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Kummer, Schmerz und Verzweiflung nach dem Verlust eines geliebten Menschen sind natürliche Reaktionen. Oft sind Hinterbliebene fähig, eine solche Krise mit der Zeit zu überwinden und schließlich Trost zu finden. In manchen Fällen kann es jedoch hilfreich sein, professionelle Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Fachkräfte in der Trauerberatung und -therapie können dabei helfen, Verluste zu verarbeiten und einen Weg durch die Trauer zu finden. Die sechste, überarbeitete Auflage des Standardwerks von J. William Worden bietet Fachpersonen einen fundierten Einblick in die Diagnose und Behandlung unterschiedlicher Arten von Verlusterfahrungen. Darüber hinaus enthält das Werk aktualisierte Informationen zu den Traueraufgaben, zur Bedeutung sozialer Medien für die Trauerarbeit und zur Ausbildung in der Trauerbegleitung. Neue Fallvignetten, Reflexions- und Diskussionsfragen am Ende der Kapitel sowie digitales Zusatzmaterial ermöglichen eine strukturierte, praxisnahe Vertiefung der Inhalte. Das digitale Zusatzmaterial zu diesem Buch kann nach erfolgter Registrierung von der Hogrefe Website heruntergeladen werden.
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Seitenzahl: 609
J. William Worden
Beratung und Therapie in Trauerfällen
Ein Handbuch
6., überarbeitete Auflage
Beratung und Therapie in Trauerfällen
J. William Worden
Wissenschaftlicher Beirat Programmbereich Psychologie:
Prof. Dr. Guy Bodenmann, Zürich; Prof. Dr. Lutz Jäncke, Zürich; Prof. Dr. Björn Rasch, Freiburg i. Üe.; Prof. Dr. Astrid Schütz, Bamberg; Prof. Dr. Markus Wirtz, Freiburg i. Br.; Prof. Dr. Martina Zemp, Wien
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Lektorat: Dr. Susanne Lauri, Wiebke Erchinger
Herstellung: René Tschirren
Umschlagabbildung: oracul, Getty Images
Satz: Matthias Lenke; Weimar
Format: ePub
Die amerikanische Originalausgabe dieses Buches ist 1982 (1. Auflage) und 1991 (2. Auflage) bei Springer Publishing Company in New York unter dem Titel Grief Counselling and Grief Therapy erschienen. © 1982 und 1991 by Springer Publishing Company, Inc. Die Übersetzung der Teile, die aus der ersten Auflage übernommen wurden, stammt von Thomas M. Höpfner, Berlin; die Ergänzungen der zweiten Auflage (Kapitel 10) hat Tonia Rihs, Villars-sur Glâne (Schweiz), übersetzt. Die vierte Auflage ist 2008 © by Springer Publishing Company, Inc. erschienen und wurde von Irmela Erckenbrecht, Nörten-Hardenberg, übersetzt. Die fünfte Auflage ist 2018 bei © Springer Publishing Company Inc. erschienen. Alle darin enthaltenen Ergänzungen sowie das gesamte digitale Zusatzmaterial (Dozentenhandbuch, Testmaterial und PowerPoint-Folien) wurden von Angelika Pfaller, Bad Reichenhall, übersetzt.
The original English language work: Grief Counseling and Grief Therapy, fifth edition, isbn: 9780826134745 by J. William Worden, PhD, ABPP has been published by: Springer Publishing Company, New York, NY, USA Copyright © 2018. All rights reserved.
6., überarbeitete Auflage 2025
© 1986/1999/2007/2011/2018 Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern
© 2025 Hogrefe Verlag, Bern
(E-Book-ISBN_PDF 978-3-456-96338-9)
(E-Book-ISBN_EPUB 978-3-456-76338-5)
ISBN 978-3-456-86338-2
https://doi.org/10.1024/86338-000
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In Erinnerung an meinen Bruder
Dr. Jack D. Worden
1940 – 2016
Widmung
Zitat/e
Vorwort
Einführung
1 Bindung, Verlust und Trauererfahrung
1.1 Bindungstheorie
1.2 Ist Trauer eine Krankheit?
1.3 Normale Trauer
1.4 Trauer und Depression
2 Der Trauerprozess
2.1 Die vier Traueraufgaben
2.2 Alternative Trauermodelle
3 Die Mediatoren der Trauer
3.1 Mediator 1: Wer gestorben ist
3.2 Mediator 2: Welche Art von Bindung bestand
3.3 Mediator 3: Wie die Person starb
3.4 Mediator 4: Frühere Erfahrungen
3.5 Mediator 5: Persönlichkeitsvariablen
3.6 Mediator 6: Soziale Variablen
3.7 Mediator 7: Gleichzeitig auftretende Verluste und Belastungen
3.8 Vorsicht: Trauerverhalten wird von vielen Faktoren bestimmt
3.9 Wann geht die Trauer zu Ende?
4 Trauerberatung
4.1 Ziele der Trauerberatung
4.2 Die Risikogruppe
4.3 Grundsätze und Verfahren der Trauerberatung
4.4 Nützliche Techniken
4.5 Der Einsatz von Medikamenten
4.6 Trauerberatung in der Gruppe
4.7 Die Trauerfeier als hilfreiches Ritual
4.8 Hilft die Trauerberatung?
5 Komplizierte Trauer
5.1 Wie kommt es zur komplizierten Trauer?
5.2 Was ist „komplizierte Trauer“?
5.3 „Komplizierte Trauer“ als eigenständige Diagnose
5.4 Ein existierendes Modell der komplizierten Trauer
5.5 Die Diagnose der komplizierten Trauer
6 Trauertherapie
6.1 Ziele und Ort der Trauertherapie
6.2 Verfahren in der Trauertherapie
6.3 Besondere Überlegungen zur Trauertherapie
6.4 Hilfreiche Techniken und richtiges Timing
6.5 Träume in der Trauerberatung und -therapie
6.6 Einige Hinweise für den Umgang mit Träumen
6.7 Evaluation der Ergebnisse
7 Besonders schwer zu verarbeitende Todesfälle
7.1 Suizid
7.2 Trauerberatung nach einem Suizid
7.3 Plötzlicher und/oder gewaltsamer Tod
7.4 Plötzlicher Kindstod
7.5 Fehlgeburten
7.6 Totgeburten
7.7 Schwangerschaftsabbrüche
7.8 Antizipatorische Trauer
7.9 HIV/Aids
8 Trauer im Familiensystem
8.1 Tod eines Kindes
8.2 Die Trauer der Großeltern
8.3 Kinder, deren Eltern sterben
8.4 Familienbezogene Interventionen
8.5 Trauer bei älteren Menschen
8.6 Familiäre versus individuelle Bedürfnisse
9 Die Trauer der Beratenden
9.1 Eigene Trauergeschichte
9.2 Stress und Burn-out-Syndrom
10 Ausbildung zur Trauerberatung
10.1 Workshop
10.2 Fallvignetten
Anhang
Hilfreiche Adressen
Literatur
Über den Autor
Hinweise zum Zusatzmaterial
Sachwortverzeichnis
Unsers Herzens Freude hat ein Ende;
unser Reigen ist in Wehklagen verkehret.
Klagelieder 5,15
Ihr werdet weinen und heulen, aber die Welt wird sich freuen;
ihr werdet traurig sein, doch eure Traurigkeit soll in Freude verkehrt werden.
Johannes 16,20
Den Abend lang währt das Weinen, aber des Morgens ist Freude.
Psalm 30,5
Trauern lässt uns heilen, mit Liebe eher als mit Schmerz erinnern.
Es ist ein Prozess des Ordnens.
Eines nach dem anderen lässt man Dinge los, die vergangen sind, und trauert um sie.
Eines nach dem anderen greift man nach den Dingen, die ein Teil von dem geworden sind, wer man ist, und baut wieder auf.
Rachel Naomi Remen
Die Idee zu diesem Buch entstand aus meiner Fortbildungsreihe für psychotherapeutische Fachkräfte an der University of Chicago. Im Rahmen eines Workshops erforschten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zwei Tage ihre eigene Vergangenheit und lernten das sogenannte Aufgabenmodell kennen, um ein Verständnis für Verlusterfahrungen und den Trauerprozess zu entwickeln. Für den ab 1976 zweimal jährlich angebotenen Workshop gab es jeweils 100 Plätze, doch die Nachfrage war weitaus höher. Daher wurden solche Workshops später auch in anderen Landesteilen abgehalten. Die im Jahr 1982 erschienene erste Auflage des Buches enthielt einen Großteil der Materialien aus diesen Trauer-Workshops. Der Buchtitel ergab sich aus einem Gastvortrag an der University of Florida, Gainesville, wo ich vor einer großen Gruppe psychotherapeutischer Fachkräfte die jährliche Arthur-G.-Peterson-Vorlesung halten durfte. Als Titel meines Vortrags wählte ich Beratung und Therapie in Trauerfällen. Es war das erste Mal, dass ich beide Konzepte getrennt voneinander betrachtete, doch die Unterscheidung erschien mir sinnvoll und hat sich über die Jahre bewährt. Trauerberatung umfasst die Interventionen, mit denen Beraterinnen und Berater Hinterbliebene kurz nach einem erlittenen Verlust dabei unterstützen, die verschiedenen Traueraufgaben zu bewältigen. Es geht dabei um Menschen, die eine offensichtlich unkomplizierte Trauerreaktion zeigen. Im Unterschied dazu gehen einer Trauertherapie Komplikationen im Trauerprozess voraus. Diese führen dazu, dass trauernde Menschen ihren Verlust nicht angemessen verarbeiten können, und erfordern spezielle Techniken und Interventionen. Häufig gibt es Trennungskonflikte mit der verstorbenen Person, auf die in der Therapie eingegangen werden muss. Im Gegensatz zur Trauerberatung, die häufig auch von einer sachkundigen Person aus dem Freundeskreis oder der Familie geleistet werden kann, erfordert die Durchführung einer Trauertherapie mehr Fachwissen, ein tieferes Verständnis und eine umfassendere Ausbildung.
|14|Brauchen wir wirklich Fachleute für Trauertherapie? Ich hatte diese Frage in der ersten Auflage dieses Buches vor 35 Jahren aufgeworfen und erklärt, dass wir meiner Meinung nach keinen neuen Beruf der Trauertherapeutin oder des Trauertherapeuten etablieren müssten. Dieser Ansicht bin ich immer noch. Der Sozialpädagoge D. M. Reilly (1978) schreibt: „Wir brauchen keinen neuen Beruf … Was wir brauchen, ist mehr Sensibilität und Aktivität im Hinblick auf dieses Thema bei den bereits bestehenden Berufsgruppen in der Seelsorge, Bestattungsbranche, Familientherapie, Pflege, Sozialpädagogik und Medizin“ (S. 49). Dem fügt Lloyd (1992) hinzu: „Der hilfreiche Umgang mit Menschen, die Trauer und Verlust verarbeiten müssen, bleibt eine Kernkompetenz all derer, die andere Menschen betreuen, auch wenn sie nicht gleich auf die Trauertherapie spezialisiert sein müssen“ (S. 151). Dem kann ich nur zustimmen. Mit meinem Buch möchte ich all diejenigen ansprechen, die in den genannten Berufszweigen arbeiten, mit Trauernden zu tun haben und bereits das notwendige Wissen und die Kompetenzen besitzen, um wirksame Interventionen einzuleiten und im Bedarfsfall präventive psychotherapeutische Arbeit zu leisten.
Die vorliegende 6. Auflage von Beratung und Therapie in Trauerfällen enthält in allen Kapiteln neue Informationen. Wo immer es möglich war, wurden die vorherigen Texte aktualisiert. Seit Erscheinen der 1. Auflage im Jahr 1982 hat sich die Welt verändert. Es gibt heute mehr belastende Ereignisse, Amok-Übungen und andere Schreckensszenarien, die sich traumatisch auf Kinder auswirken können. Hinzugekommen sind außerdem die sozialen Medien und weitere Online-Ressourcen, auf die jederzeit ganz einfach via Smartphone zugegriffen werden kann. Die Trauerforschung und -beratung hat versucht, mit diesen Veränderungen Schritt zu halten. Auf den folgenden Seiten habe ich meinerseits versucht, Ihnen den aktuellen Stand darzulegen, damit Sie als psychotherapeutische Fachkraft bei Ihren Interventionen mit trauernden Kindern, Erwachsenen und Familien so viel wie möglich bewirken können.
Den vielen Menschen, die mir bei diesem Projekt geholfen haben, schulde ich meinen Dank. Drei Personen aus meinem direkten Freundes- und Kollegenkreis, die mit den früheren Auflagen dieses Buches vertraut sind, haben mir konkrete Vorschläge zur Verbesserung und Aktualisierung gemacht. Es handelt sich dabei um Bill Hoy, Clinical Professor of Medical Humanities an der Baylor University, Mark de St. Aubin, tätig am College of Social Work an der University of Utah, und Michelle Post, Therapeutin bei One Legacy in Los Angeles. Die meisten ihrer Vorschläge sind in dieses Buch eingeflossen.
Es ist eine immense Aufgabe, sich über die aktuelle Literatur zum Thema auf dem Laufenden zu halten. In meiner Datenbank, die ich seit meiner Zeit in Har|15|vard in den 1970er-Jahren führe, befinden sich mehr als 5 000 kommentierte Literaturangaben. Als wissenschaftliche Mitarbeiter haben mich zuletzt Alexes Flates und Haleigh Barnes unterstützt. Beide haben inzwischen ihr Doktorat in Klinischer Psychologie beendet und sind nun in der Trauertherapie tätig. Diese Unterstützung wurde dank Dr. Clark Campbell, Dekan der Rosemead School of Psychology, möglich. Auch ihm gebührt mein Dank.
Die Profis der Worden Group mit ihren monatlichen Treffen zur gegenseitigen Unterstützung und Supervision haben mir geholfen und zur Klärung vieler Gedanken und Ideen beigetragen. Dazu gehören Ron Attrell, Dennis Bull, Paula Bunn, Galen Goben, Ann Goldman, Linda Grant, Annette Iverson, Laurie Lucas, Mike Meador, Gayle Plessner und Michele Post.
Besonders bedanken möchte ich mich bei Sheri W. Sussman aus dem Programmbereich Verhaltenswissenschaften der Springer Publishing Company. Sie hat alle bisherigen Auflagen dieses Buches mit ihren profunden Kenntnissen und kollegialer Ermutigung begleitet und ist mir seit 35 Jahren eine gute Freundin. Und – wie immer – haben meine Familie und meine Freunde mich in jeder Hinsicht emotional sehr unterstützt.
J. William Worden
Boston, Massachusetts
Laguna Niguel, Kalifornien
Digitales Zusatzmaterial (Dozenten-Handbuch, Testmaterial und PowerPoint-Folien) für den Einsatz der 6. Auflage von Beratung und Therapie in Trauerfällen in Fortbildungsveranstaltungen kann nach erfolgter Registrierung von der Hogrefe Website heruntergeladen werden (siehe Hinweise zum Zusatzmaterial auf S. 323).
In den 35 Jahren seit dem Erscheinen der ersten Auflage dieses Buches sind bei der Erforschung menschlicher Reaktionen auf schmerzliche Verluste und Trauererfahrungen eine ganze Reihe neuer Konzepte entwickelt worden. Ehe wir in den Inhalt dieser aktualisierten Auflage einsteigen, möchte ich ein paar in meinen Augen besonders bemerkenswerte Punkte hervorheben. Die meisten neuen Ideen wurden in den letzten zwanzig Jahren vorgestellt; auf einige davon werde ich in den folgenden Kapiteln ausführlich eingehen. Auch wenn ich versucht sein mag, sie in eine der heute so beliebten Rankinglisten („Top Ten“) zu bringen, werde ich sie einfach nacheinander aufführen. Sie sind alle gleichermaßen wichtig.
Die Nutzung sozialer Medien und anderer Online-Ressourcen, um Trauernden bei der Verarbeitung ihres Verlusts zu helfen, ist ein neuer Trend. Internet-Ressourcen zur Trauerarbeit können verschiedenen Zwecken dienen: der verstorbenen Person zu gedenken, Interventionen für Trauernde durchzuführen oder weiterführende Forschung über den Trauerprozess zu betreiben (Stroebe, van der Houwen & Schut, 2008). Im Folgenden möchte ich einige aktuelle Einsatzmöglichkeiten von sozialen Medien und Online-Ressourcen skizzieren.
1)Gedenkseiten im Internet.Angehörige, nahestehende Personen und andere Betroffene können dort online ihre Trauer zum Ausdruck bringen und Beileidsbekundungen hinterlassen. Häufig wird die Erstellung von Gedenkseiten durch das jeweilige Bestattungsinstitut oder unabhängige Trauerportale angeboten. Die Trauernden können dort virtuelle Gedenkkerzen entzünden, einen Nachruf veröffentlichen oder Fotos und andere Erinnerungen einstellen. Bei Facebook gibt |18|es die Möglichkeit, das Profil einer verstorbenen Person in den Gedenkzustand versetzen zu lassen. Wenn es die Privatsphäre-Einstellungen des Profils erlauben, kann dort über den Tod oder die Beisetzung informiert und Erinnerungen geteilt werden. Unter Umständen zieht ein Profil im Gedenkzustand fremde Menschen an, die keinerlei Kontakt zu der verstorbenen Person hatten, aber dennoch die Beiträge verfolgen und gelegentlich selbst etwas posten (De Groot, 2014).
2)Internetbasierte Interventionen. Mittlerweile gibt es Websites, auf denen eine Online-Behandlung für Menschen angeboten wird, die unter Verlusterfahrungen und Erkrankungen wie Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), Depression oder anhaltende Trauerstörung leiden. Diese Interventionen werden durch eine Therapeutin oder einen Therapeuten durchgeführt. Auch Betroffene von Verlusten, über die das Reden schwerfällt, etwa eine Fehlgeburt oder der Tod eines gleichgeschlechtlichen Partners, können sich hier Unterstützung holen. Einer der wesentlichen Beweggründe für diese Art von Therapie dürfte die Anonymität sein. Betroffene können sich dadurch leichter öffnen, doch gleichzeitig kann eine anonyme Behandlung mit Gefahren verbunden sein. Bei suizidgefährdeten Personen ist es wichtig, dass die Therapeutin oder der Therapeut direkt in Kontakt treten und gezielt Hilfe leisten kann. Daher ist diese Art der Behandlung nicht für alle trauernden Personen gleichermaßen geeignet. Eine gründliche Diagnosestellung per Internet oder Telefon ist vor Therapiebeginn unabdingbar.
3)Trauergruppen im Internet.Online gibt es Gruppenangebote zur Verarbeitung und Bewältigung von Trauerfällen, und zwar sowohl für spezifische Situationen wie Suizide (Feigelman, Gorman, Beal & Jordan, 2008) als auch für alltägliche Verlusterfahrungen (M. Post, Vortrag „Trauer im digitalen Zeitalter“, 2. November 2016). Die Gruppen werden von qualifizierten Fachleuten angeleitet (oder zumindest begleitet), die darüber entscheiden, wer aufgenommen wird (Paulus & Varga, 2015). Durch Vorher-Nachher-Messungen können Veränderungen durch die Teilnahme an der Gruppe festgestellt werden (van der Houwen, Schut, van den Bout, Stroebe & Stroebe, 2010).
4)Online-Angebote für Schicksalsgemeinschaften.Es handelt sich hierbei um Selbsthilfe-Seiten, die nach Naturkatastrophen (Überschwemmungen, Wirbelstürme, Erdbeben), Amokläufen und anderen Unglücksfällen eingerichtet werden, um eine Plattform für die Sorgen und Nöte der Menschen zu bieten und ihnen das Gefühl zu vermitteln, Teil einer Schicksalsgemeinschaft zu sein (Miller, 2015). Auf diesen Websites wird keine persönliche Betreuung durch Fachkräfte angeboten. Dennoch sind sie oftmals sehr hilfreich für Personen, die keine anderweitige Unterstützung bekommen können (Aho, Paavilainen & Kaunonen, 2012).|19|
5)Psychoedukation. Menschen, die Informationen zu den Themen Trauer und Verlust benötigen, um ihre Erfahrungen zu verarbeiten, können im Internet psychoedukative Angebote über den Trauerprozess finden (Dominick et al., 2009). In der Regel handelt es sich hierbei um reine Informationsseiten, auf denen keine Interaktion stattfindet. Manche dieser Seiten bieten jedoch die Möglichkeit, Fragen zu einem bestimmten Thema zu stellen, die dann von anderen Usern beantwortet werden können.
6)Kommunikation mit der verstorbenen Person.Manchmal werden Websites und Facebook-Seiten im Namen einer verstorbenen Person erstellt. Manche Trauernde bedienen sich regelmäßig dieser Seiten, um der verstorbenen Person Briefe zu schreiben. Dabei bringen sie nicht nur ihre Gedanken und Gefühle zum Ausdruck, sondern stellen auch Fragen. Untersuchungen hierzu haben ergeben, dass diese Art von Kommunikation mit der verstorbenen Person in erster Linie der Sinnfindungdient und in zweiter Linie eine fortbestehende Bindungzu ihr herstellen soll (Bell, Bailey & Kennedy, 2015; De Groot, 2012; Irwin, 2015).
Weiterführende Informationen zu Trauer-Ressourcen im Internet gibt das von Sofka et al. (2012) herausgegebene Buch Dying, Death, and Grief in an Online Universe.
Viele Jahre lang sprach man in der Trauertherapie von „chronischer“, „verschobener“ oder „ausbleibender“ Trauer, um Situationen zu beschreiben, in denen die Trauer in ihrer Intensität und Dauer besonders auffällig war. Beverly Raphael und Warwick Middleton (Middleton, Moylan, Raphael, Burnett & Martinek, 1993) untersuchten, welche Begriffe von führenden Therapeutinnen und Therapeuten am häufigsten benutzt werden. Dabei ergab sich zwar ein überraschendes Maß an Übereinstimmung, doch besteht ein Problem darin, dass Schwierigkeiten mit der Trauer im Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM) nur einen sogenannten Z-Code haben, was für die Kostenübernahme durch Krankenversicherungen nachteilig ist. Ein weiteres Problem ist der Mangel an präzisen Definitionen, was die systematische Erforschung erschwert. Die einfachste Lösung besteht darin, auf etablierte pathologische Begriffe wie Depression, Angst oder Somatisierung auszuweichen, für die erprobte, standardisierte Messverfahren vorhanden sind. Obgleich die genannten pathologischen Phänomene Teil der Trauererfahrung sein können, sind sie als Messkriterien bei Trauerproblemen eindeutig |20|ungeeignet. Zwar gab es einige Testverfahren zum Thema Trauer, z. B. das „Texas Revised Inventory of Griefy“ (Faschingbauer, Devaul & Zisook, 2001) und die „Hogan Grief Reaction Checklist“ (2001), doch basierten die meisten dieser Verfahren auf klinischen Populationen.
Beginnend mit den Arbeiten von Holly Prigerson, Kathryn Shear und Mardi Horowitz in den 1990er-Jahren setzte man sich das 20-Jahres-Ziel, eine Diagnose der „komplizierten Trauer“ zu entwickeln, die ausreichend „wasserdicht“ genug ist, um in die Neufassung des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (DSM-5) aufgenommen zu werden. Diese wurde im Jahr 2013 veröffentlicht. Die Aufnahme in das offizielle Klassifikationssystem der American Psychiatric Association sollte Krankenversicherungsgelder für die Behandlung von Patientinnen und Patienten mit dieser Diagnose sowie Forschungsgelder für die weitere Untersuchung des klinischen Phänomens verfügbar machen (APA 2013, 2018). Einzelheiten über die Entwicklung dieser offiziellen Diagnose und zum aktuellen Stand der Dinge finden sich in Kapitel 5.
Dieser von Doka (1989) geprägte und von Attig (2004) weiterentwickelte Begriff hat das Fachgebiet um wichtige Aspekte erweitert. Dokas erster Sammelband wurde 1989 veröffentlicht, im 2002 erschienenen zweiten Band aktualisierte er das Konzept dann noch einmal (Doka, 1989, 2002). „Aberkannte Trauer“ bezieht sich auf den Verlust von Beziehungen, die sozial nicht anerkannt werden. Ein klassisches Beispiel ist der Tod von jemandem, mit dem die trauernde Person eine Affäre hatte. In solchen Fällen wird die trauernde Person oft nicht zur Beerdigung oder Trauerfeier eingeladen und bekommt auch nicht die soziale Unterstützung, die für viele Trauernde so hilfreich ist. Auch alternative Lebensstile (Partnerschaften ohne Trauschein, homosexuelle Beziehungen o. Ä.) können im sozialen Umfeld nicht anerkannt sein, sodass die trauernde Person möglicherweise von den Angehörigen der oder des Verstorbenen geächtet wird. Darüber hinaus gibt es zahlreiche andere Beispiele für aberkannte Trauer. In diesem Buch mache ich verschiedene Vorschläge, wie man Betroffene unterstützen kann, für sich das Recht zu trauern in Anspruch zu nehmen und so die Chance zu erhalten, den schmerzlichen Verlust besser verarbeiten zu können.
Aaron Lazare (1979, 1989), ein früherer Kollege am Massachusetts General Hospital, sprach von zwei direkt mit aberkannter Trauer verbundenen Arten von Verlusten:|21|
1)sozial negierte Verluste, die von der Gesellschaft nicht als Verluste anerkannt werden, z. B. Fehlgeburten oder Schwangerschaftsabbrüche
2)sozial tabuisierte Verluste, über die nicht gerne gesprochen wird, z. B. Tod durch Suizid oder Aids.
Beide Todesursachen sind in weiten Teilen der Gesellschaft bis heute mit einem Stigma behaftet. Eine für die Betroffenen hilfreiche Intervention besteht darin, ihnen Gelegenheit zu geben, über den erlittenen Verlust zu sprechen und ihre Gedanken und Gefühle dazu auszuloten. Vorschläge zum Umgang mit solchen und ähnlichen Situationen finden sich in Kapitel 7.
Bindungen an die verstorbene Person, die über den Tod hinaus beibehalten werden, bezeichnet man als „fortbestehende Bindungen“. Dabei handelt es sich um kein wirklich neues Konzept. Schon Shuchter und Zisook (1988) stellten in ihren grundlegenden Forschungen über eheliche Trauer in San Diego fest, dass viele Witwen auch noch mehrere Jahre nach dem Tod des Partners ein Gefühl für dessen Präsenz in ihrem Leben bewahrt hatten. In der von mir gemeinsam mit Silverman und Nickman durchgeführten Harvard Child Bereavement Study (1992) beobachteten wir, dass eine große Anzahl der trauernden Kinder im schulpflichtigen Alter weiter eine Verbindung zu dem verstorbenen Elternteil verspürte, was für die meisten eine positive, für einige aber auch eine eher negative Erfahrung war. Das Buch von Klass, Silverman und Nickman mit dem Titel Continuing Bonds: New Understandings of Grief (1996) kommt nach einer umfassenden Würdigung der Daten aus mehreren Studien zu dem Schluss, dass trauernde Menschen durchaus mit der verstorbenen Person verbunden bleiben und sich nicht emotional von ihr zurückziehen, wie Freud (1917, 1957) dies postuliert hatte.
Das neue Konzept wurde jedoch nicht von allen begrüßt. Vor allem warf es die Frage auf, ob fortbestehende Bindungen die Anpassung an die neue Situation eher fördern oder behindern, also mit einer gesunden Bewältigung der Trauer tatsächlich vereinbar sind. Die Kontroverse ist größtenteils auf den Mangel an belastbaren Forschungsdaten über die Folgen fortbestehender Bindungen zurückzuführen. Sobald uns mehr Ergebnisse vorliegen, werden sich auch die Fragen klären, bei denen es im Wesentlichen um vier Hauptthemen geht:
1)Welche Arten von Bindungen sind bei der Anpassung an einen Verlust am hilfreichsten? Dazu gehören beispielsweise das Aufbewahren von Gegenständen |22|aus dem Besitz der verstorbenen Person (z. B. Andenken und Erinnerungsstücke mit besonderer persönlicher Bedeutung), ein Gefühl für die Präsenz der verstorbenen Person, die Zwiesprache mit der verstorbenen Person, das Verinnerlichen von Werten und Überzeugungen der verstorbenen Person, das Übernehmen von Eigenschaften der verstorbenen Person usw. (Field & Filanosky, 2010).
2)Für wen sind fortbestehende Bindungen hilfreich und für wen eher nicht? Die Beantwortung dieser Frage erfordert die Unterteilung der Trauernden in Untergruppen; welche Differenzierungen sinnvoll sind, muss noch geklärt werden. Ein vielversprechender Ansatz könnte die Berücksichtigung des jeweiligen Bindungsstils in der Beziehung zwischen trauernder und verstorbener Person vor dem Verlust sein (Field, Gao & Paderna, 2005). Im Fall einer ängstlichen Bindung, die zu chronischer Trauer führen kann, trägt das Festhalten an der Verbindung eventuell zur Nichtanpassung bei. Einige Trauernde müssen die alten Bindungen abstreifen, um selbst in ihrem Leben weiterzukommen (Stroebe & Schut, 2005).
3)In welchem Zeitraum fördern fortbestehende Bindungen am stärksten die Anpassung, wann sind sie weniger hilfreich – in der ersten Zeit nach dem Verlust oder längere Zeit danach? (Field, Gao & Paderna, 2005).
4)Wie wirken sich religiöse und kulturelle Unterschiede auf das Beibehalten gesunder Bindungen aus? Relevant wären gesellschaftlich vermittelte Vorstellungen und Rituale, die fortbestehende Bindungen fördern und die Erinnerung an die verstorbene Person kulturübergreifend wachhalten (Suhail, Jamil, Ovebode & Ajmal, 2011; Yu et al., 2016).
Mehr zum Thema Bindungen finden Sie in Kapitel 1 und 2.
Robert Neimeyer betonte als Erster, wie wichtig es für Trauernde ist, auch nach dem schmerzlichen Verlust im eigenen Leben Sinn zu finden oder neu zu konstruieren. In den letzten zwanzig Jahren hat dieses Thema viel Aufmerksamkeit erfahren. Neimeyer sieht die Neukonstruktion von Sinn als zentralen Prozess der Trauererfahrung. Erreicht wird diese Neukonstruktion in erster Linie durch rückblickende Erzählungen und die Wiedergabe von Lebensgeschichten. Nach einem unvorhergesehenen Ereignis wie dem Tod eines geliebten Menschen muss die überlebende Person das eigene Selbst neu definieren und nach und nach lernen, |23|ohne den verstorbenen Menschen mit der Welt zu interagieren. Zu den Strategien, die sie vor dem Verlust anwandte, kann sie nicht einfach zurückkehren, sondern muss erst neu herausfinden, wie sie auch ohne den geliebten Menschen ein sinnvolles Leben führen kann (Neimeyer, 2001). Dieser Aspekt besitzt zentrale Bedeutung für meine dritte Traueraufgabe, bei der die trauernde Person lernen muss, sich an eine Welt ohne die verstorbene Person anzupassen. Der Tod kann die eigene Einstellung zur Welt ebenso wie die persönliche Identität infrage stellen, also sowohl externe als auch interne Anpassungen erforderlich machen. Trauernde Menschen haben gewichtige Fragen wie: „Wie wird mein Leben jetzt aussehen?“ „Welchen Sinn hatte das Leben des Verstorbenen?“ „Wie kann ich mich in einer solchen Welt noch sicher fühlen?“ „Wer bin ich jetzt, nachdem der geliebte Mensch gestorben ist?“ (Neimeyer, Prigerson & Davies, 2002).
Wichtig zu bemerken ist meiner Meinung nach jedoch, dass nicht alle Todesfälle einen grundlegenden persönlichen Sinnfindungsprozess nach sich ziehen müssen. Davis, Wortman, Lehman und Silver (2000) untersuchten zwei unterschiedliche Gruppen von Trauernden und stellten fest, dass 20 bis 30 % von ihnen gut zurechtkamen, ohne eine grundsätzliche Sinnfindung zu betreiben. Von denen, die Sinnfragen stellten, fanden weniger als die Hälfte auch ein Jahr nach dem Todesfall keine Antwort. Diejenigen, die für sich gültige Antworten auf Sinnfragen fanden, waren allerdings insgesamt besser angepasst als jene, die Sinn suchten, ohne ihn zu finden. Interessanterweise bemühten sich einige aber auch weiterhin um ein Verständnis des Geschehenen, nachdem ein Sinn gefunden war.
In seinem Kommentar zu Davis’ Forschungsarbeiten stellt Neimeyer (2000) heraus, dass die Mehrheit der untersuchten Trauernden offenbar um eine Sinnfindung kämpft und es deshalb förderlich ist, ihnen dabei zu helfen. Gleichzeitig warnt er Therapeutinnen und Therapeuten davor, diesen Prozess zu initiieren, wenn er nicht spontan von den Betroffenen selbst ausgeht. Er schließt seinen Kommentar mit einer wichtigen Unterscheidung: Sinnfindung ist ein Prozess, kein Ergebnis und erst recht keine zu erbringende Leistung. Der mit Verlust und Tod verknüpfte Sinn wird ständig revidiert. Sehr deutlich sehen wir dies in der Arbeit mit trauernden Kindern, die, wenn sie älter werden und neue Entwicklungsphasen durchlaufen, fragen: „Wie wäre mein verstorbener Elternteil jetzt?“ „Wie würde sie/er sich verhalten?“ „Wie wäre unsere Beziehung jetzt, wo ich mit dem Studium fertig bin, heiraten werde usw.?“ (Worden, 1996a). Mehr zur Sinnfindung als Traueraufgabe erfahren Sie in Kapitel 2.
Als Phyllis Silverman und ich 125 trauernde Kinder in den ersten beiden Jahren nach dem Tod eines Elternteils begleiteten, stellten wir fest, dass sich die Kinder einer von drei Gruppen zuordnen ließen. Die erste Gruppe bildeten die Kinder (etwa 20 %), denen es auch zwei Jahre nach dem Tod des Elternteils nicht gut ging. Da unsere Forschungsgelder vom National Institute of Mental Health (NIMH) kamen und dafür vorgesehen waren, herauszufinden, welche Kinder durch die Trauer einem erhöhten Risiko für eine problematische Weiterentwicklung unterliegen, um in einem zweiten Schritt zu überlegen, wie man diesem Risiko entgegenwirken kann, bekam diese Gruppe in unserer Studie die größte Aufmerksamkeit. Unsere Fragestellung lautete: „Lassen sich ,Risikokinder‘ schon möglichst zeitnah nach dem Verlust erkennen, sodass man eine frühe Intervention anbieten und späteren negativen Folgen vorbeugen kann?“ In der gleichen Studie stellten wir jedoch fest, dass es eine zweite, kleinere Gruppe von Kindern gab, denen es offenbar recht gut ging. Wir nannten sie die „stabilen“ Kinder. Sowohl bei den Schulleistungen als auch bei der sozialen Integration, der Kommunikation über den verstorbenen Elternteil, bei der Selbstachtung und der gesunden Identifikation mit dem verstorbenen Elternteil erzielten sie gute Ergebnisse. Die dritte und größte Gruppe kam in den ersten zwei Jahren der Trauer „einigermaßen zurecht“ (Silverman, 2000; Worden, 1996a).
Dank der Arbeiten von George Bonanno (2004, 2009) begannen wir, mehr auf die Menschen zu achten, die sich in einer Trauerphase als „stabil“ erweisen, sich gut an den Verlust anpassen und weder Beratung noch Therapie benötigen – ein neuer Fokus, der meiner Ansicht nach längst überfällig ist.
Mit ihren Forschungen in Arizona haben Irwin Sandler, Sharlene Wolchik und Tim Ayers (2008) unsere Erkenntnisse über die Stabilität nach einem Verlust weiter vertiefen können. Inzwischen sprechen wir bei einem unproblematischen Verlauf des Trauerprozesses von einer „stabilen Anpassung“. (Wie gesagt, spreche ich lieber von „Anpassung“ oder „Adaptation“ als von „Genesung“.) Sandler und sein Team haben in ihrer Studie über trauernde Kinder und deren Familien sowohl Risikofaktoren als auch schützende Faktoren herausarbeiten können, die eine stabile Anpassung behindern oder fördern können. Der erweiterte Fokus auf positive ebenso wie negative Verläufe des Trauerprozesses geht über die enge Konzentration auf pathologische Ergebnisse hinaus. Interessant ist, dass die bei den Familien in Arizona gefundenen Schutz- und Risikofaktoren denen ähneln, die Silverman und ich in der Boston-Studie ermittelt haben. Natürlich sind sowohl auf der individuellen als auch auf der sozialen Ebene multiple Faktoren am Werk, weshalb Sand|25|ler und sein Team ihre Theorie auch als „kontextuellen Ansatz zur Adaptation“ bezeichnen. Das Individuum wird als Teil eines Familienverbands gesehen, der wiederum in soziale Gemeinschaften und größere kulturelle Zusammenhänge eingebunden ist. Dieser recht neue Forschungszweig über Stabilität im Trauerprozess ist für unser Verständnis von Trauer und Verlust vielversprechend. In Kapitel 3 werde ich darauf näher eingehen.
Ähnlich wie bei Depression und Trauer zeigen Menschen auch bei Trauma und Trauer viele ähnliche Verhaltensmerkmale. In einer ganzen Reihe wissenschaftlicher Veröffentlichungen geht es deshalb um eine Diskussion der Ähnlichkeiten und Unterschiede. Einige, wie Rando, Horowitz und Figley, möchten die Trauer unter das Trauma subsumieren, was ich für eher nicht gerechtfertigt halte. Angemessener erscheint mir das von Stroebe, Schut und Finkenauer (2001) vorgestellte Modell, das folgende drei Kategorien unterscheidet:
1)Trauma ohne Trauer. Die Betroffenen erleben ein dramatisches Ereignis, das zu traumatischen Symptomen und dadurch (je nach Zeitpunkt) zur Diagnose einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) oder einer akuten Belastungsstörung führt. Zusätzliche sind andere Symptome wie Depression oder Angst möglich. In dieser ersten Kategorie war das traumatische Ereignis nicht mit einem Todesfall verbunden und die Betroffenen haben mit einem oder mehreren klassischen Trauma-Symptomen zu kämpfen (eindringliche, belastende Erinnerungen, anhaltendes Vermeidungsverhalten, erhöhte Erregung).
2)Trauer ohne Trauma. Die Betroffenen haben durch einen Todesfall eine geliebte Person verloren, weisen aber keine traumatischen Symptome auf. Bei etwaigen Komplikationen würde eher die Diagnose einer komplizierten Trauer zutreffen.
3)Traumatische Trauer. Die Betroffenen haben durch einen Todesfall eine geliebte Person verloren und aufgrund der besonderen Umstände (weil es z. B. ein gewaltsamer Tod war oder zu der verstorbenen Person eine unsichere Bindung oder konfliktreiche Beziehung bestand) Symptome entwickelt, die mit einem Trauma assoziiert werden.
Zwei Fragen stellen sich in jeder Diskussion über die „traumatische Trauer“:
1)Was ist für die Definition der traumatischen Trauer wichtiger – die Umstände des Todes oder die Reaktion des Trauernden?|26|
2)Welche Symptome sollen bei der Behandlung der traumatischen Trauer zuerst angesprochen werden – die traumatischen oder die mit der Trauer zusammenhängenden? Die traumatische Belastung stört den Trauerprozess, während die Trauer sich auf die Verarbeitung eines traumatischen Erlebnisses erschwerend auswirkt (Rando, 2003). Viele Fachleute vertreten die Ansicht, dass zuerst die traumatischen Symptome behandelt werden müssen, ehe man sich der Verarbeitung der Trauer zuwenden kann.
Menschen, die durch Gewalt verursachte Todesfälle miterlebt haben, hat es immer gegeben, doch scheint die Anzahl gewalttätiger Ereignisse in den letzten 15 Jahren gestiegen zu sein – man denke nur an die sich häufenden Schießereien und die zahlreichen Terrorakte weltweit, einschließlich der Vorfälle am 11. September 2001. Die Präsenz von Gewalt in unserer Gesellschaft nimmt zu. Infolgedessen werden mehr Menschen sowohl traumatischen Erfahrungen als auch schmerzlicher Trauer ausgesetzt. Aus diesem Grund brauchen wir mehr Forschungsarbeiten zum Thema Trauma und Trauer, vor allem darüber, welche Interventionen am wirksamsten sind (Rynearson, Schut & Stroebe, 2013). Gleichzeitig müssen wir die Medien darüber aufklären, dass Interventionen, die in den Tagen nach einer Schießerei in einer Schule geleistet werden, keine Trauerberatung, sondern eine Krisenintervention darstellen und dass zwischen beiden wichtige Unterschiede bestehen – sowohl was die Ziele als auch was die Techniken betrifft. In Kapitel 3 werde ich dies näher ausführen.
Lassen Sie mich diese Einführung mit einem Thema beschließen, das mir ernsthaft Sorgen macht – dem Unvermögen von klinisch wie wissenschaftlich tätigen Fachleuten, die Einzigartigkeit der Trauererfahrung zu erkennen. Obgleich alle Menschen, die durch einen Todesfall einen für sie wichtigen Menschen verloren haben, vor denselben Traueraufgaben stehen, kann der Umgang mit diesen Aufgaben, wie der Einzelne sie angeht und bewältigt, individuell sehr unterschiedlich sein. Ein Ansatz, der auf alle passt, ist daher zwangsläufig nur bedingt tauglich (Caserta, Lund, Ulz & Tabler, 2016).
Während meiner Graduiertenzeit an der Harvard University hatte Professor Gordon Allport großen Einfluss auf mein Denken. Allport (September 1957, persönliche Vortragsnotizen) sagte seinen Studierenden: „Jeder Mensch ist wie alle anderen; jeder Mensch ist wie einige andere; und jeder Mensch ist wie kein ande|27|rer.“ Allport bekräftigte damit sein langfristiges berufliches Interesse an individuellen Unterschieden – ein Interesse, das zu seiner Zusammenarbeit mit Robert White an den Langzeit-Fallstudien mit dem Titel „Lives in Progress“ (White, 1952) führte. Die Ergebnisse dieser Studien bestätigten die gleichzeitige Ähnlichkeit und Einzigartigkeit jedes einzelnen Individuums.
Übertragen auf das Fachgebiet der Trauerforschung würde Allports Diktum lauten: „Die Trauer eines jeden Menschen ist wie die aller anderen; jeder Mensch trauert wie einige andere; und die Trauer eines jeden Menschen ist wie die keines anderen.“ In den letzten 35 Jahren tendierten wir in unserer klinischen und forschenden Tätigkeit dazu, die Einzigartigkeit der Trauererfahrung aus den Augen zu verlieren. Mir hat immer Alan Wolfelts (2005) Idee gefallen, trauernde Menschen „freundschaftlich zu begleiten“. Die Therapeutin oder der Therapeut tritt nach diesem Ansatz an die Seite des trauernden Menschen und teilt mit ihm seine persönlichen Erfahrungen auf eine Weise, die für beide hilfreich sein kann. Meine Sorge ist, dass uns unser Eifer, eine DSM-Diagnose für die komplizierte (oder traumatische, anhaltende) Trauer zu etablieren, zu einer zu starken Konzentration auf die zweite Aussage („jeder Mensch trauert wie einige andere Menschen“) verleiten könnte und wir die Einzigartigkeit des individuellen Trauerprozesses aus den Augen verlieren – die Tatsache, dass „die Trauer eines jeden Menschen wie die keines anderen Menschen ist“. Schon in allen vorigen Auflagen dieses Buches habe ich betont, dass die Trauererfahrung für jeden Menschen einzigartig ist und es ein Fehler wäre, jemandem, der sich in einem schwierigen Trauerprozess befindet, den Begriff „abnorme Trauer“ überzustülpen. Ich favorisiere den Begriff „komplizierte Trauer“, der anzeigt, dass der Trauerprozess der betroffenen Person schwierig ist und der psychotherapeutischen Aufmerksamkeit bedarf.
Die Einzigartigkeit der Trauer herauszustellen ist keine neue Tendenz in der Trauerforschung. Schon Colin Parkes (2002) schrieb: „Von Anfang an haben Bowlby und ich erkannt, dass es bei der Reaktion auf einen Verlust viele individuelle Abweichungen gibt und nicht jeder die verschiedenen Phasen auf die gleiche Weise oder in der gleichen Geschwindigkeit durchläuft“ (S. 380).
Die von Gundel, O’Connor, Littrell, Fort und Lane (2003) per funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) durchgeführten Hirnuntersuchungen bei acht trauernden Frauen ergaben, dass Trauer durch ein weitläufiges neuronales Netzwerk vermittelt wird, das neuronale Prozesse in den verschiedensten Teilen und Funktionen des Gehirns betrifft, darunter Affektverarbeitung, mentale Vorstellung, Abruf bestimmter Erinnerungen, Visualisierung und autonome Regulation. Dieses neuronale Netzwerk kann für die einzigartige, subjektive Qualität der Trauer verantwortlich sein. In jedem Fall eröffnen die Ergebnisse uns vielversprechende neue |28|Einsichten in unserem Bemühen um ein umfassendes Verständnis der gesundheitlichen Folgen der Trauer und der Neurobiologie der Bindung.
Ich glaube, dass die in Kapitel 3 ausführlich beschriebenen Mediatoren der Trauer der Schlüssel zur Erklärung individueller Unterschiede bei der Trauererfahrung sind. Sie können erklären, wie die Anpassung an erlittene Verluste gelingt.
Um die Auswirkungen eines Verlusts und die damit verbundenen menschlichen Verhaltensweisen vollständig erfassen zu können, müssen wir zunächst ein Verständnis dafür entwickeln, was Bindung bedeutet. In der psychologischen und psychiatrischen Literatur ist viel über das Wesen von Bindungen geschrieben worden – was Bindungen sind und wie sie sich entwickeln. Zu den Schlüsselfiguren und Vordenkern auf diesem Gebiet gehört der inzwischen verstorbene britische Psychiater John Bowlby. Einen großen Teil seines Berufslebens widmete er der Erforschung von Bindungen und veröffentlichte mehrere substanzielle Werke sowie zahlreiche Artikel zu diesem Thema.
Bowlbys Bindungstheorie bietet uns eine Möglichkeit, die Neigung des Menschen zur Schaffung starker affektiver Bindungen zu begreifen und die starke emotionale Reaktion zu verstehen, die eintritt, wenn diese Bindungen bedroht sind oder aufhören zu existieren. Bei der Entwicklung seiner Theorien bezieht Bowlby Erkenntnisse aus Ethnologie, Kontrolltheorie, kognitiver Psychologie, Neurophysiologie und Entwicklungsbiologie ein. Er setzt sich bewusst von den Vertretern der Auffassung ab, Bindungen zwischen Individuen entstünden nur, um bestimmte biologische Triebe, z. B. den Nahrungs- und Sexualtrieb, zu befriedigen. Mit Bezug auf Lorenz’ Arbeiten mit verschiedenen Tieren und Harlows Untersuchungen an jungen Affen weist Bowlby (1977a) auf die Tatsache hin, dass Bindungen auch ohne die Verstärkung solcher Primärbedürfnisse entstehen.
Nach Bowlbys These entspringen diese Bindungen einem Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit; sie entwickeln sich früh im Leben, richten sich in der Regel auf einige wenige, spezifische Individuen und bleiben über einen großen Teil der Lebensspanne hinweg bestehen. Bindungen zu wichtigen Bezugspersonen herzustellen, |30|gilt als normales Verhalten, nicht nur bei Kindern, sondern auch bei Erwachsenen. Nach Bowlby sichert das Bindungsverhalten das eigene Überleben, was sich auch daran ablesen lässt, dass es bei den Jungen fast aller Säugetierarten auftritt. Bowlby trennt jedoch deutlich das Bindungsverhalten vom Nahrungs- und Sexualverhalten.
Bindungsverhalten lässt sich am besten am Beispiel junger Tiere und kleiner Kinder veranschaulichen, die sich mit zunehmendem Alter für immer größere Zeiträume von der primären Bezugsperson entfernen und den Radius ihres Umfelds immer weiter ausdehnen. Hilfe und Schutz suchend kehren sie jedoch immer wieder zur Bezugsperson zurück. Ist diese verschwunden oder in ihrer Existenz bedroht, reagieren sie mit großer Angst und starker emotionaler Gegenwehr. Nach Bowlby bieten die Eltern ihrem Kind eine sichere Ausgangsbasis für seine Erkundungen. Die Beziehung zwischen Eltern und Kind bestimmt über die spätere Fähigkeit des Kindes, tragfähige Bindungen zu anderen aufzubauen. Dies entspricht Erik Eriksons (1950) Konzept des Urvertrauens: Durch eine zuverlässige elterliche Betreuung sieht sich das Kind im späteren Leben imstande, sich selbst zu helfen und im Bedarfsfall von anderen Hilfe zu empfangen. Dass in diesem Prozess pathologische Abweichungen entstehen können, leuchtet unmittelbar ein. Eine unzulängliche elterliche Betreuung kann zu ängstlichen oder spannungsreichen Bindungen führen (Winnicott, 1953, 1965). In Kapitel 3 werden verschiedene Bindungsstile behandelt.
Besteht das Ziel des Bindungsverhaltens in der Aufrechterhaltung eines starken affektiven Bands, rufen Situationen, die dieses Band gefährden, ganz spezifische Reaktionen hervor. Je größer der potenzielle Verlust, desto stärker und vielfältiger die Reaktionen. „Unter solchen Umständen werden die stärksten Formen des Bindungsverhaltens aktiviert – Anklammern, Weinen, möglicherweise wütende Anwendung von Zwang … Sind diese Formen erfolgreich, wird die Bindung wiederhergestellt, die Reaktion ebbt ab, Stress und Kummer werden entschärft“ (Bowlby, 1977b, S. 429). Bleibt die Gefahr bestehen, folgen Rückzugsverhalten, Apathie und Verzweiflung.
Dieses Verhalten zeigen sowohl Tiere als auch Menschen. In seinem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verfassten Buch Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren beschreibt Charles Darwin (1872, 2000), dass Tiere ebenso wie Kinder und erwachsene Menschen ihr Leid zum Ausdruck bringen. Konrad Lorenz (1963) schildert das trauerähnliche Verhalten einer Graugans anlässlich der Trennung von ihrem Weibchen oder Männchen:
Als erste Reaktion auf das Verschwinden versucht die Graugans mit aller Macht, ihr Weibchen oder Männchen wiederzufinden. Tag und Nacht läuft die Gans rastlos hin |31|und her, fliegt weite Strecken und sucht Plätze auf, an denen das Weibchen oder Männchen sich aufhalten könnte, stößt fortwährend den dreisilbigen Distanzruf aus … Die Suchflüge werden immer weiter ausgedehnt und häufig verirrt sich die suchende Gans selbst oder erleidet einen Unfall … Alle objektiv beobachtbaren Charakteristika des Verhaltens der Graugans beim Verlust ihres Partners finden sich in weitgehend analoger Weise bei trauernden Menschen wieder. (Lorenz, 1963, zitiert in: Parkes, 2001, S. 44)
Es gibt in der Tierwelt viele andere Beispiele für Trauerverhalten. Vor einigen Jahren erschien ein interessanter Bericht über Delfine im Zoo von Montreal. Nachdem eines der Delfinweibchen gestorben war, wollte das Männchen nicht mehr essen und die Zoowärter hatten die schwierige, wenn nicht gar unmögliche Aufgabe, es am Leben zu erhalten. Indem der Delfin die Nahrungsaufnahme verweigerte, zeigte er Anzeichen von Trauer und Depression, die dem menschlichen Verhalten angesichts eines Verlusts weitgehend ähneln.
Der Psychiater George Engel schilderte im Rahmen der „Psychiatric Grand Rounds“ am Massachusetts General Hospital ausführlich einen Fall schmerzlicher Trauer. Es schien sich genau um die Reaktionen zu handeln, die man bei einem Menschen nach dem Verlust der Partnerin oder des Partners typischerweise erwarten würde. Erst nachdem er einen langen Zeitungsbericht über den Fall verlesen hatte, eröffnete Dr. Engel seinen erstaunten Zuhörerinnen und Zuhörern, dass es sich bei dem Trauernden um eine Straußenhenne handelte, die ihr Männchen verloren hatte! Angesichts der zahlreichen Beispiele aus der Tierwelt folgert Bowlby, dass es triftige biologische Gründe dafür geben müsse, warum eine Trennung automatisch und instinktiv so heftige Verhaltensweisen auslöst. Seiner Ansicht nach werde der Verlust zunächst nicht für unwiderruflich gehalten und die Reaktion ganz darauf ausgerichtet, die Trennung zu überwinden. Daraus habe sich im Laufe der Evolution ein entsprechendes, instinktgesteuertes Verhaltensrepertoire entwickelt, das auf der Annahme basiert, die Bindung lasse sich wiederherstellen. Aus diesem Grund sei auch ein Teil der im menschlichen Trauerprozess beobachteten Reaktionen darauf abgestellt, die Beziehung zu dem verlorenen Objekt wieder aufzunehmen (Bowlby, 1980). Diese „biologische Theorie des Trauerns“ hatte großen Einfluss auf das Denken vieler Fachleute, so auch auf das des britischen Psychiaters Colin Murray Parkes (1972; Parkes & Stevenson-Hinde, 1982; Parkes & Weiss, 1983). Bekannte Bindungstheoretikerinnen sind Mary Ainsworth (Ainsworth, Blehar, Waters & Wall, 1978) und Mary Main (Main & Hesse, 1990). Die Trauerreaktionen von Tieren zeigen, welche primitiven biologischen Prozesse auch bei uns Menschen am Werk sind. Allerdings gibt es Merkmale der Trauer, die nur für Men|32|schen spezifisch sind. Diese normalen Trauerreaktionen sollen in diesem Kapitel beschrieben werden (vgl. Kosminsky & Jordan, 2016).
Es gibt Hinweise darauf, dass alle Menschen einen erlittenen Verlust in einem gewissen Ausmaß betrauern. Ethnologinnen und Ethnologen, die andere Gesellschaften, ihre Kulturen und ihre Reaktionen auf den Verlust geliebter Menschen studiert haben, berichten, dass es in jeder der von ihnen untersuchten Gesellschaften ein nahezu universelles Bemühen um das Wiedererlangen des verlorenen Liebesobjekts gibt, bzw. dass der Glaube an ein Leben nach dem Tod besteht, sodass ein Wiedersehen mit dem geliebten Menschen möglich wird. In schriftlosen Gesellschaften scheint eine „Trauerpathologie“ allerdings weniger verbreitet zu sein als in zivilisierteren Gesellschaften (Parkes, Laungani & Young, 2015; Rosenblatt, 2008; Rosenblatt, Walsh & Jackson, 1976).
Diese interessante Frage warf George Engel (1961) in einem nachdenklich stimmenden Essay in der Zeitschrift Psychosomatic Medicine auf. Engels These lautet: Der Verlust eines geliebten Menschen ist für die Psyche im gleichen Maße traumatisch wie eine schwere Verwundung oder Verbrennung für den Körper. Engel deutet Trauer als Abkehr vom Zustand der Gesundheit und des Wohlbefindens. So wie im physiologischen Bereich Heilung nötig ist, um den Körper wieder ins homöostatische Gleichgewicht zu bringen, brauche der Trauernde eine gewisse Zeit, um zu einem vergleichbaren psychischen Gleichgewicht zurückzufinden. Der Prozess des Trauerns ist demnach für Engel dem der Heilung ähnlich. Wie beim Heilvorgang kann die Funktionsfähigkeit ganz oder zumindest annähernd wiederhergestellt werden, aber auch auf Dauer beeinträchtigt sein, wenn die Heilung unvollständig bleibt. So wie auf die verschiedenen Eventualitäten beim physiologischen Heilvorgang seien die Begriffe „gesund“ und „krankhaft“ auch auf den Verlauf des Trauerprozesses anwendbar. Engel betont, dass der Trauerprozess und die Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit der Betroffenen Zeit brauche. Außerdem könnten Betroffene in unterschiedlichem Maße durch die Trauer beeinträchtigt sein (Engel, 1961). Statt von „Wiederherstellung“ und „Genesung“ zu sprechen, bevorzuge ich den Begriff „Anpassung“ oder „Adaption“: Einige Menschen passen sich an den Verlust besser an als andere. In Kapitel 5 gehen wir ausführlich auf die „komplizierte Trauer“ ein, bei der den Betroffenen keine adäquate Anpassung an den Verlust gelingt.
|33|Wenn ich in diesem Buch den Begriff „Trauer“ verwende, beziehe ich mich auf die Erfahrung eines Menschen, der durch einen Todesfall eine lieb gewonnene andere Person verloren hat. Trauer kann Gedanken, Gefühle und körperliche Veränderungen unterschiedlicher Ausprägung beinhalten, deren Intensität sich im Laufe der Zeit verändert. Selbstverständlich lässt sich der Begriff auch auf andere Verluste anwenden, in diesem Buch geht es jedoch primär um Verluste infolge von Todesfällen. Mit dem Begriff „Trauerprozess“ wird die Entwicklung beschrieben, die ein betroffener Mensch durchläuft, während er versucht, sein Leben an die durch den Verlust der geliebten Person veränderte Situation anzupassen.
Normale Trauer, manchmal auch „unkomplizierte Trauer“ genannt, umfasst als Begriff ein breites Spektrum von Gefühlen, Gedanken, körperlichen Reaktionen und veränderten Verhaltensweisen, die nach einem Verlust häufig beobachtet werden.1 Einen der frühesten Versuche, normale Trauerreaktionen systematisch zu betrachten, unternahm Erich Lindemann (1944) in der Zeit, als er die psychiatrische Abteilung am Massachusetts General Hospital leitete.
Im Raum Boston gibt es zwei katholische Colleges, die als Football-Rivalen bekannt sind. Im Herbst 1942 fand eine ihrer traditionellen Sonnabend-Begegnungen statt. Holy Cross schlug Boston College, und nach dem Spiel zog eine große Menschenmenge in den Coconut Grove Nightclub, um dort zu feiern. Während der Festlichkeiten zündete ein Angestellter, der eine Glühbirne auszuwechseln versuchte, ein Streichholz an und setzte dadurch versehentlich eine künstliche Palme in Brand. Im Handumdrehen stand der ganze, hoffnungslos überfüllte Nachtclub in Flammen. Fast 500 Menschen kamen ums Leben.
Lindemann und sein Team betreuten die Angehörigen der Opfer. Auf diese sowie auf andere Daten gestützt, schrieb er seinen klassischen Artikel „The Symptomatology and Management of Acute Grief“ (Lindemann, 1944). Bei seinen Beobachtungen an 101 Patientinnen und Patienten, die unlängst einen schmerzlichen Verlust durch Tod erlitten hatten, entdeckte er ähnliche Muster, die er als „pathognomische Merkmale der normalen oder akuten Trauer“ beschrieb:|34|
1)Somatische oder körperliche Belastungen
2)Ständige gedankliche Beschäftigung mit der verstorbenen Person
3)Schuldgefühle gegenüber der verstorbenen Person oder den Umständen ihres Todes
4)Feindselige Reaktionen
5)Unfähigkeit, den Alltag so zu meistern wie vor dem Verlust.
Zusätzlich beschrieb Lindemann ein sechstes Merkmal, das bei vielen Patientinnen und Patienten auftrat: Sie schienen in ihrem eigenen Verhalten Wesenszüge der verstorbenen Personen zu entwickeln.
Lindemanns Studie hat einige Schwächen. So weist z. B. Parkes (2001) darauf hin, dass Lindemann für die relative Häufigkeit der beschriebenen Symptome keinerlei Zahlen anführt. Auch sagt Lindemann nicht, wie viele Gespräche er mit den Patientinnen und Patienten geführt hat und wie viel Zeit zwischen den Todesfällen und den Gesprächen verstrichen war. Dennoch handelt es sich um eine wichtige und vielzitierte Studie.
Mir erscheint besonders bemerkenswert, dass das Verhalten der Trauernden, die wir heute im Massachusetts General Hospital betreuen, große Ähnlichkeit mit dem Verhalten der Patientinnen und Patienten aufweist, die Lindemann vor mehr als 70 Jahren beschrieb. Bei vielen Menschen, die eine akute Trauerreaktion durchmachen, beobachten wir einige oder alle der in den folgenden Absätzen aufgeführten Phänomene. Da die Liste der normalen Verhaltensweisen trauernder Menschen so umfangreich und vielfältig ist, habe ich sie in vier allgemeine Kategorien unterteilt: Gefühle, körperliche Reaktionen, kognitive Veränderungen und Verhaltensweisen. Wer Trauernde berät, muss mit der großen Bandbreite an Reaktionen vertraut sein, die bei normaler Trauer beschrieben werden.
Traurigkeit ist bei Menschen, die eine lieb gewonnene Person durch Tod verloren haben, das am häufigsten beobachtete Gefühl und bedarf kaum eines Kommentars. Traurigkeit äußert sich oft in Weinen, kann aber auch andere Ausdrucksformen annehmen. Parkes und Weiss (1983) vermuten im Weinen ein Signal, das bei anderen mitfühlende und schützende Reaktionen auslöst und eine soziale Situation schafft, in der die normalen Gesetze des Konkurrenzverhaltens außer Kraft |35|gesetzt werden. Einige Trauernde haben Angst vor der Traurigkeit, vor allem vor deren Intensität und Dauer (Taylor & Rachman, 1991). Nicht selten hört man: „Ich dachte, ich hätte schon alle Tränen geweint, die es überhaupt zu weinen gibt.“ Andere versuchen, ihre Traurigkeit zumindest tagsüber durch möglichst viele Aktivitäten zu überspielen, nur um dann festzustellen, dass sie sich in der Nacht umso heftiger Bahn bricht. Wird die Traurigkeit (ob mit oder ohne Tränen) nicht zugelassen, kann dies zu komplizierter Trauer führen (siehe Kapitel 5).
Nach einem schmerzlichen Verlust wird oft Wut empfunden. Für die Trauernden kann dies ein äußerst verwirrendes Gefühl sein und deshalb im Trauerprozess Probleme mit sich bringen (Cerney & Buskirk, 1991). Eine Frau, deren Mann an Krebs gestorben war, sagte mir: „Wie kann ich auf ihn wütend sein? Er wollte ja nicht sterben.“ In Wahrheit war sie wütend auf ihn, weil er gestorben war und sie allein zurückgelassen hatten. Wird die Wut nicht in ausreichendem Maße zugelassen, kann sie zu Komplikationen im Trauerprozess führen.
Die Wut hat zwei Quellen: ein Gefühl der Frustration, weil es nichts gab, was man hätte tun können, um den Tod zu verhindern, und eine Art Regression, die in gewisser Weise immer auftritt, wenn man einen lieb gewonnenen Menschen verliert. Vielleicht haben Sie eine solche regressive Erfahrung selbst schon einmal erlebt, als Sie als kleines Kind mit Ihrer Mutter einkaufen waren und Sie plötzlich merkten, dass Ihre Mutter verschwunden war. Sie empfanden Panik und Angst, bis Ihre Mutter zurückkehrte, vergalten ihr dies aber nicht mit liebevoller Freude, sondern wehrten sich gegen ihre Umarmungen und versetzten ihr wütende Fußtritte. Dieses Verhalten, das Bowlby als einen Bestandteil unseres genetischen Erbes betrachtet, drückt symbolisch die Botschaft aus: „Lass mich ja nicht wieder allein!“
Beim Verlust einer wichtigen Bezugsperson neigen Trauernde zur Regression. Sie kommen sich hilflos vor, glauben ohne den verstorbenen Menschen nicht weiterleben zu können und spüren dann mit diesen Angstgefühlen Wut in sich aufsteigen. Diese Wut muss erkannt und in angemessener Weise auf die verstorbene Person gerichtet werden, damit eine gesunde Anpassung erfolgen kann.
Zu einer der riskantesten Fehlanpassungen kann es kommen, wenn die Wut nach innen gegen das eigene Selbst gerichtet wird. In schweren Fällen kann dies zu Selbstverachtung, Depression und suizidalem Verhalten führen. Eine eher psychodynamisch geprägte Interpretation der nach innen gelenkten Wut entwickelte |36|Melanie Klein (1940), die vermutete, der „Triumph“ über den Toten bringe die zurückgebliebene Person dazu, ihre Wut gegen sich selbst oder nach außen auf andere Personen im näheren Umfeld zu lenken.
Oft wird mit der Wut auf eine andere, weniger effektive Weise umgegangen, z. B. mittels Verschiebung, indem die Wut auf eine andere Person gelenkt wird, der dann die Schuld am Tod des geliebten Menschen gegeben wird (Drenovsky, 1994). Der Gedankengang dabei ist: Wenn jemand für schuldig gehalten werden kann, ist er auch verantwortlich und folglich wäre der Verlust zu verhindern gewesen. Oft wird Ärztinnen und Ärzten die Schuld gegeben, manchmal richten sich die Vorwürfe aber auch gegen andere Familienmitglieder, gegen ein unsensibles Mitglied im Bekanntenkreis oder gegen Gott. „Ich fühle mich betrogen, aber ich bin verwirrt, weil ich nicht weiß, wer mich betrogen hat. Gott hat mir etwas so Kostbares geschenkt und dann nimmt er es mir wieder weg. Ist das gerecht?“, fragte eine Witwe (Exline, Park, Smyth & Carey. 2011).
Field und Bonanno (2001) unterscheiden in ihren Forschungen zwei Arten von Schuldzuweisungen: Diese richten sich entweder gegen die verstorbene Person oder gegen sich selbst. Ihnen zufolge zeigen Trauernde, die der verstorbenen Person die Schuld geben, in den ersten Monaten nach dem Todesfall mehr Wut und andere Symptome und empfinden die fortbestehende Bindung als schwächer. Trauernde, die sich selbst die Schuld am Tod der verstorbenen Person geben, zeigen dagegen mehr Trauersymptome jeglicher Art und haben Schwierigkeiten, den Verlust als Realität zu akzeptieren. Sie neigen dazu, die Bindung an die verstorbene Person durch das Aufbewahren von Gegenständen aus ihrem Besitz sowie durch die Schuldgefühle aufrechtzuerhalten, statt liebevolle Erinnerungen dafür heranzuziehen.
Selbstvorwürfe, Scham und Schuldgefühle gehören zu jedem Trauerprozess und wirken sich auf dessen Verlauf aus (Duncan & Cacciatore, 2015). Trauernde sehen sich häufig mit Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen konfrontiert – weil sie nicht geduldig genug waren, den später verstorbenen Menschen nicht schon früher ins Krankenhaus gebracht haben und so weiter. Vorwiegend geht es dabei um Dinge, die kurz vor dem Tod geschahen oder vermeintlich versäumt wurden, Dinge, die den Tod vielleicht noch hätten verhindern können (|37|Li, Stroebe, Chan & Chow, 2014). In den meisten Fällen sind diese Schuldgefühle irrational und lassen sich durch „Realitätstests“ rasch entkräften. Natürlich gibt es aber immer auch die Möglichkeit realer Schuld, weil die Person tatsächlich etwas getan hat, das den Tod verursacht hat. In diesen Fällen sind eher psychotherapeutische Interventionen als Realitätstests angebracht.
Ängste von Trauernden reichen von einer unbestimmten leichten Unsicherheit bis zu heftigen Panikattacken. Je intensiver und hartnäckiger sie sind, desto stärker deuten sie auf eine komplizierte Trauerreaktion hin (Onrust & Cuijpers, 2007). Die Angst speist sich primär aus zwei Quellen: Erstens die bindungsbezogene Angst: Die Trauernden fürchten, allein auf sich gestellt nicht mit dem Leben zurechtzukommen. Dies bringen sie häufig durch Aussagen wie „Ohne sie/ihn kann ich nicht weiterleben“ zum Ausdruck (Meier, Carr, Currier & Neimeyer, 2013). Zweitens verknüpft sich die Angst mit einem geschärften Bewusstsein für die Unabwendbarkeit des eigenen Todes – die Tatsache der eigenen Sterblichkeit wird nun umso schmerzlicher erkannt (Worden, 1976). Im Extremfall kann sich diese Angst zu einer regelrechten Phobie auswachsen. Der bekannte Autor C. S. Lewis (1961) kannte diese Angst und schrieb, nachdem er seine Frau verloren hatte: „Keiner hat mir je gesagt, dass Trauer sich wie Angst anfühlt. Ich bin nicht ängstlich, aber das, was ich fühle, ähnelt großer Angst. Dasselbe Magenflattern, dieselbe Unruhe, das ständige Gähnen, ich muss andauernd schlucken.“
Einsamkeit ist ein Gefühl, von dem viele Trauernde berichten, vor allem wenn sie ihre Lebenspartnerin oder ihren Lebenspartner verloren haben und daran gewöhnt waren, in einer festen Beziehung zu leben. Viele Witwen gehen trotz ihrer großen Einsamkeit nicht aus dem Haus, weil sie sich daheim sicherer fühlen. „Ich komme mir so verlassen vor“, sagte eine Witwe, die mit ihrem Mann 52 Jahre lang verheiratet gewesen war. „Für mich war es, als sei die Welt untergegangen“, erklärte sie mir zehn Monate nach dem Tod ihres Mannes. Stroebe, Stroebe, Abakoumkin und Schut (1996) unterscheiden zwischen emotionaler und sozialer Einsamkeit. Soziale Unterstützung kann soziale Einsamkeit lindern, gegen die emotionale Einsamkeit nach einer zerbrochenen Bindung jedoch nicht ankommen. Letztere kann erst überwunden werden, wenn es gelingt, eine andere Bindung in das eigene Leben zu integrieren (Stroebe, Schut & Stroebe, 2005). Manchmal hängt die Einsamkeit |38|auch mit dem Bedürfnis nach Berührung zusammen, besonders nach dem Tod der Ehefrau oder des Ehemannes (Van Baarsen, Van Duijn, Smit, Snijders & Knipscheer, 2001).
Lindemanns Patientinnen und Patienten berichteten von großer Müdigkeit und Erschöpfung. Ähnliches beobachten wir bei den Trauernden, die wir betreuen. Manche beschreiben das Gefühl auch als Apathie oder Teilnahmslosigkeit. Für sonst eher aktive Persönlichkeiten kann diese ungewohnte Antriebslosigkeit sowohl überraschend als auch belastend sein. „Ich komme morgens nicht aus dem Bett“, sagte eine Witwe. „Ich vernachlässige den Haushalt, weil ich nur noch müde bin.“ Das Gefühl der großen Erschöpfung ist in der Regel zeitlich begrenzt. Dauert es unverhältnismäßig lange an, kann es ein klinisches Merkmal einer Depression sein.
Ein Faktor, der einen Todesfall für Trauernde besonders belastend macht, ist das Gefühl der Hilflosigkeit. Die häufig gleichzeitig mit Angst auftretende Hilflosigkeit wird in der ersten Phase nach einem Verlust als besonders stark empfunden. Vor allem Witwen fühlen sich oft extrem hilflos. Eine junge Witwe, deren Baby beim Tod ihres Mannes sieben Wochen alt gewesen war, erzählte: „Meine Angehörigen kamen und blieben die ersten fünf Monate bei mir. Ich hatte Angst, ich könnte ausflippen und das Kind nicht mehr richtig versorgen.“ Hilflosigkeit steht in Zusammenhang mit der internalen bzw. externalen Wahrnehmung von Kontrolle („locus of control“). Trauernde mit eher externalen Kontrollüberzeugungen fühlen sich den Umständen ausgeliefert und weniger dazu in der Lage, Kontrolle und Selbstwirksamkeit zu empfinden (Rubinstein, 2004).
Zum Schock kommt es am häufigsten, wenn ein Todesfall ganz plötzlich eintritt oder man aus heiterem Himmel davon erfährt, z. B. wenn das Telefon klingelt, man abnimmt und erfährt, dass ein geliebter Mensch gestorben ist. Doch auch wenn der Verstorbene schon länger schwer erkrankt war und mit seinem Tod zu rechnen war: Wenn der entscheidende Anruf eintrifft, kann es zum Schock und einem Gefühl des Nicht-Wahrhaben-Wollens kommen.
Große Sehnsucht bis hin zu einem schmerzlichen Sich-Verzehren nach der verstorbenen Person ist ein Gefühl, das viele Trauernde kennen und gemäß den Untersuchungen von Parkes (2001; Parkes & Prigerson, 2010) besonders häufig bei allein zurückbleibenden Lebenspartnerinnen auftritt. Sehnsucht ist eine normale Trauerreaktion. Klingt sie ab, kann das bedeuten, dass die Trauer sich ihrem Ende nähert. Bleibt sie unvermindert bestehen, kann dies ein klinisches Merkmal für komplizierte Trauer sein (Stroebe, Abakoumkin & Stroebe, 2010). In Kapitel 5 werde ich die anhaltende Trauer als Form der komplizierten Trauer und die Bedeutung der Sehnsucht für ihre Diagnose näher beschreiben (Robinaugh et al., 2016).
Ein Gefühl der Befreiung gehört zu den positiven Emotionen, die nach einem Todesfall ebenfalls auftreten können. Eine junge Frau, deren Vater – ein echter Potentat – diktatorisch und mit harter Hand ihr Leben beherrscht hatte, erzählte mir, nach dem plötzlichen Herztod des Vaters habe sie die normalen Trauergefühle durchgemacht, aber auch ein Gefühl der Befreiung verspürt, weil sie seine Tyrannei nun nicht länger erdulden musste. Zuerst habe sie dieses Gefühl irritiert, später aber konnte sie es als normale Reaktion auf ihre veränderte Lebenssituation akzeptieren.
Für viele Trauernde bringt der Tod eines geliebten Menschen eine gewisse Erleichterung mit sich, vor allem wenn ihm eine lange oder besonders qualvolle Krankheit vorausgegangen war. „Zu wissen, dass dieses Leiden, sowohl körperlich als auch seelisch, jetzt endlich vorüber ist, hilft mir, mit seinem Tod fertig zu werden“, sagte eine ältere Witwe. Ein Gefühl der Erleichterung kann auch dann einsetzen, wenn zu der verstorbenen Person – häufig schon ein Leben lang – eine besonders schwierige Beziehung bestand. Auch ein Suizid nach einer langen Reihe missglückter Suizidversuche kann von einer Reaktion der Erleichterung begleitet sein; jedoch gehen damit sehr oft auch Schuldgefühle einher.
Wichtig zu erwähnen ist auch, dass manche Menschen von einem Ausbleiben jeglicher Gefühle berichten. Sie fühlen sich dann wie betäubt und abgestumpft. Auch diese emotionale Taubheit stellt sich oft recht früh im Trauerprozess ein, in der Regel gleich nach dem Erhalt der Todesnachricht. Wahrscheinlich kommt es dazu, weil so viele Gefühle auf die Trauernden einströmen, dass es sie überwältigen würde, wenn sie sie alle bewusst zulassen müssten. Die emotionale Taubheit ist eine Art psychischer Schutzwall gegen dieses Anfluten starker Gefühle. Parkes und Weiss (1983) bemerken dazu: „Wir haben keinen Hinweis darauf, dass es eine ungesunde Reaktion sein könnte. Gefühle auszublenden, um etwas abzuwehren, das sonst mit überwältigendem Schmerz verbunden wäre, muss unter den gegebenen Umständen extrem ,normal‘ erscheinen“ (S. 55).
Wenn Sie diese Zusammenstellung Revue passieren lassen, sollten Sie bedenken, dass es sich bei allen genannten Gefühlen um normale Trauerreaktionen handelt, an denen nichts Pathologisches ist. Gefühle, die ungewöhnlich lang anhalten und über die Maßen intensiv sind, können allerdings auf eine komplizierte Trauerreaktion hindeuten. Darauf werde ich in Kapitel 5 näher eingehen.
Zu den interessanten Aspekten in Lindemanns bereits erwähntem Artikel gehört, dass darin nicht nur psychische, sondern auch körperliche Trauerreaktionen beschrieben werden. Sie werden oft übersehen, spielen jedoch im Trauerprozess eine bedeutende Rolle. Die folgenden körperlichen Reaktionen werden uns von Trauernden am häufigsten genannt:
1)„Stein im Magen“
2)Beklemmung in der Brust
3)Zugeschnürte Kehle
4)Überempfindlichkeit gegen Lärm
5)Das Gefühl, neben sich zu stehen („Depersonalisation“): „Ich gehe die Straße hinunter und alles kommt mir unwirklich vor, auch ich selbst.“
6)Atemlosigkeit, Kurzatmigkeit
7)Muskelschwäche
8)Energielosigkeit
9)Mundtrockenheit.
|41|Oft beunruhigen diese körperlichen Reaktionen die Betroffenen und veranlassen sie, eine Ärztin oder einen Arzt aufzusuchen. Im Rahmen der ärztlichen Diagnosestellung sollte daher immer nach kürzlich zurückliegenden Todesfällen gefragt werden.
Für die Trauererfahrung sind viele verschiedene Denkmuster kennzeichnend. Manche Muster treten in den frühen Trauerphasen häufig auf, verschwinden in der Regel aber nach kurzer Zeit wieder. Manchmal allerdings setzen sie sich hartnäckig fest und lösen Gefühle aus, die zu Depression oder Angst führen können.
„Das ist nicht wahr. Es muss ein Irrtum sein. Ich kann nicht glauben, dass das passiert ist. Ich will es einfach nicht glauben!“ Dies sind häufig die ersten Gedanken, die einem Menschen durch den Kopf schießen, wenn er von einem Todesfall hört, vor allem, wenn die Nachricht ganz plötzlich kommt. Eine junge Witwe erklärte mir: „Ich warte immer noch darauf, dass jemand kommt, mich aufweckt und mir sagt, dass ich das alles nur geträumt habe.“ Eine andere sagte: „Der Tod meines Mannes war ein Schock für mich, auch wenn er schon eine ganze Zeit lang krank gewesen war. Man ist einfach nie wirklich bereit dafür.“
Viele Menschen,