Herrschaft des Eises - Sabine Kalkowski - E-Book

Herrschaft des Eises E-Book

Sabine Kalkowski

0,0

Beschreibung

'Das Geräusch kam unerbittlich näher und ihr wurde bewusst, dass ihre Fußspuren sie verraten würden, egal wohin sie ging. Ihr Atem ging jetzt stoßweise, weil sie keinen Ausweg sah. Sie saß in der Falle.' Dass das Land Isgorat vom Tempel beherrscht wird, ist für die Bevölkerung mittlerweile ebenso normal wie die damit verbundenen Opferungen, damit die Eisgöttin ihre Macht weiterhin stärken kann. Warum also zetteln Bendik und seine Freunde eine Rebellion an? 'Als das Leuchten sie schließlich umschloss, nahm sie nichts mehr wahr, sie war eingesperrt und alles was ihr blieb, waren ihre Gedanken, ihre Ängste und ihre Wut in der Dunkelheit ihres Verstandes. Woher nur kamen diese Träume, in denen sie junge Frauen opferte, die ihr selbst so ähnlich sahen?' Sind es nur Träume? Denn als sich plötzlich das Tor in eine andere, eisige Welt öffnet, kann Hanna nicht anders als hindurchzugehen ... 'Herrschaft des Eises' ist ein Fantasyroman, der sich um den Kampf für die Freiheit dreht und um die Hoffnung, eine verlorene Liebe wiederzufinden.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 354

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Die Eisgöttin

Vergangener Schmerz

Die Wächterin

Hanna

Isgorat

Träume

Faszinierende Bilder

Der oberste Priester

Freunde fürs Leben

Informationen aus dem Tempelbezirk

Schänkengeflüster

Die Entführungen beginnen

Das erste Opfer

Vollmond

Die erste Opferung

Hanna verliert sich

Ando gibt nicht auf

Istras Zweifel

Schneegestöber

Uralte Magie

Das Tor

Dunkles Gefängnis

Ein Sturm zieht auf

Breaking News

Sommerpalast

Daina

Erinnerungen

Hannas Kampf

Sommerklausur

Beunruhigende Nachrichten

Tumult auf dem Sommerfest

Ungestüme Tempelwachen

Ein Fisch zuviel

Gerüchte um Bendik

Schänkengeflüster

Ismann fragt nach

Interessante Neuzugänge

Istra wählt ein Opfer

Innerer Kampf

Beginn der Opferungen

Istras Entscheidung

Bendiks Stärke

Von der Eisgöttin verlassen

Verbündete

Gerüchteküche

Die Wächterin kämpft

Istras Prüfung

Wiedersehen

Menschenjagd

Valtons Entrüstung

Ein neuer Zyklus beginnt

Böses Erwachen

Wachsamkeit

Das Maß ist voll

Bendik in der Pflicht

Quälende Warterei

Bendik erzählt

Düstere Vorahnung

Aufruhr im Tempelbezirk

Letzte Vorbereitung

Der Mut der Verzweiflung

Unerwartete Unterstützung

Kampf um den Eiskult

Vereinte Kräfte

Ismann

Neues Zeitalter

Freiheit

Ismann findet Frieden

Die Eisgöttin

Die Fackeln an den Wänden verströmten ein kaltes, weißes Licht, welches das innerste Heiligtum erhellte, das tief im Tempel verborgen lag. Die Wände aus reinem Eis schimmerten im Licht der Fackeln wie flüssiges Silber. Aus einem Spalt unter der Decke strömte lautlos klares Quellwasser so gleichmäßig in ein in den Boden eingelassenes Becken, dass sich der Altar darin spiegelte. Er war ebenfalls aus Eis, aber das Blut der unzähligen Opfer hatte ihn rot gefärbt. Im Altar eingeschlossen war schemenhaft ein herzförmiger Kristall erkennbar. Er war so alt wie die Zeit selbst. Kein Laut war zu hören. Es herrschte absolute Stille.

Der Kristall begann, schwach zu leuchten. Durch sein pulsierendes Licht wirkte der Altar wie ein schlagendes Herz. Der Takt war langsam und stetig. Ewis, die Göttin des Eises, wanderte durch fremde Welten, auf der Suche nach den schlimmsten Erinnerungen, um sich an ihnen zu ergötzen.

Ewis war uralt. Sie selbst nannte sich nicht Göttin. Das taten die Menschen von Isgorat, die sie verehrten. Sie war Ewis, der Geist des ewigen Eises. Sie war von Mutter Erde an diesen Kristall gebunden worden, als sie drohte, zu mächtig zu werden. Seither befand Ewis sich mit Mutter Erde in stetigem Kampf um das Land, das sie umgab. So sehr sie es in Schnee und Kälte versinken ließ, einmal im Jahr verließen sie ihre Kräfte, sie musste ruhen, sich in den Kristall zurückziehen und zusehen, wie Mutter Erde die Kontrolle über ihr Land übernahm. Hass brodelte in ihr, wenn der Schnee schmolz und die Pflanzen frisch austrieben, gespeist durch die Magie von Mutter Erde. Aber mit jedem Opfer, das ihr von den Priestern und Priesterinnen des Eiskultes dargebracht wurde, mit jeder weiteren furchtbaren Erinnerung, die sie in sich aufsaugen konnte, wurde sie stärker. Irgendwann würde sie sich aus ihrem Gefängnis befreien, ihre Macht über die Grenzen von Isgorat hinaus ausbreiten und die ganze Welt mit Schnee und Eis überziehen. Aber bis dahin war sie in dem Raum gefangen, in dem sich der Kristall befand. Das Einzige, was ihr geblieben war, war die geistige Reise in andere Welten, in die sie durch die Spalten zwischen den Dimensionen schlüpfte. Dort konnte sie sich frei bewegen und angezogen von Schmerz und Qual in die Erinnerungen der Fremden eintauchen. Aber ihre magischen Kräfte waren in Isgorat an den Kristall gebunden. Sie besaß die Macht über den Sturm, die Kälte und das Eis. Sie konnte einen Körper in Besitz nehmen und bevor Mutter Erde sie an den Kristall gefesselt hatte, konnte sie in diesem Körper durch die Spalten zwischen den Dimensionen, die sie zu Toren geweitet hatte, von Welt zu Welt gehen, um dort nicht nur in den dunkelsten Erinnerungen zu wühlen, sondern diese auch zu erschaffen. Aus dem Schmerz, den sie selbst gesät hatte, waren ihre Kräfte am besten gespeist worden. Doch Mutter Erde hatte dem ein Ende gesetzt. Mutter Erde war stark. Noch.

Ewis musste nicht lange suchen, bis sie die Richtige fand. Sie war schon einige Male bei ihr gewesen und hatte Erinnerungen an Verlust, tiefen Schmerz und Trauer gefunden. Wunderbar. Wieder tauchte sie in das Leid ein, sah das Gesicht des Jungen, das mit der tiefen Trauer verknüpft war. Andere Gesichter tauchten auf. Verunsicherung und Sehnsucht nach Liebe waren mit ihnen verflochten. Die Liebe blieb unerfüllt und das schmerzte noch mehr als die Leere, die der Verlust des Jungen verursacht hatte. Ewis schwelgte in diesen Erinnerungen, spürte, wie die Qual sie belebte, bis sie das vertraute Ziehen fühlte, mit dem der Kristall sie nach Isgorat zurückrief. Irgendwann würde auch das Blut, das durch diesen Körper floss und mit dem diese wundervoll quälenden Gedanken verbunden waren, ihr gehören. Das Ziehen wurde stärker und zögernd verließ Ewis das Bewusstsein, das sie durchforscht hatte. Sie würde bald wiederkommen und bald würde diese Person ihr Eigen sein und als Opfer auf dem Altar liegen.

Auch wenn Ewis’ eigene Kräfte an den Kristall gebannt waren, so hatte sie doch einen Teil davon an ihren treuen Diener übertragen können. Gestärkt durch ihre Magie, hatte er den Eiskult aufgebaut und sich die Isgorater untertan gemacht. In den Opferzeremonien des Eiskultes brachten ihr Diener und die Priester und Priesterinnen Ewis viele Opfer dar und stillten so ihr unbändiges Verlangen nach Blut und Schmerz. Mit der Hilfe ihres Dieners würde sie bald wieder so mächtig sein wie einst. Mutter Erde hatte sie unterschätzt. Sie war zu allem bereit, sogar dazu, ihre Macht zu teilen, wenn es ihr nutzte. Sie fühlte weder Mitleid noch Liebe. Ihr Wesen war so kalt wie das Eis, mit dem sie sich umgab. Ihr Interesse galt allein dem Blut sowie den negativen Gedanken und Erinnerungen, aus denen sie ihre Lebensenergie zog. Das Schicksal der Menschen scherte sie nicht, sie bemaß sie einzig allein nach ihrem Wert für ihren Hunger nach Energie. Und ihr Diener verstand es, die richtige Wahl zu treffen.

Der Kristall im Altar pulsierte ein letztes Mal und erlosch. Ewis war zur Ruhe gekommen und wartete. Sie schwelgte noch in der Kraft von der Opferung am Ende des letzten Zyklus. Sie hatte lange auf das Blut dieses von ihr ausgewählten Menschen gewartet und schon bald würde sie ein neues Opfer wählen.

Vergangener Schmerz

Mit einem Ruck riss Hanna die Augen auf. Es war noch dunkel. Sie drehte sich auf die Seite, machte das Licht an und griff nach dem Wecker. 4:37 Uhr. Hanna stellte ihn auf den Nachttisch und ließ sich stöhnend zurück auf das Kissen sinken. Sie musste erst in einer guten Stunde aufstehen, wusste aber aus Erfahrung, dass sie nach diesem Traum keinen Schlaf mehr finden würde. Es war merkwürdig. Sie hatte jahrelang nicht mehr von Jens, seinem Unfall und der schlimmen Zeit danach geträumt und jetzt in den letzten zwei Wochen schon das vierte Mal. Sie war sich sicher gewesen, dass sie dieses Unglück endlich verarbeitet hatte, aber irgendetwas wühlte die Erinnerungen wieder auf. Vielleicht litt sie einfach unter zu viel Stress. Die ganze Aufregung mit der neuen Chefin und die bevorstehende Umstrukturierung zerrten schon seit einiger Zeit gewaltig an ihren Nerven. Sie schloss die Augen. Ihr Herz pochte noch heftig. Sie seufzte und stand dann auf. Sie würde sich nur wie gerädert fühlen, wenn sie sich noch eine Stunde hin-und herwälzte. So hatte sie Zeit, in Ruhe einen Kaffee zu trinken und etwas zu essen, ehe die Hektik wieder über sie hereinbrach.

Bevor sie in das winzige Bad ihrer Einraumwohnung schlurfte, setzte sie Kaffee auf. Schon der belebende Duft ließ sie ein wenig wacher werden, sodass sie es diesmal schaffte, sich an der Dusche vorbei zum Waschbecken zu schlängeln, ohne sich, wie meist jeden Morgen, den Ellbogen zu stoßen. Die dunklen Schatten unter ihren Augen, die sie aus dem Spiegel anstarrten, erschreckten sie. Sie sah abgekämpft aus. Nicht, dass sie auch noch krank wurde. Das wäre nur ein weiterer Punkt auf der Minus-Liste ihrer Chefin. Seit Wochen stand die gesamte Belegschaft der New-Fashion-Filiale in der Burgstraße unter ihrer strengen Beobachtung. Hanna nannte sie insgeheim Feldwebel Arschloch. Sie hatte ihre Augen überall und verschoss ihre Anweisungen wie Munition aus einem Gewehr. Einmal die Woche ließ sie die Belegschaft sogar zum Appell antreten, um dann vor versammelter Mannschaft Kritik an den Einzelnen zu üben. Es war furchtbar. Warum die Filialleiterin ausgetauscht wurde, wusste Hanna nur aus der Gerüchteküche. Die Zweigstelle hatte wohl im letzten Jahr Verluste gemacht und die neue Filialleiterin sollte das ändern, oder das Geschäft würde geschlossen werden. Hanna schüttelte unwillig den Kopf und begann, sich den Schlafanzug auszuziehen. Der Stress stand ihr ins Gesicht geschrieben, doch auf gar keinen Fall wollte sie ihren Job verlieren, egal wie schrecklich die neue Chefin war. New-Fashion zahlte im Vergleich zu anderen Bekleidungsketten gute Gehälter und sie brauchte jeden Cent für ihren Traum vom eigenen Laden. Hanna konnte sich ohne Probleme eine größere Wohnung leisten, aber sie sparte fleißig und hatte in den letzten drei Jahren schon einiges beiseitegelegt, aber es war noch lange nicht genug. Außerdem entsprach New-Fashion ganz ihrem Geschmack. Edel, etwas ausgefallen, gute Qualität. Aber es war auch schwierig, bei den Dumpingpreisen anderer Ketten zu bestehen. Hanna seufzte, stieg unter die Dusche und drehte das Wasser an. Dieses Gedankenspiel hatte sie in den letzten Wochen so oft durchdacht. Die Filiale war immer gut besucht, darum konnte sie auch nur vermuten, warum sie Verluste gemacht hatten. Auch darüber hatte sie schon lange gegrübelt, denn es waren Fehler, die sie bei ihrem eigenen Geschäft vermeiden musste. Sie knetete sich Shampoo in ihr langes Haar und benutzte großzügig das Duschgel mit den Peelingperlen. Sie verdrängte die beunruhigenden Gedanken und genoss das warme Wasser auf ihrer Haut. Frisch geduscht und mit geputzten Zähnen fühlte sie sich deutlich besser, als sie sich in Bademantel und Handtuch auf dem Kopf, mit dem dampfenden Kaffee in der Tasse an den Tisch setzte. Während sie den heißen Kaffee schlürfte, glitt ihr Blick durch ihr Zimmer. Das Bett diente gleichzeitig als Sofa und im Moment türmten sich die großen Kissen, die sie als Lehne benutzte, noch auf dem Boden. Geschirr stapelte sich in der Spüle der kleinen Küchenzeile. Auf dem Tisch stand ihre Nähmaschine. Einen Teil der Kleidung, die sie trug, entwarf und nähte sie selbst. Neben ihr auf dem Kuschelsessel lag der angefangene Pullover, den sie gerade strickte. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht, als sie an ihre Oma dachte. Sie hatte viel Zeit bei ihr verbracht, nachdem ihr Bruder Jens bei dem Unfall gestorben war, während ihr Vater sich unter Arbeit begrub und ihre Mutter den Kummer mit Alkohol ertränkte. Doch vor zwei Jahren war ihre Großmutter an Krebs gestorben. Hanna schob auch diese schmerzlichen Gedanken beiseite und zog den Ideen-Ordner, den sie für ihr eigenes Geschäft angelegt hatte, unter den Stoffen, die neben der Nähmaschine gestapelt waren, hervor. Sie blätterte ein wenig in den Informationen zu möglichen Standorten, der Auswahl an Bekleidung, die sie anbieten wollte, Strategien, um Kunden anzulocken, aber auch das hob nicht ihre Laune. Sie legte den Ordner wieder zurück und trank den letzten Schluck Kaffee.

Sie suchte eine Weile in ihrem Kleiderschrank und entschied sich für den dunkelroten Bleistiftrock mit dem dezenten Rankenmuster und eine roséfarbene Bluse mit Stehkragen. Der Frühling hatte Einzug gehalten und es war die letzten Tage schon angenehm warm gewesen. Zufrieden nahm Hanna die Teile aus ihrem übervollen Schrank, suchte noch Unterwäsche und Strumpfhose zusammen und ging dann zurück ins Bad. Ihr Motto war es, nie die gleichen Sachen an zwei Tagen hintereinander zu tragen. Ihr Kleidungsstil hatte ihr von der alten Chefin immer wieder ein Lob eingebracht und die Kunden waren auch bevorzugt zu ihr gekommen, um sich von ihr beraten zu lassen. Nina hatte dieses Gespür nicht, zumindest nicht in dem Maße. Hanna half ihr, wann immer sie neue Kleidung kaufte, aber es war schwer, gegen Ninas eher schrillen Geschmack anzukommen. Hanna schmunzelte, als sie an Nina dachte. Sie war ihre beste Freundin. Sie hatten zusammen die Ausbildung bei New-Fashion gemacht und waren auch beide übernommen worden. Hanna lächelte sich im Spiegel an und achtete darauf, dass das Lächeln auch ihre grauen Augen erreichte. Kunden merkten, wenn man nur so tat. Sie straffte die Schultern, drehte das Gesicht von links nach rechts, um ihre glatte, helle Haut zu begutachten, aber die Pickel, die sie oft bei Stress bekam, blieben noch aus. Also musste sie heute nur die dicken Augenringe kaschieren. Zufrieden nahm sie das Handtuch vom Kopf und kämmte das feuchte Haar. Nina bewunderte immer mit neidischem Seufzer Hannas glattes, honigblondes Haar und verstand nicht im Geringsten, dass Hanna lieber eine Lockenmähne wie sie hätte. Hanna zog die Strähnen beim Föhnen über eine Rundbürste, um wenigstens eine kleine Welle hineinzubekommen. Sie zog sich an, trug ein wenig Make-up auf, dazu den Lippenstift, der gut zu ihrer Bluse passte und begutachtete sich noch einmal zufrieden im Spiegel. Sie wäre gern ein wenig schlanker, aber für mehr Sport als zweimal die Woche joggen zu gehen, hatte sie keine Zeit. Sie zog ihr kleines Bäuchlein ein, streckte die Brust noch weiter raus und zog die Bluse ein letztes Mal straff. Es war schon in Ordnung, entschied sie. Sie zwinkerte sich noch einmal zu und verließ dann das Bad. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie noch eine Viertelstunde Zeit hatte, bevor sie losmusste. Ihr Blick fiel auf den Stapel Geschirr in der Spüle und wanderte schnell weiter. Das konnte auch bis heute Abend warten. Sie nahm ihr Handy von der Ladestation und ging die Nachrichten durch. Gestern war ein kleiner Junge auf der Burgstraße von einem betrunkenen Autofahrer angefahren und schwer verletzt worden. Hanna setzte sich auf ihren Kuschelsessel. Ihr Traum fiel ihr wieder ein. Jens war zwölf Jahre alt gewesen, als ein ebenfalls alkoholisierter Autofahrer ihm die Vorfahrt genommen und ihn samt Fahrrad überrollt hatte. Jens hatte noch zwei Tage im Koma gelegen, bevor er gestorben war. Tränen schossen in ihre Augen und schnell nahm Hanna ein Taschentuch zur Hand, um sie aufzufangen, damit die Wimperntusche nicht verlief. Es war lange her. Sie steckte das Handy weg, zog ihren beigefarbenen Übergangsmantel an und schloss dann entschlossen die Tür hinter sich. Sie musste sich mit Arbeit ablenken und wenn sie ein wenig eher kam, gab es zur Abwechslung vielleicht einen Pluspunkt.

Die Wächterin

Istra kniete betend vor dem kleinen Altar in ihrer Kammer. Sie hatte sich bereits in das hellblaue Gewand gekleidet und ihre widerspenstigen, blonden Locken waren von ihrer Dienerin zu dem aufwändigen Zopf geflochten worden, den die Priesterinnen während der Zeremonien trugen. Die Hände vor der Brust gekreuzt, verharrte sie schon seit dem Morgengrauen in dieser Stellung und flehte die Eisgöttin Ewis um Kraft für die ihr bevorstehende Aufgabe an. Sie war nur eine einfache Priesterin, von Kindheit an für den Dienst im Eiskult vorbereitet. Sie hatte nie den Ehrgeiz an den Tag gelegt, ein höheres Amt zu erreichen. Sie wollte einzig und allein der Eisgöttin dienen. Darauf war ihr ganzes Sein ausgerichtet. Und dennoch hatte der oberste Priester Ismann ihr vor drei Wochen mitgeteilt, dass sie zur Wächterin erwählt worden war. Sie war sich gar nicht bewusst gewesen, dass sie von Ismann wahrgenommen wurde und doch war sie ihm aufgefallen. Sie konnte es sich nicht erklären, war aber fest entschlossen, ihn und das Vertrauen, das er in sie setzte, nicht zu enttäuschen. Ihre Ergebenheit Ewis gegenüber würde ihr helfen. Istras Aufgabe war es, die Weta mithilfe der Eisgöttin zu finden und sie unter ihre geistige Kontrolle zu bringen. Die Weta war der Körper einer Frau, den der Geist der Eisgöttin bei den Zeremonien füllte. Sie wurde immer aus einer Parallelwelt durch das Tor geholt. Istra hatte dies schon einmal miterlebt, als sie als Novizin die Prozession mit einer Fackel in der Hand anführen durfte. Der Wasserfall im Heiligtum verwandelte sich in ein Tor zu einer anderen Welt, durch das die Weta nach Isgorat gelangte. Die Aufgabe der Wächterin war es, den Geist der Weta zu unterdrücken, sodass ihr Körper Ewis bei den Opferungen zur Verfügung stand.

Heute sollte sie das Suchritual durchführen und dabei würde es sich zeigen, ob sie der Aufgabe würdig war. Sie wollte nichts anderes, als der Eisgöttin zu dienen. Ihr gehörte ihr Leib, ihr Leben, ihre Seele. Die Wächterin der Weta zu werden, war eine Auszeichnung höchsten Grades und eine der schwersten Aufgaben innerhalb des Eiskultes.

Es klopfte an der Tür. Sie hob die Hände flehend zu dem Herz aus Eis, das auf dem Altar ruhte.

„Bitte, Eisgöttin. Gib mir die Kraft, deiner würdig zu sein!“

Es klopfte erneut.

„Istra, es ist soweit!“

Istra erkannte Ismanns Stimme. Er klang ungeduldig. Rasch stand sie auf. Ismann ließ man nicht warten. Seit sie sich erinnern konnte, war er der oberste Priester. Von den älteren Priestern wusste sie, dass er seit jeher dieses Amt bekleidete. Niemand sprach es offen aus, aber es gab Gerüchte, dass er weit über zweihundert Jahre alt war, dass er als erster Ewis gedient und den Eiskult aufgebaut hatte. Dafür verlieh sie ihm Kräfte, die wider die Natur waren. Es hieß, er könne Gedanken lesen, an mehreren Orten gleichzeitig sein, sich unsichtbar machen und den Schneesturm beherrschen. Istra wusste nicht, was davon der Wahrheit entsprach. Sie glaubte aber, dass Magie fest im Eiskult verankert war. Sie konnte sie bei den Zeremonien spüren. Und heute würde sie ein Teil der Magie werden.

Sie öffnete die Tür und verneigte sich vor Ismann.

„Ich habe zur Eisgöttin gebetet, oberster Priester. Ich bin bereit!“

Ismann nickte ihr ernst zu und schaute ihr tief in die Augen.

„Dann kommt. Es ist alles vorbereitet.“

Istra senkte rasch den Blick. Sie fürchtete sich vor Ismann. Immer wenn er ihr in die Augen sah, war sie sich sicher, dass er versuchte, ihre heimlichsten Gedanken zu erkunden, ihre innersten Geheimnisse zu ergründen. Immer wenn er sie anstarrte, füllte sie instinktiv ihren Geist mit einem Gebet an Ewis. Und immer wenn sie das tat, zeigte sich auf seinem Gesicht ein leises, zufriedenes Lächeln. Sie wollte ihn nicht absichtlich täuschen. Genaugenommen hatte sie auch nichts zu verbergen, aber dennoch war ihr der Gedanke unangenehm, dass Ismann sie bis in den kleinsten Winkel kannte. Hin und wieder überkamen sie vage Erinnerungen aus der Zeit, als sie noch nicht im Tempel gelebt hatte. Eigentlich sollten sie nicht mehr da sein und doch sah sie manchmal in ihren Träumen verschwommene Bilder. Sie wollte nicht, dass man ihr diese nahm. Das würde aber geschehen, wenn Ismann davon erfuhr. Diese Bilder waren keine Bedrohung, doch sie waren ein Teil von ihr. Sie erinnerten sie daran, dass sie nur ein kleiner Mensch war, dem die Gnade zuteilwurde, der Eisgöttin zu dienen.

Der Gang, der zum Heiligtum führte, war nicht beleuchtet. Das einzige Licht kam von den Fackeln der Novizen, welche die Prozession anführten. Hinter ihnen ging Islind, die Wächterin der vergangenen Weta. Mit der Opferung der Weta wurde ein Zyklus abgeschlossen. Dies geschah immer dann, wenn der Körper der Weta soweit verfiel, dass er den Anforderungen nicht mehr standhielt. Mit der Opferung der Wächterin würde Istra heute den neuen Zyklus beginnen und den Platz der Wächterin einnehmen. Sie wusste, dass auch ihr, wenn die Zeit der Weta abgelaufen war, dieses Schicksal bevorstand. Ihre letzte Handlung würde die Opferung der Weta sein, die sie lange Zeit bewacht hatte, und dann würde sie selbst zum Opfer werden. Die ultimative Hingabe an die Eisgöttin, das Ziel jeder Priesterin.

Istra sah im Schein der Fackeln, dass Islind mit hoch erhobenem Haupt dahinschritt. Sie fürchtete ihr Schicksal nicht. Sie sah ihm mit Stolz entgegen. Istra kannte sie vom Sehen aus den Zeremonien, war ihr aber sonst noch nie begegnet. Die Wächterin lebte abgeschirmt vom Rest der Priesterschaft zusammen mit der Weta in den Gemächern über dem Heiligtum im Innersten des Tempels. Nur selten hielt sie sich außerhalb ihrer Räume auf. Allein der oberste Priester und einige ausgewählte Bedienstete hatten regelmäßigen Kontakt zu ihr.

Die Priester stimmten einen düsteren Gesang an und Istra konzentrierte sich auf die Aufgabe, die vor ihr lag. In der Kammer angekommen, streifte Islind ihre Robe und die Schuhe ab und legte sich, bis auf einen Lendenschurz nackt, auf den Altar. Ihr Herz ruhte über einem runden Loch, das bis zum Kristall hinunterführte. Sie schloss die Augen und lag still da. Sie zeigte keine Angst. Ein Lächeln lag auf ihren Lippen, in der Erwartung der Vereinigung mit ihrer Göttin. Istra begab sich an ihren Platz am Altar. Sie atmete tief die kalte, klare Luft ein und nahm dann das Messer aus Obsidian, das der oberste Priester ihr reichte. Die Priester und Priesterinnen, die im Kreis um den Altar standen, stimmten den Opfergesang an. Istra wiegte sich zur Melodie. Die Töne durchströmten sie, ließen ihren Körper vibrieren. Plötzlich drang ein fremdes Bewusstsein in ihren Geist ein. Ohne, dass sie sich wehren konnte, wühlte die fremde Macht in ihren Gedanken und Erinnerungen. Schon verblasste Kindheitserinnerungen wurden an die Oberfläche gezerrt und plötzlich wurde ihr mit ganzer Wucht klar, was sie verloren hatte. Ein scharfer Schmerz durchfuhr sie, als sie zusammen mit dem fremden Bewusstsein die Bilder aus ihren ersten Lebensjahren betrachtete. Die Freunde, mit denen sie gespielt hatte, die Eltern, die sie geliebt hatten, bis sie von den Tempelwachen jäh aus diesem Glück gerissen wurde. Tränen traten in ihre Augen, als sie das Bild von dem Jungen, der ihr bester Freund gewesen war, vor sich sah, wie er verzweifelt schreiend dem Schlitten der Tempelwachen hinterherlief. Dann tauchten die Erinnerungen an die erste Zeit im Tempel auf, die schreckliche Einsamkeit, als sie tagelang bei Brot und Wasser in einer kalten, dunklen Zelle eingesperrt war. Es hatte lange gedauert, bis sie die Kälte, ohne Schmerzen zu fühlen, ertragen konnte und sie letzendlich sogar lieben gelernt hatte. Dann der von Schlägen begleitete Drill, als sie zusammen mit anderen Novizen die Gesänge lernte und sie immer und immer wieder singen musste. Das Auswendiglernen und Verinnerlichen der Lehre von der Reinheit des Eises, bei dem jeder noch so kleiner Fehler mit der Rute hart bestraft wurde. Einige der Narben trug sie noch heute auf dem Rücken. Und schließlich die Reinigung, bei der man, bis man zu ertrinken glaubte, in das eiskalte Wasser der heiligen Quelle getaucht wurde. Dieses Ritual wurde dreimal zu verschiedenen Zeitpunkten der Ausbildung wiederholt und nichts fürchtete Istra mehr, als dass es ein weiteres Mal geschehen würde, wenn Ismann ihre Erinnerungen fand. Istra spürte, wie das Bewusstsein, das nur der Geist der Eisgöttin sein konnte, sich an ihren Schmerzen und an ihrer Furcht ergötzte und sie erkannte, dass es diese schrecklichen Erlebnisse waren, aus denen die Eisgöttin ihre Kraft bezog. Bevor Istra darüber nachdenken konnte, tauchte die Eisgöttin noch einmal in die Schrecken ihrer Entführung ein und das Gesicht des Jungen brannte sich in Istras Gedächtnis. Istra spürte, dass Ewis zufrieden war, mit dem, was sie in ihr gefunden hatte. Dann zog sich Ewis aus ihren Gedanken zurück, doch Istra fühlte, dass sie immer noch in ihrem Bewusstsein war. Noch immer tönte der Opfergesang. Istra sah auf Islind hinab und bemerkte, wie sich ihre Augen hinter den geschlossen Lidern bewegten. Ewis war nun auch in ihr. Sie wollte nicht nur das Töten durch Istra miterleben, sondern auch spüren, wie das Leben aus Islind wich. Jetzt konnte das Opfer dargebracht werden. Istra hob das Messer und stieß es mit aller Kraft durch Islinds Brustkorb. Es durchbohrte ihr Herz und trat am Rücken wieder aus. Islind riss für eine Sekunde die Augen auf, kurz zeigte sich der Schmerz auf ihrem Gesicht, dann entspannte sich ihr Körper und ihre Augen schlossen sich. Istra fühlte, wie ihr ein wohliger Schauer den Rücken hinunterlief, doch ihr war bewusst, dass dies die Empfindung der Eisgöttin war. Ihre Lust am Töten und dem Leid anderer war kaum zu stillen. Eine ungekannte Kraft durchströmte Istra und Erleichterung durchflutete sie. Ewis hatte sie als Wächterin angenommen und ihr die Kraft verliehen, die Weta zu kontrollieren. Istra zog das Messer mit einem Ruck heraus und langsam lief Islinds Blut in den Altar aus Eis zu dem in ihm verborgenen Kristall hinab. Istra hob die Hände und stimmte in den Opfergesang ein. Zunächst kaum merklich, dann immer kräftiger begann der Kristall im Inneren des Altares in weißem Licht zu pulsieren. Der Gesang endete in einem triumphalen Crescendo, das mehrfach von den Wänden widerhallte. Die Eisgöttin hatte das Opfer angenommen. Der oberste Priester trat vor, tauchte zwei Finger in das Blut, das nun auch die Seiten des Altars herunterlief und zeichnete Istra damit ein Herz auf ihr Gesicht. Dann hob er die Hände und rief:

„Eisgöttin, ich rufe zu dir! Nimm diese mit dem Blut des Opfers geweihte Frau als Wächterin an. Zeige ihr die Weta!“ Er ließ die Arme sinken und begab sich wieder an seinen Platz im Kreis. Nun stimmten die Priester einen neuen Gesang an. Er durchdrang Istra, füllte ihre Gedanken und plötzlich sah sie Bilder von einer anderen Welt vor ihrem inneren Auge. Sie war voller Pflanzen und bunten Lichtern, Häusern aus Stein, merkwürdigen Schlitten, die sich ohne Zugtiere fortbewegten und Menschen in seltsamen Kleidern. Sie hatte die Weta gefunden. Istra sah all dies durch ihre Augen. Sie fühlte die Angst der Weta, die nicht wusste, was mit ihr geschah. Bevor die Weta in Panik geriet, zog sich Istra in einen kleinen Winkel ihres Verstandes zurück, krallte sich dort fest, damit sie den Kontakt nicht verlor, und gab ihren Körper wieder frei. Nun würde Istra die Weta ganz unter ihre Kontrolle bringen und sie nach Isgorat in das Reich der Eisgöttin holen. Es war notwendig, dass sie behutsam vorging, wenn sie die Weta nicht in den Wahnsinn treiben wollte. Sie musste sich langsam in ihrem Verstand ausbreiten und sie nach und nach in eine kleine Ecke drängen. Dann konnte sie die Kontrolle über den Körper der Weta übernehmen und ihn der Eisgöttin zur Verfügung stellen.

Istra fiel und wurde von starken Armen aufgefangen. Sie öffnete die Augen und blickte in Ismanns Gesicht. Seine kalten Augen leuchteten und ließen sein Gesicht noch bleicher als sonst wirken.

„Ich habe sie gefunden“, flüsterte Istra.

Sie spürte Ewis’ Geist nicht mehr in sich, doch sie hatte Istra ihr Zeichen eingebrannt und etwas in ihr hinterlassen, das sie für immer verbinden würde.

Ismann nickte knapp und seine schmalen Lippen verzogen sich kurz zu einem triumphierenden Lächeln.

„Bringt sie in ihre Kammer!“, wies er die Priester an und sah dann zu, wie diese Istra aus dem Heiligtum trugen. Es war vollbracht. Zufrieden strich sich Ismann über seinen langen, dünnen Bart. Der neue Zyklus hatte begonnen. Ewis hatte die neue Wächterin zu der neuen Weta geleitet, nachdem die Macht, einen Körper zu beherrschen, von der alten Wächterin auf Istra übergegangen war. Er hatte in Istras Geist die Welt der Weta gesehen und ihre Gegenwart wahrgenommen. Er fragte sich immer wieder, nach welchen Kriterien die Eisgöttin ihren neuen Körper auswählte. Sie kamen aus verschiedenen Welten. Manche ähnelten Isgorat, andere waren so fremd, wie die, die er gerade gesehen hatte. Die ausgewählten Frauen hatten die unterschiedlichsten Wesen. Manche waren stark und widerspenstig, andere schwach und leicht zu lenken. Aber er hatte es noch nie erlebt, dass sich eine Weta gegen die Überführung nach Isgorat erfolgreich gewehrt hatte. Die meisten sträubten sich zumindest am Anfang gegen den Einfluss der Wächterin. Doch war der Kontakt einmal hergestellt, gab es für die Weta kein Entrinnen. Von der Stärke der Wächterin hing es ab, wie schnell sie sich in ihr Schicksal fügte. Istra und ihre Ergebenheit der Eisgöttin gegenüber waren stark. Wann immer er in ihre Gedanken blickte, konnte er es sehen. Da war nur die Anbetung für Ewis, kein Ehrgeiz, sich selbst voranzubringen. Istra gehörte ganz der Eisgöttin. Dies war die beste Voraussetzung für eine Wächterin. Er hatte trotz ihrer Ergebenheit immer einen Zweifel gehabt, hatte gespürt, dass sie etwas verbarg. Doch die Eisgöttin hatte sie heute als Wächterin anerkannt, damit konnte es keinen Zweifel mehr geben. Dennoch würde er sie genau im Auge behalten. Hin und wieder waren Wächterinnen dem Druck nicht gewachsen, der auf ihnen lastete, doch das zeigte sich erst mit der Zeit. Ismann würde wachsam sein, denn es standen unruhige Zeiten bevor.

Seit Jahrhunderten existierte der Eiskult nun schon. Er hatte Isgorat erst zu dem gemacht, was es heute war. Ohne ihn wären die Isgorater heute noch ein wilder, in vereinzelten Hütten lebender Haufen von Jägern und Sammlern. Der Eiskult hatte ihnen Kultur und Arbeit gegeben. Unter Ismanns Herrschaft war der Tempelbezirk entstanden und stetig gewachsen. Er hatte den Hafen anlegen lassen und aus den vereinzelten Schiffen, die immer wieder vor der Küste geankert hatten, war ein stetiger Strom an Schiffen geworden. Der Tempelbezirk hatte sich mit dem Hafen langsam zu einem Handelszentrum entwickelt. Mit ihm wuchs die Bevölkerung Isgorats und die Dörfer entstanden. Ohne den Eiskult würde Isgorat wieder in Wildheit versinken. Der Preis dafür waren die Opfer für die Zeremonien, denn die Opfer für die Eisgöttin bezog der Eiskult aus der Bevölkerung Isgorats. Auch die Priester und Priesterinnen, sowie die Tempelwachen holte sich Ismann aus der Bevölkerung Isgorats. In den Anfängen des Kultes hatte er den Eltern noch etwas dafür bezahlt, dass sie ihm ihre Kinder überließen. Doch sobald seine Macht über Isgorat gefestigt war, ließ er die passenden Kinder von den Tempelwachen entführen. Gegenwehr bestrafte er von Anfang an erbarmungslos, um jeglichen Widerstand im Keim zu ersticken. Der Bevölkerung hatte er strenge Regeln auferlegt, bei deren Verletzung eine harte Strafe drohte. Mithilfe der Tempelwachen konnte er diese auch durchsetzen. Es war jedem eine Mahnung, sich an die Regeln zu halten, wenn die Tempelwachen einen Missetäter von der Arbeit abholten oder abends seine Haustür aufbrachen, um ihn vor aller Augen in das Gefängnis im Tempelbezirk zu bringen. Diese Gesetze regelten nicht nur das Verhalten dem Tempel gegenüber, sondern stellten auch Vergehen der Bewohner untereinander unter Strafe. Seinen Spionen entging kaum der kleinste Fehltritt, sodass die Isgorater aus Furcht vor Bestrafung die Regeln ohne Aufzubegehren ertrugen. Dieses Gleichgewicht war nötig, damit er den Strom an Opfern aufrechterhalten konnte, der Ewis’ Kraft und damit auch seine Macht stetig wachsen ließ. Dieses Gleichgewicht hatte all die Jahre bestanden, doch in letzter Zeit schien sich die Stimmung unter den Isgoratern zu ändern. Ismanns Spitzel berichteten immer häufiger von offenen Unmutsbekundungen. Die Isgorater ließen sich nicht mehr so leicht von der Präsenz der Tempelwachen einschüchtern. Ismann dachte seit geraumer Zeit darüber nach, die Wachen aufzustocken, um so die Kontrolle zu bewahren und das wankende Gleichgewicht wiederherzustellen.

Hanna

Nina warf ihrer Freundin stirnrunzelnd einen Blick zu und stieß ihr dann unsanft den Ellbogen in die Rippen.

„Hanna, du träumst ja mit offenen Augen!“

Hanna zuckte zusammen. Sie kniff die Augen zu, weil das Sonnenlicht sie plötzlich blendete, und konnte sich nur mit Mühe beherrschen, nicht die Finger in die Ohren zu stopfen, um den auf einmal ohrenbetäubenden Verkehrslärm auszusperren.

„Was?“

Nina verdrehte die Augen und deutete auf den jungen Mann auf der anderen Straßenseite, der, genau wie sie, darauf wartete, dass die Ampel grün wurde.

„Der ist doch total süß, oder?“

Nina starrte ihre Freundin erwartungsvoll an, doch Hanna schüttelte nur verwirrt den Kopf.

„Was? Wer?“

Nina seufzte theatralisch und hakte sich bei Hanna unter, um sie über die Straße zu ziehen. Im Vorbeigehen lächelte sie den jungen Mann breit an, doch der hatte das Handy am Ohr und bemerkte sie gar nicht. Hanna ließ sich von ihr über die Straße führen. Allmählich normalisierten sich ihre Sinne wieder. Die Sonne blendete nicht mehr und die Geräusche hatten sich wieder bei der normalen Lautstärke eingepegelt. Ihr Kopf war noch ganz leicht und hinter den Schläfen fühlte sie ein leichtes Pochen. Was war eben passiert? Für einen Augenblick war es gewesen, als hätte sich jemand in ihren Kopf gedrängt. Sie war einfach in eine dunkle Ecke ihres Verstandes geschoben worden, völlig abgeschnitten von der Außenwelt. Sie hatte nicht mitbekommen, dass Nina etwas gesagt hatte. Für eine kurze Zeit hatte einfach nur vollkommene Dunkelheit und Stille geherrscht. Sie hatte die Gewalt über ihren Körper verloren, hatte ihn nicht einmal mehr gespürt, nur die Empfindungen des Eindringlings wahrgenommen, das Staunen über ihre Welt, die dem Eindringling völlig fremd war. Kurz bevor sie in Panik geriet, war es vorbei und die Welt mit ihrem Licht und Lärm hatte ihre Sinne überflutet. Sie war froh um Ninas Arm, denn für einen Moment war es, als wollten ihre Beine unter ihr nachgeben. Auf der anderen Straßenseite angekommen ließ Nina sie los und fragte:

„Was ist denn los mit dir?“ Nina zog ihr Gesicht in besorgte Falten. „Du siehst fürchterlich aus! Ist dir schlecht?“

Hanna schüttelte den Kopf und bereute das sofort. Ihre Kopfschmerzen wurden schnell stärker.

„Ich habe Kopfschmerzen“, sagte sie knapp.

„Vorhin war doch noch alles okay?“ Hanna nickte.

„War es auch. Ich weiß auch nicht, woher die auf einmal kommen. Ich habe in letzter Zeit schlecht geschlafen.“

Nina sah Hanna mitfühlend an.

„Das erste Eis des Jahres kann auch noch warten. Du siehst wirklich aus, als ob du dich besser auf dein Sofa legen solltest.“

Hanna seufzte.

„Ja, das wäre gut. Tut mir leid.“

Nina winkte ab und machte dann ein nachdenkliches Gesicht.

„Was mache ich jetzt, wenn wir nicht Eis essen gehen?“ Ihr Gesicht hellte sich auf. „Ich glaube ich gehe noch mal zu Susis Boutique.“

Hanna zog alarmiert die Augenbrauen hoch.

„Du willst doch nicht etwa doch das rote Kleid kaufen? Ich habe dir gestern schon gesagt, dass du darin wie eine Presswurst aussiehst und bei dem Ausschnitt flutschen dir die Möpse raus, sobald du nur ’nen Schluckauf kriegst!“

Nina zog einen Flunsch, dann setzte sie eine hochmütige Miene auf, stemmte eine Hand in die Hüfte und zeigte mit der anderen anklagend auf Hanna.

„Frau Engler! Ihre Ausdrucksweise ist völlig unangebracht!“

Unwillkürlich musste Hanna lachen, auch wenn es ihre Kopfschmerzen verstärkte. Aber Ninas Imitation von Feldwebel Arschloch war zu gut.

Nina zog immer noch ein saures Gesicht.

„Och menno, ich find das Kleid aber so geil.“ Doch dann erhellten sich ihre Gesichtszüge erneut.

„Nina?“

Hanna versuchte die immer stärker werdenden Kopfschmerzen zu ignorieren.

„Ich habs! Doppelseitiges Klebeband und mehr Sport und kein Eis.“ Nina strahlte, dachte noch einmal kurz nach und sagte: „Zumindest nicht heute.“

Bevor Hanna protestieren konnte, umarmte Nina sie.

„Wir sehen uns morgen bei der Arbeit. Ruh dich aus!“

Nina ließ sie an der Ampel stehen und winkte ihr noch zum Abschied zu. Hanna holte tief Luft, sah ihr einen Moment verblüfft nach und versuchte das Bild von Nina in dem roten Kleid aus dem Kopf zu schütteln, unterließ dies aber sofort, als ihr ein stechender Schmerz durch den Schädel fuhr.

Ihre Wohnung lag nur wenige hundert Meter von der Innenstadt entfernt, doch als sie dort ankam, war der Schmerz in ihrem Kopf noch stärker geworden. Hanna wollte sich nur noch hinlegen, sich nicht mehr bewegen und die Augen schließen.

In ihrer Wohnung angekommen, ließ sie ihre Tasche fallen, streifte die Schuhe ab und legte sich, ohne den Mantel auszuziehen, auf ihr Bett. ‚Nur ein paar Minuten‘ dachte sie und schloss die Augen. Die andere Person, die sich eben an der Ampel in ihr Bewusstsein gedrängt hatte, war noch da. Sie hatte sich nur in einen kleinen Winkel ihres Verstandes zurückgezogen. Hanna versuchte, sie zu fassen, in diesen kleinen Winkel einzudringen, doch es gelang ihr nicht. ‚Verschwinde!‘ dachte Hanna sehr deutlich, doch es kam keine Reaktion. Sie war sich sicher, dass der Eindringling eine Frau war. Das konnte sie aus der Art und Weise schließen, wie diese durch ihre Augen diese Welt betrachtet hatte. Was wollte sie nur von ihr und woher kam sie überhaupt? Hanna wurde bewusst, wie absurd das Ganze war. Besessenheit gab es nur in Kinofilmen und dennoch kam es ihr so real vor. Angst regte sich leise in ihr. War das vielleicht eine Wahnvorstellung, eine Spätfolge von Jens’ Unfall und der schweren Zeit danach? Hanna musste wider Willen lächeln. Wenn dem so wäre, würde sie es nicht als Wahnvorstellung wahrnehmen und sich diese Frage gar nicht stellen. Und dennoch hatte sie das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Diese Träume, die sie seit kurzem wieder heimsuchten, waren ein konkretes Zeichen dafür. War es wirklich nur der Stress? Sie war schon seit einigen Jahren nicht mehr bei ihrer Psychotherapeutin gewesen. Vielleicht sollte sie einfach einen Termin machen und dem Ganzen auf den Grund gehen. Zufrieden mit ihrer Entscheidung fiel Hanna in einen unruhigen Schlaf.

Isgorat

Istra erwachte und fand sich in ihrer Kammer wieder. Ein Hochgefühl überkam sie. Die Prüfung war bestanden. Die Eisgöttin hatte sie für geeignet befunden. Sie konnte die Gegenwart der Weta spüren. Mit dem ersten Kontakt hatte sie sich fest in ihrem Bewusstsein eingenistet und für kurze Zeit die Kontrolle übernommen. Im Moment schlief die Weta und die Schmerzen, die sie noch spürte, würden bald vergehen. Die Weta war stark, noch kämpfte sie gegen Istra an. Nun galt es Stück für Stück ihren Widerstand zu brechen. Istra musste erst noch lernen, einen fremden Körper zu steuern. Aber die anderen Wächterinnen vor ihr hatten diese Aufgabe auch gemeistert. Istra zweifelte nicht daran, dass es ihr ebenfalls gelingen würde. Wenn die Weta erst einmal in Isgorat war, würde sie die Zeit außerhalb der Zeremonien schlafen. Sie war wie eine Puppe, die nur zum Spielen aus dem Schrank geholt wurde. Für einen kurzen Moment spürte Istra Mitleid mit der fremden Frau, Hanna, so hatte ihre Begleiterin sie genannt. Schon bald musste sie den Rest ihres Lebens in totaler Abgeschiedenheit verbringen. Aber Ewis hatte sie auserwählt. Es war ihr Schicksal, die Weta zu sein. Istra setzte sich auf. Solange die Frau schlief, konnte sie ihr ein paar Eindrücke von der Welt geben, die bald ihr Zuhause sein würde. Oder ihr Gefängnis. Sie zog sich die Kapuze ihres Gewandes tief in das Gesicht, als sie ihre Kammer verließ. Schweigend ging sie durch die Gänge, die sie zur Mauer führten, die den Tempel vom Tempelbezirk trennte. Nur am Rande nahm sie wahr, dass sich jeder, der ihr begegnete, tief vor ihr verbeugte. Nun war sie, gleich nach dem obersten Priester, die wichtigste Person im Tempel. Auf einem der überdachten, aber sonst offenen Gänge an der Außenmauer des Tempels angekommen, atmete sie tief die frische Luft ein und schob die Kapuze vom Kopf. Die Welt der Weta war warm, das hatte sie spüren können. Viel zu warm für ihren Geschmack. Istra liebte die Kälte, den Schnee, das Eis. Sie schloss die Augen für einen Moment und spürte, dass die Weta immer noch schlief. Dann ließ sie den Blick über den Tempelbezirk gleiten. Unter ihr lagen die Wohnhäuser und die Werkstätten der Bewohner. Sie versorgten die Priesterschaft und die Tempelwachen mit allem, was benötigt wurde. Obwohl sie aus freien Stücken in den Tempelbezirk gezogen waren, betrachtete Istra sie nicht als freie Bürger, sondern als Bedienstete des Tempels. Manche Familien lebten und arbeiteten schon seit Generationen im Tempelbezirk. Der Tempel ließ niemanden mehr gehen, der einmal die Vorteile des Lebens dort genossen hatte. Dafür verlangte der Tempel unbedingten Gehorsam. Diejenigen, die versucht hatten, sich ihm zu entziehen, hatten es bitter bereut. Ihr Blick fiel auf zwei in einfache, graue Kutten gekleidete Gestalten, die kurz stehen blieben, einige Worte wechselten und dann weitereilten. Die persönlichen Diener der Priester waren Bewohner des Tempelbezirkes. Nicht jeder lernte das Handwerk seiner Eltern und so gab es genug Bewerber, die Diener für die Priesterschaft werden wollten. Bevor sie zum persönlichen Diener eines Priesters oder einer Priesterin werden konnten, wurden die Männer und Frauen einer besonderen Prüfung unterzogen. Sie mussten dem Tempel ewige Treue schwören und sich zur Verschwiegenheit verpflichten. Nicht, dass sie sich daran hielten. Neuigkeiten verbreiteten sich immer in Windeseile und nur selten wurden die Verräter gefasst. ‚Diese geschwätzigen Kreaturen, vielleicht sollte man sie ebenfalls bis zu einem gewissen Grad einer Konditionierung unterziehen.‘ Istra schüttelte missmutig den Kopf, um ihre abschweifenden Gedanken einzufangen, und lenkte ihren Blick wieder auf die Häuser und Straßen unter ihr. Breite Hauptstraßen liefen sternförmig von den Toren ausgehend auf den Tempel zu. Über ihnen schwebten Kugeln aus Eis, die von innen heraus leuchteten und den Tempelbezirk Tag und Nacht in ein weißes Licht tauchten. Es herrschte reges Treiben auf den Straßen, denn der Tempel hatte ein riesiges Verlangen nach Waren und Arbeitskraft. Die Priester wollten großzügig versorgt werden. Wenn auch ihre Lebensweise eher asketisch war, so verlangten sie doch höchste Qualität, was die Bekleidung und die Mahlzeiten anging.

„Ehrwürdige Wächterin!“

Istra zuckte zusammen, als sie aus ihrer Betrachtung gerissen wurde.

„Was ist?“ Ihre Stimme klang barscher als beabsichtigt und ihre Dienerin verbeugte sich noch ein Stück tiefer.

„Verzeiht, wenn ich Euch störe, aber der Schneider lässt fragen, ob er Maß nehmen darf, um Eure neuen Roben anzupassen. Und der Schuster möchte ebenfalls Maß nehmen für Schuhe in der Euch zustehenden Farbe.“

Die Dienerin verharrte in ihrer gebeugten Stellung und Istra sah auf sie mit einer Mischung von Verachtung und Bedauern herab. Bevor sie zur Wächterin berufen wurde, war ihr Umgang mit der Dienerschaft nicht so förmlich gewesen. An diese Ehrerbietung musste sie sich erst gewöhnen. Die Unterwürfigkeit ihrer Dienerin widerte sie beinahe an. Sie bemühte sich dennoch um einen freundlichen Ton:

„Ich lasse es dich wissen, wenn ich Zeit dazu habe.“

Istra fuhr mit der Hand über den Ärmel ihrer Robe und fühlte den glatten, weichen Stoff, der mit dem Schiff aus einem fernen Land kam. Die Roben wurden im Tempelbezirk geschneidert und auch die Schuhe, die sie trug, waren aus feinstem Leder und eigens für sie gefertigt worden.

Die Dienerin nickte und wollte sich zurückziehen.

„Warte, Lifa!“

Die Dienerin zuckte zusammen und verbeugte sich erneut. Istra verzog verächtlich den Mund. Diese Diener waren doch schwache Kreaturen ohne Rückgrat und sobald man ihnen den Rücken zuwendete, zerissen sie sich das Maul und glaubten, man merkte das nicht. Aber zumindest wussten sie, wo ihr Platz und wer ihre Herren waren.

„Ich wünsche mein Abendmahl in meinem Gemach zu mir zu nehmen. Bring mir etwas Nussbrot und ein Stück gebratenen Fisch. Warte dort auf mich.“

Lifa nickte erneut und entfernte sich leise. Istra wandte sich wieder dem Tempelbezirk zu.