Benutzt, verletzt, gedemütigt - Viktoria Schuhmacher - E-Book

Benutzt, verletzt, gedemütigt E-Book

Viktoria Schuhmacher

4,2

Beschreibung

Anna und Viktoria, beide 1974 geboren, kennen sich seit der 1. Klasse. Während auf dem Gymnasium die Mitschüler wissen, dass es bei Anna zu Hause „mit dem Vater irgendwie schwierig“ ist, wird Viktoria häufig um ihre offenen und toleranten Eltern beneidet. Anna bricht den Kontakt zu ihren Eltern mit 19 Jahren ab, Viktoria mit 30. Kurz danach findet Viktoria heraus, dass ihr Vater sie jahrelang finanziell benutzt hat. Auf einmal entdeckt sie Parallelen zwischen ihrem und Annas Leben: ähnliche Situationen, gleiche Erziehungsansätze, die sie in eine gewünschte (und gefügige) Rolle als Tochter pressen sollten. Während Anna mit 19 in der Familie ihres Mannes endlich erfährt, was familiärer Rückhalt bedeutet, benötigt Viktoria acht Jahre nach Kontaktabbruch immer noch therapeutische Hilfe, da positive Entwicklungen in ihrem Leben sie nach wie vor ängstigen. Die beiden Frauen wollen aufklären: Familiäres Mobbing ist keine strenge Erziehung, es ist Gewalt! Nach außen nicht sichtbare Gewalt!

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Für Arne.

Ich danke dem Herrn,

dass er Dich mir geschenkt hat.

Du bist der lebende Beweis dafür,

dass sich mein Kampf gelohnt hat.

Ich werde mein Bestes geben,

um auf Dich zu achten und Dich zu beschützen.

Ich werde mein Bestes geben,

um Dich nicht zu enttäuschen.

Ich wünsche mir,

dass Du glücklich bist.

Stellvertretend für diejenigen,

die den Ereignissen in ihrem Leben

sprachlos gegenüberstehen:

NATHALIE

- die keine Worte mehr hat.

Sie sah mit Anfang 20,

nach einem Streit mit ihrem Vater,

keinen anderen Ausweg mehr

und nahm sich das Leben.

Ihre Eltern schrieben in der Traueranzeige,

es wäre ein „tragischer Unfall“ gewesen.

Sie darf nicht vergessen werden.

FABIAN und LARSEN

- die noch keine Worte haben.

Sie sind Wunschkinder.

Ihre Mutter wollte unbedingt schwanger werden.

Dafür hatte sie extra 20 kg abgenommen.

Mit zwei Jahren zeigten sie die ersten Auffälligkeiten.

Mit fünf Jahren sprach der Kindergarten die Mutter an,

die Kinder bräuchten einzeln mehr Zeit mit ihr allein.

Die Mutter sagt,

wenn sie vorher gewusst hätte,

wie anstrengend Kinder sind,

hätte sie sich dagegen entschieden.

Ich wusste, dass der Tag auf mich zukommt,

an dem ich sie im Stich lassen muss,

um sie zu schützen.

Ich habe diesen Tag so lange es ging hinausgezögert.

Ich hoffe, dass sie sich eines Tages an mich erinnern.

Inhalt

Einleitung

Anna „Nun hau’ doch ab zu deinem Beschäler!“

Die Entfremdung vom leiblichen Vater

Das Mutter-Tochter-Verhältnis

Die Erziehungsmethoden des Stiefvaters

Der Selbstmordversuch

Der sexuelle Missbrauch

Der Rausschmiss

Annas neue Familie

„Narben“ aus der Vergangenheit

Viktoria Schuhmacher Die Kämpferin

Aus dem Leben meines Vaters

Meine Mutter

Wie ich meine Mutter erlebt habe

Die Krankengeschichte meiner Mutter

Die Beziehung meiner Eltern

Die Macht des Vornamens

Meine Kindheit und Teenagerjahre

Das Wertesystem meines Vaters: GELD

Ausgeprägter Kontrollzwang

„Wenn man sich einmal zu etwas entschieden hat …!“

Der Existenzgründerkredit

Die Hochzeitsvorbereitungen

Die Sache mit meiner Oma

„Das sind Herr und Frau Schuhmacher!“

Mein Nervenzusammenbruch

Unser Traum vom eigenen Häuschen

Verraten und verkauft

Der lange Weg zu mir selbst

Monika Wetterauer-Kopka Reflexion über das ErlebteAblauf und Auswirkungen familiären Mobbings

Eine Buchreise beginnt

Exkurs: Was ist eigentlich Mobbing?

Transfer zu Mobbing-Prozessen in der Familie

Der Familienbegriff in den Augen der Opfer

Exkurs: Was sind eigentlich Familie und traditionelle Familienwerte?

Betrachtung des Ablaufs – wie ergeht es demKind im Elternhaus?

Machtspiele und Ignoranz beherrschen das Vater-Kind-Verhältnis

Die Rolle der Mütter

Betrachtung der Auswirkungen

Folgen für das Leben

Exkurs: Am Anfang steht das Urvertrauen

Auswirkungen im Alltag

Folgen für das eigene Familienleben als Erwachsene

Eine Buchreise nähert sich dem Ende

Ein paar Worte zum Schluss

Einleitung

Im Jahr 2005 fiel mir ein Artikel aus einer Frauenzeitschrift in die Hände. Titel des Artikels war „Mobbing in der Familie“. Nanu, dachte ich, Mobbing in der Familie, gibt es so etwas? Und fing an zu lesen … Und so langsam wurde mir übel. Ich erkannte meine gesamte Familie wieder, meine Mutter, meinen Vater, meine Großmutter und auch mich, zum Teil wortwörtlich mit denselben Äußerungen, die auch in unserer Familie an der Tagesordnung waren. Seit Jahren schon, wenn nicht seit Jahrzehnten. Und mit einem Mal fügten sich die Situationen in meinem Leben zusammen, die ein riesengroßes Fragezeichen bei mir hinterlassen hatten, warum sie auf diese Art und Weise und nicht anders geschehen waren, und die Antwort stand klar und deutlich vor mir: Ich wurde gemobbt! Nicht, dass ich nicht beruflich mit diesem Thema sowieso zu tun gehabt hätte, die Anzeichen kenne und bei anderen auch erkenne. Aber bei mir selbst konnte ich sie nicht sehen. Wie auch? Aufgezogen in dem Glauben (wie so viele Menschen), dass ich ein Wunschkind bin und meine Eltern immer nur mein Bestes wollten, konnte es die Idee, dass ich vielleicht nicht an allen Problemen in unserer Familie schuld bin, nicht geben.

Der Artikel bezog sich auf zwei Konstellationen: Die böse Schwiegermutter, die die Schwiegertochter drangsaliert, und das „schwarze Schaf“ unter den Geschwistern. Der Faktor „Vater/Mutter mobbt Kind“ kam nicht vor. Sollte es das nicht geben? Sollte ich wirklich die Einzige sein, die mit ihrem Vater so merkwürdige Dinge erlebte? Da der Artikel zu dem Zeitpunkt, als ich ihn entdeckte, bereits zwei Jahre alt war, ging ich in den Buchhandel, um weitere Informationen zu diesem Thema zu finden. Ich brauchte Antworten. Ich brauchte die Gewissheit, dass es eine offizielle Anleitung zu dem Theaterstück gab, das ich mit meinen Eltern erlebte. Aber zu den Stichworten Mobbing und Familie gab es nichts! Das Einzige, was ich finden konnte, war ein Buch zur kindlichen Depression, in dem auf zwei Seiten auch die Charakteristika der Eltern beschrieben wurden. In den aufgeführten Charakteristika erkannte ich meine Eltern zwar wieder, aber ich war Anfang 30, somit definitiv kein Kind mehr, und wenn depressiv, dann nicht mehr kindlich depressiv. Das konnte doch nicht sein, dass es keine Literatur zu diesem Thema gab! Allein in meinem Bekanntenkreis sind es inzwischen acht Frauen mit einer ähnlichen Familiengeschichte wie meiner, das sollen alles Ausnahmen sein? Dafür sind die Gemeinsamkeiten, zum Beispiel die Mutter-Figur, die nicht in Erscheinung tritt, zu offensichtlich. So entstand die Idee zu diesem Buch.

Inzwischen wurde ich von fachlicher Seite aufgeklärt, dass der Begriff Mobbing aus der Arbeitspsychologie stammt und im familiären Rahmen eigentlich nicht benutzt wird. Ich habe mich jedoch sehr bewusst dazu entschieden, das, was mir widerfahren ist, Mobbing zu nennen. Die klassischen Anzeichen sind erfüllt, und die Auswirkungen bei mir sind dieselben, die andere Mobbing-Opfer auch haben, die in ihrem Berufsleben gemobbt wurden. Und ich denke, dass unsere Gesellschaft heute mit dem Mobbing-Begriff etwas Bestimmtes verbindet und weiß, dass es große psychische Auswirkungen auf die Betroffenen hat. Warum also das Rad neu erfinden?!

Mobbing in der Familie ist Gewalt! Das hat nichts mit strenger Erziehung oder unartigen Kindern zu tun. Und auch nichts mit schrulligen Eltern, die vielleicht ein bisschen merkwürdig reagieren. Ich selbst bin sehr streng erzogen worden, und dafür muss ich meinen Eltern dankbar sein. Denn wahrscheinlich hat mich meine Erziehung daran gehindert, mich selbst aufzugeben. Ich habe durchgehalten, und das ohne Tabletten oder psychische Störungen, obwohl ich zwischenzeitlich doch ziemlich am Abgrund stand. Rein nüchtern betrachtet weiß ich, dass ich Außergewöhnliches geleistet habe. Nur leider kommt es innen drin bei mir nicht an. Es überwiegt das Gefühl, versagt zu haben. Nicht alles versucht zu haben, um meiner Rolle und Funktion als „folgsames Kind“ gerecht zu werden.

Mobbing in der Familie kann sehr dramatische Formen annehmen und bis hin zum Suizid der Betroffenen führen. Ich selbst hatte lange Zeit das Problem, das, was mir widerfahren ist, nicht als Gewalt betiteln und anerkennen zu können. Ich bin ja nicht geschlagen worden! Ich tue mich immer noch sehr schwer damit. Geholfen, mich und meine Ängste besser akzeptieren zu können, hat mir ein Artikel im STERN aus dem Jahr 2008. Er handelte von schwerst traumatisierten Kindern, die in ihrer Baby- und Kleinkinderzeit unvorstellbare Gewalt durch die Eltern erlebt haben. Die beschriebenen Verhaltensweisen dieser Kinder, die sie auch noch Jahre später zeigten, obwohl sie inzwischen in Pflegefamilien vermittelt wurden, kenne ich auch von mir:

Die Panik und das sich nicht wehren können gegen eingefahrene Muster, weil das Vertrauen fehlt, dass eine bestimmte Situation dieses Mal einen anderen Ausgang nehmen könnte.

Das nicht verstehen können, dass jemand, nur weil er mich freundlich behandelt, nicht gleich Freundschaft mit mir schließen möchte.

Das sehr häufige Abfragen und Herausfordern von Zuneigungsbekundungen, weil Worte das Einzige sind, an dem ich ausmachen kann, dass jemand mich mag.

Ich habe es verlernt, meinen Gefühlen zu vertrauen, weil mein Vertrauen von meinen Eltern jahrelang enttäuscht worden ist. Und ich verstehe erst jetzt, wie sehr.

Die Diskussion, die heute im Gang ist, ob ein Klaps auf die Finger einem Kind schadet oder nicht, ob das schon als körperliche Gewalt zu gelten hat oder nicht, ist sicherlich wichtig, das will ich nicht bestreiten. Psychische Gewalt hinterlässt keine äußerlichen Spuren. Somit dauert es deutlich länger, bis die Umwelt oder das Opfer selbst sie bewusst wahrnimmt beziehungsweise wahrnehmen kann. Das heißt aber nicht, dass es sie nicht gibt. Mobbing ist psychische Gewalt!

Sie werden im Folgenden zwei Erfahrungsberichte beziehungsweise Lebensgeschichten lesen, die Ihnen das Thema Mobbing in Familien näher bringen sollen. Zum einen meine, zum anderen die von Anna, einer Schulfreundin von mir. Ich danke Anna von Herzen, dass sie mir ihre Geschichte zur Verfügung gestellt hat. Mir ist sehr bewusst, dass sie sich zu diesem Schritt nur entschlossen hat, weil wir uns seit der Grundschule kennen. Sie bat darum, anonym zu bleiben und auch die Namen ihres Vaters und ihrer Kinder zu verfremden, weil sie unter anderem ihren heranwachsenden Kindern nicht zumuten wollte, herauszufinden, dass es Zeiten gab, in denen die Großeltern nicht so nett gewesen sind. Sie dachte am Anfang, dass sie eigentlich nichts zu erzählen hätte. Es sei doch nur eine normale Familiengeschichte! Im Laufe der Zusammenarbeit allerdings wurde sie mutiger, erkannte deutlicher, dass sich bestimmte Schemata ihrer Kindheit wiederholten. Dass ihr Vater nach wie vor versuchte, ihr einzureden, dass er mehr Ahnung habe als sie. Und dass er sie nach wie vor wie eine Person behandelte, die unerwünscht ist. Mir und auch ihrer Familie ist aufgefallen: Sie hat durch die Arbeit an diesem Buch deutlich mehr Selbstbewusstsein bekommen! Schön, dass meine Idee bereits die erste Person erreicht hat.

Spannend ist für mich, dass Anna und ich eigentlich nie beste Freundinnen waren. Aber irgendetwas hat uns anscheinend damals als Teenager zusammengeführt und bis jetzt auch zusammengehalten. Worüber ich mich sehr gefreut habe, war, dass sie während unseres Gesprächs zwischendurch sehr zufrieden ausgesehen hat. Endlich konnte sie jemandem alles erzählen, der nicht versuchte sie zu überzeugen, dass es doch sicherlich nicht so schlimm gewesen sei. Für mich sehr bedrückend ist, dass damals in der Schule keiner gemerkt hat, was bei ihr zu Hause passierte. Wie schlecht es ihr eigentlich ging. Wie dringend sie Hilfe benötigt hätte. Mir war es wichtig, dass sie selbst zu Wort kommt, deswegen habe ich den Interview-Stil weitgehend beibehalten. Sie kann ihren Schmerz, der in ihr ist, am besten ausdrücken. Den wollte ich nicht verfälschen beziehungsweise ich möchte mir auch nicht anmaßen, ihre Erlebnisse in eigene Worte zu verpacken und dadurch die Aussage eventuell zu schmälern. Ihre Geschichte, auch wenn ich sie jetzt schon oft gelesen und überarbeitet habe, bereitet mir immer noch extreme Gänsehaut. Und ließ mich zwischendurch denken: Ach, mein Vater war ja gar nicht so schlimm. Auch das ist ein deutliches Anzeichen für Gewaltopfer: Sich selbst zurück zu nehmen. Soll ich dankbar dafür sein, dass ich eine schöne Kindheit hatte, oder Anna darum beneiden, dass sie es heute mit Anfang 30 hinter sich hat, während ich noch mittendrin bin?!

Mit der Idee zu diesem Buch liegen mir zwei Dinge besonders am Herzen:

Sollten Sie selbst Betroffene(r) sein und sich dieses Buch kaufen, weil Sie das Gefühl haben, etwas stimmt in Ihrem (Familien-)Leben nicht, so hoffe ich, dass Sie hier einige Antworten finden. Und Ihnen das, was Sie lesen, hilft, den nächsten Schritt zu unternehmen. Dass Sie erkennen, dass Sie das, was Sie als normal empfinden, nicht hinnehmen müssen. Holen Sie sich Hilfe! Sie sind nicht allein! Sollte es mir durch dieses Buch gelingen, dass nur eine einzige Person beschließt, sich dem Ganzen zu stellen und ihren Eltern gegenüber Grenzen zu setzen, dann habe ich mein Ziel erreicht.

Sollten Sie dieses Buch gekauft haben, weil Sie sich denken: Familiäres Mobbing kann es doch nicht geben, oder weil Sie das Thema interessiert, dann wünsche ich mir, dass Sie nach der Lektüre Ihrer Umwelt gegenüber aufgeschlossener sind. Sollte sich Ihnen jemand aus Ihrem Freundes-/Bekanntenkreis anvertrauen, seien Sie gewiss, dass es für diesen Menschen ein sehr großer Schritt ist. Und wahrscheinlich der erste! Versuchen Sie, zuzuhören. Versuchen Sie, diesen Menschen auf seinem Weg zu unterstützen, denn das ist es, was er unbedingt braucht. Und vermeiden Sie unbedingt Äußerungen wie: „Da hättest du schon früher etwas machen müssen!“ oder „Und das alles innerhalb der Familie …“. Ich habe inzwischen gelernt, dass gerade der letzte Satz die Hilflosigkeit Ihrerseits ausdrückt. Auch, wenn es von Ihnen nur gut gemeint ist, aber der Mensch, der vor Ihnen sitzt, empfindet es als Angriff. Als Hinweis darauf, dass er sich nicht genügend bemüht hat. Er kann mit dem Familienbegriff nichts anfangen. Er weiß nicht, was es bedeutet, eine Familie zu haben. Nach der klassischen Definition, die unsere Gesellschaft uns vorgibt: Eltern, die einen unterstützen, die einen lieben, die zu einem halten. Mir selbst wurde einmal gesagt: „Aber Sie sind doch deutlich jünger, Sie halten mehr durch! Können Sie nicht über das Ganze hinwegsehen?!“ Warum hat die Gesellschaft eigentlich immer Mitleid mit den „alten“ Eltern, wenn die Kinder sich abwenden? Wer hat Mitleid mit den Kindern, die vorher keine Wahl hatten zu entscheiden, ob sie diese Attacken über sich ergehen lassen wollen oder nicht?!

Die Künstlerin Moon McNeill, deren Lebensgeschichte Parallelen zu meiner aufweist, hat mir tief aus der Seele gesprochen. Als ich ihr von meiner Buchidee erzählte, schrieb sie mir: „Jede Form von Missbrauch trifft ganz tief, und je älter man wird, desto tiefer sitzt die Trauer. Die große innere Befreiung, auf die man hofft, kommt nicht. Man kann sich das Tragen der Last nur leichter machen, indem man positiv lebt und liebt und wirklich zu SEINEM Leben findet.“ Ich bin froh, dass es endlich vorbei ist. Dass ich es überstanden habe. Und dass ich erst Anfang 30 bin. Jedes Jahr mehr hätte den Absprung deutlich schwieriger gemacht. Noch schwerer, als er ohnehin schon war.

Anna

„Nun hau’ doch ab zu deinem Beschäler!“

Ende Februar 2006 traf ich mich mit Anna in einem Hotel in der Stadt, in der wir beide zur Schule gegangen waren. Dieser Ort lag strategisch günstig, da wir beide dorthin anreisen mussten. Und wir beide waren arg nervös!! Als ich Anna Anfang Januar anrief und sie um ihre Hilfe bat, hatte ich sie plötzlich (für mich sehr überraschend) weinend am Telefon. Dass die ganze Geschichte doch endlich mal ruhen müsse. Dass es ihr in ihrem Leben gut ginge, dass sie mit ihren Eltern jetzt einigermaßen gut auskäme und dass sie nicht mehr daran erinnert werden wolle. Wir einigten uns darauf, dass ich ihr einen Auszug aus meinem Text schicke und dass sie es sich dann überlegte. Aber eigentlich waren wir beide der festen Überzeugung, dass sie auf keinen Fall mitmachen würde. Umso erstaunter war ich, als sie drei Wochen später anrief und zusagte. Und dann saßen wir in diesem Hotelzimmer …

Anna: Also, ich sag’ mal, so für mich, ich weiß im Moment überhaupt nicht, was ich erzählen soll. Was willst du von mir??? (Sie lacht.) Oh Gott, wo führt das hin??

Viktoria: Wenn wir beide aufgeregt sind, dann ist das ja schon mal eine gute Voraussetzung! Okay. Als ich mit dir telefoniert habe Anfang des Jahres, war deine erste Reaktion eigentlich eher: ,Oh Gott, lass mich bloß in Frieden!‘ Also, dass du zwar gesagt hast, ich denke darüber nach, und dass du es dir durchlesen sollst. Aber du hast gesagt, und das war auch deine feste Meinung, du willst eigentlich in Ruhe gelassen werden. Es soll jetzt in Frieden ruhen und nicht noch mal nach oben geholt werden. Wo ich auch meinte, ich kann das nachvollziehen, dass ich das ja eigentlich auch so empfinde. Nur ich merke, dass das mein Prozess ist. Dass ich das aufschreiben und rauslassen möchte. Was war da bei dir? Was ist da passiert, dass du gesagt hast, okay, jetzt mache ich doch mit.

Du, ich habe da zu Hause viel drüber geredet. Dirk war da sofort für. Ich habe gesagt: ,Viktoria will mich interviewen!‘ – ,Worüber?‘ – ,Wie das damals gewesen ist.‘ – ,Ja, das mach’ mal!‘

Das ist ja schön.

Meine Schwiegermutter sagte: ,Das tut dir bestimmt gut!‘ War ja nun nicht das, was ich hören wollte. Dann habe ich bei Conny angerufen. Sie ist ja im Prinzip meine Ersatzmutter. Und die sagte: ,Ja, DAS habe ich mir schon lange gedacht, dass du das eigentlich mal tun solltest.‘ Ja, da hatte ich dann von keinem überhaupt nicht ... Mit Rückendeckung hatte das ja nun nichts zu tun. Und dann habe ich deine Mail noch ziemlich lange liegen lassen und habe den Anhang erst nicht gelesen. Und dann habe ich ihn irgendwann gelesen, und habe dann bei manchen Sachen gedacht: Das kann ich gut nachvollziehen! Ich weiß genau, was Viktoria damit meint! Und ich fand das auch sehr gut zu lesen, und dann habe ich gedacht, naja gut. Warum ich das eigentlich auch erst nicht wollte, ist auch immer noch irgendwie diese unbestimmte Angst: Was sagen meine Eltern dazu? Wenn die das nun in die Finger kriegen und erkennen: Oh Gott, wollte Anna uns nun schon wieder absichtlich in die Scheiße reiten oder warum macht sie das?

Das habe ich auch zu hören bekommen. „Es können ja auch Dinge passieren, die deine Eltern gar nicht wollen, was dann schlecht für deine Eltern aussieht!“ Ob ich darauf Rücksicht nehmen sollte, ist die andere Frage. Mein Vater hat auch nicht auf mich Rücksicht genommen, dem ist es auch egal. Diese Angst habe ich auch. Aber auf der anderen Seite ... Wir sind erwachsen! Und ich denke, diese Angst ist einfach das, was uns eingetrichtert worden ist. Und womit unsere Eltern auch Erfolg hatten. Oder unsere Väter Erfolg hatten, dass wir es bis hierher durchgehalten haben und nichts dazu sagen.

Aber so kam das. Und nun bin ich immer noch schweineaufgeregt.

Ist es für dich schön, dass dein Mann und deine Familie dich da unterstützen? Auch wenn du sagtest, du hättest dir eigentlich etwas anderes als Rückmeldung erhofft. Ist das für dich beruhigend?

Ja, doch.

Die Entfremdung vom leiblichen Vater

Wie sich ihre Eltern kennengelernt haben, entzieht sich Annas Kenntnis. Mit 25 wurde ihre Mutter schwanger, wobei Anna nicht weiß, ob sie ein Wunschkind oder ein Unfall war. Sie kommentiert dieses mit einem Schulterzucken, „kleine Kinder müssen ja auch nicht alles wissen!“ Das Einzige, woran sie sich in diesem Zusammenhang erinnern kann, ist, dass ihre Mutter ihr gerne ihre Schwangerschaftsstreifen vorgehalten hat. So einen Bauch hätte sie ja nur, weil Anna da drin war! Die Eltern trennten sich, als Anna circa eineinhalb Jahre alt war.

Als Anna vier oder fünf Jahre alt ist, lernt ihre Mutter während einer Kur Walter kennen. Anna vorgestellt wurde er, indem er sie eines Tages mit vom Kindergarten abholte. Im September 1982 heiraten ihre Mutter und Walter. Daran kann sich Anna auch noch erinnern, weil sie für den Tag aus der Schule genommen wurde, um beim Standesamt mit dabei sein zu können. Im November 1982 kam es bei Anna zur Änderung ihres Nachnamens. Begründung hierfür war, dass die drei sonst nach außen keine Familie darstellen würden, wenn sie den Namen ihres leiblichen Vaters behalten würde. Auf den Vater wurde gewaltiger Druck ausgeübt, um der Namensänderung zuzustimmen. Und auch Anna wurde stark beeinflusst. Es gibt einen handschriftlichen Brief von ihr, in dem sie ihrem Vater schreibt, er solle auf den Wunsch der Eltern eingehen, sonst dürfe er sie nicht mehr besuchen. Dies sei ihr eigener Wunsch, keiner hätte ihr das diktiert. Somit stimmte ihr Vater der Namensänderung zu, um Annas Wohl auf ihrem weiteren Lebensweg in den Vordergrund zu stellen. Da Anna erst acht Jahre alt war, konnte sie das Ausmaß dieser Entscheidung noch nicht absehen.

Brief von der Mutter an den leiblichen Vater bezüglich der Namensänderung (Dezember 1981):

„Ich habe mir lange überlegt, ob ich den Brief, den Anna impulsiv geschrieben hat, an Dich weiterleite. Der Brief liegt trotzdem bei, weil

Du daran erkennen kannst, daß Anna diesen Änderungswunsch hat,

die Angelegenheit sie sehr stark bewegt.

(…) Ich hatte in meinem letzten Schreiben bereits erwähnt, daß Anna schon länger davon spricht. Das hatte ich ihr jedoch immer wieder ausgeredet. Jetzt hat Anna sich entschieden und ich stütze ihren Wunsch voll. (…)“

Brief des Landkreises an den leiblichen Vater bezüglich der Namensänderung (November 1982):

„[…] Es ist in erster Linie der Wunsch des Kindes, so zu heißen, wie die Familienangehörigen, die es als ihre Eltern und Geschwister ausschließlich erlebt. Es gehört zu den existenziellen Grundbedürfnissen der Kinder, erhärtet aus allgemein anerkannten Grundsätzen der Psychologie, daß Kinder stillschweigend darunter leiden, wenn sie nicht so heißen, wie diejenigen Menschen, mit denen sie in einem Familienverband zusammenleben. Daher liegt die beantragte Namensänderung im wohlverstandenen Interesse des Kindes; sie ist dem Wohle des Kindes förderlich. […]“

Trotz der Namensänderung und dem nun nach außen kompletten Bild einer glücklichen Familie, wurde Anna von Walter nicht adoptiert. Der Grund hierfür war ein ganz einfacher: Der leibliche Vater wäre dann nicht mehr unterhaltspflichtig gewesen. „Sie haben ihn gemolken bis zum geht nicht mehr, ein ganz armes Schwein!“ Grundsätzlich bestand ein vierwöchiges Besuchsrecht, welches der Vater, da er circa zwei Stunden von Annas Wohnort entfernt wohnte, nicht immer wahrnehmen konnte. Anna selbst wurde von ihrer Mutter konsequent darauf getrimmt, dass der Vater doof wäre und dass sie ihn eigentlich gar nicht sehen wollte, sodass sie als Kind ihm gegenüber sehr negativ eingestellt war. Die Mutter wäre im Zusammenleben mit ihm immer schlecht behandelt worden, hätte nie Geld bekommen und hätte deshalb immer nur Joghurt essen müssen. Das Besuchsrecht wurde dann, als Anna circa 14 Jahre alt war, in beiderseitigem Einverständnis eingestellt. Unterhalt wurde weiter gezahlt. Als Anna am Anfang ihrer Lehre war, rief sie ihn an, dass er nun nicht mehr unterhaltsverpflichtet wäre, weil sie selber Geld verdiente. Daraufhin haben sie sich das erste Mal wieder getroffen. „Ja, und was der für Schoten erzählt hat, da kann man sich eigentlich nur hinsetzen. Also, ich bin als Kind doch wirklich darauf getrimmt worden, ihn nicht zu mögen, da nicht hin zu wollen.“

Brief von der Mutter an den leiblichen Vater bezüglich der Unterhaltszahlungen (November 1989):

„Bezugnehmend auf den Schriftverkehr vom 05.11.89 und vom 19.11.89 fordere ich Dich im Namen von Anna nunmehr auf, gemäß § 1605 BGB Auskunft über Dein derzeitiges Einkommen zu erteilen. Die Auskunft kann durch Vorlage der letzten 12 Verdienstbescheinigungen erfolgen, die Du bitte in Kopie hereingeben wirst. Eine pauschale Verdienstauskunft Deines Arbeitgebers genügt mir nicht, da aus dieser Auskunft nicht zu ersehen sein wird, was an nicht anrechenbaren Abzügen getätigt worden ist. Zur Lohnauskunft setze ich Dir eine Frist bis zum 15.12.1989. Danach werde ich den Unterhalt genau beziffern und Dich auffordern, die neue Unterhaltshöhe durch Änderungsurkunde beim zuständigen Jugendamt anzuerkennen und mir den Vollstreckungstitel auszuhändigen. Ich weise Dich ausdrücklich darauf hin, daß Anna lediglich über Einkünfte aus Deinen Unterhaltszahlungen verfügt und Du daher im Falle einer notwendig werdenden Unterhaltsklage in vollem Umfang prozeßkostenvorschußpflichtig bist. Bei der Ermittlung des Jahresnettoeinkommens finden auch Sonderzahlungen wie Spesen etc. Berücksichtigung. Ich erwarte daher auch hierzu eindeutige Angaben. […] Mit diesem Schreiben gebe ich Dir die letzte Möglichkeit, die Unterhaltsfrage im Sinne der geltenden Rechtssprechung ohne gerichtliche oder anwaltliche Maßnahmen zu klären und setze Dich bezüglich zu niedrig gezahltem Unterhalt im Namen von Anna vorsorglich in Verzug.“

In den kommenden Monaten wurden Anna Briefe vorgelegt, die sie zu unterschreiben hatte und die dann an ihren leiblichen Vater geschickt wurden. Es mag schwer anmuten, dass eine 18-Jährige, die gerade dabei ist, sich auf das Abitur vorzubereiten, diese komplexen Zusammenhänge wirklich von sich aus herausgefunden und formuliert hat.

Brief von Anna an den leiblichen Vater bezüglich der Unterhaltszahlungen (Dezember 1991):

„(…) Du wirst ja wissen, daß ich am 18.01.1992 18 Jahre alt und damit volljährig werde. Damit verbunden ist logischerweise eine Anpassung meines Unterhaltes. Ich bitte Dich daher, Dein Jahreseinkommen 01/91 bis 11/91 in prüffähiger Form zu belegen. Sollte sich Dein Jahresnettoeinkommen im Vergleich zu 1990 um weniger als 200,-- DM durchschnittlich im Monat geändert und die mir im Moment nur vorliegende Düsseldorfer Tabelle Stand 1989 noch Gültigkeit haben, würdest Du verpflichtet sein, mir ab dem 01.01.1992 monatlich 675,-- DM zukommen zu lassen. […] Ich werde zwischenzeitlich eine neue Tabelle (diese wird zweijährig erneuert) einsehen und mit Deinen erwarteten Unterlagen den Unterhalt 1992 neu berechnen. Wir könnten die Angelegenheit allerdings auch insofern vereinfachen, als daß Du Dich entschließt, den Unterhalt gleich auf eine Höhe anzuheben, die eine Ermittlung und Überprüfung überflüssig macht. Ich denke dabei an einen monatlichen Betrag von 850,-- DM. Dieser Betrag scheint angemessen, zumal er in der Tabelle als üblicher Betrag angesprochen wird, wenn ich als Unterhaltsberechtigte einen eigenen Haushalt führe. Ich bin verständlicherweise dabei, mich auf einen eigenen Hausstand vorzubereiten, und halte den Betrag daher auch für angemessen. Ich erwarte eine umgehende Zwischenantwort, um Dir und mir möglicherweise umfangreichere Ermittlungen, Schreibereien und sonstigen Verwaltungskram zu ersparen.“

Von ihrem Unterhalt musste Anna, selbst noch während der Schulzeit, ihre gesetzliche Krankenversicherung bezahlen, während die Eltern privat versichert waren. „Das kannst du wohl tun von so viel Geld!“ Des Weiteren sämtlichen Schulbedarf, ihre Reitstunden sowie Katzenfutter (wobei sie hier sagt, dass das Punkte wären, die sie damals schon selbst akzeptiert hat), Kleidung und Lebensmittel. Von ihren Lebensmitteln hätte sich auch Walter bedient. Sie habe ihn nie darauf angesprochen. „Das Echo hätte ich nicht überlebt! Weißt du eigentlich, was wir für dich tun?? Möchtest du das wirklich auseinander rechnen? Denk mal darüber nach!“ Immerhin, so schmunzelt sie, hätte sie ja keine Miete zahlen müssen.

Brief von Anna an den leiblichen Vater bezüglich der Unterhaltszahlungen (Februar 1992):

„Mit Bedauern habe ich festgestellt, daß Du auf mein vorgenanntes Schreiben weder reagiert noch die Unterhaltsüberweisung korrigiert hast. Selbst den alten, nicht mehr gültigen und zu geringen Betrag hast Du trotz zweimaligen Hinweises wieder auf das Konto meiner Mutter überwiesen. Du bist mir gegenüber und nicht ihr gegenüber unterhaltspflichtig. Aus Deiner fehlenden Reaktion muß ich entnehmen, daß Du nicht bereit bist, Dich mit mir direkt und im Guten zu einigen. Das bedeutet, daß ich mich der Hilfe der mir zustehenden Rechtsmittel bedienen muß. In dem Zusammenhang weise ich Dich darauf hin, daß Du in jedem Falle prozeßkostenvorschußpflichtig bist und im Falle eines anwaltlichen und/oder gerichtlichen Verfahrens alle Kosten zu tragen hast. Ich erwarte daher, daß Du den Unterhaltsbetrag in Höhe von DM 885,-- ab dem 01.01.1992 und in Zukunft auf mein Konto bei der Raiffeisenbank überweist. Für die Monate Januar und Februar erwarte ich die fehlende Differenz von jeweils 295,-- DM ebenfalls auf meinem Konto. Solltest Du die Zahlungen bis zum 13.02.92 auf meinem Konto eingehend nicht leisten und mir im gleichen Zuge eine vollstreckbare Unterhaltsverpflichtungserklärung nicht vorlegen, werde ich, so leid es mir tut, den anwaltlichen Weg gehen müssen.“

Das Mutter-Tochter-Verhältnis

Anna und ich kennen uns seit der 1. Klasse. Wir waren in Parallelklassen, hatten aber gemeinsamen Religionsunterricht. 1986, als wir zur 7. Klasse auf das Gymnasium wechselten, sahen wir uns wieder. Viele Schüler aus dem Landkreis besuchten dieses Gymnasium. So war es für mich im Nachhinein verwunderlich, warum sie bereits in der Grundschule eine Schule in der Innenstadt besuchte.

Sie erzählte mir, dass sie schon immer in X., einem Vorort von Y., gewohnt hatte. Der Grund, weshalb sie in der Innenstadt eingeschult wurde, war, dass ihre Mutter bei der Stadtbücherei arbeitete. Die ersten zwei Schuljahre ging sie nach der Schule zu ihrer Mutter in die Bücherei, um abends mit ihr nach Hause zu fahren. Irgendwann ging sie nach der Schule in den Kinderhort, um dort Hausaufgaben zu machen. Ab Mitte der 3. Klasse fuhr sie mit dem Bus nach Hause.

Brief von Annas Mutter an das Staatliche Schulamt (Januar 1980): „(…) im Sommer 1980 wird meine Tochter Anna (…) eingeschult. Ich bitte Sie, Anna in der (…) Grundschule einzuschulen. Begründung: Ich bin alleinstehend und ganztägig in der Stadtbibliothek angestellt. Bei Annas Einschulung in die (…) Grundschule an der (…) Straße ist sie ungefährdet bis täglich 17.00 Uhr im direkt benachbarten Paritätischen Wohlfahrtsverband versorgt. Da ich sonst keine andere Möglichkeit sehe, Anna auch schulisch wie bisher ansonsten optimal zu versorgen, bitte ich Sie dringend, die Einschulung in der oben genannten Schule vorzunehmen. Sie ist bis zur Einschulung ganztägig aus gleichen Gründen im Kindergarten an der (…) Straße untergebracht. Eine Einschulung in diese Schule macht es mir dann auch möglich – durch die räumliche Nähe zur Stadtbibliothek – an ihrem schulischen Leben intensiv teilzuhaben.“

Anna: Mit dieser Ausnahmegenehmigung und alles hier, staatliches Schulamt ... Hier haben wir die Genehmigung gekriegt. Und wenn du dann meine ... Jetzt wo meine Kinder selber Zeugnisse kriegen, sehe ich Zeugnisse so an sich ja schon mit etwas anderen Augen. Das sind ja eigentlich in der Grundschule die Zeugnisse für die Eltern. In dem Sinne, ein Kind in der 1. Klasse macht nicht immer allein seine Hausaufgaben, die kannst du vor allen Dingen auch heute nicht mehr so ganz alleine lassen. Und wenn hier dann oft steht: ,Annas Betragen und Arbeitsweise sind sehr wechselhaft und sie muss konzentrierter und beständiger werden. Sie ist in ihren Hausaufgaben oft vergesslich.‘ 2. Klasse! Und das eigentlich öfter! ,Anna arbeitet selbstständig. Konzentration und Arbeitstempo und Gründlichkeit der Ausführung ihrer Aufgaben sind schwankend. Bei auftretenden Problemen lässt sie sich noch leicht verunsichern. Sie zeigt noch nicht immer genug Sorgfalt und Aufmerksamkeit. Sie muss oft zur Mitarbeit aufgefordert werden. Sie hat aber noch große Schwierigkeiten sich zu konzentrieren.‘ Und das reihum, in der Grundschule! Ja, da denke ich eigentlich ...

Viktoria: Hat sie nicht so viel an deinem schulischen Leben ...

... intensiv teilgenommen.

Und dann bist du also von der 3. Klasse an mit dem Bus allein nach Hause gefahren.

Ja.

Da warst du dann ja neun, so die Ecke.

Ja, neun, zehn.

Was ja schon klein ist eigentlich, oder? Oder würdest du das heute als normal bezeichnen?

Nein. Also, das würde ich auch heute nie machen. Ich weiß nicht, wie oft ich da von Spiegelei gelebt habe. (Sie lacht.)

Ach so, weil deine Mutter arbeiten war, hast du dann zu Hause ...

Ich hatte ja den Schlüssel um den Hals. Mutti hatte mir oft was vorgekocht, was ich dann nur in der Mikrowelle auftauen musste. Wir hatten ja schon ziemlich früh eine Mikrowelle. Ja, Nudeln konnte ich mir kochen und ein Ei konnte ich mir braten.

Der Schulweg, den Anna ab der 3. Klasse allein zum Bus gehen musste, führt an einer sehr stark befahrenen Straße entlang, eine der Hauptverkehrsadern in der Innenstadt. Im Jahr 1991 war besagte Straße trauriger Sieger in der bundesdeutschen Verkehrsunfallstatistik. Die Strecke ist für einen Erwachsenen, wenn er strammen Schrittes geht, in 15 Minuten zu bewältigen. Für ein Kind im Alter von zehn Jahren, das den Bus eine halbe Stunde nach Schulende erreichen muss, ist das eine deutliche Herausforderung. Die Fahrt mit dem Bus dauerte noch einmal circa eine halbe Stunde.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Es geht nicht darum anzuprangern, dass Annas Mutter Vollzeit arbeiten gegangen ist! Wichtig ist herauszustellen und wahrzunehmen, dass die Begründung an das Staatliche Schulamt vom Januar 1980, dass Annas Mutter alleinstehend ist und deshalb ganztags arbeiten gehen muss, Mitte der 3. Klasse, also Ende