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Das Tor zum Süden.
Göschenen, 1872: Helene begleitet ihren Vater oft auf seinen Fahrten über den gefährlichen Gotthardpass. Als ein Tunnel durch den Berg gebaut werden soll, fürchten die Fuhrhalter um ihre Existenz, die Bergarbeiter aus Italien sind Anfeindungen ausgesetzt. Auch wenn ihre Eltern dem Mineur Piero ein Zimmer auf ihrem Hof anbieten, weiß Helene, dass sie eine Verbindung zu dem temperamentvollen Italiener niemals billigen würden – und doch geht er ihr nicht mehr aus dem Kopf. Als es im Tunnel immer häufiger zu schweren Unfällen kommt, muss sie schon bald um Pieros Leben bangen ...
Die epische Geschichte eines kühnen Bauvorhabens und einer Liebe, die nicht sein durfte.
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Seitenzahl: 561
Göschenen, 1872: Immer, wenn Helene ihren Vater bei einem Warentransport über den tückischen Gotthardpass begleitet, wünscht sie sich nichts sehnlicher, als eines Tages die Fuhrhalterei zu übernehmen. Doch ihre Mutter sieht es nicht gern, wenn sie bei den gefährlichen Fahrten einspringt, und als Frau darf sie ohnehin kein Geschäft führen. Mit Beginn der Bauarbeiten des geplanten Gotthardtunnels kommen italienische Arbeiter in das nun rasch wachsende Dorf. Auch Piero, ein Mineur aus dem Piemont, gehört zu ihnen und darf sich glücklich schätzen, als er auf dem Hergerhof ein Zimmer findet. Ausländische Tunnelarbeiter sind im Ort nicht gern gesehen. Doch auch wenn Helenes Vater sich als Einziger der Göschener Fuhrhalter bereit erklärt hat, Baumaterialien für den Tunnel zu transportieren, heißt das noch lange nicht, dass er eine Beziehung seiner Tochter zu seinem italienischen Mieter gutheißen würde. Ganz im Gegenteil. Dessen ungeachtet verliebt sich Helene in den charmanten Italiener. Als sich die Unfälle auf der Baustelle häufen, kommt es zum Streik. Die Situation spitzt sich zu – und Helene muss um Pieros Leben fürchten.
Karin Seemayer, geboren 1959, machte eine Ausbildung zur Reiseverkehrskauffrau und war beruflich und privat viel unterwegs. Die meisten ihrer Romanideen sind auf diesen Reisen entstanden. Allerdings musste die Umsetzung warten, bis ihre drei Kinder erwachsen waren. Heute lebt sie im Taunus.Im Aufbau Taschenbuch sind ihre Romane »Die Tochter der Toskana«, »Das Gutshaus in der Toskana«, »Sterne über der Toskana«, »Die Sehnsucht der Albatrosse« und »Das Geheimnis des Nordsterns« sowie die drei Bände ihrer Amisch-Saga »Der Himmel über Amerika« lieferbar.
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Karin Seemayer
Bergleuchten
Roman
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Titel
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PROLOG — Göschenen, 23. Mai 1882
1872 Ein Loch in unserem Berg
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
1873 Sprengstoff
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
1874 Vortrieb
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
1875 »Comandiamo noi«
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
1876–1877 Neues Leben
37. Kapitel
1878–1879 Airolo
38. Kapitel
39. Kapitel
1880 Durchbruch
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
EPILOG
NACHWORT
Wieder möchte ich Danke sagen:
Die wichtigsten historischen Personen im Roman
Glossar
Impressum
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Göschenen, 23. Mai 1882
Die Sonne schien und brachte die schneebedeckten Gipfel der Berge zum Glitzern. Die Fassade des neuen Bahnhofsgebäudes war mit Blumengirlanden geschmückt, vom Grand Hotel und dem Hotel de la Gare wehten bunte Fahnen. Um den Bahnhof drängten sich die Menschen, auf dem Bahnsteig wartete die Kapelle auf die Einfahrt des ersten Zuges. Um sieben Uhr sollte er in Luzern abgefahren sein. Es würde also noch eine Weile dauern, bis die beiden Lokomotiven die Bergstrecke mit den drei Kehrtunneln von Erstfeld nach Göschenen überwunden hatten.
Helene stand mit ihrem Mann und ihren Kindern in der Nähe der neuen Brücke über die Reuss und blickte auf das Tunnelportal. Auch hier wehten Fahnen zu beiden Seiten der Schienen im Frühlingswind, bunte Wimpel flatterten auf dem Hang über dem Portal. In der Nacht hatten auf den Bergen Freudenfeuer gebrannt. Bergleuchten nannte man das. Ganz Europa, so verkündeten die Zeitungen, feierte die Einweihung des längsten Eisenbahntunnels der Welt. Neben Helene standen ihre Eltern, nicht weit von ihnen entfernt der ehemalige beste Freund ihres Vaters Urs Gisler und seine Familie.
»Warum ist er hier?«, fragte Helenes Mutter leise. »Er hasst den Tunnel.«
Ihr Vater zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Vielleicht hofft er, dass die Bahn nicht ankommt.«
Ein schriller Pfiff ertönte. Helene wandte sich um. Schnaufend näherten sich die beiden Lokomotiven von Norden, fuhren langsam über die Eisenbahnbrücke der Göschener Reuss. Lorbeerkränze schmückten die Lokomotiven, an den Waggons hingen die Wappen der drei am Tunnelbau beteiligten Nationen: Schweiz, Italien und Deutschland.
»Da kommt unser Ruin«, sagte Urs Gisler laut. »Und du«, er deutete mit dem Finger auf Helenes Vater. »Du bist mit schuld daran. Aber du wirst schon sehen, was du davon hast. Verfluchter Tunnel.« Er spuckte aus, drehte sich um und ging schweren Schrittes davon. Ein verbitterter, alter Mann, dessen Lebenswerk zerstört war. Helene blickte ihre Eltern an. Ihre Mutter schüttelte traurig den Kopf. Die Miene ihres Vaters war wie versteinert, während er Urs nachsah.
Jubel brandete auf, als der Zug vor dem Bahnhofsgebäude hielt. Die Kapelle spielte die Schweizer Hymne. Dann öffneten sich die Türen und Menschen quollen aus den Waggons und füllten den Bahnsteig. Aus dem ersten Waggon stieg ein Mann, seine Haare und sein Schnurrbart waren schneeweiß. Das musste der Bundespräsident, Simeon Bavier, sein. Helene kannte sein Bild aus der Zeitung. Carl Arnold, der Gemeindepräsident von Göschenen, und die beiden Landjäger begrüßten ihn und geleiteten ihn unter dem Beifall der Menge zum Rednerpult am Bahnsteig. Als die Kapelle die Hymne beendet hatte, hob Bavier die Hände und wartete, bis es still wurde.
»Liebe Gemeinde von Göschenen, liebe Gäste!«, begann er. »Die Scheidewand, welche die Nationen trennte, ist gefallen, die Länder sind einander näher gerückt und haben sich dem Weltverkehr geöffnet.«
Wieder jubelte die Menge. Bavier fuhr fort: »Nachdem seit Jahrtausenden kampfgerüstete Heere ihre eroberten Standarten über das Gebirge trugen, um bald hüben, bald drüben Verderben und Zerstörung zu bereiten, werden nun täglich reich beladene Karawanen auf dem neu geschaffenen Verkehrswege dahinziehen und statt Vernichtung Segen und statt Krieg Frieden bringen.«
Helene traute ihren Ohren nicht. Bavier tat gerade so, als hätte es vorher keinen Handel gegeben, keine Säumerkolonnen, keine Fuhrhalter, wie ihren Vater oder Urs, die schon seit Jahren Waren über den Pass brachten.
»Dieser Tunnel ist ein Wunder der Ingenieurskunst.« Baviers Stimme bebte vor Begeisterung. »Dieses Riesenwerk, für das die Kraft des Einzelnen nicht ausreichte, ist möglich geworden durch die Vereinigung der Kräfte dreier Staaten. Die ganze Welt blickt nun auf dieses Jahrhundertbauwerk.«
Namen fielen. Louis Favre, der geniale Planer des Tunnels, der leitende Ingenieur Ernest von Stockalper, Eduard Bossi, der für die Baustelle auf der Südseite verantwortlich war. Helden nannte Bavier sie.
Helene schüttelte den Kopf. Nein, die wahren Helden des Gotthardtunnels waren andere.
»Doch wir wollen auch derer gedenken, die oft vergessen werden«, rief Bavier. »Die Arbeiter, die kühnen Streiter, die Zoll für Zoll dem Verkehr eine Gasse erkämpften. Viele sind in diesem Kampf gefallen, unter ihnen ein geliebter Führer, der seine unermüdliche Ausdauer und Kraft bis zum letzten Hauch dem großen Ziele weihte. Wie Krieger, die in der Schlacht dahinsinken, sind diese Pioniere in Erfüllung ihrer Pflichten auf dem Felde der Ehre gefallen.«
Danach beschwor er den »Völkerfrühling«: die Solidarität der Nationen, Wohlstand und Bildung würde der Tunnel bringen. »Möge das Band, welches uns alle vereint, sich immer fester und inniger gestalten!«
Helene wechselte einen Blick mit ihrem Mann. Er hatte die Augenbrauen zusammengezogen und sah fast genauso zornig aus wie Urs Gisler vorhin.
»Zwei Sätze«, sagte er. »Zwei Sätze für diejenigen, die im Tunnel geschuftet haben, und für die Opfer, die der Tunnel gefordert hat.«
»Hüh!« Franz Herger knallte mit der Peitsche. »Bald habt ihr’s geschafft. Los, Fardi! Zieh, Loris – immer weiter, Dorli. Fleißig, Trude.«
Die vier Pferde legten sich ins Geschirr und zogen das schwer beladene Fuhrwerk um die nächste Kurve bergauf. Helene saß neben ihrem Vater auf dem Kutschbock und hielt sich am Sitz fest. Etwa zwei Drittel der Tremola, der Straße, die in engen Serpentinen von Airolo hinauf zum Gotthardpass führte, hatten sie geschafft. Nur noch acht Spitzkehren waren zu bewältigen. Seit sie Airolo passiert hatten, war es merklich kühler geworden. Auf den Wiesen lagen vereinzelte Inseln von Schnee. Helene holte ihre Jacke unter dem Sitz hervor und zog sie an.
»Willst’ auch deine Jacke?«, fragte sie ihren Vater.
Der schüttelte den Kopf. »Noch nicht.« Konzentriert lenkte er die Pferde auf die nächste Spitzkehre zu. Die Tremola war nicht ungefährlich. Manche Kehren waren so eng, dass man genaustens darauf achten musste, wie man sie anfuhr, um mit dem Fuhrwerk um die Kurve herumzukommen. Diese hier war so eine. An der engsten Stelle sah Helene hinab ins Tal. Der Anblick war atemberaubend. Neben der Straße fiel das Gelände steil ab. Sie konnte bis nach Airolo und weit hinein ins Valle Leventina sehen. Der Ticino glitzerte in der Sonne. Die Luft war so klar, dass Helene den Weg sehen konnte, den der Fluss sich durch die Alpen gegraben hatte. Bis hin zu den majestätischen Gipfeln der Berge von Biasca. Die unter ihnen liegenden Spitzkehren der Tremola wirkten von hier oben noch beängstigender als während der Fahrt bergauf. Kein Wunder, dass manche Fahrgäste der Gotthardpost sich die Augen verbanden, wenn die fünfspännige Kutsche bergab fuhr.
Nach dieser Kehre folgte eine längere Gerade.
»Jetzt kannst du mir die Jacke geben«, sagte ihr Vater.
Helene übernahm die Zügel, während ihr Vater seine Jacke anzog. Anschließend wollte sie ihm die Zügel zurückgeben, doch er schüttelte den Kopf und deutet auf die vor ihnen liegende Kurve. »Probier du es.«
Es war das dritte Mal, dass sie ihren Vater auf der Reise von Göschenen nach Lugano und zurück begleitete. Fahren konnte sie schon lange, sie hatte auf dem Kutschbock gesessen, seit sie laufen konnte, doch die Kehren auf der Tremola hatte er ihr noch nie überlassen. Sie nahm die inneren Zügel kürzer, lenkte das Gespann erst an den rechten Straßenrand und dann an den linken. Die vier Pferde waren erfahren, sie hatten den Weg bereits an die zweihundert Mal gemacht. Wahrscheinlich würden sie auch alleine sicher um die Kurve kommen.
»Gut gemacht«, sagte ihr Vater mit hörbarem Stolz in der Stimme. Er übernahm die Zügel wieder. Die Landschaft wurde jetzt deutlich karger. Moos und Flechten lösten die blühenden Wiesen ab, dazwischen zeigte sich nackter Fels.
Drei Tage dauerte die Reise von Göschenen nach Lugano und zurück, die eigentliche Fahrt über den Pass etwa acht Stunden, je nach Witterung, und Helene genoss jeden Augenblick. Sie bewunderte ihren Vater, der das kleine Fuhrunternehmen vor zwanzig Jahren von seinem Vater übernommen hatte und zu einem der erfolgreichsten Fuhrhalter in Göschenen und Umgebung geworden war. Harte Arbeit und Pferdeverstand hatten sich ausgezahlt. Ihr Großvater war noch als Säumer mit Mauleseln über den Pass gewandert, wie ihr Urgroßvater und dessen Vorväter. Seit dem Bau der Teufelsbrücke über die Schöllenenschlucht 1595 brachten die Hergers Waren von Norden nach Süden und zurück. Ihr Vater wusste alles über den Gotthard. Er kannte seine Launen, die Wetterwechsel, er hatte ihn zu jeder Jahreszeit überquert, auch im Winter.
Jetzt war es Frühsommer, Ende Juni, die Sonne schien, nur ein paar weiße Wolken hingen am Himmel. Doch hier oben, kurz vor dem höchsten Punkt der Passstraße, bedeckte Schnee das karge Land. Die nächste Kurve gab den Blick frei auf das Gotthard Hospiz. Der See vor dem Hospiz schimmerte in hellem Türkis, Eisschollen schwammen darauf.
Neben der Herberge zügelte ihr Vater die Pferde. Sie sollten trinken und verschnaufen, bevor es bergab ging. Aus dem Korb, der hinter ihr auf der Ladefläche lag, holte Helene die belegten Brote, die sie in Lugano eingepackt hatte. Sie reichte eines ihrem Vater und nahm sich auch eines. Nach einer halben Stunde stiegen sie wieder auf den Kutschbock.
»Auf geht’s!«, rief ihr Vater und schwenkte die lange Peitsche über den Rücken der Pferde und sie zogen an. Zunächst ging es gemächlich bergab, Felsen begrenzten die Straße. Als die erste steile Kurve den Blick ins Tal eröffnete, deutete ihr Vater auf die Wolken, die den Berg emporkrochen. »Ich habe so etwas befürchtet. Da müssen wir durch.«
Helene seufzte. Von hier oben sahen die Wolken schön aus. Wie wunderbar weiche, weiße Federkissen. Doch wenn man darin steckte, wurden sie zu Nebel. So dicht, dass man kaum die ersten Pferde des Gespanns sah, und so feucht, dass die Nässe schlimmer als Regen die Mäntel durchdrang. Der Gotthard war eine Wetterscheide. Auf der Südseite konnte die Sonne scheinen, während sich auf der Nordseite die Wolken ballten.
»Soll ich führen?«, fragte sie.
»Noch nicht. Wir schauen, wie weit wir kommen.«
Die Sonne begleitete sie bis zur nächsten Kurve, dann schwebten erste Nebelfetzen über der Straße. Kurze Zeit später verblasste das Sonnenlicht, der Nebel verdichtete sich rasch. Ihr Vater nahm die Zügel kürzer. »Hooo, langsam.«
Angestrengt versuchte Helene die Steine zu erkennen, die den Rand der Straße markierten. Sie konnte immer nur bis zum Übernächsten sehen, alles andere verschwand im Grau. Schließlich hielt ihr Vater die Pferde an. »Es ist doch besser, wenn du führst.«
Sie stieg aus, ging nach vorne und nahm den Schimmel Fardi am Zügel. Sie hielt sich bergwärts, weg vom Rand der Straße, der zum Tal lag. Durch den Nebel klang ein Hornsignal. Die Gotthardpostkutsche war auf dem Weg nach oben. Helene legte die Hand an den Mund.
»Hooheoooo!«, rief sie, um dem Postillon zu signalisieren, dass sie ihm entgegenkamen.
»Helene!«, rief ihr Vater. »Da vorne ist die Straße breiter, da warten wir, bis die Post vorbei ist.«
»Ist gut.«
Sie führte die Pferde so nah an die Felswand wie möglich und wiederholte ihren Warnruf. Ein kurzes Hornsignal war die Antwort und dann hörte sie das Klappern von Hufen. Wie eine Geistererscheinung schälten sich die Konturen der Pferde und der Kutsche aus dem Nebel. Auf dem Kutschbock saßen der Postillon und der Kondukteur.
»Grüezi, Franz«, rief der Postillon herüber. »Wie ist das Wetter auf der anderen Seite?«
»Grüezi, Anton. Da scheint die Sonne. Der Nebel geht bis zur Kantonsgrenze. Wie weit runter reicht er?«
»Nicht mehr weit. Unterhalb von Hospental ist wieder klare Sicht.« Der Postillon hob grüßend die Hand und fuhr an ihnen vorbei.
Zwei Kehren weiter lichtete sich der Nebel. Nun hing er in dicken, grauen Wolken über ihnen. Immerhin regnete es nicht.
Neben der Straße floss die Gotthardreuss, noch friedlich, in ihrem Bett. Hier im lieblichen Urserental hatte der Fluss Platz, sich auszubreiten. Sie passierten sattgrüne Weiden, auf denen Kühe weideten oder wiederkäuend im Gras lagen. Hier standen nur wenige Bäume, obwohl das Tal unterhalb der Baumgrenze lag. Einige Gehöfte lagen verstreut im Grün.
Vor ihnen tauchte Andermatt auf, der letzte Ort vor Göschenen. In einer Stunde würden sie zu Hause sein. Sie fuhren am Gehöft der Gotthardpost vorbei und durch den Ort.
Kurz darauf lag die Einfahrt zum Urnerloch vor ihnen, einem Tunnel, der vor über hundertsechzig Jahren mit Schwarzpulver in den Fels gesprengt worden war. Als sie in den dunklen Tunnel einfuhren, duckte sich Helene unwillkürlich, obwohl zwischen ihrem Kopf und der Decke ausreichend Platz war. Das war nicht immer so gewesen. Ihr Großvater hatte noch erzählt, früher sei der Tunnel so niedrig gewesen, dass Reiter absteigen mussten. Erst, als 1830 die Passstraße verbreitert worden war, hatte man auch den Tunnel erweitert. Fast ein Jahr hatte es gedauert, bis das Urnerloch fertiggestellt war, dabei war es nur vierundsechzig Meter lang. Und jetzt wollten sie in nur acht Jahren einen fünfzehn Kilometer langen Tunnel quer durch den Gotthard bohren. Helene erinnerte sich noch gut an den Tag, an dem der Freund ihres Vaters, Urs Gisler, ebenfalls ein Fuhrhalter, wutentbrannt in ihr Haus gekommen war.
»Sie wollen ein Loch in unseren Berg bohren! Einen Tunnel!«, hatte er schon an der Haustür gerufen.
Ihr Vater hatte ihn hereingebeten. »Setz dich und trink einen Chrüter mit mir, Urs.«
Er füllte zwei Gläser mit selbst gebranntem Kräuterschnaps. »Ich dachte, sie wollen durch den Lukmanier«, sagte er, nachdem sie getrunken hatten. »Escher war doch gegen den Gotthard.«
»Er hat seine Meinung geändert. Jetzt gibt es eine Mehrheit für den Gotthard.«
»Und wenn. Noch sind es nur Pläne. Bis sie mit dem Bau anfangen, kann noch viel passieren, und der Gotthard ist nicht so leicht zu bezwingen. Ich glaube erst an den Tunnel, wenn er fertig ist.«
Urs brummte. »Du nimmst das zu leicht. Wenn es einen Tunnel gibt, sind wir arbeitslos.«
»Wir werden sehen. Komm, trink noch einen.«
Doch Urs hatte recht behalten. Die Gotthardbahngesellschaft hatte genug Geld zusammenbekommen. Männer waren gekommen, Ingenieure und Landvermesser. Sie hatten die Stellen bestimmt, von wo der Tunnel gebohrt werden würde. In zehn Jahren sollten Eisenbahnen durch den Tunnel fahren.
Die Pferde beschleunigten ihre Schritte, als das Ende des Urnerlochs in Sicht kam. Auch sie wussten, dass es nun nicht weit bis zum heimischen Stall war, wo Hafer und Heu auf sie warteten.
Der Weg von Andermatt nach Göschenen führte durch die Schöllenenschlucht. Das Wasser der Gotthardreuss, von den Felsen in ein enges Bett gezwängt, stürzte tosend und schäumend durch die Schlucht. Rechts und links hoben sich steile Felswände, die in der Nässe dunkel glänzten. Gischt stieg bis zur Straße, sammelte sich in Tropfen auf dem Fell der Pferde, auf Helenes Haaren und ihrer Jacke. Hinter der nächsten Kurve fuhren sie über die neue Teufelsbrücke. Sie lag höher und war breiter als die alte. Trotzdem schlug Helenes Herz schneller, als sie sie überquerten. So mancher Reisende war hier verunglückt, weil ein Pferd gescheut hatte oder Steinschlag niedergegangen war. Ihre Pferde kannten den Weg, sie trabten gleichmäßig.
Helene sah hinunter in die Schlucht und auf die Überreste der alten Brücke. Jedes Kind in Göschenen und Andermatt kannte die Legende, wie diese Brücke erbaut worden war. Bis ins 13. Jahrhundert war es unmöglich gewesen die Schöllenenschlucht zu durchqueren, denn es gab keinen Übergang über die Reuss. Die Urner beschlossen, eine Brücke zu bauen, doch sie stürzte immer wieder ein.
»Dann soll doch der Teufel diese verfluchte Brücke bauen!«, schrie der Landammann schließlich auf einer Versammlung.
Kaum hatte er zu Ende gesprochen, als der Leibhaftige vor den Bürgern erschien. »Ich baue eure Brücke, wenn ihr mir dafür die erste Seele, welche die Brücke überquert, gebt.«
Die Urner waren einverstanden und nach drei Tagen spannte sich eine kühne Bogenbrücke über den tosenden Abgrund. Der Weg über den Gotthard war frei. Doch wer sollte nun seine Seele opfern?
Ein schlauer Bauer hatte die Idee, einen Ziegenbock über die Brücke zu treiben, und so geschah es. Der Teufel, der sich um seine Belohnung betrogen sah, brüllte vor Zorn. Er lief hinunter in den Wassnerwald. Den größten der dortigen Felsblöcke packte er und schleppte ihn bergauf, um die schöne neue Brücke zu zerschmettern. Doch kurz vor Göschenen begegnete ihm ein altes Mütterchen. Sie erkannte ihn an seinem Pferdehuf und malte ein Kreuz auf den Fels. Der Teufel konnte ihn nun nicht mehr bewegen. Da merkte er, dass mit den Urnern nicht gut Kirschen essen war, und fuhr beschämt zur Hölle. Seither heißt die Brücke in den Schöllenen die Teufelsbrücke und der riesige Stein in den Weiden am Weg unterhalb von Göschenen der Teufelsstein.
Helene warf einen letzten Blick auf die Brücke. Der Teufel hatte die alte Brücke gebaut, die Menschen die neue. Und nun wollten sie durch den Berg. Ob sie es wohl schaffen würden?
Von der letzten Biegung der Straße konnte sie die Stelle sehen, wo der Tunnel beginnen sollte. Dort waren bereits einige Arbeiter, die mit Spitzhacken auf den Fels einhieben.
Ihr Vater blickte ebenfalls in die Richtung und schüttelte den Kopf. Dann spuckte er aus. »Ich glaube, wir brauchen uns keine Gedanken um unser Geschäft zu machen.«
Anna Herger kam aus dem Haus, als sie auf den Hof fuhren.
»Franz, Helene! Gott sei Dank seid ihr zurück. Ich habe mir Sorgen gemacht.« Sie wies auf die Wolken an der Flanke des Bergs.
»Der Nebel war schon übel«, sagte Franz und kletterte vom Kutschbock. »Aber unsere Pferde sind zuverlässig und Helene hat geführt, als der Nebel zu dicht wurde.«
Anna zog die Brauen zusammen, doch sie schwieg. Helene wusste, dass es ihrer Mutter nicht recht war, wenn sie den Vater auf seinen Fahrten begleitete. Doch Helene hatte schon als Kind gern im Stall geholfen oder war mit den Geißenhirten auf die Wiesen oberhalb von Göschenen gezogen, statt im Haus zu bleiben.
Sie kletterte ebenfalls vom Kutschbock und half ihrem Vater, die Pferde abzuschirren.
Er blickte sich suchend um. »Wo steckt Ruedi?«
»Im Trögli«, antwortete Anna. »Er sagte, er würde euch vorbeifahren sehen und dann kommen.«
Ihr Vater runzelte die Stirn. »Was macht der Bengel um diese Zeit im Wirtshaus?«
Helene wandte den Kopf ab, um ihr Lächeln zu verbergen. Ruedi war der Knecht auf dem Hergerhof und im Grunde sehr fleißig. Doch kürzlich hatte er sein Herz an Johanna Sen, die Tochter des Wirts vom Trögli, verloren und verbrachte jede freie Minute dort.
In diesem Moment kam Ruedi durch das Hoftor, außer Atem und mit geröteten Wangen. »Grüezi, Herr Herger. Wie war die Fahrt?«
»Gut. Hilf Helene, die Pferde zu versorgen, und dann laden wir ab.«
Helene führte Fardi in den Stall. Der vertraute Geruch nach Pferden und frischem Heu umfing sie. Schwalben flogen durch das Tor ein und aus, ihre Nester klebten unter der Decke an der Wand. Die vier Pferde in den Boxen wandten die Köpfe, die Fuchsstute Nescha wieherte leise. Ruedi hatte die Boxen für die Pferde vorbereitet, Stroh, Heu und frisches Wasser stand bereit.
Helene klopfte Fardi den Hals. »Jetzt ruh dich aus, du Guter.«
Als Nächstes holte sie Trude, Ruedi hatte derweil die anderen beiden Pferde hereingebracht. Helene lehnte sich an die Wand und genoss die Ruhe im Stall. Außer den leisen Kaugeräuschen der Pferde und dem gelegentlichen Hufestampfen oder Schnauben war es still. An der Tür zum Heuschober saß eine schwarz-weiße Katze und putzte sich.
Schließlich ging Helene ins Haus. Dort roch es nach Braten. Ihre Mutter deckte den großen Tisch in der Küche.
»Ich helfe dir gleich, ich will mich nur rasch umziehen«, rief Helene ihr zu und eilte die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Drei Tage hatte sie die Kleider nicht gewechselt. Ihre Sachen waren schmutzig und rochen nach Pferd und nach Schweiß. Rasch zog sie sich aus und wusch sich. Ihre Haare würde sie später waschen, sie kämmte sie nur aus und flocht einen Zopf.
Gekleidet in eine helle Bluse, Strickjacke und einen gestreiften Rock ging sie in die Küche. Ihr Vater und Ruedi waren noch dabei, die Ware vom Wagen abzuladen.
»Du kannst schon mal Brot schneiden«, sagte ihre Mutter.
Helene holte das Brotmesser und schnitt dicke Scheiben von dem weichen Weizenbrot, das ihre Mutter selbst gebacken hatte.
Kurze Zeit später kamen ihr Vater und Ruedi herein. Ihr Vater hatte sein Hemd ausgezogen und sich draußen an der Pferdetränke gewaschen. Sein dunkles Haar glänzte feucht. Er ging ins Schlafzimmer und holte sich ein frisches Hemd.
»Das riecht gut, was gibt es denn zum Abendessen?«, fragte er, als er in die Küche zurückkehrte.
»Rinderbraten. Ich dachte, ihr seid bestimmt hungrig nach der Reise.«
Anna verteilte Bratenscheiben und Soße auf den Tellern. Sie aßen schweigend. Der Braten war zart, die Soße köstlich.
»Wie war die Fahrt?«, fragte Anna, als Helenes Vater die Soßenreste mit einem Stück Bort aufwischte.
»Gut. Im Süden scheint die Sonne und wir hatten bis zum Hospiz gutes Wetter. Ich habe Wein, Reis, Öl und Tabak mitgebracht. Morgen fahre ich mit Ruedi nach Flüelen.«
Enttäuscht sah Helene ihn an. Sie hatte gehofft, er würde sie mit nach Flüelen nehmen. Sie war bisher dreimal am Vierwaldstättersee gewesen und jedes Mal war sie von dem großartigen Panorama begeistert gewesen. Türkisblaues Wasser, eingebettet in Berge, deren Gipfel sich im See spiegelten. Auch der Ort war entzückend. Es gab wunderschöne Häuser, Villen direkt am See, mondäne Hotels für Reisende.
Ruedi wirkte ebenfalls enttäuscht, es schien, als wäre er lieber hiergeblieben. Vielleicht wegen Johanna.
Er räusperte sich. »Sind wir denn am Freitag wieder zurück?«
Ihr Vater sah ihn an, dann grinst er. »Hat eine gewisse Person übermorgen ihren freien Tag?«
Ruedis Ohren färbten sich rot, er nickte stumm.
»Wir fahren frühmorgens los und sollten gegen Mittag zurück sein. Dann hast du frei.«
Die Röte breitete sich nun auch über Ruedis Wangen aus, er lächelte verlegen.
»Danke, Fuhrhalter.« Er stand auf. »Ich sehe noch mal nach den Pferden.«
»Gib Mirio und Nescha noch etwas Hafer. Wir werden morgen mit ihnen fahren. Dann bist du fertig für heute.«
Ruedi verabschiedete sich und ging.
Anna schüttelte den Kopf. »Du solltest ihn besser nicht ermutigen, Franz. Der Jakob Sen sieht es bestimmt nicht gerne, wenn die Johanna mit dem Ruedi rummacht. Er wünscht sich eine bessere Partie als einen Knecht.«
»Der Ruedi ist ein fleißiger, anständiger Kerl. Der wird nicht ewig Knecht bleiben. Vielleicht mache ich ihn zu meinem Teilhaber.«
Anna presste die Lippen zusammen. »Der Gedanke, die Fuhrhalterei in fremde Hände zu geben, gefällt mir nicht.«
»Aber wir haben niemanden, der sie übernehmen kann.«
»Ich weiß.« Anna stand auf, stellte mit heftigen Bewegungen das Geschirr zusammen und trug es zur Spüle.
»Anna«, sagte Franz leise. »Niemand kann etwas dafür, dass Martin tot ist. Wir müssen uns damit abfinden.«
Sie fuhr herum. »Niemand kann etwas für Martins Tod, aber es ist meine Schuld, dass wir nur einen Sohn hatten.«
»Das habe ich nie gesagt.«
»Gesagt nicht.«
Stumm lauschte Helene dem Gespräch. Ihre Eltern schienen ihre Gegenwart vergessen zu haben. Wollte ihr Vater wirklich Ruedi zum Teilhaber zu machen? Wenn es doch nur erlaubt wäre, dass Frauen ein Geschäft leiteten! Sie, Helene, würde die Fuhrhalterei dann weiterführen. Immerhin begleitete sie ihren Vater oft genug auf seinen Fahrten. Sie wusste, was zu tun war, und rechnen und verhandeln konnte sie auch.
»Wenn Helene den Ruedi heiraten würde, käme das Geschäft nicht in fremde Hände«, sagte ihre Mutter.
Helene fuhr hoch und starrte sie an. »Ich? Den Ruedi heiraten? Nie im Leben.«
»Nein, Anna.« Franz schüttelte den Kopf. »Der Ruedi ist nicht der richtige Mann für unsere Helene.«
»Und warum nicht? Eben hast du ihn noch gelobt. Wenn du ihn schon zu Teilhaber machst, dann sorge auch dafür, dass der Besitz in der Familie bleibt. Oder glaubst du, ich will die Sen Johanna hier auf dem Hof sitzen haben?«
»Ich will Ruedi nicht heiraten!«, rief Helene. »Ich habe überhaupt noch nicht ans Heiraten gedacht.«
»Das solltest du aber«, gab ihre Mutter zurück. »Du wirst nächsten Monat einundzwanzig.«
»Lass das Mädel. Sie wird schon noch heiraten. Der Bissig Johan hat kürzlich zu mir gesagt, er wäre ganz überrascht, wie hübsch Helene geworden ist. Seinem Sohn sei es auch aufgefallen.«
Helene musste an sich halten, um nicht die Augen zu verdrehen. Niemand im Dorf würde sie ernsthaft als hübsch bezeichnen. Sie war bestimmt nicht hässlich, doch sie hatte nicht nur das schwarze Haar ihres Vaters geerbt, sondern auch sein energisches Kinn und die ausgeprägten Wangenknochen. Von ihrer Mutter hatte sie den großen Mund und die mandelförmigen Augen. Alles zusammen ergab kein liebliches Gesicht. Immerhin waren ihre Augen von einem sehr hellen Blau, klar wie Bergkristall.
»Der Anton Bissig wäre eine gute Partie«, fuhr ihr Vater fort. »Oder du nimmst den Gisler Peter. Dann wären die beiden Fuhrhaltereien von Göschenen in einer Hand. Gisler und Herger. Und ihr versteht euch doch gut.«
Jetzt verdrehte sie doch die Augen. Auf was für Ideen ihr Vater nur kam. Sie und der Peter. »Klar verstehen wir uns gut. Wir sind ja wie Geschwister«
Peter Gisler war ihr Freund, seit sie denken konnte. Sie hatten gemeinsam Ziegen gehütet, waren zusammen durch die Berge in der Umgebung gestreift und heimlich in die Schöllenen zur Teufelsbrücke gewandert. Peter liebte den Gotthard genauso wie sie. Er war aus ihrem Leben nicht wegzudenken, aber ihn heiraten? Dazu gehörte mehr als Freundschaft.
»Nun«, sagte ihr Vater. »Es pressiert ja nicht. Noch brauche ich keinen Nachfolger, und wer weiß, wie sich die Geschäfte in den nächsten Jahren entwickeln. Urs behauptet ja, wir werden alle arbeitslos. Was macht übrigens das Loch, gibt es etwas Neues?«
»Nicht viel«, sagte Anna. »Dieser Favre ist in Göschenen. Er ist vorgestern gekommen, zusammen mit einem Herrn Colladon und noch einem Mann. Sie wohnen im Rössli.«
»Will er seine Baustelle besichtigen?« Ihr Vater lachte. »Da gibt es nicht viel zu sehen. Ein paar Leute mit Spitzhacken an der Stelle, an der irgendwann einmal dieses Jahrhundertbauwerk entstehen soll. Wenn sie in diesem Tempo arbeiten, wird es tatsächlich ein Jahrhundert dauern, bis der Tunnel fertig ist.«
»Es heißt, es werden bald sehr viele Arbeiter kommen. Favre möchte Unterkünfte bauen, sagt man, Werkstätten, Wärmehütten für Dynamit und ein Wehr an der Reuss für ein Kraftwerk.«
Franz kratzte sich am Kinn. »Dafür benötigt er viel Material. Und so lange die Bahnstrecke nicht gebaut ist, braucht er jemanden, der ihm das Zeug von Flüelen hier hochbringt. Ich glaube, ich rede mal mit ihm.«
»Der hat doch bestimmt seine Leute dafür«, wandte Anna ein.
Franz wiegte den Kopf. »Ich glaube eher nicht. Die meisten Fuhrhalter in der Umgebung sind nicht gut auf ihn und die Gotthardbahngesellschaft zu sprechen.«
»Aus gutem Grund. Dieser Tunnel wird die Fuhrhalter ruinieren.«
»Noch ist er nicht gebaut.«
»Du glaubst nicht, dass sie ihn bauen können?«, fragte Helene.«
»Nicht in acht Jahren. Für den Tunnel durch den Mont Cenis haben sie vierzehn Jahre gebraucht, und der ist kürzer.« Er stand auf, holte seine Pfeife und stopfte sie.
Helene half ihrer Mutter beim Spülen, doch ihre Gedanken waren beim Tunnel. Die Vorstellung, dass man ein fünfzehn Kilometer langes Loch durch das Gotthardmassiv graben wollte, war gleichermaßen erschreckend und faszinierend. Favre wollte von beiden Seiten, Norden und Süden, mit den Grabungen beginnen. Die beiden Stollen sollten sich dann in der Mitte treffen. Unvorstellbar. Wie sollte das funktionieren?
Helenes Vater war am selben Abend noch zum Rössli gegangen, doch Favre war schon abgereist. Über den Pass nach Airolo, zur Südbaustelle. Doch als Franz und Ruedi am Freitag aus Flüelen zurückkamen, brachten sie Baumaterial mit.
»Einer von Favres Leuten hat mich angesprochen, als er hörte, dass ich aus Göschenen komme«, erzählte Franz. »Er war ziemlich verzweifelt, weil niemand sonst bereit war, etwas mitzunehmen.«
Am Sonntag nach dem Gottesdienst traten wie üblich die Gislers zu Helenes Familie. Urs Frau Marie begrüßte sie höflich, doch Urs’ Miene war ausgesprochen finster.
»Ist das wahr, dass du Baumaterial für die Gotthardbahngesellschaft transportierst?«, fragte er sogleich.
»Ich habe letzte Woche Zeug aus Flüelen mitgenommen«, antwortete Franz. »Besser, als leer zu fahren, und die Gesellschaft zahlt gut.«
Urs runzelte die Stirn, seine blauen Augen blitzen zornig. »Wir Fuhrhalter sollten diesen Bau nicht unterstützen. Es ist unser Ruin. Der Walker Josef aus Wassen sagt das auch. Er schlägt ein Treffen nächsten Samstag vor, um unser Vorgehen zu besprechen.«
»Was stellt er sich vor? Dass wir den Tunnel verhindern können?« Franz hob skeptisch die Augenbrauen.
»Vielleicht nicht verhindern, aber die Fertigstellung verzögern. Dann muss Favre Strafe zahlen, und wer weiß, wenn ihm das Geld ausgeht, dann wird das Loch durch unseren Berg nicht fertig.«
»Das ist kein Thema, das wir jetzt besprechen sollten«, sagte Franz. »Aber kommt heute Abend vorbei, du und Peter, und wir reden darüber.«
Urs und Peter kamen nach dem Abendessen. Helene führte sie in die Stube. Ihr Vater schenkte drei Gläser Heidelbeerschnaps ein, bot Urs Tabak an und stopfte sich ebenfalls eine Pfeife. Der aromatische Rauch füllte die Stube. Helene setzte sich zu den Männern an den Tisch.
»So«, sagte ihr Vater. »Ihr wollt euch also weigern, Material für die Gotthardbahngesellschaft zu transportieren.«
»Richtig. Wenn keiner für Favre fährt, dann kann er sein Material mit Lastenträgern hierherbringen. Oder gar nicht.«
Franz nahm seine Pfeife aus dem Mund und stieß eine Rauchwolke aus. »Ich sag dir was. Wir werden diesen Tunnel nicht verhindern. Die Gesellschaft hat fast zweihundert Millionen Franken bereitgestellt. Wenn wir nicht fahren, werden sie Fuhrhalter aus anderen Kantonen anheuern.«
»Dann sollen sie das tun«, erklärte Urs grimmig.
Peter schüttelte stumm den Kopf.
»Du bist anderer Meinung?«, fragte Franz.
»Ja. Ich sehe es wie du. Der Tunnel wird kommen, ob es uns passt oder nicht.«
»Seit Jahrhunderten bringen unsere Familien Waren über den Berg«, fuhr Urs ihn an. »Niemand kennt den Gotthard so gut wie Franz und ich. Es ist unser Geschäft.«
»Die Zeiten ändern sich, Vater. Die Säumer haben doch ebenso geschimpft, wie du es jetzt tust, als die Passstraße verbreitert wurde und sie nicht mehr das Monopol hatten. Aber es hat ihnen nicht geholfen. Die Hergers und die Gislers haben damals die Zeichen der Zeit erkannt und Fuhrwerke angeschafft. Nur deshalb gibt es unsere Geschäfte noch.«
Urs schnaubte unwillig.
»Der Junge hat recht«, sagte Franz. »Die Zeiten ändern sich. Nur können wir dieses Mal nicht mithalten. In zehn oder zwölf Jahren werden keine Fuhrwerke mehr über den Gotthard fahren. Dann müssen wir sehen, wo wir bleiben.«
Peter beugte sich vor. »Und genau deshalb müssen wir so viel Geld wie möglich verdienen, bevor es so weit ist. Zehn Jahre sind eine lange Zeit.«
Franz’ Lachen klang nicht fröhlich. »Du hast leicht reden, weil du jung bist. Für deinen Vater und mich sind zehn Jahre nicht viel. Es ist bitter, dass unser Lebenswerk vernichtet werden wird.«
»Und wovon willst du dann später leben und eine Familie ernähren, wenn die Eisenbahn deine Arbeit übernimmt, du Grünschnabel?«, brummte Urs.
»Ich weiß es noch nicht. Es wird sich etwas finden. Der Wirt vom Rössli sagt, in den nächsten Jahren können wir alle viel Geld verdienen. Es werden Arbeiter nach Göschenen kommen. Die müssen irgendwo wohnen, die müssen essen. Sie werden hier einkaufen und ins Wirtshaus gehen.«
»So, sagt der Rössli-Wirt das?« Franz zog an der Pfeife. »Allerdings heißt es, dass Favre selber Unterkünfte für seine Arbeiter baut, die werden nicht im Rössli wohnen.«
»Aber das Geld, das sie verdienen, werden sie hier ausgeben. In unseren Läden, in unseren Wirtshäusern.«
»Gut, dann werden also die Ladenbesitzer und die Wirte Geld verdienen«, stellte Franz fest. »Was hilft uns das?«
»Wir sollten für die Gesellschaft fahren. Du hast es selbst gesagt, wir können den Tunnel nicht verhindern. Aber es dauert noch Jahre, bis die Bahnstrecke nach Göschenen fertig ist. Lasst uns diese Zeit nutzen.«
Urs klopfte die Pfeife aus und funkelte seinen Sohn zornig an. »Nicht mit meinen Pferden und Fuhrwerken! Eher verkaufe ich alles, bevor ich auch nur ein Brett für Favre und die Gotthardbahngesellschaft transportiere.«
»Langsam, mein Freund«, sagte Franz. »Warum sollten wir das Geschäft anderen überlassen? Im Gegenteil. Wir sollten mit Favre reden und einen Vertrag mit ihm schließen, der uns das Monopol über den Transport für die Gesellschaft gibt.«
Urs starrte ihn an. »Gemeinsame Sache mit dem Kerl machen? Damit fällst du uns in den Rücken.«
»Urs, denk noch mal drüber nach. Du schadest nur dir selbst.«
»Da gibt es nichts nachzudenken. Ich fahre über den Berg, solange es geht.« Er stand auf. »Wenn du für Fravre fährst, sind wir geschiedene Leute.«
Peter zuckte zusammen. »Vater, das kann nicht dein Ernst sein!«
»Das ist mein voller Ernst! Wir gehen.«
Auch Franz stand auf. »Urs. Unsere Familien sind seit Langem miteinander befreundet, unsere Kinder haben zusammen gespielt. Wir waren nie wirklich Konkurrenten.«
Urs’ Miene war wie versteinert. »Ich habe nichts mehr zu sagen.« Er ging in den Flur, nahm seinen Hut vom Haken und verließ das Haus.
Peter stand sichtlich verlegen in der Stube. »Wir haben uns schon zu Hause deswegen gestritten. Er lässt einfach nicht mit sich reden.«
»Vielleicht braucht er mehr Zeit«, sagte Helene, doch Peter schüttelte den Kopf. »Nein, er ist stur. Er hasst diesen Tunnel. Dabei gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder der Tunnel wird tatsächlich in den nächsten acht Jahren gebaut, wie es vorgesehen ist. Dann will ich in diesen Jahren so viel Geld wie möglich verdienen. Oder Favre und seine Ingenieure scheitern am Gotthard, dann schadet es nicht, wenn ich sein Material transportiere.«
Einige Tage später kehrte Franz von einer Fahrt nach Wassen zurück. Helene half ihm beim Ausschirren der beiden Pferde, während Ruedi die Kisten ablud, als zwei Männer auf den Hof kamen. Einer war groß, weißhaarig, hatte eine Halbglatze und einen Bart, der nur unter seinem Kinn wuchs. Er wirkte sehr würdevoll. Der andere Mann dagegen hatte etwas von einem Waldschrat an sich. Er war untersetzt, hatte dunkles, buschiges Haar, das er wohl mit einem Scheitel zu bändigen versuchte, was aber nur dazu führte, dass es auf einer Seite wild von seinem Kopf abstand. Ein dichter Vollbart verbarg die untere Hälfte seines Gesichts. Ihr Vater begrüßte sie.
Der Kleinere mit den buschigen Haaren ergriff das Wort. »Sind Sie Franz Herger, der Fuhrhalter?« Er sprach singend mit einem deutlichen französischen Akzent.
»Der bin ich.«
»Ich bin Louis Favre und das ist mein Ingenieur und Berater Daniel Colladon. Sie haben im Rössli nach mir gefragt?«
Helene starrte den Mann an. Das war Louis Favre? Auf den Bildern, die sie in der Zeitung von ihm gesehen hatte, hatte man wohl seine Frisur etwas »geschönt«. Außerdem hatte sie sich ihn immer viel größer vorgestellt.
»Das ist richtig«, antwortete ihr Vater. »Ich habe vor ein paar Tagen Baumaterial von Erstfeld hierhertransportiert und man hat mir gesagt, Sie würden Fuhrhalter suchen.«
Favre nickte eifrig. »Das ist richtig. Ich muss bauen. Nicht nur diesen Tunnel, auch Häuser und Werkstätten, und ich finde keine Leute, die das Material dafür nach Göschenen transportieren wollen.«
»Wundert Sie das?«, gab ihr Vater trocken zurück. »Der Tunnel bedeutet das Aus für die Fuhrhalter. Wer wird dann noch Waren über den Pass verfrachten, wenn es bequem durch den Tunnel geht?«
»Aber das ist nun mal der Fortschritt, Monsieur Herger. Dieser Tunnel wird das Tor zum Süden. Nicht nur für die Schweizer, für ganz Europa. Nichts wird den Menschen auf seinen Reisen mehr aufhalten. Kein Wetter, keine Jahreszeiten. Wir werden Großes schaffen! Gewaltiges!«
Begeisterung lag in seiner Stimme, seine Augen strahlten. Plötzlich wirkte er so groß, wie Helene ihn sich vorgestellt hatte. Dieser Mann glaubte an sein Werk und er besaß Charisma und die Fähigkeit, Menschen zu begeistern. Helene wunderte sich nicht, dass er den Zuschlag für den Bau des Tunnels bekommen hatte.
»Wenn Sie für die Compagnie Favre fahren, Monsieur Herger, dann geben vielleicht auch andere Fuhrhalter ihren Widerstand auf.«
Helenes Vater lachte kurz auf. »Darauf sollten Sie nicht hoffen. Wir Fuhrhalter sind stur. Das mussten wir sein, um uns mit dem Berg zu messen. Und noch habe ich nicht gesagt, dass ich für Sie fahre, Monsieur Favre.«
Favre stutzte. »Warum wollten Sie mich dann sprechen?«
Helenes Vater wies auf die Haustür. »Lassen Sie uns drinnen weiterreden.«
Helene überließ es Ruedi, die Pferde in den Stall zu bringen, und folgte ihrem Vater und den beiden Männern ins Haus. Ihre Mutter trat aus der Küche, sie hatte sicher das Gespräch vom Fenster aus verfolgt.
Favre deutete eine Verneigung an. »Guten Tag, Madame. Ich bin erfreut, Sie kennenzulernen.« Dann wandte er sich zu Helene um. »Verzeihung, Mademoiselle, dass ich Sie draußen nicht begrüßt habe. Ich war so begierig darauf, Ihren Vater zu sprechen.«
Helene unterdrückte ein Grinsen. Wahrscheinlich hatte er sie für eine Magd gehalten. »Keine Ursache, Monsieur Favre.«
Sie ging in die Küche und wusch sich die Hände. Ihre Mutter goss gerade Kaffee auf.
»Also macht dein Vater ernst«, sagte sie. »Er will für die Compagnie Favre fahren.«
»Ich denke schon. Aber er hat noch nicht Ja gesagt, vermutlich will er über die Preise verhandeln.«
Helene trocknete sich die Hände ab und ging in die Stube. Favre, Colladon und ihr Vater saßen am Tisch.
»Möchten die Herren einen Kaffee?«, fragte sie.
Favre und Colladon lächelten sie an.
»Sehr gerne«, sagte Colladon.
Helene holte Kaffee und Tassen aus der Küche und kehrte in die Stube zurück.
»Ich biete Ihnen einen Exklusivvertrag«, sagte Favre gerade. »Sie fahren ausschließlich für die Compagnie Favre.«
Ihr Vater runzelte die Stirn. »Wenn ich ausschließlich für Sie fahre, Monsieur Favre, werden meine anderen Kunden verärgert sein.«
»Sie werden keine anderen Kunden brauchen. Mit uns haben Sie auf Jahre genug zu transportieren.«
»Und was?«
»Schienen, Rohre für Leitungen, Baumaterial für Häuser, Werkzeuge, Holz. Hier wachsen nicht genug Bäume für unseren Bedarf.«
»Hm.« Franz fuhr sich mit der Hand über das Kinn. »Wie lange wird es dauern, bis die Bahnstrecke von Flüelen bis zum Tunnel fertig ist?«
Helene nickte. Das war eine gute Frage. Sobald die Schienen gelegt waren, würde alles Material mit der Bahn zur Baustelle transportiert werden.
Favre lachte. »Jahre. Die Bahnstrecke wird wahrscheinlich erst nach dem Tunnel fertiggestellt.«
»Ich soll mich also für mehrere Jahre ausschließlich an Sie binden, um danach keine Arbeit mehr zu haben?«
»Ich zahle Ihnen zehn Prozent mehr als üblich.«
Helenes Vater fixierte ihn. »Das reicht nicht.«
Favre stand auf und ging in der Stube auf und ab. Sein Blick war zu Boden gerichtet, die Brauen zusammengezogen. Man konnte regelrecht sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Schließlich hielt er inne und sah Franz an. »Wie viele Pferde und Fuhrwerke haben Sie?«
»Zehn Pferde, zwei große Fuhrwerke, ein kleines und drei Schlitten.«
»Das ist nicht viel.«
»Mehr, als Sie jetzt haben.«
Colladon ergriff das Wort. »Wir haben sehr viel Material zu transportieren. Mit zwei Fuhrwerken kommen wir nicht weit.«
»Wagen kann man besorgen«, sagte Helenes Vater. »Aber ich habe nur einen Knecht, der fahren kann.«
»Ich kann auch fahren«, warf Helene ein. Favre blickte sie überrascht an, dann lächelte er.
»Ich weiß, Helene«, antwortete ihr Vater. »Aber wir reden hier von mehrmals wöchentlich, nicht wahr, Monsieur Favre?«
»Ja. Kennen Sie denn wirklich niemanden, der sonst noch für uns fahren würde?«
Franz Herger wiegte den Kopf. »Ich rede mit den anderen Fuhrhaltern. Aber die meisten sind nicht gut auf Sie und die Gotthardbahngesellschaft zu sprechen. Machen Sie sich besser keine großen Hoffnungen.«
Favre trat einen Schritt auf Helenes Vater zu. »Und Sie? Werden Sie für mich fahren? Die Zeit drängt. Sonst muss ich Fuhrhalter aus anderen Kantonen hierherholen. Ich fahre morgen früh weiter nach Airolo und bin in drei oder vier Tagen zurück.«
»Ich gebe Ihnen Bescheid, wenn Sie wieder hier sind.«
Enttäuschung zeichnete sich auf Favres Gesicht ab, er hatte wohl auf eine Entscheidung bis zum nächsten Tag gehofft. Doch Franz saß am längeren Hebel, Favre würde in Göschenen und Umgebung keinen anderen Fuhrhalter finden. Die beiden Männer verabschiedeten sich.
Helene blickte ihren Vater an. »Ich dachte, du hättest dich schon entschieden für Favre zu fahren?«
»Ja, aber das muss er doch nicht wissen. Er soll dafür bezahlen, und nicht zu wenig. Morgen treffen sich die Fuhrhalter im Rössli. Ich rede mit ihnen. Vielleicht kann ich doch noch jemanden überzeugen.«
»Du weißt aber gar nicht, wie viel Material tatsächlich kommt.«
»Du hast ja gehört, was er alles bauen will. Und hier gibt es nicht genug Holz dafür, er muss alles heranschaffen. Wenn Ruedi und ich fahren, jeder ein Fuhrwerk, schaffen wir unter Umständen trotzdem nicht alles. Wir brauchen einen Tag für die Fahrt und das auch nur, wenn wir in Flüelen die Pferde wechseln.«
»Was ist mit mir? Ich könnte den Wagen nehmen. Damit kann man Werkzeuge und Kisten transportieren.«
Er lächelte. »Ich weiß, dass du es kannst. Aber deine Mutter wird nicht damit einverstanden sein, dass du drei oder vier Tage in der Woche unterwegs bist.«
Helene seufzte. Natürlich wäre ihre Mutter nicht damit einverstanden.
»Aber wenn ich wirklich keinen Partner finde, kannst du uns schon helfen. Zu einer Fahrt in der Woche dürfte ich sie überreden können.«
Das Treffen mit den Fuhrhaltern am nächsten Abend brachte keinen Erfolg.
»Sie wollen alle nicht«, erzählte ihr Vater, als er zurückkehrte. »Diese verbohrten Narren. Aber gut, dann fahre ich eben allein und zur Not auch jeden Tag. Aber ich werde keinen Exklusivvertrag abschließen. Nicht vor dem Winter. Erst will ich sehen, wie es mit dem Bau vorangeht.«
Am Montag kehrte Favre aus Airolo zurück und kam am selben Abend auf den Hergerhof. Kopfschüttelnd hörte er, was Franz von dem Treffen mit den Fuhrhaltern berichtete.
»Sie glauben, sie können den Tunnel verhindern? Er wird gebaut werden, auch ohne sie.«
In der Woche darauf fuhren Franz, Ruedi und Helene zum ersten Mal für Favre nach Flüelen. Colladon hatte einen Gehilfen vorbeigeschickt: Zwei Waggons Material warteten am Hafen auf Abholung. Es war ein trüber Tag. In der Nacht waren Wolken ins Tal gezogen, sie waren so dicht, dass sie den Blick auf das Riental und die Schöllenen versperrten. Als sie losfuhren, begann es zu nieseln. Wie kalte Nadeln trafen die feinen Tropfen Helenes Gesicht, sie schlug den Kragen ihrer Jacke hoch und senkte den Kopf. Die Reuss floss graugrün in ihrem Bett, als hätten die dunklen Wolken ihr die Farbe geraubt. Helene fuhr mit ihrem Wagen hinter ihrem Vater her, Ruedi folgte ihr. Die Fuhrhalterei der Gislers lag hinter dem Teufelsstein an der Straße nach Wassen. In dem Moment, als Helenes Vater am Tor vorbeifuhr, wurde es von Urs’ jüngerem Sohn Karl geöffnet und Urs Gisler schickte sich an, sein Fuhrwerk hinauszulenken. Als er die Herger’schen Fuhrwerke sah, zügelte er seine Pferde.
»Grüezi, Urs«, rief Helenes Vater ihm zu. »Musst du auch nach Norden?«
Urs zog den Hut tiefer in die Stirn und antwortete nicht. Mit finsterer Miene ließ er die drei Wagen passieren. Helene nickte Karl zu, der ihr Lächeln verstohlen erwiderte.
Urs lenkte sein Fuhrwerk hinter Ruedi auf die Straße. Er fuhr also auch nach Norden.
Als sie Wassen erreichten, waren Helenes Hände eiskalt und sie verfluchte sich, dass sie keine Handschuhe mitgenommen hatte. Es war zwar Sommer, doch nasse Hände und kühler Wind waren keine gute Kombination. Allerdings hingen die Wolken hier schon nicht mehr so tief. Vielleicht würde es bald aufhören zu nieseln. Bei Gurtnellen ließ der Regen dann nach. Helene rieb die Hände an ihrem Rock trocken.
Kurz vor Erstfeld bog Urs ab und trieb seine Pferde zu einem scharfen Trab. Helene schüttelte den Kopf. Wenn Urs es wirklich so eilig gehabt hatte, hätte er einfach fragen können, ob er vorneweg fahren könnte.
Am Hafen in Flüelen warteten zwei versiegelte Waggons auf sie. Ein Schild wies sie als Eigentum der Compagnie Louis Favre aus.
Helenes Vater schob die Tür des ersten Waggons auf. Darin lagerten mehrere Kisten, lange Stangen, die aussahen wie übergroße Meißel, Schläuche und Räder aus Metall. Im zweiten befanden sich Baumaterialien. Franz Herger presste die Lippen zusammen. »Das schaffen wir niemals mit nur einer Fahrt.«
Zusammen mit Ruedi lud er die Kisten auf Helenes Wagen. »Du kannst schon mal losfahren«, sagte er. Helene nickte und schnalzte mit der Peitsche. Loris und Jöri zogen an.
Mehr als fünf Stunden dauerte die Fahrt zurück. Helene hing ihren Gedanken nach, die Pferde kannten den Weg, sie wussten, dass am Ende Stall und Futter auf sie wartete, es war nicht nötig, sie anzutreiben. In Göschenen fuhr sie zunächst zur Baustelle. Aus einer der neuen Bretterbuden kam ein hochgewachsener Mann mit strengem Gesicht, schwarzem Haar und ebenso dunklem Bart heraus und sah sie verwirrt an. »Madame?«
»Grüß Gott. Ich komme von der Fuhrhalterei Herger und bringe Material.« Sie wies auf die Ladefläche des Wagens.
Der Mann ging um den Wagen herum. »Nur das? Wir erwarten viel mehr.«
»Mein Vater und sein Knecht kommen noch mit zwei Fuhrwerken.«
»Nur zwei Fuhrwerke. Damit werden sie nicht alles transportieren können«, sagte der Mann.
»Wahrscheinlich nicht. Mein Vater sagte, dass er dann morgen noch mal fährt.«
Der Mann nickte. »Das ist gut. Aber auf die Dauer brauchen wir mehr Wagen. Ich bin übrigens Ernest von Stockalper, Ingenieur.«
»Helene Herger.«
Er lächelte sie an, dann winkte er zwei Arbeitern, »Salvatore, Stefano, kommt abladen.«
Die beiden Männer legten ihre Werkzeuge weg und kamen zum Wagen. Als sie Helene erblickten, hellten sich ihre Mienen auf, sie zogen die Hüte.
»Buona sera, Signorina«, sagte der Jüngere der beiden und strahlte sie an. Unwillkürlich erwiderte sie sein Lächeln, woraufhin ein Schwall italienischer Worte aus ihm hervorsprudelte, von denen sie kein einziges verstand.
»Nicht quatschen, sondern arbeiten!«, fuhr Stockalper unwirsch dazwischen. »Lavoro, capito?«
Der Italiener nickte. »Si, si, Signore.«
Doch als Stockalper sich abwandte, verdrehte der Italiener die Augen und bedachte Helene mit einem verschwörerischen Lächeln.
»Wir müssen morgen noch mal los«, verkündete Franz beim Abendessen. »Colladon war am Bahnhof und hat gesagt, dass sie dringend die Maschinenteile aus Flüelen an der Baustelle brauchen, Favre will ein Kraftwerk in der Reuss installieren.«
»Ein Kraftwerk?«, fragte Helene. »Wozu?«
»Wohl, um Druckluft für irgendwelche Bohrmaschinen zu erzeugen. Er will außerdem ein Kompressorhaus bauen und mehrere Wohnhäuser für die Arbeiter.«
»Da hat er aber viel vor«, sagte ihre Mutter. »Gleich mehrere Wohnhäuser? Wie viele Arbeiter will er denn einstellen?«
»Sehr viele anscheinend. Der Ingenieur an der Baustelle sagte etwas von Wohnungen für dreihundert Leute.«
»Dreihundert!« Anna riss die Augen auf. »Du liebe Güte. Das sind ja fast so viele, wie Göschenen Einwohner hat. Und die sollen hier alle wohnen und essen?«
Helene lachte. »Die Bissigs werden sich freuen. Das bringt viel Geld in ihren Laden.« Der Familie Bissig gehörte der Gemischtwarenhandel auf der anderen Seite der Reuss.
»Aber solltest du morgen nicht auch eine Lieferung für das St. Gotthard Hotel nach Hospental bringen?«
»Das mache ich dann übermorgen.«
Ruedi schüttelte den Kopf, sagte aber nichts. Helene wusste, was er dachte. Ihr Vater würde seine Stammkunden verärgern, wenn er nicht mehr zuverlässig lieferte. Sie blickte ihren Vater an. »Soll ich nach Hospental fahren?«
Er presste die Lippen zusammen, doch dann nickte er. »Ja, das würde helfen.«
»Helene ist doch kein Fuhrknecht«, empörte sich ihre Mutter. »Ich will nicht, dass sie allein durch die Schöllenen fährt. Es ist gefährlich.«
»Ich kann das«, erwiderte Helene rasch. »Vater hat mich die Strecke schon fahren lassen.«
»Das ist etwas anderes, als alleine zu fahren.«
»Was soll schon passieren, Anna?«, fragte ihr Vater. »Helene kann fahren. Sie soll den Utz und den Bero nehmen, die kennen jede einzelne Kurve auf der Strecke.«
Helene lächelte. Utz und Bero waren die ältesten Pferde im Stall. Erfahrene Tiere, die den Gotthard schon oft überquert hatten und durch nichts aus der Ruhe zu bringen waren.
Ihre Mutter wusste, wann sie nachgeben musste. »Aber nur, wenn, das Wetter gut ist.«
Das Wetter konnte sehr schnell wechseln und das wusste ihre Mutter auch. Regen machte Helene nichts aus und den Pferden auch nicht. Selbst vor Gewittern fürchteten sich die Pferde nicht, Helene dagegen schon. Am schlimmsten war Hagel. Vor Hagel hatten alle Pferde Angst. Aber ob es Gewitter mit Hagelschauern geben würde, konnte man schon an den Wolken sehen.
Es war leicht bewölkt, als Helene nach dem Frühstück nach draußen ging, und ein frischer Wind blies ihr ins Gesicht. Von der Rientallücke krochen Wolken den Berg hinab, doch sie zogen nicht nach rechts in die Schöllenen, sondern bewegten sich auf Göschenen zu.
Ruedi hatte Utz bereits aus dem Stall geholt und geputzt, das Pferd stand dösend vor der Scheune. Helene klopfte ihm den Hals. »Guten Morgen, du Guter.«
Utz schnoberte an ihrem Rock, auf der Suche nach etwas zu fressen. Lachend gab Helene ihm den schrumpeligen Apfel, den sie in der Tasche ihre Rocks versteckt hatte. Ruedi kam mit Bero aus dem Stall. Bero war auch mit zwanzig Jahren immer noch ein schönes Pferd. Sein Fell war schwarz wie Rabengefieder und seine Mähne und sein Schweif lang und seidig.
»Ich putze ihn«, bot Helene an. »Dann kannst du dich um die anderen Pferde kümmern.«
Ruedi nickte, band das Pferd an und verschwand wieder im Stall. Helene holte Striegel und Bürste von der Bank, gab auch Bero einen Apfel und putzte ihn. Anschließend kratzte sie die Hufe aus und kontrollierte auch noch mal die Hufe von Utz.
Währenddessen hatten Ruedi und ihr Vater die anderen vier Pferde herausgebracht und striegelten sie.
»Ich bin fertig«, sagte Helene.
Ihr Vater lächelte ihr zu. »Gut, ich helfe dir beim Anschirren.«
Als sie schließlich auf den Kutschbock kletterte, war ihr trotzdem etwas mulmig. Selbst wenn sie und die Pferde den Weg gut kannten, sie war ihn noch nie allein gefahren. Zwar waren die Kurven der Straße in der Schöllenen nicht enger als auf dem Göscheneralpweg, aber der Weg zur Göscheneralp führte durch ein liebliches, weites Tal, ganz anders als die schroffen dunklen Wände der Schöllenen.
Helene schnalzte mit der Peitsche und die Pferde zogen an. Sie fuhr durchs Hoftor, dann nach links durchs Unterdorf, bis sie die Gotthardstraße erreichte. Vor dem Hotel »Zum weissen Rössli« standen einige Männer, die sie noch nie gesehen hatte, und schienen irgendetwas heftig zu diskutieren. Auf der rechten Straßenseite kurz hinter der Brücke befand sich der Laden der Bissigs. Johan Bissig und sein Sohn Anton stellten einen langen Tisch vor dem Laden auf die Straße. Antons Großmutter Elfriede stand mit in die Hüften gestemmten Händen daneben und wirkte sichtlich unzufrieden.
»Auf der Straße verkaufen«, murrte sie. »Wie bei den Südländern. Und wer passt auf, dass sich die Leute nicht einfach selbst bedienen? Man weiß doch nie, bei diesen Fremden!«
»Na, du passt auf«, antwortete Johan ihr.
Helene kicherte. Elfriede Bissig machte ihrem Familiennamen alle Ehre. Niemand würde es wagen, zu klauen, wenn sie draußen stand.
»Grüezi, Helene«, rief Anton ihr zu. »Wohin fährst du denn?«
»Hoch nach Hospental. Wein, Mehl und Kartoffeln zum Gasthaus St. Gotthard bringen.«
Anton runzelte die Stirn. »Allein?«
Helene nickte. »Der Vater und Ruedi müssen nach Flüelen, Baumaterial für Favre holen.«
»Ts«, machte Elfriede. »Schickt der jetzt seine Tochter allein los? Der sollte lieber mal dafür sorgen, dass sie unter die Haube kommt.«
»Großmutter!« Anton schüttelte den Kopf, dann lächelte er Helene an. »Pass gut auf dich auf.«
»Mach ich. Grüß Paula von mir.«
Mit Antons Schwester Paula war sie schon seit Kindertagen befreundet. Paula war ebenfalls einundzwanzig Jahre alt, und sehr zum Missfallen ihrer Großmutter hatte sie kürzlich den Heiratsantrag eines Burschen aus Göschenen abgelehnt. Es war nicht so, dass sie nicht heiraten wollte, sie wollte nur keinen Mann von hier. Paula träumte davon, die Enge des Dorfes zu verlassen und irgendwo in einer Stadt zu leben.
Helene fuhr weiter die Gotthardstraße hinauf, vorbei am Haus des Gemeindepräsidentem von Göschenen, Carl Arnold.
Kurz bevor sie die Häderlisbrücke erreichte, kamen ihr drei Männer entgegen. Sie waren dunkelhaarig, zwei von ihnen hatten lange Schnauzbärte, deren Enden über ihre Mundwinkel herabhingen, der dritte einen grau melierten Vollbart. Alle trugen Lederhüte, Hosen aus groben Stoff und Halstücher.
Der mit dem Vollbart zog den Hut. »Guten Morgen, Signorina. Können Sie uns sagen, wo Signor Favres Baustelle ist?« Sein Deutsch hatte einen starken italienischen Akzent. Dann waren es wohl Bergarbeiter aus dem Tessin oder noch weiter südlich, die über den Pass gekommen waren, um am Tunnel zu arbeiten.
Helene wies auf die Stelle unterhalb der Straße, wo Giacomo Battista und seine Männer einen kleinen Stollen in den Berg getrieben hatten. Mittlerweile lagerten dort auch Bretter und andere Baumaterialien. Ein schmaler Weg führte von der Gotthardstraße direkt zur Baustelle.
»Da unten.«
»Grazie mille, Signorina.«
Die drei gingen weiter.
Helene lenkte die Pferde über die Häderlisbrücke. Die Reuss floss jetzt links von ihr. Hier irgendwo wollte Favre sein Kraftwerk bauen. Der Weg stieg nun steiler an, die Felswände rückten näher. Aus dem Gras neben dem Weg reckte blauviolettes Knabenkraut seine Blüten dem Licht entgegen, zwischen den Felsen oberhalb des Weges setzten Wildrosen rosa und weiße Farbtupfer zwischen die dunkelgrünen Krüppelkiefern. Die Felsen wurde schroffer, der Weg schmaler. Kleine Wasserfälle fielen wie Schleier über die Felsen und vereinigten sich mit der Reuss. Rechts vom Weg erhoben sich jetzt unmittelbar die dunklen Granitwände, links klaffte der Abgrund, in dessen Tiefe die Reuss toste und feuchte Schleier warf. Einzelne Wolken verhüllten die Gipfel. Die schroffen, hohen Felswände schlossen die Sonne aus. Ein Schauer lief über Helenes Rücken. So oft war sie schon in der Schöllenen gewesen, doch jedes Mal überwältigte sie der Anblick.
Sie trieb die Pferde an, hier gab es oft Steinschlag. Sie überquerte die Teufelsbrücke. Kurze Zeit später erreichte sie Andermatt. Damit hatte sie das schwierigste Stück Weg hinter sich. Mittlerweile war die Sonne durch die Wolken gebrochen und tauchte das Urserental in liebliches Licht. Hier wuchsen keine Bäume. Rechts und links des Weges lagen saftig grüne Weiden, auf denen hellbraune Kühe grasten. Löwenzahn, Margeriten, Hahnenfuß, Knöterich, Schafgarbe und Glockenblumen setzten gelbe, weiße, rosa und violette Farbtupfer ins satte Grün. Neben dem Weg floß die Reuss, nun klein und friedlich, in ihrem Bach. Auch den beiden Pferden schien es hier besser zu gefallen, sie schritten munter aus und es dauerte keine halbe Stunde, bis der Langobardenturm, das Wahrzeichen von Hospental in Sicht kam.
Der Inhaber des Hotels, Josef Müller, trat aus der Haustür, als sie die Pferde zügelte. Sein Blick glitt über ihre Gestalt auf den Kutschbock, dann zog er verblüfft die Augenbrauen hoch.
»Grüezi, Fräulein Herger. Ist alles in Ordnung mit dem Vater und Ruedi?«
»Grüezi. Ja, die beiden mussten heute noch einmal nach Flüelen, deshalb bringe ich Ihnen die Ware.« Sie deutete auf den Wagen hinter sich. »Zwei Fässer Wein, einen Sack Kartoffeln und eine Kiste Kaffee.«
»Na, dann hole ich mal den Andreas zum Abladen.«
Helene zog die Bremse und kletterte vom Kutschbock. Während Josef und Andreas den Wagen abluden, sah sie nach den Pferden und gab jedem einen verschrumpelten Apfel aus der Tasche ihres Rocks. Josef Müller überreichte ihr das Geld für den Transport. »Grüß deine Eltern von mir.«
»Mach ich. Ade.«
Sie löste die Bremse, führte die Pferde zum Brunnen und ließ sie trinken. Anschließend wendete sie den Wagen und machte sich auf den Heimweg.
Ihr Vater und Ruedi kehrten erst mit Einbruch der Dämmerung zurück. Helene lief hinaus und half ihnen, die Pferde abzuschirren und zu tränken. Ruedi schlurfte müde in den Stall, um Heu und ein wenig Hafer in den Krippen zu verteilen. Franz wusch sich an der Tränke den Staub aus dem Gesicht, dann führten Helene und er die Tiere in den Stall. Das Gesicht ihres Vaters war grau vor Erschöpfung, unter seinen Augen lagen tiefe Schatten. Nachdem die Pferde versorgt waren, setzten sie sich an den Tisch und schlangen ihr Essen hinunter. Ruedi ging danach sofort ins Bett, Franz setzte sich in seinen Sessel und zündete seine Pfeife an. Doch nach zwei Zügen fielen ihm die Augen zu, die Pfeife entglitt seiner Hand. Anna hob sie auf und stellte sie in ihren Ständer, dann holte sie eine Decke und breitete sie über ihm aus. Helene warf einen Blick auf die Uhr, die auf dem Schrank stand. Es war neun Uhr abends.
»Vater, du schaffst das nicht allein«, sagte Helene zwei Wochen später beim Frühstück. Ihr Vater und Ruedi waren in den letzten Wochen jeden Tag, außer an den Sonntagen, nach Flüelen und zurück gefahren. Beide Männer wirkten völlig erschöpft. Ihr Vater schlief jeden Abend nach dem Essen ein. Ruedi ging zwar noch ins Trögli, aber nicht so oft, wie er gerne wollte, und er war ausgesprochen unleidlich.
Helene fuhr fort. »Du vernachlässigst deine Stammkunden, weil du jeden Tag für Favre fährst. Dann hättest du gleich einen Exklusivvertrag abschließen können. Du brauchst Hilfe.«
»Und woher soll ich die nehmen?«, gab er ungeduldig zurück.«
»Vielleicht kann ja der Peter einige Fahrten übernehmen.«
»Das lässt sein Vater niemals zu. Und ich will nicht der Grund sein, dass die beiden sich streiten.«
»Ich meine ja gar nicht, dass er für Favre fahren soll, sondern dass er einige deiner Stammkunden anfährt. Dagegen sollte sein Vater nichts haben, oder?«
»Ich frage ihn bei Gelegenheit.«
Am nächsten Morgen schmierte Helene Stullen für Ruedi und ihren Vater, sie würden heute wieder den ganzen Tag unterwegs sein.
»Vielleicht kannst du mit Peter reden«, sagte ihre Mutter. »Ich fürchte, dein Vater wird es nicht tun.«
»Ich gehe nachher zu Gislers und schaue, ob ich ihn antreffe.«
Sie brachte die Vesperpakete hinaus und wartete, bis die beiden Fuhrwerke losgefahren waren. Dann machte sie sich auf den Weg. Wenn sie Glück hatte, war Urs unterwegs und Peter zu Hause. Vor dem Gebäude neben dem Rössli standen Louis Favre, Peter Imhof, der Besitzer des Hauses, und ein Mann, den sie nicht kannte. Als sie vorbeiging, zog Favre den Hut.
»Guten Morgen, Mademoiselle. Ich habe gerade Ihren Vater gesehen.«
Helene lächelte in die Runde »Grüezi mitteinand. Ja, der Vater fährt wieder nach Flüelen, Material holen.«