Berg der Finsternis - Sabine Kalkowski - E-Book

Berg der Finsternis E-Book

Sabine Kalkowski

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Beschreibung

Den Wald zu betreten war, als ob man in eine völlig andere Welt kam. Die Geräusche waren anders, der Geruch war anders, es schien sogar, als ob die Zeit einen anderen Takt hatte. Hanno und Adela leben in der Wolfssenke am Fuß des Wächtergebirges, dessen dreizehnter Gipfel seit über hundert Jahren in schwarze Wolken gehüllt ist. Die Legende, die sich um diesen Berg der Finsternis und seinen Wald rankt, ist so finster wie die Schatten der Dunkelheit, die sich dort immer weiter ausbreiten. Es heißt, grausame Monster verschlingen jeden, der ihr Schattenreich betritt. Und niemand ist je wieder aus diesem Wald herausgekommen. Als Hanno eines Tages nicht von der Arbeit zurückkehrt, weiß Adela sofort, dass der Wald ihn in seinen Fängen hat. Allen Warnungen zum Trotz macht sie sich mit ihrem Bruder Edmar auf die verzweifelte Suche. Ein gefährliches Abenteuer beginnt und die einzige Gewissheit die sie haben, ist das zischende Atmen, das immer näher kommt…

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Inhaltsverzeichnis

23. Juni im Jahr des Rehbocks

Der Bauernhof in der Wolfsenke

Gruselgeschichten am Stammtisch

Mittwochs an Adelas Marktstand

Arbeit auf dem Bauernhof

Hochzeit in der Wolfsenke

Hannos mangelnder Orientierungssinn

Auf der Suche nach Hanno

Ein Gnom und seine Probleme

Hanno bleibt verschwunden

In die Schatten

Adelas größte Angst

Heimlicher Beobachter

Hilda bleibt allein zurück

Falsches Irrlicht

Wiedergefunden

Reine Seelen

Tata wird entdeckt

Kein Entkommen

Tatas Oase

Oase ohne Fluch

Überraschung am Morgen

Hildas Verzweiflung

Birga

Auf dem richtigen Weg

Hanno

Suche nach Adela und Edmar

Richtungswechsel

Tata verschwindet

Der widerspenstige Gnom

Tatas Gewissen

Licht im Dunkel

Endloser Weg

Gnommagie

Hexenhütte

Tata wacht auf

Wind kommt auf

Heimkehr

Wiedersehen

23. Juni im Jahr des Rehbocks

Erschöpft hielt Hanno inne. Schwer atmend ließ er sich auf die Knie fallen und lauschte eine Weile seinem rasenden Herzschlag. Sein Herz schlug so schnell, dass er glaubte, es müsse ihm gleich aus der Brust springen. Er legte die Hand darauf und bemühte sich, ruhig zu atmen. Allmählich verlangsamte sich sein Rhythmus und Hanno hob schließlich müde den Kopf. Er hatte völlig die Orientierung verloren. War er hier nicht schon einmal gewesen? Im trüben Dämmerlicht versuchte er, Genaueres zu erkennen. An diesem knorrigen Baum war er schon vorbeigekommen, ganz sicher. Hanno kämpfte sich auf die müden Beine und stolperte auf den knorrigen, toten Baum zu. Bei jedem Schritt schienen die Büsche des Unterholzes nach seinen Beinen und Füßen zu greifen. Jeder Schritt war ein Kampf und nahm ihm ein Stück seiner schwindenden Kraft. Dicht vor ihm sah er den abgebrochenen Ast, den er absichtlich hinterlassen hatte. Hanno drehte sich um und ließ sich den Baumstamm hinabgleiten. Den Rücken an den toten Baum gelehnt, den Kopf auf die Knie gelegt, blieb er sitzen. Er musste nicht aufschauen, um zu wissen, dass ihn dutzende von gelben Augen beobachteten. Augen, die zu Kreaturen gehörten, die so dunkel waren, dass sie mit den Schatten verschmolzen. Immer wieder hatte er die Augen im Augenwinkel aufblitzen sehen, aber sobald er genau hingeschaut hatte, waren sie verschwunden. Nur dieses leise, zischende Atmen kam aus den Schatten. So wusste er, dass sie immer da waren und warteten. In diesem ganzen verfluchten Wald gab es kaum Licht. Alles war tot und doch auf erschreckende Weise lebendig. Die blätterlosen Bäume und Büsche waren mit stinkendem Schleim bedeckt, der ein sehr schwaches, krankes Licht von sich gab. Zu wenig, als dass man wirklich etwas sehen konnte. Es vertiefte nur die Schatten und machte sie noch unheimlicher. Und die dürren Äste der Bäume schienen immer nach einem zu greifen, um alles festzuhalten, was in ihre Nähe kam. Der morastige Boden, in dem sich nur noch fahle Würmer schlängelten, klebte an den Schuhen und machte sie schwer. Und dann dieses Gewisper, das fern und doch nah war. Es ließ einem immer wieder Schauer den Rücken hinunterlaufen. Es verfolgte einen, fraß sich bis in die letzten Gedanken und beschwor die schlimmsten Phantasien über die Dinge, die sich in der Dunkelheit versteckten, herauf. Wehmütig dachte Hanno an seine Liebste, die sicherlich verzweifelt auf ihn wartete. Langsam wurde ihm klar, dass er sie nie wiedersehen würde. Tränen liefen ihm bei dem Gedanken über die Wangen. Sie hatten noch so viel vorgehabt. Das gemeinsame Leben hatte erst angefangen. Würde sie nach ihm suchen? Oder würde sie glauben, er hätte sie verlassen? Er hoffte es fast, aber der Gedanke schmerzte sehr. Aus diesem Wald gab es kein Entrinnen. Weder für die, die sich darin verlaufen hatten, noch für die, die nach den Verlorenen suchten. Und er wollte nicht, dass sie das gleiche Schicksal erleiden musste. Dieser Wald brachte nur den Tod. Hanno hatte keine Kraft mehr. Nur der Gedanke an seine Liebste hatte ihn solange durchhalten lassen, die Hoffnung, sie vielleicht doch noch wiederzusehen. Aber er konnte nicht mehr. Die Dunkelheit raubte jede Hoffnung, erstickte jeden Gedanken an Licht und Freude. Erschöpft schlief Hanno ein. Die gelben Augen starrten ihn noch eine Weile an und schlossen sich dann. Die Geschöpfe, zu denen die Augen gehörten, wussten, dass der schlafende Mensch vor ihnen diesen Ort nicht mehr verlassen würde. Wer hier einschlief, wachte nicht mehr auf. Sie mussten nur warten und dann würde das Festmahl beginnen.

Der Bauernhof in der Wolfsenke

1 Jahr zuvor, Jahr des Wolfshundes

Langsam verblassten die Sterne am immer heller werdenden Firmament. Der wolkenleere Himmel versprach einen schönen, sonnigen Tag. Noch lag die Wolfsenke im Schatten des mächtigen Wächtergebirges, das seine Gipfel majestätisch in die Höhe reckte. Doch bald würden die ersten Sonnenstrahlen ihren Weg in die sich nach Osten öffnende Schlucht finden und den kleinen Bach wie Edelsteine glitzern lassen. Die Pflanzen auf den kleinen Feldern, die an beiden Seiten des Baches angelegt waren, waren noch schwer vom Tau, der sich nach der kühlen Nacht auf ihre Blätter gelegt hatte. Doch es würde nicht mehr lange dauern und sie würden sich der wärmenden Sonne entgegenrecken. Die ersten Vögel waren bereits aufgewacht und begannen ihr morgendliches Konzert. Eifrig suchten sie schon nach Würmern und Insekten, die, noch träge von der kühlen Nacht, eine leichte Beute waren. Das saftige Gras an den nicht allzu steilen Hängen der Wolfsenke wartete auf die Schafe, die jeden Morgen auf die Wiesen zum Grasen gebracht wurden. Im an die Wiesen angrenzenden Wald huschten die letzten nachtaktiven Tiere in ihre Verstecke, wo sie den Tag verbrachten. Die Rehe und Wildschweine schliefen noch, würden aber bald ihre Streifzüge durch den Wald beginnen, immer auf der Hut vor den Wölfen und Luchsen, die in der Tiefe des Waldes auf der Jagd waren. Über allem ragten die dreizehn Gipfel des Wächtergebirges auf. Zwölf davon zeichneten sich mit ihren schneebedeckten Hängen deutlich vor dem blauen Himmel ab. Doch der dreizehnte Gipfel war seit über hundert Jahren in schwarze Wolken gehüllt und warf seinen Schatten immer weiter ins Land. Nicht einmal die Legenden, die sich um ihn rankten, boten eine glaubhafte Erklärung dafür. Er wurde Berg der Finsternis oder auch der dunkle Wächter genannt. Es hieß, dass über dem Berg der Finsternis und seinem Wald ein Fluch lag, dass in ihm grausame Monster lebten, die direkt aus der Hölle kamen und jeden verschlangen, der in ihr Reich vordrang. Und mit jedem, der in die Fänge der Monster gelangte, nahm ihre Macht zu und die Schatten breiteten sich aus. Doch niemand, der jemals den verfluchten Wald des Bergs der Finsternis betreten hatte, war wieder herausgekommen, um zu berichten, was dort tatsächlich vor sich ging, was sich wirklich in der Finsternis verbarg. Und so blieb die Wahrheit im Dunkeln und mit jedem Jahr, das ins Land ging, wurden die Legenden weiter ausgeschmückt, die Monster grausamer, mächtiger und schrecklicher. Neue mögliche Ursachen für die Finsternis kamen hinzu und andere wurden verworfen. Mit jeder neuen Theorie wurden die Legenden lebendiger und waren stetig Gesprächsthema in den Dorfkneipen. Aber die Schatten reichten noch nicht bis zur Wolfsenke und so hatten sie kaum Einfluss auf das Leben in dem grünen Tal.

Jäh wurde die morgendliche Idylle unterbrochen. Glockengeläut und das Blöken der Schafe kündeten die Ankunft der kleinen Herde an, die zum Bauernhof in der Wolfsenke gehörte. Begleitet von Hundegebell und dem fröhlichen Pfeifen des Jungen, der sie auf die Weiden an den Hängen brachte, drängten die Tiere den Weg zu den Weiden hinauf. Die Schafe wussten genau, wo es langging und so hatten die Hunde nicht viel zu tun, außer sie ein wenig zur Eile zu treiben. Der Junge lief ihnen hinterher und genoss sichtbar die frische Morgenluft. Auf der Weide angekommen, trieben die Hunde die Schafe durch das offene Tor der Umzäunung und der Junge, Edmar, verschloss das Tor, nachdem das letzte Schaf hindurch getrieben war. Er schob sich seinen Hut in den Nacken, schirmte die Augen mit der Hand ab und blinzelte der aufgehenden Sonne entgegen. Er atmete tief durch, pfiff dann nach den Hunden und machte sich auf den Heimweg. Er trödelte ein wenig, pflückte sich unterwegs ein paar Beeren, die er genüsslich verspeiste, beobachtete eine Zeit lang ein Eichhörnchen, das an einer Nuss knabberte und spielte noch ein wenig mit den Hunden. Er wusste, dass seine Mutter Hilda deswegen wieder mit ihm schimpfen würde, aber der Tag war zu schön. Das Unkraut auf dem Feld würde auch noch in einer Stunde auf ihn warten. Seine Schwester Adela war sicher schon losgegangen, um im Wald nach Feuerholz zu suchen. Nach dem überraschenden Tod ihres Vaters im Herbst des letzten Jahres hatte sie diese Aufgabe übernommen. Edmar hatte sie begleiten wollen, aber es gab so viel auf dem Hof zu tun, dass sie es nicht erlaubt hatte. Edmar setzte sich auf einen umgestürzten Baum am Wegesrand. Hier machte er immer Rast, wenn das Wetter schön war, denn hier hatte er einen herrlichen Blick über das Tal. Gedankenverloren kraulte er einen der Hunde, der seinen Kopf auf sein Knie gelegt hatte, hinter den Ohren. Sein Vater fehlte ihm. Er hatte immer gewusst, was zu tun war und selbst im größten Chaos Ruhe bewahrt. Edmar hätte nie geglaubt, dass sein Vater je sterben könnte, so groß und stark wie er gewesen war. Aber dann war er im Wald beim Holzsammeln gestürzt und hatte sich eine Wunde zugezogen. Eigentlich nur ein Kratzer, aber die Wunde entzündete sich, er bekam Fieber und bald waren die roten Streifen einer Blutvergiftung zu sehen. Selbst der Arzt aus dem Dorf Schafsheim hatte nicht helfen können, alle seine Heilmittel versagten und die Familie konnte ihrem Ehemann und Vater nur noch beim Sterben zusehen. Es hatte lange gedauert, bis Edmar die Bilder von dem eingefallenen, von Krankheit gezeichneten Gesicht seines Vaters aus dem Kopf bekam. Er wollte ihn als ruhigen, starken Mann in Erinnerung behalten. Neben ihm knackte etwas im Gebüsch und erschreckte ihn. Seufzend stand er auf und ging weiter.

Hilda wartete schon auf ihn.

„Wo bist du so lange gewesen? Adela ist schon vor einer Stunde aufgebrochen. Ich habe dir doch schon so oft gesagt, dass du nicht trödeln sollst. Jetzt wo Papa nicht mehr da ist, zählt jede Minute!“

Edmar ließ die Schelte ergeben über sich ergehen. Eine schimpfende Mutter war ihm viel lieber als die stille, abwesende Person, die sie den ganzen Winter über gewesen war. Hilda sah ihn noch einmal böse an, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, musste dann aber lächeln, weil sie wusste, dass es sowieso nichts ändern würde. Sie nahm ihren Sohn kurz in den Arm und bat ihn dann, die Hacken aus dem Schuppen zu holen. Traurig sah sie ihm hinterher. Sein Anblick gab ihr jedes Mal wieder einen Stich. Er war seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Von ihr hatte er nur die dunklen, glatten Haare geerbt. Aber meist waren sie so verstrubbelt, dass sie dem Lockenschopf ihres Mannes glichen. Bald würde er genauso groß und stark sein. Sie kämpfte die Tränen zurück, die sie immer wieder überkamen, wenn sie ihren Sohn ansah. Entschlossen warf sie den Kopf zurück. Sie musste kämpfen, denn das Leben ging weiter und nahm keine Rücksicht auf die Verluste der Menschen. Den Winter hatten sie gut überstanden, denn ihr Mann hatte bestens vorgesorgt. Das Holzlager und die Vorratskammer waren reichlich gefüllt gewesen. Sie konnte sich nur dunkel an diese Zeit erinnern, denn die Trauer hatte sie fast um den Verstand gebracht. Mit dem Frühling hatte auch sie, wie die erwachende Natur, zurück ins Leben gefunden. Aber nur, um festzustellen, dass sie allein den Hof kaum halten konnten, dass es einfach zu viel Arbeit war. Seit beinahe fünfundzwanzig Jahren lebte sie nun schon in der Wolfsenke. Sie hatte die Entscheidung, ihrem Mann hierher zu folgen, nie bereut. Der fruchtbare Boden ließ Obst und Gemüse gedeihen und das saftige Gras das Vieh vor Gesundheit strotzen. In die beiden nächstgelegenen Dörfer Waldfurt im Süden und Schafsheim im Westen führten lange und beschwerliche Wege und auch zu den Nachbarn war man mindestens eine Stunde unterwegs, sodass das Leben in der Wolfsenke recht abgeschieden und man auf sich gestellt war. Aber sie liebte diese Ruhe. Der Trubel in den Dörfern war ihr zu viel. Wegen der Abgeschiedenheit waren Knechte oder Mägde immer nur kurze Zeit bei ihnen geblieben, um sich dann doch eine Anstellung auf den Höfen näher bei den Dörfern zu suchen. So waren sie die meiste Zeit unter sich gewesen. Alle mussten mit anfassen, selbst der Kleinste hatte seine festen Aufgaben. Während der Frühlings-, Sommer- und Herbstmonate verkauften sie ihre Erzeugnisse auf den Wochenmärkten in Waldfurt und Schafsheim, um mit dem Erlös die Dinge, die sie nicht selbst herstellen konnten, zu kaufen. Hilda war froh gewesen, als Adela alt genug war, um den Verkauf auf dem Markt zu übernehmen. Im Gegensatz zu ihr hatte Adela Spaß daran, auch wenn sie immer wieder froh war, dass sie abends auf den Hof zurückkehren konnte. Sie brachte den neuesten Klatsch mit und unterhielt sie damit beim Abendbrot. Es war jedes Mal wieder erstaunlich, worüber die Dorfbewohner sich aufregten. Als ob sie nichts Besseres zu tun hatten, als ihre Nase in Dinge zu stecken, die sie nichts angingen. Adela hatte in den letzten Wochen schon Ausschau nach einer Aushilfe gehalten, aber niemand wollte auch nur eine Zeit lang in die Wolfsenke ziehen. Wenn sie nicht bald jemanden fanden, würden sie zumindest einen Teil aufgeben müssen, wenn sie den Hof nicht ganz verlieren wollten. Sie schüttelte seufzend die trüben Gedanken aus dem Kopf und sah Edmar entgegen, der gerade aus dem Schuppen kam. Noch wollte sie nicht aufgeben.

Edmar hielt ihr eine der Hacken hin und fragte:

„Geht es dir gut, Mama? Du hast gerade so komisch geguckt.“

Hilda lächelte und strich ihm über den Kopf.

„Ich mache mir nur Sorgen, ich …“

Hilda verstummte, denn sie wollte ihren kleinen Jungen nicht mit ihren Sorgen belasten. Aber Edmar sah sie ernst aus seinen blauen Augen an.

„Du machst dir Sorgen, dass wir von hier wegziehen müssen, nicht wahr? Dass wir die Arbeit nicht schaffen.“ Hilda sah ihn erstaunt an. Sie hatte geglaubt, dass er die Sorgen nicht mitbekam, schließlich war er noch ein Kind.

„Ela und ich reden oft darüber. Wir wollen hier nicht weg. Ich will auch in Zukunft versuchen, nicht mehr zu trödeln!“

Ein paar Tränen stahlen sich in Hilda Augen, als sie in Edmars ernstes Gesicht sah, dann nahm sie ihn in den Arm.

„Du bist groß geworden, mein Kleiner!“ Edmar machte sich los und reckte sich.

„Ja, bald bin ich so groß wie Papa und genauso stark!“ Hilda lachte und wurde dann wieder ernst.

„Aber ich fürchte, das wird nicht reichen. Wir brauchen unbedingt Hilfe. Bald geht die Erntezeit so richtig los. Wir können nicht immer bei unseren Nachbarn fragen, auch wenn Gerno sehr großzügig ist. Ohne ihn hätten wir es schon nicht geschafft, die Schafe zu scheren und die Lämmer zu schlachten.“

Hilda seufzte. Sie arbeiteten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, kamen aber doch kaum hinterher. Das erste Obst und Gemüse wurde reif und allmählich nahm auch das Unkraut auf den Feldern überhand. Sie waren jetzt schon nahe am Ende ihrer Kräfte.

Edmar nahm ihre Hand und sie machten sich auf den Weg zu den Feldern.

„Ich habe Ela schon oft gesagt, dass sie den jungen Burschen einfach nur schöne Augen machen muss, dann kommt schon einer!“

„Edmar!“

Hilda war gleichzeitig entsetzt und amüsiert.

„Was denn?“, fragte Edmar unschuldig. „Ela ist nicht hässlich. Du hättest nur mal sehen müssen, wie Annrich sie angeschaut hat, als er uns mit den Schafen geholfen hat. Er ist immer rot geworden, wenn sie ihn angelacht hat.“

Annrich war der jüngste Sohn von Gerno, einem Bauern, der seinen Hof in Richtung Schafsheim hatte. Seine Frau war im Frühjahr desselben Jahres wie Hildas Mann gestorben. Sie hatte seine Hilfe gerne angenommen, auch wenn ihr seine Aufmerksamkeit etwas unangenehm war. Es war ihr aufgefallen, wie Annrich Adela angeschaut hatte, aber Adela hatte in ihm nur die Aushilfe gesehen und war freundlich gewesen, wie sie es zu jedem Knecht war, wenn es dann mal einen auf den Hof verschlagen hatte. Sie war alt genug, um sich einen Mann zu suchen, aber Hilda wollte sie nicht drängen. Sie sollte sich selbst jemanden suchen und wer weiß, vielleicht hatte sie ja auch schon ein Auge auf einen jungen Mann geworfen. Immer wenn sie vom Markt in Waldfurt kam, erzählte sie seit einigen Wochen von einem jungen Zimmermann namens Hanno. Vielleicht hatte sie ja Edmars Rat befolgt und sich einen Verehrer angelacht und ein Zimmermann war da nicht die schlechteste Wahl.

Sie hatten die Felder erreicht und Hilda sah seufzend auf das Unkraut, das sich zwischen den Möhren und Frühlingszwiebeln breitmachte.

„Heute wird Unkraut bei den Möhren und Frühlingszwiebeln gejätet. Wir können mal schauen, ob wir nicht schon einen Teil ernten können. Die Zwiebelzöpfe vom letzten Jahr sind nahezu aufgebraucht. Adela wird morgen die letzten mit nach Waldfurt nehmen. Vielleicht sind auch die Möhren schon groß genug, dass sie ein paar mitnehmen kann.“

Edmar nickte.

„Und Erdbeeren und Kirschen pflücken. Die Himbeeren sehen auch schon ganz gut aus.“

Seine Augen leuchteten und Hilda sah ihn misstrauisch an.

„Du hast wohl schon probiert?“

Edmar grinste erwischt. Obst ernten machte ihm überhaupt nichts aus, da gab es immer etwas zu naschen. Er musste nur aufpassen, dass seine Mutter es nicht so mitbekam. Hilda schüttelte lächelnd den Kopf. Sie wusste ganz genau, dass von dem Obst eine nicht unerhebliche Menge in Edmars Bauch anstatt in seinem Korb landete, auch wenn er sich bemühte es zu verbergen.

„Los, an die Arbeit!“

Gruselgeschichten am Stammtisch

Hanno saß am Tresen der kleinen Dorfschenke Zum dunklen Wächter, trank ab und zu einen Schluck von seinem Bier und lauschte den Geschichten, die vom Stammtisch zu ihm herüberdrangen. Seit fast drei Jahren war er auf Wanderschaft und hatte im Frühjahr eine Stelle bei dem Zimmermannsmeister Berthold angetreten. Er hatte zunächst sein Glück kaum fassen können, denn Waldfurt war ein schnell wachsendes Dorf, ein guter Ort, um sich niederzulassen und an Arbeit herrschte kein Mangel. Er hatte auch mit dem Gedanken gespielt, hierzubleiben, aber seine Zuversicht hatte nur zwei Wochen angehalten, bis er das erste Mal mit seinem Meister aneinandergeraten war. Nun wusste er, warum bei Meister Berthold immer eine Stelle frei war, denn er war ein jähzorniger, bösartiger Mann, der seine schlechte Laune bei jeder Gelegenheit an seinen Lehrlingen und Gesellen ausließ. Er verstand sein Handwerk, das stand außer Frage, er war einer der Besten in der Gegend. Das war wahrscheinlich auch der Grund, warum sich immer wieder jemand fand, der bei ihm in die Lehre ging. Aber jeder Lehrling konnte das Ende seiner Lehrzeit kaum erwarten, denn sie hatten am meisten zu leiden. Auch die Gesellen blieben nicht lange. Immer wenn wieder ein neuer hinzukam, machte sich der erste Geselle aus dem Staub. Das hatte auch Inkmar getan. Er hatte nur anstandshalber ein paar Wochen abgewartet und dann das Weite gesucht. Hanno konnte es ihm nicht verübeln. Er war eigentlich nur noch wegen Adela da, der Kleinen von der Wolfsenke, die auf dem Wochenmarkt am Mittwoch einen Stand hatte. Wenn sie nicht wäre, hätte er es Inkmar schon gleichgetan, wahrscheinlich wäre er schon vor ihm weitergezogen. Hanno lächelte, als er an Adela dachte. Nachdem er das erste Mal mit seinem Meister Streit gehabt hatte, war er in der Mittagspause auf den Markt gegangen, um sich wieder zu beruhigen und wenigstens für eine Weile den bösen Blicken des Meisters zu entkommen. Adela hatte ihren Stand neben der Würstchenbude und während er auf sein Würstchen gewartet hatte, hatte er das Gespräch zwischen ihr und einer Kundin belauscht. So erfuhr er ihren Namen, woher sie kam und dass ihr Vater kürzlich gestorben war. Er war dann ein paar Wochen lang jeden Mittwoch um sie herumgeschlichen, hatte sie beobachtet und sich in ihr Lächeln verliebt. Er hatte sich jedes Mal fest vorgenommen, sie anzusprechen, hatte sich dann aber doch nicht getraut. Als sie dann die letzten Äpfel vom Vorjahr im Angebot hatte, hatte er sich ein Herz gefasst, sich zwei Stück gekauft und tatsächlich ein paar Worte mit ihr gewechselt. Er spürte sein Herz immer noch heftig schlagen, wenn er daran dachte. Seitdem kaufte er jeden Mittwoch an ihrem Stand seinen Nachtisch und unterhielt sie mit Geschichten von Dingen, die er auf seiner Wanderschaft erlebt hatte. Sein Herz hüpfte jedes Mal, wenn er sie zum Lachen brachte und ihre Grübchen zum Vorschein kamen. Er hatte sich noch nicht getraut, ihr zu sagen, was er fühlte. Was wäre, wenn sie seine Gefühle nicht erwiderte? Hinter ihm wurde es laut am Stammtisch und der Lärm riss ihn aus seinen Gedanken.

In den Bierschänken und Biergärten rund um Waldfurt erzählte man sich abends immer wieder in dramatischem Flüsterton die Legenden vom Berg der Finsternis. So manchen ließen sie nicht einschlafen. Jedes Mal wenn eine der Legenden vom Berg der Finsternis erzählt wurde, legte sich eine bedrohliche Stille über die Zuhörer, kalte Schauer liefen ihnen den Rücken hinunter und der ein oder andere unbehagliche Blick streifte den Berg der Finsternis, dessen Schatten nach den Zuhörern zu greifen schienen, als ob sie der Legende Wahrheit verleihen wollten. Mit jedem Menschen, der im verfluchten Wald verschwand, schien sich die Dunkelheit weiter auszubreiten. Schleichend krochen die Schatten näher an die von Menschen bewohnten Gebiete heran - nur bemerkt von denen, die direkt an der Grenze zum verfluchten Wald lebten. So war es auch dieses Mal. Die beiden Erzähler waren darüber in Streit geraten, wessen Theorie zur Entstehung der Finsternis um den 13. Gipfel des Wächtergebirges nun die richtige war. Hanno hatte schon oft die verschiedensten Ausführungen gehört, denn er kam fast jeden Abend hierher. Anfangs war Inkmar noch mitgekommen und sie hatten Wetten abgeschlossen, wer an dem Abend den Streit über die Richtigkeit seiner Version anfangen würde. Hanno hielt das alles für Geschwätz, obwohl er sich jedes Mal unwohl fühlte, wenn er die Legenden dann doch wieder hörte und jedes Mal zog der Berg der Finsternis, den er von der Theke aus durch das große Fenster gut sehen konnte, seinen Blick auf sich. Man konnte die Bedrohung spüren, die von ihm ausging, er schien nicht nur das Licht, sondern auch die gute Laune aufzusaugen. Hanno schüttelte sich leicht, als ihm wieder ein Schauer den Rücken herunterlief und lauschte dem Streitgespräch.

„Ich sage die Wahrheit!“, ereiferte sich gerade ein Knecht vom Rosenhof. „Ein Geheimbund von mächtigen, einflussreichen Kaufleuten und Stadtbeamten aus Wächterburg auf der anderen Seite des Wächtergebirges praktizieren dunkle Magie im verfluchten Wald. Sie haben die Finsternis gerufen und den Wald mit einem Fluch belegt, damit niemand ihrem Treiben auf die Schliche kommt. Sie wollen die Herrschaft über die Welt an sich reißen und opfern den dunklen Mächten Menschen! Warum, denkt ihr, verschwinden so viele Menschen im verfluchten Wald? Und warum wirken die Schatten so lebendig? Weil sie keine einfachen Schatten sind, sondern der Fluch!“ Die Männer am Tisch redeten laut durcheinander, bis sich der dicke Bäckermeister durch lautes Klopfen auf den Tisch Gehör verschaffte.

„Das ist doch ein alter Hut! Du bist schon lange nicht mehr auf dem neuesten Stand, mein Bester. An Magie glaubt doch heutzutage keiner mehr.“ Er senkte die Stimme zu einem dramatischen Flüstern. „In Schafsheim erzählen sie, dass im verfluchten Wald geheime Experimente gemacht wurden und noch immer stattfinden. Eine Gruppe von Alchimisten aus Bergstadt haben in einer Höhle im Berg der Finsternis ein riesiges Feuer gemacht und dann ist der Berg explodiert und …“ Die Männer am Stammtisch unterbrachen ihn johlend.

„Der Berg ist doch noch da, wie kann er da explodiert sein?“ Der Gerbergeselle klopfte dem Bäckermeister lachend auf die Schulter, doch der wehrte ihn ab.

„Nur die Spitze ist explodiert oder habt ihr sie seitdem gesehen? Nein! Von der Explosion kommt auch die Wolke. Und die vergiftet die Luft im Wald, darum kommt niemand wieder heraus. Na, was sagt ihr dazu?“ Die Männer murmelten skeptisch und der Knecht vom Rosenhof schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.

„Das ist alles Humbug. Da ist dunkle Magie im Spiel! Etwas anderes kann es gar nicht sein! Rose, die Jüngste vom Rosenbauern, ist im verfluchten Wald verschwunden. Keiner weiß, was sie dorthin getrieben hat, aber ihre Spuren haben sich in den Schatten verloren. Ich weiß es genau, ich war bei der Suche dabei. Wir haben den ganzen verdammten Wald abgesucht, jeden Weg, jeden Winkel, jedes Versteck, aber kein Zeichen von dem Mädchen. Sie ist schnurstracks in den verfluchten Wald gelaufen, als ob sie jemand dort hineingelockt hat. Die Schatten haben sich wieder ein Stück ausgebreitet. Ich schwöre es. Vor ihrem Verschwinden konnte man noch gefahrlos bis zum kleinen Wasserfall gehen, jetzt liegt dieser an trüben Tagen schon in den Schatten!“

Die Männer am Tisch grölten und zeigten dem Knecht einen Vogel.

„Natürlich liegt er an trüben Tagen im Schatten, denn wenn die Sonne nicht scheint, liegt alles im Schatten!“

Die Männer lachten laut und das Gesicht des Knechtes rötete sich langsam. Wütend schlug er mit der Faust auf den Tisch.

„Und wenn ich es sage! Mit jedem Menschen, der im verfluchten Wald verschwindet, breiten sich die Schatten aus! Was kann das anderes als schwarze Magie sein?“

Diese Behauptung hatte Hanno schon einmal gehört und wie beim ersten Mal wurde sie auch jetzt als völlig absurd abgetan. Der Knecht tat gerade so, als ob die Schatten ein lebendiges Wesen wären.

„Ihr bekommt das im Dorf nicht so mit, weil ihr einfach zu weit vom verfluchten Wald entfernt wohnt. Aber wir auf dem Bauernhof bemerken das genau! Über die letzten Jahre sind die Schatten schon mehr als einen halben Kilometer näher an den Rosenhof herangekrochen. Es ist, als ob die Finsternis lebendig ist. An sonnigen Tagen kämpft sie regelrecht mit dem Licht um jeden Meter, ich habe es mit eigenen Augen gesehen! Es sind nicht nur einfache Schatten. Die Dunkelheit des verfluchten Waldes ist mehr wie ein Nebel, der sich wabernd ausbreitet. Und dann diese Stimmen, die man hört, wenn man zu dicht an den verfluchten Wald gerät. Ich habe sie gehört und wäre ihnen beinahe gefolgt, als sie versucht haben, mich in die Schatten zu locken. Der Wald ist verflucht, sage ich euch! Verflucht!“

Die Männer am Tisch lachten nur noch lauter.

„Es gibt keine Magie!“, prustete der Bäckermeister.

„Vielleicht hat ihm der lebendige Schatten das Gehirn vernebelt“, grölte der Gerbergeselle mit Tränen in den Augen.