft um diese frühe Tageszeit – in den ersten Momenten nach Sonnenaufgang, wenn die Luft noch dunstig und kühl war und die aufgehende Sonne hell schien, um den Nebel zu vertreiben. Es gab einige Damen und Herren, die es vorzogen, zu dieser frühen Stunde zu reiten, aber nicht viele. Sicherlich nicht so viele wie am Nachmittag. Dann war die ganze feine Gesellschaft in Scharen unterwegs.

Genau deshalb zog Julia es vor, morgens zu reiten. Da gab es weniger Blicke und Geflüster. Man fühlte sich weniger bewertet.

Sie trieb Cossack zum Galopp an, indem sie ihm das Bein in die Flanke presste. Das war die beste Gangart des großen ebenholzschwarzen Wallachs – ein gleichmäßiger, ruhiger Gang, der sich anfühlte, als säße sie in einem Schaukelstuhl. Sie entspannte sich. Beim Galoppieren verlangte Cossack nichts weiter von ihr, als dass sie einen leichten Kontakt zu den Tandemzügeln hielt. Den Rest erledigte er selbst, was ihr reichlich Zeit zum Träumen ließ.

Oder um zu grübeln.

Sie war nicht nur allein in der Rotten Row. Sie war allein in London.

Ihre drei besten Freundinnen waren nicht in der Stadt, und zwei von ihnen würden nicht vor Sonntag zurückkehren. Damit blieben ihr vier Tage, die sie allein durchstehen musste. Vier unerträgliche Tage, und an jedem davon ein ebenso unerträgliches gesellschaftliches Ereignis.

Julia erwog, sich einfach ins Bett zu legen. Das hatte sie schon des Öfteren getan, um sich vor der Teilnahme an einem Ball oder einem Abendessen zu drücken. Aber nie länger als zwei Tage am Stück. Denn dann würden ihre Eltern darauf bestehen, Dr. Cordingley zu holen – einen abscheulichen Mann, der stets mit einer Lanzette und einer Aderlassschale in der Hand kam.

Der bloße Gedanke daran jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken.

Nein. Eine Krankheit vorzutäuschen würde diesmal nicht funktionieren. Vielleicht für einen Tag, aber nicht für alle vier.

Irgendwie musste sie das durchstehen.

Cossack warf unruhig den Kopf herum, als er in der Ferne etwas erblickte.

Julias behandschuhte Finger verkrampften sich reflexartig um die Zügel. Sie spähte die Row entlang zu dem Reiter, der auf sie zukam. »Ruhig«, murmelte sie Cossack zu. »Es ist nur ein anderes Pferd.«

Ein riesiges Pferd. Größer und schwärzer als Cossack selbst.

Aber es war nicht das Pferd, das Julia in ihrem Damensattel erstarren ließ. Es war der Gentleman, der auf ihm saß: ein streng dreinblickender, vom Kampf gezeichneter ehemaliger Soldat.

Captain Blunt, der Held der Krim.

Als er sich näherte, war ihr Mund plötzlich ganz trocken. Sie war fast versucht, die Flucht zu ergreifen. Aber es gab kein Entrinnen vor ihm. Sie brachte Cossack erst in den Trab und dann in den Schritt.

Sie hatte den Captain schon einmal getroffen. Es war auf Lady Arundells Frühlingsball gewesen. Viscount Ridgeway, ein gemeinsamer Bekannter von ihnen, hatte ihn Julia als einen würdigen Tanzpartner vorgestellt. Unter anderen Umständen wäre die Begegnung vielleicht ganz alltäglich gewesen – ein paar höfliche Worte und eine Runde auf der polierten Tanzfläche.

Stattdessen hatte Julia Captain Blunt wie eine völlige Idiotin angestarrt. Sie hatte nicht mehr atmen können, und das Blut hatte ihr in den Ohren gerauscht. Aus Angst, in Ohnmacht zu fallen, war sie aus dem Ballsaal geflüchtet, während Ridgeway noch dabei gewesen war, sie miteinander bekannt zu machen. Sie sah noch genau vor sich, wie Captain Blunts wie aus Granit gemeißelt wirkende Gesichtszüge zu einer Maske des Unmuts erstarrt waren.

Es war eine der demütigendsten Erfahrungen in Julias Leben gewesen.

Und das wollte etwas heißen.

Für eine Dame, die in Gesellschaft zu Panikattacken neigte, waren Peinlichkeiten an der Tagesordnung. Im fortgeschrittenen Alter von zweiundzwanzig Jahren hatte sie sich schon fast an sie gewöhnt. Doch der Vorfall auf Lady Arundells Ball hatte selbst für sie einen neuen Tiefpunkt dargestellt.

Zweifellos nahm der Captain an, ihr Verhalten hätte etwas mit seinem Aussehen zu tun gehabt.

Blunt war von kräftiger Gestalt. Groß, stark und ungemein breitschultrig. Er war schon rein körperlich ein einschüchternder Gentleman, aber die Narbe in seinem Gesicht verstärkte diesen Eindruck noch. Der tiefe, grausige Schnitt teilte seine rechte Augenbraue und verlief bis hinunter zu seinem Mund, wo er sich in seine Oberlippe eingekerbt hatte. Es rief den Eindruck eines permanenten höhnischen Lächelns hervor.

Eine ziemliche Ironie, dass er als Held gepriesen wurde. Vom Aussehen her schien er jedenfalls nichts Heldenhaftes an sich zu haben. Vielmehr wirkte er in jeglicher Hinsicht wie ein Schurke.

»Miss Wychwood.« Er nahm seinen Kastorhut ab und neigte den Kopf zu einer Verbeugung. Sein Haar war glänzend und rabenschwarz. Es war bis zum Kragen kurz geschnitten und wurde durch ebenso kurze Koteletten ergänzt, die die harten Linien seines Kinns noch betonten. »Guten Morgen.«

Sie wagte kaum, ihm ins Gesicht zu sehen. »Guten Morgen.«

Er antwortete nicht. Nicht sofort. Stattdessen musterte er sie. Julia spürte die Schwere seines Blicks. Es löste einen Sturm von Schmetterlingen in ihrem Bauch aus.

Reite weiter, wollte sie sagen. Bitte reite einfach weiter.

Doch das tat er nicht. Er schien es darauf angelegt zu haben, sie in die Enge zu treiben.

Sie vermutete, den Grund dafür zu kennen. Sie hatte sich bei ihm nie für ihr Verhalten auf dem Ball entschuldigt. Es hatte keine Gelegenheit gegeben.

Vielleicht wollte er sie leiden lassen, weil sie ihn in Verlegenheit gebracht hatte?

Sollte das der Fall sein, war Julia bereit, die bittere Medizin zu schlucken. Sie hatte es weiß Gott verdient.

Sie zwang sich, seinem Blick zu begegnen. Die Schmetterlinge in ihrem Bauch drohten zu rebellieren. Du meine Güte. Seine Augen hatten die Farbe von Raureif – ein Grau, so kalt und hart, dass ihr ein eisiger Schauer über den Rücken lief. Jeder weibliche Instinkt in ihr schien sie zu warnen: Lauf, raunte er. Lauf so schnell du kannst.

Aber dies war nicht Lady Arundells Ballsaal.

Sondern der Hyde Park. Hier unter freiem Himmel auf Cossacks Rücken war sie nicht mehr die Person, die sie auf einem Ball oder einer Abendgesellschaft war. Zum einen war sie nicht allein. Sie hatte einen Partner – und zwar einen imposanten. Cossack half ihr durch seine Kraft und seine Statur. Er gab ihr das Gefühl, fast so furchterregend zu sein wie er selbst. Deshalb war sie auf einem Pferd selbstbewusster.

Zumindest war sie das früher immer gewesen.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte sie.

»Sehr gut.« Seine Stimme war tief und gebieterisch, mit einem knurrigen Unterton. Die Stimme eines Soldaten. Von der Art, die man, wenn nötig, über ein ganzes Schlachtfeld hinweg hören konnte. »Und Ihnen?«

»Ich genieße unser derzeitiges schönes Wetter«, sagte sie. »Es eignet sich hervorragend zum Reiten.«

Er warf einen kurzen Blick auf ihr Gewand. Es war aus verblasster schwarzer Wolle gefertigt und betonte in keiner Weise die Konturen ihrer Figur. Eher im Gegenteil. Es verbarg ihre Gestalt, so, wie der Netzschleier an ihrem kurzkrempigen Reithut ihr Gesicht verdeckte. Captain Blunts schwarze Brauen zogen sich zusammen, und er runzelte die Stirn.

Julia unterdrückte ein Aufflackern von Verlegenheit. Ihre Kleidung war nicht dazu gedacht, Aufmerksamkeit zu erregen. Sie sollte sie unsichtbar machen. Aber das hatte sie nicht – nicht für ihn.

Die Art, wie er sie ansah … Sie stellte sich vor, dass Hades Persephone so angesehen haben musste, bevor er sie als seine unfreiwillige Braut in die Unterwelt verschleppt hatte.

Und jeder wusste, dass Captain Blunt auf der Suche nach einer Ehefrau war.

Wenn man den umlaufenden Gerüchten Glauben schenkte, war dies sogar der einzige Grund, warum er in die Stadt gekommen war. Er befand sich auf der Suche nach einer willfährigen Erbin, die er auf sein abgelegenes Anwesen in Yorkshire entführen konnte. Ein Anwesen, auf dem es angeblich spukte.

»Reiten Sie oft um diese Zeit aus?«, fragte er.

»Wann immer ich kann«, sagte sie. »Cossack ist froh über die Bewegung.«

»Sie haben ihn gut im Griff.«

Das Kompliment lockerte die Anspannung in ihrer Brust. »Es ist nicht schwer.« Sie streichelte Cossacks Hals. »Er sieht vielleicht imposant aus, aber eigentlich ist er ein Lämmchen. Das sind die großen Kreaturen meiner Erfahrung nach oft.«

Captain Blunts eigenes Reittier stampfte mit seinen riesigen Hufen auf, als wollte es gegen ihre Aussage protestieren.

Sie warf einen interessierten Blick auf das Pferd. Es war gebaut wie ein mittelalterliches Schlachtross, mit breiter Brust, schweren Fesseln, einer dichten wehenden Mähne und einem dicken Schweif. »Wie heißt er?«

»Quintus.«

»Und ist er …«

»Ein Grobian durch und durch«, sagte Captain Blunt. »Manchmal, Miss Wychwood, ist das, was man sieht, genau das, was man bekommt.«

Julia fragte sich, ob das auch auf den Captain selbst zutraf. Konnte er wirklich so bedrohlich sein, wie er aussah? Sie konnte es nicht mit Bestimmtheit sagen. Sie wusste nur, dass er dem Klatsch und Tratsch der Gesellschaft zufolge durchaus gefährlich war – besonders für heiratsfähige junge Damen.

Doch das entschuldigte nicht, wie sie sich ihm gegenüber auf dem Ball verhalten hatte.

Sie befeuchtete ihre Lippen. »Ich glaube, ich schulde Ihnen eine Entschuldigung.«

Er sah sie unverwandt an.

»Als Lord Ridgeway Sie mir auf Lady Arundells Ball vorstellte …« Sie zögerte. »Vielleicht erinnern Sie sich nicht mehr …«

»Ich erinnere mich«, entgegnete er schroff.

Hitze schoss ihr in die Wangen. »Ja, nun … es tut mir leid, dass ich einfach so weggelaufen bin. Ich fürchte, ich bin nicht in Bestform, wenn ich Fremde treffe.«

»Laufen Sie oft weg, wenn Ihnen jemand vorgestellt wird?«

»Normalerweise nicht, nein. Es sei denn, ich befürchte, in Ohnmacht zu fallen.« Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem reumütigen Lächeln. »Sie hätten es wohl kaum zu schätzen gewusst, mich auffangen zu müssen.«

Hinter seinem eisigen Blick flackerte etwas auf. Eine Emotion, die unmöglich zu lesen war. »Sie kennen mich nicht sehr gut, Ma’am.«

Wäre es ein anderer Gentleman gewesen, hätte Julia ihn vielleicht verdächtigt, mit ihr zu flirten. Aber nicht Captain Blunt. Seine vernarbte Miene war so kalt und ernst wie sein Tonfall.

Ihr Lächeln verblasste. »Nein, in der Tat.« Sie verstärkte ihren Griff um die Zügel. »Aber ich entschuldige mich trotzdem.« Sie neigte den Kopf, während sie Cossack in die entgegengesetzte Richtung lenkte. »Guten Tag, Captain Blunt.«

Er erwiderte ihren Abschiedsgruß nicht. Er sagte gar nichts. Er saß reglos auf seinem Pferd und sah zu, wie sie davonritt.

Julia spürte seinen brennenden Blick in ihrem Rücken. Und diesmal zwang sie sich nicht, tapfer zu sein. Sie tat, was sie tun wollte, seit sie ihn zum ersten Mal erblickt hatte.

Sie drückte ihren Absatz in Cossacks Flanke und ergriff die Flucht.

Jasper war versucht, ihr nachzureiten, ungeachtet der Tatsache, dass sie die Unterhaltung soeben beendet hatte.

Aber nein.

Er hielt Quintus ruhig, während Miss Wychwood davonritt. Sie ließ ihr Pferd einen Moment im Schritt gehen, bevor sie es zu einem schnellen Galopp antrieb. Ihr Sitz war tadellos, und sie hielt die Zügel locker in den Händen. Sie hatte den Ruf, eine gute Reiterin zu sein. Und das musste stimmen, wenn sie ein Pferd beherrschte, das so offensichtlich zu groß für sie war.

Grundgütiger. Sie konnte nicht größer als fünf Fuß und drei Zoll sein. Eine zierliche Dame mit einer sanften Art. Hatte sie niemanden, der ihr ein geeigneteres Reittier aussuchen konnte?

Jasper vermutete, nein.

Es war allgemein bekannt, dass ihre Eltern kränklich waren und zu allen möglichen Marotten neigten. Durch ihr elegantes Stadthaus am Belgrave Square zog ein endloser Strom von Ärzten, Apothekern und einer ständig wechselnden Dienerschaft.

Auch Miss Wychwoods Reitknecht war neu – es war ein anderer als der, der sie vor drei Tagen begleitet hatte. Jasper folgte ihnen in einigem Abstand, während die beiden in der Ferne verschwanden.

Jaspers Stirnrunzeln vertiefte sich.

Er hatte in den letzten Wochen viel über Miss Wychwood erfahren, genug, um zu wissen, dass es alles andere als einfach werden würde, sie zu heiraten und nach Yorkshire zu schaffen.

Verdammt sei Viscount Ridgeway für diesen Vorschlag.

Jasper verließ den Park und kehrte zu Ridgeways Haus in der Half Moon Street zurück. Es stand zwischen dem Haus einer reichen alten Witwe und dem eines wohlsituierten Anwalts und war eine angesehene, wenn auch nicht mondäne Adresse. Nachdem Jasper Quintus in den Stall gebracht hatte, stieg er die Stufen zur Eingangstür hinauf.

Skipforth, Ridgeways grauhaariger Butler, ließ ihn in die schwarz-weiß geflieste Empfangshalle hinein. »Seine Lordschaft hat um Ihre Anwesenheit in seinem Gemach gebeten«, sagte er, während er Jaspers Hut und Handschuhe entgegennahm. »Er nimmt dort sein Frühstück ein.«

Natürlich tat er das.

Ridgeway stand selten vor zehn Uhr auf, und dann auch nur unter Protest.

Jasper spürte einen Anflug von Verärgerung. Nicht zum ersten Mal bedauerte er, Ridgeways Einladung zum Bleiben angenommen zu haben.

»Soll ich Sie zu ihm bringen, Sir?«, fragte Skipforth.

»Nicht nötig.« Jasper eilte die geschwungene Treppe hinauf in den dritten Stock. Er klopfte kurz an Ridgeways Tür, bevor er eintrat.

Die schweren Vorhänge vor den Fenstern waren zurückgezogen. Das Sonnenlicht strömte herein und gab den Blick frei auf ein weitläufiges, in leuchtenden Rot- und Goldtönen gehaltenes Schlafgemach. Auf der einen Seite des Zimmers, gegenüber seinem ungemachten Himmelbett und dem silbernen Teetablett mit den Resten seines Frühstücks, saß Nathan Grainger, Viscount Ridgeway.

Er saß hingestreckt auf einem Stuhl vor seinem mit Intarsien verzierten Mahagoni-Frisiertisch und hatte die Augen geschlossen, während ihm sein Kammerdiener den Backenbart stutzte.

»Sind Sie das, Blunt?«, fragte er mit einem kurzen Augenblinzeln. »So schnell zurück?«

»Wie Sie sehen. Skipforth sagte, Sie wollten mich sehen?«

»So ist es. Und der Zeitpunkt passt ausgezeichnet. Fennel ist gerade fertig geworden.« Ridgeway entließ seinen Diener mit einer Handbewegung.

Fennel, ein spindeldürrer Kerl mit verschlagener Miene, zog sich sofort in das Ankleidezimmer zurück und schloss die Tür mit einem Klicken hinter sich.

»Ich brauche Ihre Meinung zu einem Pferd, das ich mir bei Tattersalls angesehen habe«, erklärte Ridgeway. »Es sei denn, Sie haben bereits andere Pläne?«

»Nichts, was sich nicht ändern ließe. Wann wollen Sie aufbrechen?«

»Jetzt gleich.« Ridgeway lehnte sich vor und betrachtete seinen frisch gestutzten Backenbart im Spiegel. »Was denken Sie?«

Jasper konnte keinen Unterschied zu Ridgeways sonstigem Aussehen feststellen. »Ich nehme an, er ist kürzer.«

»Ich hatte die Befürchtung, dass der Bart langsam zu voll wirkt. Ich will würdevoll erscheinen, aber schließlich nicht wie der Premierminister aussehen.«

»Ich glaube, diese Gefahr besteht nicht.« Jasper nahm in einem samtbezogenen Ohrensessel in der Nähe des Kamins Platz.

Ridgeway beschäftigte nur so viele Bedienstete, dass es für einen Junggesellen reichte. Sein Haus war dennoch komfortabel und gepflegt – eine deutliche Verbesserung gegenüber dem Hotel, in dem Jasper nach seiner Ankunft in der Stadt Logis genommen hatte.

Nicht dass er eine große Auswahl an Unterkünften gehabt hätte.

Er hatte weder Familie noch Freunde in London, denen er seine Gesellschaft aufzwingen konnte.

Selbst seine Verbindung zu Ridgeway war bestenfalls dürftig.

Sie hatten sich vor sechs Jahren in Konstantinopel kennengelernt – beide Männer am Tiefpunkt ihres Lebens. Ridgeway war ins Krankenhaus von Skutari gekommen, um die Leiche seines jüngeren Bruders abzuholen, der in der Schlacht gefallen war, die auch den Rest von Jaspers Männern das Leben gekostet hatte.

Jasper war auch in Skutari gewesen, allerdings nicht auf einer Dienstreise, sondern als schwer verletzter Patient, der durch die schweren Wunden in seinem Gesicht fast nicht mehr zu erkennen war – und der einzige Überlebende des Gefechts.

Ridgeway hatte mit ihm gesprochen und versucht, ihn aufzumuntern. Ein vergebliches Unterfangen. Jasper war nicht in der Stimmung gewesen, mit jemandem zu sprechen. Aber später, nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus, hatte Jasper, wenn auch widerwillig, auf einen Brief Ridgeways geantwortet.

Daraus hatte sich eine gelegentliche Korrespondenz ergeben.

Es war keine Freundschaft. Nicht einmal annähernd. Jasper hatte keine Freunde. Und wenn er sich nicht irrte, hatte Ridgeway auch keine. Sie waren lediglich zwei Männer, deren Bekanntschaft sich durch die besonderen Umstände ergeben hatte. Bekannte, die sich respektierten – und manchmal nicht einmal das.

Seit er bei ihm wohnte, fand Jasper Ridgeways Kaltblütigkeit zunehmend abstoßend.

»Warum so mürrisch?« Ridgeway warf ihm einen Blick zu. »Kein Glück mit Miss Wychwood gehabt?«

»Glück hat damit nichts zu tun.«

»Aber Sie haben sie gesehen?«

»Ja«, sagte Jasper. Und das, obwohl sie offensichtlich nicht hatte gesehen werden wollen.

In Anbetracht der tristen, schlecht sitzenden Kleidung, die ihre Figur verhüllt, und dem Hutschleier, der ihr Gesicht verborgen hatte, könnte man meinen, sie hätte Grund, sich zu verstecken. Dass ihr Gesicht und ihr Körper etwas waren, wofür sie sich schämen musste.

Aber das stimmte nicht.

Julia Wychwood war wunderschön.

Das war ihm vom ersten Moment an klar gewesen, als er sie erblickt hatte.

In einer anderen Zeit – in einem anderen Leben – wäre er vielleicht in großer Gefahr gewesen, sein Herz zu verlieren.

Ridgeway bewunderte weiter sein Spiegelbild. »Wo liegt dann das Problem?«

»Das Problem liegt darin«, sagte Jasper, »dass diese ganze Angelegenheit ein wenig berechnender wird, als ich beabsichtigt hatte.«

»Brautwerbung ist berechnend. Und die Ehe selbst regelrecht halsabschneiderisch. Wenn man nicht das Zeug dazu hat, sollte man sich besser mit einem dauerhaften Junggesellendasein abfinden.« Ridgeway strich sich mit der Hand über seinen Backenbart. »Was gar nicht schlecht ist, wenn ich so darüber nachdenke. Solange man es sich leisten kann.«

»Was ich nicht kann«, erinnerte Jasper ihn.

Ridgeway zuckte mit den Schultern. »Da haben Sie es.«

»Ja«, sagte Jasper. »Da habe ich es. Und Sie sind absolut nutzlos, wie immer.«

»Das ist unfair. Habe ich Sie nicht mit ihr bekannt gemacht?« Ridgeways Blick begegnete Jaspers im Spiegel. »Sie ist eine Erbin. Eine kränkliche Erbin noch dazu. Folgen Sie meinem Rat, und heiraten Sie die Kleine. Sie wird Ihnen nicht lange zur Last fallen.«

Jaspers Kiefermuskeln spannten sich in einem Anflug von Wut an. Er mochte berechnend sein, aber er war noch nicht so tief gesunken, eine Invalidin zu heiraten und für ihr frühes Ableben zu beten. »Sie sind sich Ihrer Sache sehr sicher.«

Ridgeway zuckte mit den Schultern. »Letzten Monat war sie für ein paar Tage unpässlich. Ich habe gehört, dass der Arzt gerufen wurde, um sie zur Ader zu lassen. Sie ist ohnehin schon ein kreidebleiches Ding. Was meinen Sie, wie viel Blut sie noch zu bieten hat?«

»Sie ist stärker, als sie aussieht.«

»Das können Sie nicht wissen. Sie haben sie nur ein paarmal gesehen.«

»Das reicht mir aus. Ich habe sie reiten sehen. Sie steht noch lange nicht an der Schwelle des Todes.« Jasper hielt inne und fügte hinzu: »Und sie ist nicht kreidebleich.«

»Nein? Wie würden Sie ihren Teint denn sonst nennen? Es ist weder Marmor noch Alabaster. Nicht wie ihre Freundin, Lady Anne.« Ridgeway betrachtete Jasper erneut im Spiegel. »Übrigens, falls Sie auf meinen Rat hören, sollten Sie die Abwesenheit dieser Dame ausnutzen. Wie Sie vielleicht bemerkt haben, bewacht sie ihren kleinen Schützling, wann immer sie in der Stadt ist, wie eine wasserscheue Dogge.«

»Lady Anne hat London verlassen?« Das waren Neuigkeiten. »Für wie lange?«

Ein weiteres Achselzucken. »Ein paar Tage. Sie ist mit ihrer Mutter nach Birmingham geflüchtet, um sich das junge Medium anzusehen, von dem alle reden. Das behauptet, mit Prinz Albert Kontakt aufgenommen zu haben.«

Jasper presste die Lippen zusammen. Er hatte schon von dem Jungen gehört. Wenn man sich in der feinen Gesellschaft bewegte, war es unmöglich, das Gerede nicht mitzubekommen. Jasper hielt nichts von solchen Geschichten. Genauso wenig wie er dem Spiritismus insgesamt Glauben schenkte. Gespenster und Geister und Verkündigungen aus dem Jenseits – das war alles völliger Unsinn.

Als hätte er in Yorkshire nicht schon genug damit zu tun.

»Ich wundere mich, dass Miss Wychwood ihre Freundin nicht begleitet hat«, sagte er.

»Die Wychwoods mischen sich nicht in solche Dinge ein. Sie haben auf dieser Seite des Grabes schon genug Ärger mit ihrer rapide nachlassenden Gesundheit.« Ridgeway stand abrupt auf. »Apropos, Fennel sagte mir, dass Miss Wychwood heute Abend an Lady Cliffords Hauskonzert teilnehmen wird. Gut, dass Sie die Einladung nicht ausgeschlagen haben.«

Jasper seufzte. Ein Hauskonzert bedeutete einen überfüllten Saal mit der Crème de la Crème der Londoner Gesellschaft. Es bedeutete, dass er Schulter an Schulter mit heiratsfähigen jungen Damen und ihren überheblichen Müttern saß.

»Oder haben Sie es sich etwa anders überlegt?«, fragte Ridgeway.

Das hatte er. Doch das nutzte nichts.

Jasper hatte nicht vor, Ridgeway all seine Zweifel anzuvertrauen. Der Mann wusste bereits zu viel. »Es muss noch eine andere geben, die passen würde.«

»Was?« Ridgeway warf ihm einen strengen Blick zu. »Eine andere Erbin, meinen Sie?«

»Ja«, sagte Jasper. »Genau das. Jemand, der …«

Jemand, der bei seinem Anblick nicht fast in Ohnmacht fiel. Die keine Angst hatte, ihm ins Gesicht zu sehen.

Bei jeder anderen Frau hätte er Abscheu, mochte sie auch noch so diskret gezeigt werden, tolerieren können. Es war eine häufige Reaktion auf sein Aussehen. Aber bei ihr konnte er es einfach nicht ertragen.

»Verdammt«, murmelte er vor sich hin. »Das sollte nicht so kompliziert sein.«

»Ist es auch nicht.« Ridgeway griff nach seinem Mantel und zog ihn an. »Sie brauchen eine Erbin ohne Familie oder Beziehungen – niemanden, der zu viele Fragen stellt oder nach Yorkshire reist, um Ihnen hinterherzuschnüffeln. Die einzige Erbin, auf die das zutrifft, ist Julia Wychwood. Wenn Sie sie nicht wollen, können Sie Ihr Hab und Gut auch gleich dem Gerichtsvollzieher überlassen.«

Jasper fuhr sich frustriert durchs Haar. Der Gerichtsvollzieher. Verdammter Mist. So weit würde es doch wohl nicht kommen, oder? Nicht nach allem, was er bereits riskiert hatte, um sich ein neues Leben aufzubauen.

Ridgeway lachte. »Sie sollten Ihren Gesichtsausdruck sehen. Man könnte meinen, Sie seien zu edelmütig, um es durchzuziehen.«

Vor Jaspers innerem Auge materialisierte sich ein Bild von Miss Wychwood. Ihre saphirblauen Augen leuchteten lebhaft hinter ihrem schwarzen Netzschleier.

Ich glaube, ich schulde Ihnen eine Entschuldigung.

Sie hatte ihn damit völlig überrumpelt. Sie hatte ihn verblüfft und entwaffnet.

War sie wirklich die, die sie zu sein schien? Ein kränkliches Mauerblümchen, reif zum Pflücken?

Er begann zu zweifeln. »Vielleicht bin ich das.«

»Pah«, spottete Ridgeway. »Das ist nicht der Mann, von dem mir mein Bruder während des Krieges geschrieben hat. Der grausame, rücksichtslose, blutrünstige Captain Blunt, der alle seine Männer in ihren Stiefeln erzittern ließ. Sie erinnern sich doch sicher an ihn?«

»Nur zu gut«, entgegnete Jasper grimmig.

»Ach ja? Denn manchmal kommt es mir so vor, als wären Sie gar nicht dieser Mann.«

Jaspers Blick zuckte zu Ridgeway. In seinen Worten schien kein Hintergedanke zu liegen. Keine Andeutung einer Drohung. »Ich mag skrupellos gewesen sein«, antwortete er, »aber nie, wenn es um Frauen ging. Und niemals außerhalb des Schlachtfelds.«

»Mein lieber Freund, das hier ist ein Schlachtfeld«, erwiderte Ridgeway. »Es ist die Londoner Saison.«

2. KAPITEL

Julia saß unbeweglich auf der mit Seidendamast gepolsterten Bank vor ihrem Schminktisch aus geschnitztem Walnussholz, während ihre Zofe Mary ihrem Haar den letzten Schliff gab. Es war eine hübsche Frisur – eine Kaskade festgesteckter Locken am Hinterkopf, die von Dutzenden Haarnadeln und mehreren Spritzern Bandoline gehalten wurden.

Julia bemerkte es kaum.

Sie blätterte in dem kleinen, in Leinen gebundenen blauen Band von Das Geheimnis der Lady Audley auf ihrem Schoß, und ihre Aufmerksamkeit war voll und ganz auf die üppige Prosa der Autorin Mrs Braddon gerichtet. Es war ihr egal, dass sie die Geschichte schon unzählige Male gelesen hatte.

»Miss Lucy Graham war mit jener magischen Ausstrahlung gesegnet, mit der eine Frau ihr Gegenüber durch ein Wort oder ein Lächeln zu verzaubern vermag«, las Julia laut vor. Es war eine ihrer Lieblingszeilen im ganzen Buch. »Kannst du dir das vorstellen, Mary?«

»Sie war eine Mörderin, das war sie.« Mary steckte einige Rosenblüten in Julias Frisur. »Daran gibt es nichts zu bewundern.«

»Ja, aber …« Julia begegnete dem Blick ihrer Zofe in dem goldgerahmten Dreifachspiegel, der auf dem Schminktisch stand. »Kannst du dir vorstellen, wie es sein muss, so attraktiv zu sein? So faszinierend für jeden, den du triffst?«

»Das würde nur Ärger bringen, Miss, daran gibt es keinen Zweifel. Eine Frau hat schon genug zu tun, auch ohne magische Faszinationskräfte zu besitzen.« Mary strich Julia ein verirrtes Haar aus der Stirn. »Und ich wüsste nicht, worüber Sie sich Sorgen machen müssten. Niemand, der Sie sieht, kann Ihre Schönheit leugnen.«

»Auch schöne Frauen können für unattraktiv gehalten werden. Wenn es etwas in ihrem Charakter gibt, das die Leute nicht mögen – eine unvorteilhafte Schüchternheit oder Unbeholfenheit –, dann spielt es keine Rolle, wie schön ihr Aussehen ist. Aber so zu sein wie Lady Audley …«

»Sie haben zu viele dieser Sensationsromane gelesen. Das ist nicht das wahre Leben, wissen Sie.«

Julias Mundwinkel verzogen sich. Sie war nicht beleidigt über die unverschämte Bemerkung. Im Gegensatz zu den anderen Bediensteten des Hauses war Mary schon lange bei ihr. Sie war eine unscheinbare Frau Mitte vierzig, die vor drei Jahren zu Julias erster Saison als Zofe eingestellt worden war. Seitdem hatte sie Julia von ihrer besten und schlechtesten Seite gesehen. Sie kannte alle ihre kleinen Schwächen.

»Gentlemen mögen keine Frauen, die Bücher lesen«, fuhr Mary fort und steckte die letzte Blume in Julias Haar. »Und Sie wollen sich doch in dieser Saison einen Ehemann angeln, nicht wahr?«

»Ja, aber …«

»Es würde mich wundern, wenn Ihnen nicht einer der Herren der Gesellschaft einen Antrag macht, jetzt, wo Sie in voller Blüte stehen.« Mary trat mit einem ermutigenden Lächeln zurück. »Schauen Sie sich nur an.«

Julia warf ihrem Spiegelbild einen pflichtbewussten Blick zu. Ihr schwarzes Haar war ihr aus dem Gesicht frisiert, was die Konturen ihrer Wangen und ihres Kinns, ihren breiten Mund und ihre großen Augen betonte. Sie schimmerten im Kerzenlicht sehr blau, und ihre Haut wirkte durchscheinend und blass. Man hätte sie sogar als strahlend bezeichnen können.

Und es war so viel davon zu sehen.

Der tiefe Ausschnitt ihres Abendkleids aus mazarinblauer schimmernder Seide überließ wenig der Fantasie und entblößte ihren Hals, ihre Schultern und die runde Wölbung ihres Busens.

Mama würde das nicht gutheißen.

Aber Mama war nicht hier. Sie erholte sich noch in Bath. Und Papa hätte genauso gut fort sein können, so selten, wie er aus seinem Zimmer kam.

»Und?«, fragte Mary.

»Es ist wunderschön.« Julia erhob sich von ihrem Platz. Ihr mit Volants besetzter Seidenrock raschelte über ihrer Krinoline. »Ich werde einen Schal brauchen.«

Während Mary auf der Suche nach einem davoneilte, nahm Julia ihre Handschuhe und ihr mit Seidenfransen besetztes Handtäschchen. Sie öffnete den Kordelzugverschluss und ließ ihr Buch hineinfallen. Ein Hauskonzert war kein Ort zum Lesen. Aber es konnte nie schaden, vorbereitet zu sein.

Jasper folgte Ridgeway die Treppe hinunter. Beide waren in schwarze Abendgarderobe gekleidet, die durch helle Seidenwesten und Halstücher akzentuiert wurden. Die Gaslampe in der Empfangshalle war aufgedreht und warf einen diffusen Lichtring über die schachbrettartigen Fliesen.

Skipforth trat aus dem Schatten hervor. »Ein Brief für Sie, Captain Blunt.«

Ridgeway warf seinem Butler einen irritierten Blick zu. »Die Post? Zu dieser späten Stunde?«

»Ein Junge hat ihn gerade aus dem Cavendish Hotel gebracht.« Skipforth reichte Jasper das Schreiben, als dieser die Empfangshalle betreten hatte. »Er scheint fehlgeleitet worden zu sein.«

Jasper nahm den Brief in Augenschein. Die Adresse auf dem Umschlag war in dem unbeholfenen Gekritzel eines Kindes geschrieben worden. Es war sofort zu erkennen.

Charlie.

Jasper hatte ihm gesagt, er solle schreiben, wenn es irgendwelche Schwierigkeiten gab. Und mit Charlie gab es immer Schwierigkeiten.

»Einer Ihrer Fehltritte, nehme ich an«, sagte Ridgeway.

Jasper versteifte sich. Die Beschreibung war eine Beleidigung, sowohl für seine eigene Ehre als auch für die der Kinder. Aber sie war nicht unzutreffend, jedenfalls nicht, was die Gesellschaft anging. Sie nahm das Schlimmste von ihm an.

Und genau so musste es auch sein.

»So sieht es aus«, erwiderte er.

Ridgeways Gesichtsausdruck wurde von Sekunde zu Sekunde ungeduldiger. »Müssen wir unseren Ausflug verschieben?«

»Keineswegs. Ich werde den Brief in der Kutsche lesen.«

Ridgeway nickte beifällig. »Guter Mann. Lady Clifford verabscheut Nachzügler bei ihren musikalischen Soireen. Sie behauptet, es würde die Darbietenden stören.«

Jasper griff nach seinem Hut und seinen Handschuhen, bevor er sich Ridgeway anschloss. Auf der von Gaslaternen beleuchteten Straße wartete die Kutsche des Viscounts bereits. Sie war schwarz lackiert, und auf den Türen prangte das goldene Familienwappen. Ein livrierter Lakai klappte den Fußtritt aus.

Ridgeway stieg ohne Hilfe in das Gefährt.

Jasper folgte ihm und nahm den Platz gegenüber seinem Gastgeber ein. Er ließ sich in der Ecke im Schein der Kutschenlampe nieder. Als sich die Pferde in Bewegung setzten, öffnete er das Siegel von Charlies Brief und begann zu lesen.

Sehr geehrter Sir,

das Dach ist wieder undicht. Diesmal ist der Regen Daisy im Kinderzimmer auf den Kopf getropft. Mr Beecham sagt, ich solle Sie nicht belasten und dass Sie wichtigere Dinge im Kopf haben als uns. Aber selbst Sie würden nicht wollen, dass sich Daisy durch Vernachlässigung den Tod holt. Bitte schicken Sie fünfzig Pfund für Reparaturen.

PS: Alfred sagt, ich soll Sie daran erinnern, dass das Dach des Armenhauses nicht undicht war.

Ergebenst,

Charles X.

Jaspers Kiefermuskel begann zu zucken, als er den Brief wieder zusammenfaltete und in die Innentasche seiner Jacke steckte. Er wusste nicht, welcher Teil beleidigender war. War es die Andeutung, er würde die Kinder vernachlässigen? Oder die Behauptung, die Bedingungen im Armenhaus seien besser gewesen, als sie es in Goldfinch Hall waren?

Nein, wurde ihm klar. Weder noch.

Das Beleidigendste war Charlies Unterschrift. Charles X. Als wäre er immer noch derselbe unehelich geborene Junge, den Jasper aus dem Armenhaus geholt hatte. Ein verlaustes kleines Ding, das die Buchstaben nicht kannte und kaum in der Lage gewesen war, ein einzelnes X zu kritzeln, das Einzige, was ihm seine ebenfalls analphabetische Mutter beigebracht hatte.

Charlie war damals sechs Jahre alt gewesen und Alfred fünf.

Jasper war damals selbst kaum mehr als ein junger Bursche gewesen. Erst fünfundzwanzig, mit wenig Erfahrung im Umgang mit häuslichen Angelegenheiten. Aber er hatte unter den gegebenen Umständen sein Bestes getan. Er hatte die Jungen in das nahe gelegene Dorf Hardholme zur Schule geschickt. Er hatte dafür gesorgt, dass sie lesen und schreiben lernten.

Es hatte wenig dazu beigetragen, sein Ansehen bei den Jungen zu erhöhen.

Sechs Jahre später war Alfred ihm gegenüber bestenfalls gleichgültig. Charlie hingegen gab Jasper immer noch die Schuld an all dem Übel, das seine Mutter, seine Geschwister und er erlitten hatten.

Zweifellos hatte ihm Dolly in jungen Jahren alle möglichen düsteren Geschichten über den herzlosen Captain Blunt erzählt. Ein böses, gefühlloses Ungeheuer, das seine Geliebte und die drei unehelichen Kinder zum Verhungern und Sterben zurückgelassen hatte, während er in den Krieg gezogen war.

Und Dolly war gestorben.

Als Jasper von der Krim zurückkehrte, hatte die Schwindsucht sie fast aufgefressen. Mit allerletzter Kraft war sie nach Goldfinch Hall gereist, die kleine Daisy im Arm, und hatte Jasper aufgefordert, Charlie und Alfred aus dem Armenhaus zu holen, bevor sie starb.

Aufgefordert. Gedroht.

Jasper war versucht gewesen, seinen Plan auf der Stelle aufzugeben. Yorkshire für immer zu verlassen und irgendwo anders wieder neu anzufangen.

Doch natürlich hatte er das nicht getan.

Aber an so etwas wollte er jetzt nicht denken. Nicht an dem Abend, an dem er um eine Braut werben wollte. Ob Miss Wychwood oder eine andere, wusste er noch nicht. Nichts an diesem verdammten Unterfangen verlief so, wie er es geplant hatte.

»Darf ich fragen?«, sagte Ridgeway ausdruckslos.

Jasper blickte stirnrunzelnd zu ihm auf.

»Ihre kleinen Fehltritte. Ich kann mir nicht vorstellen, was einer von ihnen geschrieben haben sollte.«

»Nichts, worüber Sie sich Sorgen machen müssten«, erwiderte Jasper. Die Kutsche rollte durch die belebte Straße, und die Kabine schaukelte, als der Kutscher die Pferde auf den Grosvenor Square lenkte. »Nur eine Erinnerung daran, warum ich hier bin.«

»Eine unangenehme Erinnerung, so wie es aussieht.« Ridgeway seufzte. »Das haben Sie nun davon, dass Sie diese Kinder zur Schule schicken. Ein Alptraum, wenn Sie mich fragen, unangenehme Briefe von seinen Bastarden zu erhalten.«

»Ich erinnere mich nicht, Sie gefragt zu haben.«

Die Kutsche kam vor dem Haus Lady Cliffords zum Stehen. Ein Lakai öffnete ihnen die Wagentür. Auf der Straße standen keine anderen Kutschen in einer Schlange, und auf den Steinstufen, die zum Eingang hinaufführten, wimmelte es nicht von Gästen. Aus den Fenstern des Stadthauses drang flackerndes Licht, begleitet von leisem Klavierklang und Harfentönen.

Ridgeway runzelte die Stirn. »Wir sind spät dran.«

Jasper verließ nach ihm die Kutsche. An der Haustür empfing sie ein Butler und geleitete sie, nachdem er ihnen Hüte und Mäntel abgenommen hatte, nach oben in den Salon.

Die Verbindungstüren zwischen den Räumen waren wie für einen Ball geöffnet worden, so dass ein riesiger Raum für die mehr als hundert anwesenden Damen und Herren entstand. Dutzende von Stühlen und gepolsterten Bänken waren in langen Reihen angeordnet, in einigem Abstand zu einem Podium, auf dem zwei in Seide gekleidete junge Damen ein gefühlvolles Duett auf dem Klavier und der Harfe spielten.

Als eine attraktive blonde Frau in der vierten Reihe die beiden erblickte, winkte sie Ridgeway mit ihrem bemalten Fächer zu.

»Da ist Lady Eastlake«, sagte er. »Wenn Sie mich entschuldigen würden?«

Jasper nickte. Er zog es vor, allein zu sein. Und das war er nie mehr als in einer Menschenmenge. Es gab keine Damen, die auf seine Gesellschaft warteten. Keine, die ihn in London anders kannten als vom Hörensagen. Doch seine Beliebtheit kümmerte ihn nicht. Sein Name verschaffte ihm für seine Zwecke genug Einladungen. Was den Rest anging …

Er kam gut allein zurecht.

Nachdem er den Raum betreten hatte, zog er sich an die hintere Wand zurück. Sie war mit blassgrüner Seide bespannt und mit gleichmäßig verteilten Gas-Wandleuchtern geschmückt. Einige Herren standen hier beisammen, ebenso wie einige junge Damen. Dem Aussehen nach Mauerblümchen. Als Jasper an ihnen vorbeiging, ließen sie schnell den Blick sinken und flüsterten einander etwas zu, sobald sie ihn außer Hörweite wähnten.

»Diese furchtbare Narbe!«, sagte eine von ihnen.

»Haben Sie jemals etwas so Schreckliches gesehen?«, gab ihre Begleiterin mit dramatischem Unterton zurück.

»Und das ist noch nicht mal das Schlimmste. Ich habe gehört, …«

Jasper ging weiter, ließ das Geflüster hinter sich. Er wusste sehr wohl, wie er aussah. Und noch genauer wusste er, was die Leute über ihn sagten. Wie rücksichtslos der berüchtigte Captain Blunt auf der Krim gewesen war.

Der Himmel wusste, dass es stimmte.

Kannte Miss Wychwood diese Gerüchte auch? Sie mussten ihr zu Ohren gekommen sein.

Er hatte sie noch nicht entdeckt. Vielleicht war sie gar nicht hier. Im letzten Monat war sie auf mehreren Veranstaltungen, an denen er teilgenommen hatte, erwartet worden, um dann im letzten Moment abzusagen, weil sie krank geworden oder unpässlich war.

Er ließ seinen Blick über die Menge schweifen. Es hatte seine Vorteile, groß zu sein. Wenn er stand, konnte er leicht über die Reihen der sitzenden Damen und Herren hinwegsehen. Sollte Miss Wychwood hier sein, würde sie nicht inmitten des Publikums sitzen. Und keinesfalls in der ersten Reihe. Sie mochte keine Menschenmengen. Und sie mochte es nicht, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Nein. Wenn sie hier war, dann in der Nähe des Ausgangs. So konnte sie viel besser entkommen.

Und genau dort entdeckte er sie.

Sie saß auf einem Stuhl in der dritten Reihe von vorne. Zu ihrer Linken waren die offenen Türen des Salons, flankiert von zwei livrierten Lakaien, und zu ihrer Rechten saß der frisch verwitwete Earl of Gresham. Der Earl, ein Gentleman mit buschigem Schnurrbart, der sein fünfzigstes Lebensjahr weit überschritten hatte, sah aus wie ein stämmiger Landjunker. Er beugte sich zu ihr hinüber und flüsterte ihr etwas ins Ohr.

Sie hatte den Kopf gewandt, während sie zuhörte, und präsentierte ihm ihr schönes Gesicht im Profil – die glänzenden ebenholzschwarzen Haare, die dunklen Brauen, die kräftige Linie ihrer geraden Nase, die elegant geformten Wangen und das bezaubernde Kinn.

Jaspers Puls beschleunigte sich in dem Moment, in dem er sie erblickte.

Sie trug ein dunkelblaues Kleid, das die blasse Haut ihres Halses und ihrer sanft gerundeten Schultern freiließ. Ein Kunstwerk aus Seide mit Fransen und Schleifenbändern. Es schimmerte im Licht der Gaslampen. Es erinnerte ihn an die Farbe der mitternächtlichen See. Derselbe Farbton wie ihre Augen.

Es war gänzlich unpassend.

Ganz wie Miss Wychwood selbst.

Je mehr er über sie wusste, desto weniger sah er sie in Goldfinch Hall leben. Noch weniger konnte er sich vorstellen, sie würde jemals für Charlie, Alfred und Daisy die Rolle der Mutter übernehmen.

Als würde sich irgendeine Dame von Rang jemals zu so etwas herablassen.

Er würde sich eine andere wohlhabende Frau zum Heiraten suchen müssen. Eine, die weniger behütet aufgewachsen war. Die weniger kultiviert war.

Weniger schön.

Ihm lief die Zeit davon. Er hatte Charlies Brief nicht gebraucht, um sich daran zu erinnern. Jasper wusste sehr wohl, was auf dem Spiel stand. Die Last seiner Verpflichtungen war allgegenwärtig.

Eine Heirat war die einzige Lösung.

Alles, was er brauchte, war eine geeignete Kandidatin. Jemanden, den er umwerben und schnellstens heiraten konnte. Eine unangenehme Angelegenheit, aber eine notwendige.

Ridgeway kannte sicher noch andere Damen, die ihm gefallen könnten. Bis dahin …

Die Musik endete, und die Menge applaudierte verhalten.

Jaspers Gedanken wurden in die Gegenwart zurückgeholt. Er riss seinen Blick von Miss Wychwood los.

Tod und Teufel!

Hatte er sie angestarrt? Gestarrt und gegrinst wie ein erbärmlicher Köter, den es nach einem Knochen gelüstet? Er verzog sein Gesicht bei der Vorstellung, während er sich gleichzeitig dem kurzen Applaus für die beiden jungen Damen auf dem Podium anschloss.

Sie verbeugten sich und zogen sich lächelnd und mit roten Wangen zurück. Lady Clifford nahm ihren Platz ein. Sie war für ihr ausgeprägtes Interesse an der Kunst bekannt und veranstaltete immer irgendwelche Musik- oder Theaterabende. Wie viele andere Veranstaltungen der Saison dienten sie vor allem dazu, junge Damen auf dem Heiratsmarkt zu präsentieren.

»Eine gute Leistung von Miss Lydiard und Miss Bingham«, sagte Lady Clifford. »Bei unserem nächsten Auftritt wird uns Miss Rumple mit einem Harfenstück beglücken. Miss Rumple?«

Eine engelsgleiche, ganz in Weiß gekleidete junge Dame betrat das Podium. Sie verbeugte sich kurz, bevor sie sich an die Harfe setzte.

Auf ihren blutarmen Auftritt folgte eine junge Dame nach der anderen, alle kostspielig frisiert und gekleidet. Sie sangen und spielten in Soli und Duetten, boten Lieder auf Deutsch und Italienisch, in Sopran und Alt dar.

Jasper blieb mit vor der Brust verschränkten Armen an der Rückwand des Salons stehen. Von all den jungen Damen sah er keine, die sein Interesse weckte. Hübsch genug waren sie, gewiss, und zweifellos verfügten sie alle über eine ansehnliche Mitgift. Das hätte seine größte Sorge sein müssen. Seine einzige Sorge.

Und das war es auch.

Er brauchte Geld, um das Dach von Goldfinch Hall zu ersetzen. Geld, um den jahrelangen Verfall und die Vernachlässigung zu beheben. Wenn es ihm gelänge, das gesamte Anwesen wieder auf den richtigen Weg zu bringen, könnte es sich in fünf Jahren selbst tragen. Alles, was es brauchte, war frisches Kapital.

Was den leidigen Rest der Angelegenheit anging, die Heirat mit einer geeigneten Erbin – einer Dame, die keine Freunde oder Verwandten hatte, die sich einmischen konnten –, so würde er sich einfach zusammenreißen und weitermachen müssen. Er musste die Frau nicht mögen, geschweige denn sich zu ihr hingezogen fühlen. Viele Männer heirateten aus finanziellen Gründen. Das war der Lauf der Welt in der Oberschicht.

Dennoch ließ ihn die Aussicht darauf frösteln.

Während sich die Stimme der aktuellen Interpretin bemühte, mit ihrer überlauten Begleitung mitzuhalten, konnte er nicht umhin, noch einmal in Miss Wychwoods Richtung zu blicken.

Lord Gresham war immer noch da. Seine lüsterne Aufmerksamkeit richtete sich nun auf die Dame zu seiner Rechten. Der Platz links von ihm war leer.

Julia Wychwood war fort.

3. KAPITEL

Julia hatte sich in eine Ecke des leeren Empfangsraums im zweiten Stock zurückgezogen, ihren Roman aufgeschlagen auf dem Schoß. Eine Wandleuchte über ihr warf ihren Schein auf die Worte auf der Buchseite. Beim Lesen entspannte sich Julia, und ihr Puls schlug langsamer. Ihre Umgebung verblasste – der schrille Sopran einer jungen Frau und der Klang des begleitenden Klaviers –, und sie versank in der inzwischen wohlvertrauten Geschichte der Lady Audley.

Kein Beruhigungsmittel hätte mit solcher Effizienz wirken können.

In der Welt eines Romans war sie sicher. Ihre Kehle schnürte sich nicht zu, und ihre Handflächen wurden nicht feucht. Sie konnte die Dinge auf eine Weise erleben, die sie nicht überwältigte.

Natürlich war das nicht ideal.

Sie sollte sich während Lady Cliffords Hauskonzert nicht in einem leeren Raum verstecken. Dennoch bezweifelte Julia, dass irgendjemand ihre Abwesenheit bemerken würde – nicht ihre unaufmerksame Anstandsdame Mrs Major, die sich kurz nach ihrer Ankunft zu ihren Freunden begeben hatte, und auch nicht Lord Gresham – obwohl er den größten Teil der ersten drei Darbietungen damit verbracht hatte, mit Julias Brust zu reden.

Männer redeten immer auf eine Frau ein, statt mit ihr zu reden.

Normalerweise machte das Julia nichts aus. Wenn sie von allen Seiten von Fremden umgeben war, fiel es ihr oft schwer, auch nur ein Wort zu formulieren. Ein überheblicher Mann konnte unter solchen Umständen ein Segen sein. Aber Lord Gresham war aus einem bestimmten Grund so anmaßend. Der kürzlich verwitwete ältere Earl suchte eine neue junge Frau, die ihm Erben schenken sollte.

Ein solches Arrangement passte vielleicht zu jemand anderem, aber nicht zu ihr. Wenn sie heiratete – falls sie heiratete –, dann bestimmt keinen Mann, der alt genug war, um ihr Vater zu sein. Man musste sich doch nur ansehen, was aus Lady Audley geworden war.

»Das muss ja ein ziemlich interessantes Buch sein, um bei all dem Lärm Ihre Aufmerksamkeit fesseln zu können.«

Julias Kopf zuckte hoch, und ihr Herz begann heftig zu schlagen.

Im Eingang des Empfangsraums stand Captain Blunt. Seine breiten Schultern sprengten fast den Türrahmen. Sein vernarbtes Gesicht lag im Schatten, was es noch unheimlicher erscheinen ließ als sonst – etwas, das sie nicht für möglich gehalten hatte.

Er war nicht alt genug, um ihr Vater zu sein. Tatsächlich konnte er nicht viel älter als dreißig sein.

»Was ist es?«, fragte er.

Julia klappte hastig ihr Buch zu und räusperte sich. »Es ist, ähm, Das Geheimnis der Lady Audley.«

»Ah. Ich verstehe.« Er betrat den Raum. Langsam. Mit Bedacht. Als würde er sich einem wilden Pferd nähern, das vor ihm zurückschrecken könnte.

Julia fühlte sich auch wie eines.

Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als er näher kam. Instinktiv zog sie sich an die mit Seide tapezierte Wand hinter sich zurück und wünschte, sie könnte sich in Luft auflösen.

Doch das war nicht möglich.

Sie saß in der Falle. Und es war ihre eigene Schuld. Sie war diejenige, die sich ausgerechnet in dieser Ecke versteckt hatte. Jetzt gab es kein Entrinnen mehr.

Er kam vor ihr zum Stehen. »Keine Angst.«

Keine Angst? Er hatte leicht reden, während er wie ein großes Ungeheuer aus einem Märchen über ihr schwebte.

»Ich werde Ihnen nicht das Ende verraten«, sagte er.

Als Julia klar wurde, was er meinte, stöhnte sie innerlich auf.

Er sprach nicht von sich selbst. Sondern von dem Buch.

Sie kam sich mehr als nur ein bisschen dumm vor. »Sie könnten es mir gar nicht verderben. Ich habe es schon sechsmal gelesen.«

»Sechsmal?« Seine schwarzen Brauen hoben sich. »Gibt es einen bestimmten Grund dafür?«

»Manche Geschichten werden besser, je öfter man sie liest. Man bemerkt Dinge, die einem beim ersten Mal nicht aufgefallen sind. Und nicht nur das.« Sie zögerte. »Bücher, die man bereits gelesen hat, sind wie alte Freunde. Es ist tröstlich, sie wieder zu lesen.«

Er nickte, wie in einem unausgesprochenen Verständnis. »Und deshalb haben Sie sich aus dem Salon geschlichen? Um einen alten Freund wiederzusehen?«

»Nein. Das ist … ja.« Sie konnte das Stottern in ihrer Stimme nicht unterdrücken. Ebenso wenig konnte sie eine glaubwürdige Entschuldigung formulieren. Die Wahrheit purzelte ungebremst heraus. »Ich habe mich da drin einsam gefühlt.«

Er warf einen zweifelnden Blick durch den menschenleeren Raum. »Im Gegensatz zu hier draußen?«

»Hier bin ich allein, aber ich bin nicht einsam. Das ist ein Unterschied.«

Hier gab es keine Menschenmassen, die sie aus ihrer Mitte ausschließen konnten. Niemand, der Ängste in ihr auslöste. Ihr das Gefühl gab, unerwünscht oder unwürdig zu sein. Es gab nur sie selbst.

Und jetzt ihn.

»Sie müssen die Geschichte sehr mögen«, sagte er.

»Oh, ich liebe die Geschichte. Sie ist eine meiner absoluten Favoriten.« Ihre behandschuhten Finger strichen unruhig über den Einband des Buches. »Hat sie Ihnen gefallen?«

»Ja. Sehr sogar.«

Sie starrte ihn sprachlos an.

Seine Mundwinkel verzogen sich nach oben. Es war der Anflug eines freundlichen Lächelns, das so schnell verschwand, wie es aufgetaucht war, bevor sein Mund zu seiner charakteristischen, von der Narbe durchzogenen Grausamkeit zurückkehrte. »Sie wirken überrascht.«

»Das bin ich auch. Die meisten Gentlemen würden sich nicht herablassen, einen Roman zu lesen. Und wenn sie es täten, würden sie nie zugeben, dass er ihnen gefallen hat.«

Er zuckte mit den Schultern. »Romane bieten eine leicht zugängliche Flucht vor der Realität des Lebens. Man wäre ein Narr, sie zu ignorieren.« Er warf einen Blick auf den leeren Platz neben ihr. »Darf ich?«

Julias Mund wurde trocken. »Äh … natürlich. Wenn Sie möchten.« Sie schob ihre Volantröcke beiseite und machte ihm auf der seidengepolsterten Bank Platz.

Er ließ sich neben ihr nieder. Die Bank knarrte unter seinem Gewicht protestierend.

Er war ihr nah. Zu nah.

Sein Bein berührte ihres. Sie spürte es durch die Barriere ihrer Unterröcke und Krinoline hindurch. Es fühlte sich an, als würden sich ihre nackten Knie berühren. Ihr rasender Puls setzte einen Schlag aus.

Noch nie war sie ihm so nah gewesen. Noch nie hatte sie die Gelegenheit gehabt, seine Größe und Stärke so sehr zu spüren. Die eigentümliche Macht seiner Gegenwart. Sie war gebieterisch. Fast schon bedrohlich. Und warum sollte sie das auch nicht sein? Er war Soldat. Ein gefährlicher Soldat, wenn man den Gerüchten Glauben schenken durfte.

Wenn sie wüsste, was gut für sie war, würde sie aufstehen und schnurstracks zurück in den Salon gehen. Stattdessen blieb sie, wo sie war, nur eine Haaresbreite entfernt von einem der skrupellosesten Männer der jüngeren Militärgeschichte.

Er mochte als Held der Krim bekannt sein, doch der Spitzname wurde nur selten anerkennend ausgesprochen. Captain Blunt war während des Krieges berüchtigt gewesen.

Sie war in die Einzelheiten seines Verhaltens nicht eingeweiht. Damals war sie zu jung gewesen, um die Zeitungsberichte zu lesen. Und jetzt gab es unter den Damen, mit denen sie verkehrte, nur vages Getuschel. Alles, was Julia mit Sicherheit wusste, war, dass sein schlechter Ruf seit seiner Rückkehr nach England noch schlechter geworden war.

Wenn es stimmte, was ihre beste Freundin Lady Anne sagte, dann beherbergte das Spukschloss des Captains in Yorkshire gegenwärtig seine Brut unehelicher Kinder. Ein Skandal. Was für ein Gentleman stellte seine Sünden öffentlich zur Schau? Die Antwort lag auf der Hand: ein Mann, der überhaupt kein Gentleman war.

Wenn er Julia kompromittieren wollte, wäre es ein Leichtes für ihn.

Sie spielte mit dem Gedanken, davonzulaufen, doch als sie zum Captain aufblickte, sah sie, dass er sie mit zielstrebiger Aufmerksamkeit betrachtete.

»Miss Wychwood …«

»Ja?« Ihre Stimme war ein atemloses Flüstern.

»Ich frage mich … was reizt Sie an diesem Roman?«

Julia sah überrascht zu ihm auf. »Sie wollen etwas über Das Geheimnis der Lady Audley erfahren?«

»Das will ich.«

Sie gestand sich eine gewisse Enttäuschung ein. Was hatte sie gedacht, was er sagen würde? Etwas Skandalöses?

Etwas Aufregendes?

Wie dumm von ihr. Man könnte meinen, sie hätte sich etwas in dieser Art gewünscht.

»Was ist es in dieser Geschichte, das Ihr Interesse so fesselt?«, fragte er. »Dass Sie sie immer und immer wieder lesen?«

Das war einfach. »Es ist die Art und Weise, wie sie sich verwandelt. Ich fand die Idee schon immer faszinierend.«

Captain Blunt warf ihr einen unergründlichen Blick zu.

»Neuerfindung«, erklärte sie. »Sich in jemand anderen zu verwandeln.«

Seine grauen Augen wirkten eisig. »Zu welchem Zweck?«

Sie befürchtete, dass sie etwas Falsches gesagt hatte, aber sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was. »Natürlich … um glücklicher zu sein.«

»Wie das?«

»Indem man ein anderer Mensch ist«, sagte sie.

»Offensichtlich.«

»Aber Sie wären unter all dem immer noch derselbe Mensch.«

»Ja, aber die Umstände wären anders. Man könnte irgendwo neu anfangen. An einem Ort, an dem man willkommen geheißen und bewundert würde. Wo man das Gefühl hätte, dazuzugehören.«

Captain Blunt wirkte skeptisch.

»Es ist wahr«, beharrte Julia. »Zumindest für Frauen. Bei uns basiert alles auf Äußerlichkeiten. Auf Gerüchten und Anspielungen. Wenn eine Dame einmal einen schlechten Ruf hat, kann sie sich genauso gut ganz aus der Londoner Gesellschaft zurückziehen. Die einzige Möglichkeit ist, sich woanders neu zu erfinden. In Indien oder Amerika oder in irgendeinem Kurort oder sonst wo. Viele Damen haben das getan.«

Er betrachtete sie im Schein der Gaslampe. »Sie haben keinen schlechten Ruf.«

»Ich habe nicht von mir gesprochen.« Sie zog ihre Seidenhandtasche auf und ließ ihr Buch hineinfallen. »Und außerdem«, murmelte sie, »habe ich den Ruf, seltsam zu sein. Das ist fast dasselbe.«

»Seltsam? Inwiefern?«

»Anders. Ungewöhnlich. Ich passe nicht hierher.« Sie zog die Kordel ihres Handtäschchens wieder zu. »Das weiß doch jeder.«

»Ich nicht.«

»Vielleicht haben Sie es nur noch nicht bemerkt.«

Seine Stimme vertiefte sich zu einem heiseren Knurren. »Ich habe alles an Ihnen bemerkt.«

Sie riss beunruhigt die Augen auf. »Haben Sie das? Du meine Güte. Ich weiß nicht, warum Sie das sollten. Ich bin doch völlig uninteressant.«

»Ist das so? Und doch interessieren Sie mich sehr.« Er musterte ihr Gesicht. »Ich frage mich, warum Sie noch nicht verheiratet sind.«

Diese so beiläufig gemachte Aussage war ebenso unverschämt wie unerwartet.

Julia wich vor ihm zurück und erwiderte empört: »Wiebitte?«

»Verzeihen Sie meine Impertinenz«, sagte er. »Ich kann nur nicht begreifen, wie Sie noch ungebunden sein können.«

Sie war entrüstet bis ins Mark. »Sie machen sich über mich lustig, Sir.«

»Das tue ich nicht. Ich spreche nur offen. Es steht Ihnen frei, das Gleiche zu tun.«

Ihr Blick war wie gebannt auf seinen gerichtet. Noch nie in ihrem Leben hatte sie offen mit einem Gentleman gesprochen. Jedenfalls nicht mit einem Fremden. Wenn sie die Wahl hatte, sprach sie lieber überhaupt nicht.

Aber was würde es schaden?

Er schien interessiert zu sein. Und sie brauchte sich für nichts zu schämen.

Sie stieß einen unsicheren Atemzug aus. »Wenn Sie es denn wissen wollen – meine Lebensumstände sind kompliziert. Die Gesundheit meiner Eltern ist angegriffen. Und meine eigene ist ebenfalls oft eher mittelmäßig.«

»Sie sind krank?«

»Nicht krank. Man könnte wohl sagen, ich bin … fragil.«

Er betrachtete sie mit festem Blick. »Auf Ihrem Pferd heute Morgen sahen Sie alles andere als fragil aus.«

»Das ist etwas anderes. Cossack macht mich stärker. Ohne ihn werde ich im Allgemeinen als unzureichend angesehen. Außer in einer Hinsicht.« Ihr Puls pochte in ihren Ohren. Eine Stimme in ihrem Kopf mahnte sie, den Mund zu halten. Doch Julia hörte nicht auf sie. »Ich habe eine nicht unbeträchtliche Mitgift.«

Captain Blunt erwiderte nichts. Er sah sie nur unverwandt an, auch wenn die Spannung zwischen ihnen fast greifbar war.

Wider besseres Wissen fuhr sie fort. »Vielleicht haben Sie schon davon gehört?«

»Das habe ich«, gab er zu.

Natürlich hatte er das. Warum sonst sollte er ihr seine Aufmerksamkeit schenken? Das hatte sie von dem Moment an gewusst, als er ihr auf Lady Arundells Ball vorgestellt werden wollte. Trotzdem ließ sein Geständnis Julia enttäuscht zurück.

So viel zu Nervenkitzel und Gefahr.

Der berüchtigte Captain Blunt war, wenn es darauf ankam, nichts weiter als ein gewöhnlicher Mitgiftjäger.

»Ich nehme an, Sie haben auch schon einiges über mich gehört«, sagte er.

Sie konnte es nicht leugnen. »Das habe ich.«

Das Schweigen zwischen ihnen wuchs. Es war zu schmerzhaft, um es zu ertragen.

Abrupt erhob sie sich von der Bank. Captain Blunt war sofort auf den Beinen. Sie trat einen Schritt zurück, in dem vergeblichen Versuch, Abstand zwischen sie zu bringen.

Doch er trat wieder auf sie zu. »Miss Wychwood.«

»Captain Blunt«, sagte sie gleichzeitig.

Er hielt inne, um sie sprechen zu lassen.

Sie zwang sich, fortzufahren, trotz der Beklemmung, die ihre Brust zusammenzog, und der sengenden Röte, die ihren Hals hinaufwanderte und sich in ihre Wangen brannte. »Ich hoffe, Sie werden sich nicht bemühen, mich zu umwerben. Wir passen nicht zusammen.«

Seine grauen Augen blitzten auf. »Glauben Sie nicht?«

»Das tue ich. Ich meine, das weiß ich.« Sie stolperte ein wenig über ihre eigenen Worte. »Ich habe eine beträchtliche Mitgift, das ist wahr, aber kein Geld der Welt reicht ewig. Und wenn Sie es aufgebraucht haben, wären Sie immer noch an mich gebunden.«

Seine Miene verhärtete sich. »Eine Beobachtung, die keinem von uns beiden schmeichelt.«

»Sie wollten offen sprechen.«

»Das habe ich.« Er verbeugte sich steif. »Miss Wychwood.«

»Captain.« Sie neigte ihren Kopf, raffte ihre schweren Röcke und trat den Rückzug an. Während sie den Raum verließ, spürte sie, wie er ihr nachstarrte, genau wie am Morgen im Hyde Park.

Sie beschleunigte ihre Schritte und fühlte sich wieder einmal an Mythen und Märchen erinnert. An düstere, geheimnisvolle Schurken, die junge wehrlose Frauen entführten.

Und Captain Blunt war ein Schurke. Das sagten alle.

Und sie tat gut daran, das nicht zu vergessen.

4. KAPITEL

Das Sonnenlicht fiel warm auf Julias Schultern, als sie an dem zierlichen, mit Boulle-Intarsien verzierten Schreibtisch ihrer Mutter saß. Sie tauchte den gespitzten Gänsekiel in das Tintenfass und klopfte den Überschuss ab, bevor sie ein dickes X über das gestrige Datum in ihrem Tagebuch zog.

Nur noch drei Tage bis zur Rückkehr ihrer Freundinnen nach London.

Drei weitere Tage mit gesellschaftlichen Ereignissen, die sie allein bewältigen musste.

Sie legte die Schreibfeder aus der Hand. Als sie heute Morgen ausgeritten war, hatte sie halb erwartet, Captain Blunt wiederzutreffen. Aber er schien ihre Bitte befolgt zu haben. In der Rotten Row war keine Spur von ihm zu entdecken gewesen.

Und sie hatte nach ihm gesucht.

Gesucht und gesucht. Als wäre sie über seine Abwesenheit enttäuscht.

Was überhaupt nicht der Fall war.

Sie war froh, dass er sein Interesse an ihr verloren hatte. Sie war keine frivole Romanheldin, die sich von seiner imposanten Größe und seinen unglaublich breiten Schultern beeindrucken ließ. Von seinem rabenschwarzen Haar mit den hellen Silberfäden an den Schläfen und dem durchdringenden Blick seiner Augen, die so kalt und grau waren wie die Themse im Winter. Wären da nicht sein vernarbtes Gesicht und sein schlechter Ruf gewesen, hätte er beinahe gut ausgesehen.

Beinahe.

Aber dies war kein Roman. In den Armen eines Schurken wartete kein Abenteuer auf sie, sondern nur Ruin, Elend und Schande. Wenn sie in dieser Saison einen Ehemann finden sollte, dann nur unter anständigen Männern. Gentlemen, die keine blutrünstigen ehemaligen Soldaten waren und die nicht mit ihrer Brut unehelicher Kinder in verwunschenen Häusern in Yorkshire lebten, in denen es spukte.

Seltsam. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Captain Blunt eine Mätresse hatte. An ihm war so gar nichts Zärtliches. Nichts furchtbar Romantisches. Obwohl …

Er hatte zugegeben, Das Geheimnis der Lady Audley gelesen zu haben.

Sie fragte sich, was Anne wohl dazu sagen würde.

Lady Anne Deveril, die einzige Tochter des verstorbenen Earl of Arundell, war Julias beste Freundin, solange sie denken konnte. Sie waren in jeder Hinsicht gegensätzlich – Anne war kühn, selbstbewusst und eigensinnig, während Julia schüchtern und unsicher war und in Gesellschaft oft keinen Ton herausbrachte. Dennoch passten sie gut zusammen, denn jede von ihnen bot, was der anderen fehlte.

In vielerlei Hinsicht fungierte Anne als Julias Beschützerin. Sie hatte eine fast mütterliche Rolle übernommen, die Julia vor unverschämten Männern und sie selbst vor ihren eigenen Zügellosigkeiten bewahrte. Erst kürzlich, als Julia mit Pralinen und einem Roman in ihrem Bett gelegen und sich mit einer Krankheit vor ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen hatte drücken wollen, war es Anne gewesen, die sie überredet hatte, aufzustehen und sich der Londoner Saison zu stellen.

Bis vor zwei Tagen waren sie noch gemeinsam mit ihren Busenfreundinnen Stella Hobhouse und Evelyn Maltravers unterwegs gewesen. Die vier waren ausgezeichnete Reiterinnen, die sich im Sattel wohler fühlten als in einem Ballsaal. Der gemeinsame Ausritt im Park war Julias täglicher Lichtblick. Und was die Abende anging, so machten sogar die Bälle mehr Spaß, wenn ihre Freundinnen dabei waren.

Wären sie doch auch jetzt hier!

Sie alle hatten London am selben Tag verlassen. Evelyn hatte Anne und Lady Arundell nach Birmingham begleitet, um das junge Medium zu sehen. Und Stella hatte ihren Bruder, einen Geistlichen, widerwillig zu einer ökumenischen Konferenz in Exeter begleiten müssen.

Sowohl Stella als auch Anne würden am Sonntag zurückkehren. Evelyn würde erst ein paar Wochen später nach einem kurzen Besuch in ihrem Heimatdorf in Sussex wieder nach London kommen.

Julia vermisste ihre Freundinnen furchtbar. Während ihrer Abwesenheit wusste sie nicht recht, was sie mit sich anfangen sollte. Wie immer unter solchen Umständen, zog sie sich in die Sicherheit ihres Schlafzimmers zurück, in die Wärme ihres Bettes und die vorübergehende Flucht in einen Roman.

Sie erhob sich von ihrem Platz und läutete nach dem Dienstmädchen.

Wenige Augenblicke später trat eine junge Frau mit strengem Gesicht und gestärkter Schürze ein. Jane Sieben, so hieß sie – das siebte Dienstmädchen in dieser Position. Sie hießen alle Jane, so wie alle ersten Lakaien Jenkins, die zweiten Lakaien George und alle Reitknechte Luke hießen. Julias Eltern bestanden darauf, dass es so einfacher war. Trotzdem kam es Julia nie ganz richtig vor.

»Sie haben geläutet, Miss?«, erkundigte sich Jane Sieben.

»Lass die Kutsche vorfahren«, sagte Julia. »Und ruf Mary. Ich muss heute Morgen einige Einkäufe erledigen.«

»Ja, Miss.« Jane Sieben machte einen wackligen Knicks, bevor sie sich zum Gehen wandte.

»Warum sind die Vorhänge geöffnet?« Die schwache, mürrische Stimme von Julias Vater, Sir Eustace, eilte ihm ins Zimmer voraus. Er trat ein, immer noch in seinen Pantoffeln, und trug einen Morgenmantel aus Samt und Seide. Um den Hals hatte er sich als Schutz vor vermeintlicher Zugluft einen dicken Schal gewickelt. »Zieh sie sofort wieder zu, Jane.«

Jane Sieben eilte zum Fenster und schloss die schweren Vorhänge. So tat sie es von Fenster zu Fenster, bis die helle Sonne wieder aus dem Morgenraum verschwunden war.

Julia runzelte die Stirn. »Ich hatte darum gebeten, sie aufzuziehen, Papa.«

Ihr Vater warf ihr einen leidgeprüften Blick zu. »Du bringst mich noch ins Grab, Kind. Und dich selbst auch, wenn du nicht aufpasst. Wieder im Morgengrauen aufgestanden? Auf deinem Pferd ausgeritten?«

»Mir geht es sehr gut«, entgegnete sie. »Und dir? Du musst dich etwas besser fühlen, wenn du aus deinem Zimmer kommst.«