Bereit für das nächste Mal - Rudolf Likar - E-Book

Bereit für das nächste Mal E-Book

Rudolf Likar

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Beschreibung

Ein Virus hat uns die Grenzen des Gesundheitssystems gezeigt. Was müssen wir daraus lernen, um vor der nächsten Pandemie geschützt zu sein? Der Intensivmediziner Prof. Dr. Rudolf Likar sagt gemeinsam mit dem Altersmediziner Dr. Georg Pinter und dem Gesundheitspsychologen Dr. Herbert Janig, mit welchen Herausforderungen man vor und während der Corona-Krise konfrontiert war und wie wir unser Gesundheitssystem jetzt auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene umbauen müssen. Ein Masterplan mit vielen wissenswerten Details über unsere medizinische Versorgung.

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Dr. Rudolf LikarDr. Georg PinterDr. Herbert Janig:Bereit für das nächste Mal

Aufgezeichnet von:Andrea Fehringer &Thomas Köpf

Alle Rechte vorbehalten

© 2020 edition a, Wienwww.edition-a.at

Cover: Isabella StarowiczSatz: Sophia Stemshorn

Die Autoren spenden ihr gesamtes Honorar aus dem Verkauf dieses Buches an das Sozialpädagogische & therapeutische Zentrum für Kinder und Jugendliche Josefinum in Klagenfurt am Wörthersee.

ISBN 978-3-99001-423-3

E-Book-Herstellung und Auslieferung:Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

»Seien Sie vorsichtig mit Gesundheitsbüchern –Sie könnten an einem Druckfehler sterben.«

– Mark Twain

INHALT

TAG X: IM ZEICHEN DER ANGST

ALLE MENSCHEN MÜSSEN VORSORGEN

IMPFPFLICHT, NACHSCHUB UND INFEKTKLINIKEN

WIR BRAUCHEN EIN FRÜHWARNSYSTEM

DER SECHS-STUFEN-PLAN BEIM AUSBRUCH

SO BAUT MAN ÜBER NACHT EIN SPITAL UM

WIR STÄRKEN NIEDERGELASSENE ÄRZTE

BETREUUNG ALTER MENSCHEN IN DEN ZEITEN VON CORONA

ENTSCHEIDEN ZWISCHEN LEBEN UND TOD

ETHIK AM RANDE DES WELTUNTERGANGS

WIR ETABLIEREN E-HEALTH BUNDESWEIT

DIE ÄRA DES SOZIALEN ABSTANDS

WIE WIR PANDEMIEN IN ZUKUNFT BEGEGNEN

ANHANG DER PANDEMIE-PLAN IN 55 PUNKTEN

NACHWORT VON JOHANN WOLFGANG VON GOETHE

Anmerkung: In diesem Buch wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit und Übersicht auf gegenderte Formulierungen verzichtet. Selbstverständlich ist immer die weibliche und männliche Form gemeint.

TAG X: IM ZEICHEN DER ANGST

Wir atmen Zeitgeschichte. Alles, was passiert, alles, was jetzt geschieht, wird später in den Geschichtsbüchern stehen. Wir werden lesen, dass der Tod leise kam. Niemand hatte geahnt, was da auf uns zukommt. Ein Erreger mit der sperrigen Bezeichnung SARS-CoV-2, der noch nie zuvor beim Menschen nachgewiesen wurde. Es dauerte ein paar Wochen, bis Männer in Schutzanzügen die Särge wegkarrten und alle wussten: Dieser Tod trägt keine schwarze Kutte, er hält auch keine Sichel in der Hand. Dieser Tod ist unsichtbar. Eine gedankenlose Geste – die Hand fährt unbedacht zum Mund, der Finger flink zum Auge –, schon ist man infiziert. Das Virus war plötzlich da, auf dem Fischmarkt von Wuhan. Von Fledermäusen herbeigeflattert, hat es sich ausgebreitet und wütet rund um den Erdball.

Bei manchen Menschen zeigen sich leichte oder gar keine Symptome, bei anderen greift es die Lunge an. Die Zeitgeschichte, diese toxische Luft, die wir atmen, bringt Furcht, Isolation, Zukunftsangst, Leid. Aber auch Zuversicht und Zusammenhalt in einer Ära, die keiner für möglich gehalten hätte. Leere Straßen wie Trugbilder, Menschen mit Masken, die Essen und Wasser holen, singende Leute auf Balkonen, Szenen wie aus einem apokalyptischen Film von Roland Emmerich. 2020, das Jahr eins von Corona. Tag X. Outbreak. Politische Entscheidungen mit weitreichenden Konsequenzen. Die Dystopie der Gegenwart. Shutdown. Abstand halten. Hände waschen. Quarantäne. Daheimbleiben, unbedingt. Die Arbeitslosigkeit steigt explosionsartig. Spitäler im Ausnahmezustand. Neue Helden. Kassiererinnen im Supermarkt, Pfleger, Polizisten, Busfahrer, Müllmänner, Zivildiener. Junge Leute, die Waren in die Regale schlichten. Ärzte am Rand des Machbaren, bereit für das, was jede Sekunde neu hereinkommen kann. Nächster Einsatz in der Intensivstation, Nachtschichten. Dann Abflachen der Kurve. Lockerung der Vorschriften. Familie treffen. Freunde sehen. Aufatmen. Öffnen der Geschäfte. Öffnen der Lokale. Öffnen der Schulen. Neustart der Wirtschaft. Auferstehung.

Notfälle sind unser Tagesgeschäft. Leben retten. Wir wissen, wo das Gesundheitssystem greift, woran es krankt und was konkret fehlt. Um für die Zukunft gewappnet zu sein, braucht es einen guten Plan. Ein medizin-strategisches Dossier. Genau das legen wir mit diesem Buch vor. Das Chaos im Jetzt braucht Ruhe und Weitblick. Besonnenheit.

Als Ärzte können wir sagen: Corona schreckt uns nicht. Auch keine Grippe, kein Infarkt, keine Embolie, kein Krebs, kein Herzstillstand. Das sind keine Wörter, die im Krankenhaus Schnappatmung auslösen dürfen, es sind Diagnosen. Uns ist der Tod nicht fremd, im Gegenteil, wir sehen ihn sehr oft. Er gehört für uns zum Leben. Wir dürfen einen Überblick geben. Eine Momentaufnahme, was an der Front tatsächlich los ist und was sich hinter den Kulissen abspielt.

Jetzt zum Beispiel ist Krisensitzung im Klinikum Klagenfurt. Damen, Herren und Ärzte in weißen Kitteln rund um einen ins Oval langgezogenen Tisch. Ernste Mienen. Rudolf Likar dabei als Intensivkoordinator für das Land Kärnten. Er ist übrigens der mit der runden roten Brille, grüß Gott. Wir diskutieren Fälle, virologische Details, die Zahl der freien Stations- und Intensivbetten, Einsatzpläne. Am Ende reden wir über Ausgangsbeschränkungen an sich, die Lockerungen, wie alles weitergeht. Das große Ganze. Sehr drastische Maßnahmen aufgrund eines Virus. Die einen sagen, nur so kann man Zehntausende Leben retten. Die anderen kontern, schön und gut, aber was hilft das, wenn später die kollabierte Wirtschaft Hunderttausende Leute finanziell umbringt.

Die Datenlage Mitte März war, dass wir in Kärnten gerade acht positive stationäre Patienten und eine Intensivpatientin hatten. Die Zahl der österreichweit Erkrankten ist längst fünfstellig, die Zahl der Toten zum Glück nur dreistellig, das Thema allgegenwärtig.

Corona ist für die Medien der heilige Gral. Die Bundeslade der Berichterstattung. Von früh bis spät werden wir mit Informationen, Bildern, Meinungen, Zahlen von Infizierten, an und mit Corona Verstorbenen und sonstigen Aussichten, Einsichten und Absonderlichkeiten beschallt und bestrahlt, dass manche schon froh sind, wenn irgendwo eine Rosamunde Pilcher im Fernsehen gezeigt wird und sich das Schmalz der Liebe über den Schandfleck der Endzeit schmiert.

Es geht um klares Wahrnehmen, Fakten und Relationen.

Wir haben rund 1.500 Influenza-Tote pro Jahr. Eintausendfünfhundert Menschen, die jedes Jahr in Österreich an der herkömmlichen Grippe sterben. Gibt es da Berichte, die wie die Offenbarung des Johannes klingen? Weltweit sterben 290.000 Menschen jährlich an eben dieser Grippe und bis zu 500 Millionen erkranken daran. Die Ansteckungsrate ist niedriger als bei Corona, stimmt. Trotzdem schreibt niemand: »Influenza-Pandemie: Mit dem Schnupfen kam der Tod«. Verbarrikadiert euch, schützt euch! Es kann jeden treffen.

Erstaunlicherweise sind aber nur 15 Prozent des gesamten Gesundheitspersonals in Österreich gegen Influenza geimpft.

Sprich, 85 von 100 Profis im heimischen Gesundheitswesen pfeifen auf die Immunisierung. Weil’s wurscht ist, oder warum? Die Grippe kriegen nur die anderen? Bequemlichkeit? Angst vor der Nadel? Haben Sie schon einmal gehört, dass Menschen panisch werden, wenn sie das Wort Grippe hören? Für die meisten ist es eine schlimmere Verkühlung, die für manche, ja, leider, letal ausgeht. Das Los der Alten und Schwachen. Schicksal.

Unterdessen wird das Zyklopenauge der Gesellschaft krampfhaft auf den Brennpunkt Corona gerichtet. Mitte April verzeichnete die Johns Hopkins Universität 2.076.015 COVID-19-Infizierte. 138.008 Tote. Und 522.881 Menschen, die schon wieder komplett geheilt sind. Das ist der natürliche Verlauf. Ansteckung, Ausbruch, Krankheitsverlauf, Heilung. (Aktuelle Zahlen finden Sie im Internet: de.statista.com)

Das Erstaunlichste aber ist ein Umstand, der gefährlicher ist als jede Tröpfcheninfektion: Bis jetzt, bis zu dieser Pandemie, gab es keinen österreichweiten Katastrophenplan.

Bis heute gibt es ihn nicht.

Keinen Plan für den Ernstfall.

Dabei war es absehbar. Unter Epidemiologen und Ärzten wurde immer wieder darüber diskutiert, dass es höchste Zeit für die nächste Pandemie wäre. 1918 und 1920 die Spanische Grippe in zwei Wellen mit insgesamt etwa 50 Millionen Todesopfern, vor allem jüngere Menschen. 1957/1958 Ausbruch der Asiatischen Grippe mit ein bis zwei Millionen Toten. 1968/1969 Hongkong Grippe mit einer Million Toten, 1977/1978 Russische Grippe mit 700.000 Toten. Dann 2001/2002 das erste Auftreten von SARS-CoV als erste Pandemie des 21. Jahrhunderts mit etwa 8.000 Fällen und knapp unter 800 Toten. 2009 die Schweinegrippe mit 18.000 Toten. Und seit 1980 HIV mit 35 Millionen Toten weltweit.

Pandemien sind keine biblische Strafe, wo es wie in den zehn Plagen Blut und Frösche vom Himmel regnet. Sie treten in regelmäßigen Abständen auf.

Trotzdem gab es keinen Plan.

Zu lange war der Föderalismus wichtiger als eine bundesweite Leitlinie, die man im Bedarfsfall aus der Schublade nimmt, aufschlägt und einfach alle Anweisungen Punkt für Punkt umsetzt.

Jeder Ausnahmezustand braucht eine Checkliste. Dabei reden wir nicht von einer detailgetreuen Vorstellung, wie man sich im Idealfall verhält, sollte ein Raumschiff im Wörthersee landen. Es geht auch nicht um eine landesweite Übung für eine allfällige Zombie-Apokalypse. Eine Pandemie kann jederzeit auftreten. Sie wird auch in Zukunft wieder auftreten. Hollywood-Regisseur Steven Soderbergh hat das im Jahr 2011 im Film Contagion anschaulich und mit Starbesetzung gezeigt. Ein neues Virus breitet sich aus. Gwyneth Paltrow tot, Kate Winslet tot, Matt Damon und Jude Law haben’s am Ende gerade noch geschafft. Der Thriller wirkt heute wie eine Doku.

Die Welt im Würgegriff einer tödlichen Seuche. So ist das aktuelle Bild gezeichnet. Ob es stimmt, werden die nahe Zukunft und vor allem die wissenschaftlichen Studien zeigen. Ob die drastischen Maßnahmen richtig waren, rechtzeitig kamen oder überzogen sind, ebenso. Zu viele Theorien, zu viele Experten, zu viele Berichte, Memes und Fake News sowieso.

Die Probleme im österreichischen Gesundheitswesen sind uns Ärzten vorher schon aufgefallen. Die kennen wir gut; wir haben heuer ein Buch zu dem Thema geschrieben: Im kranken Haus. Klar ist: Die Maßnahmen bei Corona haben zu langsam gegriffen. Es waren keine Teams da, um Abstriche zu nehmen. Es dauerte fast eine Woche, bis diese Teams für die Abnahme der Tests in-stalliert waren. Jetzt werden Epidemieärzte, sogenannte COVID-19-Ärzte, eingesetzt, die zu Patienten kommen, weil es dafür eine Spezialausrüstung braucht, die niedergelassenen Ärzten nicht im notwendigen Ausmaß zur Verfügung steht. Zukünftig wird es also ausgerüstete Ordinationen und entsprechend ausgebildete Epidemieärzte geben, die im Notfall sofort verfügbar sind. Diese notwendigen Maßnahmen dürfen nicht in langen Diskussionen steckenbleiben oder der leider immanent vorhandenen Innovationsfeindlichkeit, auch innerhalb der Ärzteschaft, zum Opfer fallen.

Niedergelassene Ärzte mussten ihre Arbeit mit Patienten auf das Allernötigste minimieren und ihre Beratung, das Ausstellen von Rezepten und Krankenscheinen per Telefon abwickeln. Allerdings müssen die praktischen Ärzte ihre Ordinationen wie kleine Unternehmen führen, sonst können sie zusperren. Sie brauchen jede Menge Patienten, viele abrechenbare Dienstleistungen, um ihr Ein-Personen-Unternehmen finanziell über Wasser zu halten. Wegen der Corona-Krise bleiben die Patienten nunmehr aber lieber daheim und das im großen Stil, weil sie sich vor Ansteckung fürchten.

Dazu kommt, dass die praktischen Ärzte am Land – Schlüsselpersonen der Gesundheitsversorgung – von den Verwaltungsbehörden keine Mitteilungen erhalten, welche Einwohner ihrer Gemeinde oder in den Nachbargemeinden an COVID-19 erkrankt sind.

Wilhelm Kerber, Kurienobmann der niedergelassenen Ärzte Kärntens, richtete eine schriftliche Bitte an den Bundeskanzler: »Ein Vorenthalten dieser wichtigen Informationen führt dazu, dass sich ÄrztInnen, deren MitarbeiterInnen und die PatientInnen einer massiven Infektionsgefahr aussetzen. Vielfach hat es bereits dazu geführt, dass Ordinationen wegen Quarantänemaßnahmen schließen mussten.«

Aus Gründen des Datenschutzes dürfen die Ärzte also nicht informiert werden, wer in ihrem Grätzel positiv getestet worden ist. Unterdessen geht die Flut der Breaking News weiter. Eine Negativmeldung jagt die nächste. Corona-Baby tot. Und, und, und. Erschöpfte Krankenpflegerinnen mit geröteten Gesichtern, vom stundenlangen Tragen spezieller Schutzmasken. Und immer Italien als Schreckgespenst im Hintergrund. Das zerstörte Dolce vita am Ende der Epidemie. Die Bilder vom Abtransport der Särge, die von Militärfahrzeugen untertags, nicht in der Nacht – untertags, wo es alle sehen – durch ein Dorf gefahren werden. Meldungen, dass sich Menschen nicht mehr von ihren geliebten Angehörigen verabschieden konnten. Leichenberge. Das multimediale Armageddon.

Die Lombardei als beunruhigendes Exempel. Es wird nicht verglichen mit Toten der anderen Regionen, sondern immer die Lombardei, die nur 676 Intensivbetten auf 10 bis 15 Millionen Einwohner hat. Im Unterschied zu 2.500 Intensivbetten in Österreich auf 8 Millionen Einwohner. Da in Italien die entsprechenden Vorkehrungen nicht getroffen wurden, hinsichtlich Isolierung und dergleichen, ist das Ganze eskaliert. Die Situation ist außer Kontrolle geraten, weil niemand rechtzeitig für den Ernstfall vorgesorgt hat. Und es ist erschreckend, dass hier immer nur die Zahlen von sechshundert, siebenhundert, tausend Toten pro Tag genannt wurden. Man hat nicht gesagt, wie viele zuvor pro Tag gestorben sind. Es wurde die Zahl auch nicht auf 8 Millionen heruntergebrochen – im direkten Vergleich zu Österreich. Die Politiker und der Boulevard nannten Absolutzahlen; das wirkt wie eine Angstmache. Bisweilen hat die Presse ergänzt, dass Corona-Patienten auch wieder genesen. Was für ein Wunder.

Wir können und dürfen den Schrecken, der in Italien passiert ist, nicht mit Österreich vergleichen. Unsere Spitäler haben höhere Standards, was Hygiene und Notfalleinsätze betrifft. Wir sind schlicht und ergreifend besser aufgestellt.

Grob gesagt, gibt es in Italien und auch in Frankreich laut OECD-Bericht 16 Intensivbetten auf 100.000 Einwohner. In Österreich sind es 29 Intensivbetten auf 100.000 Menschen. Das sind andere Voraussetzungen.

Zahlen waren über Wochen der Gradmesser für die Fieberkurve der menschlichen Existenz.

Die Sterblichkeitsstatistik war aber leider falsch.

Es ist ein großer Unterschied, ob man anCOVID-19 oder mitCOVID-19 stirbt. Nach Rücksprache mit Italien erfahren wir Krisenmediziner: Wenn ein Patient Corona-positiv ist und an einer anderen Ursache stirbt, wird er trotzdem als Corona-Toter gezählt. Allerdings kann der Mensch aus Millionen anderen Gründen sterben. Nach diesen Berechnungen aber ist die Mortalitätsrate verwaschen.

Es fragt sich natürlich, warum der Corona-Tote so viel wert ist. Medial? Medizinisch? Statistisch? Ethisch? Warum sein Ableben mehr bedauert wird als das eines zehnjährigen Buben, der an Leukämie stirbt. Oder einer Neunzigjährigen, die einfach nicht mehr aufwacht. Gibt es ein neues Ranking der schrecklichsten Arten, dieses Leben zu verlassen? Einen neuen Angstgegner, der am Ende dasteht und das Fallbeil runtersausen lässt?

Konkrete Beispiele aus dem Berufsalltag können wir gern geben. Im Klinikum Klagenfurt haben wir den Notfallplan auf den chirurgischen Abteilungen eingeführt. Das heißt, es wurden nur noch Not- und Tumoroperationen durchgeführt. Alle anderen Eingriffe mussten warten, bis sich die Situation normalisiert. Für ganz Kärnten wurde ein Intensivkonzept erarbeitet. Likar hat man den etwas paramilitärisch klingenden Titel »Intensivkoordinator für Kärnten« verliehen. Auch zu normalen Zeiten geht es bei uns nicht unbedingt so gemütlich zu wie in einer Bücherei am späten Nachmittag. Intensive Koordination braucht es täglich, sonst gibt es bei den EKGs, die neben den Betten ihre gezackten Muster zeichnen, mehr Nulllinien.

Es wäre vor allem notwendig, einen Intensivkoordinator in jedem Bundesland einzuführen. Diese neun Krisenmanager könnten sich dann untereinander koordinieren, auch hinsichtlich des intensivmedizinischen Therapieschemas, was aufgrund von Initiativen einzelner auch erfolgte.

Für die Intensivbehandlung in den Zeiten von Corona sieht unser lokaler Plan so aus: Wir hatten in der ersten Stufe fünf Betten für COVID-Patienten reserviert. In der nächsten Stufe waren 17 Betten in der Intensivstation frei, dann nochmal 18 zusätzlich, also insgesamt 35. Es war und ist alles unter Kontrolle. In Wien war die Situation freilich angespannter. Mehr Menschen, mehr Patienten.

Und sofort wird lokalpolitisch überreagiert. Hektisch riefen Entscheidungsträger ein Lazarett herbei. Im Krieg gegen das Virus brauche es Feldbetten. Also werden Liegen – schnell, schnell – in einer Tennishalle aufgestellt. Kurze Frage: Warum denkt niemand daran, dass wir Häuser haben, wo seinerzeit Flüchtlinge untergebracht wurden? Diese Gebäude stehen leer und ließen sich viel besser für COVID-19-Patienten verwenden, die aufgrund ihrer sozialen Lage nicht zu Hause bleiben können. Wer dagegen von kriegsähnlichen Situationen spricht, als wären biologische Waffen auf uns abgeschossen worden, löst automatisch Unsicherheit aus. Bei dem einen Mulm im Magen, bei anderen eine Panikattacke. Weltkrieg 3. Das Ende naht. Die Todesengel fliegen herab. Dort vorne lodert das Fegefeuer.

Dazu kommt, dass jeder Arzt, der positiv getestet wurde, in den Medien vorgeführt wird wie ein Opferlamm. Und dann auch noch die Prominenz und der Hochadel. Prinz Charles hat es getroffen, mein Gott, überlebt das die Queen?

Wir Mediziner sind vielleicht keine Marketing-Genies, aber eines tun wir nicht: Wir wollen keine Krankheit hochstilisieren und damit noch mehr Unsicherheit in der Bevölkerung erzeugen, als ohnehin schon da ist. Die Politiker singen derweil ihr Hohelied auf Ärzteschaft und Pflegepersonal. Das geht leicht von der Zunge.

Es ist ehrlich gesagt auch ethisch bedenklich, wenn man mit einem Fingerschnippen auf alle anderen Nöte in der Welt vergisst. Nicht nur die Flüchtlingswelle von Syrien in die Türkei und nach Griechenland. Niemand spricht mehr über die Hungersnöte, niemand spricht mehr über die Kriegstoten. Es wird nur noch über die Corona-Toten gesprochen. Warum?

Aus medizinischer Sicht dürfen wir sagen: Die Regierung leistet sehr gute Arbeit, keine Frage. Das Problem der Regierung, die diese drastischen Maßnahmen beschlossen hat, sind aber auch die Sekundärfolgen, die als kalkulierbares Risiko hingenommen werden müssen. Die Begleiterscheinungen, dass Hunderttausende Menschen vor dem Nichts stehen, dass Gewalt in den Familien zunimmt, dass möglicherweise Scheidungsraten steigen werden, dass es zu mehr Depressionen kommen könnte, zu Burnout, zu Einkommenskatastrophen. Der sogenannte Kollateralschaden ist hoch.

Es braucht ein Deeskalations-Szenario. Bislang drehten alle schön fest an der Eskalationsschraube, tote Menschen, Wirtschaft am Sand, aber Bilder der Besserung sehen wir selten. Alle mögen durchhalten, als wäre das ein Marathon. Das Aufatmen ist gekommen, freilich, die Lockerungen auch. Aber das Virus wird sich nicht flugs in Luft auflösen, wenn die Politspitze freundlich nickend verkündet, dass sich die Lage gebessert hat, danke an alle Österreicherinnen und Österreicher. Das Virus wird nicht eingeschüchtert abziehen. So ein Erreger regt sich grundsätzlich nicht auf. Er verbreitet sich emotionslos, kalt.

Die Österreichische Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin, kurz ÖGARI, hat ein Ethikpapier herausgegeben. Das muss man sehr vorsichtig erklären. Derzeit erwarten sich alle Patienten, die Corona-positiv sind, dass sie besonders gut behandelt werden. VIP-Status aufgrund aktueller Not. Als Arzt darf man aber nicht zwischen vorher Schwerkranken und akut Schwer-Corona-Kranken unterscheiden.

Das führt zu einer heiklen Frage und einem moralischen Dilemma. Ist der Patient schwer krank und Corona-positiv, müsste der gleiche Ansatz wie bei normalen Schwerkranken gelten: Hat der Patient kein Therapieziel und ist auch keine Prognose in Aussicht, sprich keine Verbesserung der Lebensqualität, sollte der Arzt keine Intensivmaßnahme durchführen. Das bedeutet, man lässt den Kranken sterben.

Niemand hat gesagt, dass Mediziner es leicht haben. Auf einer Intensivstation treffen wir Entscheidungen über Leben und Tod. COVID-19-kranke Menschen werden übrigens, nachdem sie gestorben sind, nicht obduziert, sondern gleich eingegraben oder verbrannt.

Mitte März hatten wir im Klinikum Klagenfurt zwei Patienten auf der Intensivstation liegen. Alle Vorkehrungen wurden getroffen, auch hinsichtlich Operationen und Schockraumpatienten. Nebenbei erfuhren wir, dass eine Intensivpflegerin in einem Krankenhaus Corona-positiv war. Wenn so etwas passiert, muss man sofort