Die Sehnsucht der Albatrosse - Karin Seemayer - E-Book

Die Sehnsucht der Albatrosse E-Book

Karin Seemayer

3,0

Beschreibung

Zwischen uns das Meer.

San Francisco, 1904: Sarah ist ein gefeierter Opernstar, doch als sie ihre Stimme verliert, scheint ihre Karriere beendet. Um wieder zu sich zu finden, beschließt sie nach Hawaii zu reisen. Während eines Sturms passiert das Unvorstellbare: Ihr Schiff sinkt. In letzter Sekunde gelingt Sarah die Rettung, sie wird von einem Segelschiff aufgenommen, das auf dem Weg ins Eismeer ist, um dort Robben zu jagen. Plötzlich muss sich Sarah in der rauen Männerwelt, die auf dem Schiff herrscht, behaupten. Doch als sie glaubt, ihre Rolle gefunden zu haben, stößt sie auf ein Geheimnis aus der Vergangenheit …

Eine Frau, die nur für die Musik lebt. Ein Mann, der ohne das Meer nicht leben kann. Und eine Reise, auf der beide an ihre Grenzen kommen.

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Über Karin Seemayer

Karin Seemayer wurde 1959 in Reutlingen geboren, lebte von 1960 bis 1993 in Frankfurt und seitdem in Eppstein im Taunus. Mit Anfang zwanzig packte sie das Fernweh. Sie machte eine Ausbildung zur Reiseverkehrskauffrau und war die nächsten Jahre beruflich und privat viel unterwegs. Viele ihrer Romanideen sind auf diesen Reisen entstanden. Die Umsetzung der Ideen musste jedoch warten, bis ihre drei Kinder erwachsen waren.

Informationen zum Buch

Zwischen uns das Meer

San Francisco, 1904: Sarah ist ein gefeierter Opernstar, doch als sie ihre Stimme verliert, scheint ihre Karriere beendet. Um wieder zu sich zu finden, beschließt sie nach Hawaii zu reisen. In einer stürmischen Nacht passiert das Unvorstellbare: Ihr Schiff sinkt. In letzter Sekunde gelingt Sarah die Rettung, sie wird von einem Segelschiff aufgenommen, das auf dem Weg ins Eismeer ist, um dort Robben zu jagen. Plötzlich muss sich Sarah in der rauen Männerwelt, die auf dem Schiff herrscht, behaupten. Doch als sie glaubt, ihre Rolle gefunden zu haben, stößt sie auf ein dunkles Geheimnis …

Eine Frau, die nur für die Musik lebt. Ein Mann, der ohne das Meer nicht leben kann. Und eine Reise, auf der beide an ihre Grenzen kommen.

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Karin Seemayer

Die Sehnsucht der Albatrosse

Historischer Roman

Inhaltsübersicht

Über Karin Seemayer

Informationen zum Buch

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PrologSan Francisco, Januar 1904

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

Epilog

Glossar

Historischer Hintergrund

Danksagung

Impressum

Der Albatros hat nur einen Partner, sein Leben lang.

Mit diesem fliegt er nicht über die Meere, er fliegt allein.

Doch alle zwei Jahre trifft sich das Paar.

Immer am gleichen Ort, zur gleichen Zeit.

PrologSan Francisco, Januar 1904

Du willst also tatsächlich diese unmögliche Reise machen?«

»Aber natürlich.« Sarah strich sich ein paar widerspenstige Locken aus dem Gesicht und schenkte Kaffee nach. Das war also der Grund für den überraschenden Besuch ihrer Mutter. Sie wollte ihr noch einmal ins Gewissen reden.

»Und was ist mit deiner Tochter? Du kannst sie doch nicht einfach allein lassen.« Elizabeths Stimme bebte vor Empörung.

»Mutter, bitte. Anne ist achtzehn Jahre alt, und sie ist nicht allein. Sie wird bei Tante Mary wohnen, solange ich nicht da bin. Eigentlich müsste dir das recht sein.«

Immerhin entsprach das Familienleben ihrer jüngeren Schwester sehr viel mehr den Vorstellungen ihrer Mutter als ihr eigenes.

Elizabeth zupfte an einer Haarsträhne, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatte. »Warum nimmst du sie nicht mit?«

Sarah seufzte leise und tauschte einen Blick mit ihrer Tochter. Um Annes Mundwinkel zuckte es, als müsse sie ein Lachen unterdrücken. »Ich kann jetzt nicht fort, Großmutter, ich bin im letzten Schuljahr.«

Unwillig schüttelte Elizabeth den Kopf. »Trotzdem. Es gehört sich einfach nicht. Noch nicht einmal dein Dienstmädchen nimmst du mit. Was sollen denn die Leute sagen, wenn herauskommt, dass du allein reist?«

»Lass sie reden«, entgegnete Sarah ungehalten. Es war typisch für ihre Mutter, dass sie vor allem daran interessiert war, was die Leute sagten. Der Schein musste gewahrt bleiben. So war es schon immer gewesen. Sie hatte nicht einmal danach gefragt, warum sie fortwollte. Wahrscheinlich hielt sie diese Reise nur für eine weitere exzentrische Laune ihrer ungeratenen Tochter.

»Aber Kind! Du musst doch an deinen Ruf denken.«

Sarah stellte ihre Tasse so heftig ab, dass der Kaffee überschwappte. »Ich bin kein Kind mehr. Hör bitte auf, mich wie einen störrischen Backfisch zu behandeln. Ich werde fahren, egal was die Leute denken. Ich brauche Ruhe.«

»Damit du dich anschließend wieder halb entblößt auf irgendwelchen Bühnen herumtreiben kannst!«

Anne wandte sich ab und prustete in ihre vorgehaltene Hand, Sarah dagegen fand es überhaupt nicht komisch. »Ich zeige mich nicht ›halb entblößt‹! Die Grand Opera ist schließlich kein Varieté!«

»Schrei mich bitte nicht an! Bei deinem letzten Auftritt hast du eine Prostituierte gespielt, und dein Kleid war sehr tief ausgeschnitten.«

»Vai a farti benedire!«, entfuhr es Sarah. »Das war die Violetta aus La Traviata, Himmel noch mal! Das ist eine Traumrolle.«

Und vielleicht meine letzte.

Unwillkürlich glitt ihr Blick zu der Zeitung, die auf einem Beistelltisch lag. Der San Francisco Call kündigte auf der ersten Seite an, in der Rubrik »With The Players And The Music Folk« das Geheimnis um den überraschenden Rückzug der gefeierten Opernsängerin Emilia Rossi von der Bühne zu enthüllen.

Emilia Rossi alias Sarah Tanner.

Der Autor des Artikels erging sich in wilden Mutmaßungen. Von einer unglücklichen Liebe war die Rede und von der Rivalität zwischen den beiden Diven des Grand Opera House. Nichts davon entsprach der Wahrheit, und trotzdem, oder gerade deswegen, hatte dieser Text sie darin bestärkt, San Francisco eine Zeitlang den Rücken zu kehren. Sie floh. Vor den Nachstellungen der Reporter, vor dem Drängen des Direktors der Grand Opera, vor den bohrenden Fragen ihrer Kollegen.

Vielleicht floh sie auch vor sich selbst.

»Ich verstehe dich nicht.« Elizabeth seufzte. »Warum ist dir diese Singerei nur so wichtig? Du hast es doch gar nicht nötig, dich auf die Bühne zu stellen.«

Sarah schloss die Augen. Für einen Moment zog ihr Leben an ihr vorbei, wie es ohne Musik aussehen würde. Angefüllt mit Handarbeiten, Kaffeekränzchen, Wohltätigkeitsveranstaltungen und Lesezirkeln. Ein Leben, wie ihre Mutter es führte. Sie dagegen wollte mehr. Seit sie denken konnte, war sie auf der Suche nach ›mehr‹ gewesen. In der Musik hatte sie etwas davon gefunden. Wenn sie sang, vergaß sie alles um sie herum, vergaß sie sich selbst. Sie legte ihre Seele in ihre Stimme und fühlte sich lebendig. Und frei.

»Du hörst mir gar nicht zu.«

Der pikierte Tonfall ihrer Mutter riss sie aus ihren Gedanken.

»Verzeihung, was hast du gesagt?«

»Ich habe kürzlich Mr. Henderson getroffen. Er hat sich ausführlich nach dir erkundigt.«

Sarah suchte in ihrer Erinnerung nach einem Bild zu dem Namen. Ihr Gedächtnis war hervorragend, was Musik anging. Sie erkannte jede Melodie wieder, die sie einmal gehört hatte. Dagegen konnte sie sich Gesichter nur schwer merken. »Wer ist Mr. Henderson?«

»Aber Sarah! Der Bruder meiner Freundin Ruth.«

»Ach herrje!« Jetzt hatte sie ein Bild. Ein korpulenter älterer Herr, dessen auffallendstes Merkmal ein riesiger gezwirbelter Schnurrbart war. Reich war er, eine gute Partie, wie ihre Mutter sagte.

»Er würde dir gerne seine Aufwartung machen«, erklärte Elizabeth.

»Nein!« Sarah schüttelte so heftig den Kopf, dass die Locken um ihr Gesicht flogen. Seit dem Tod ihres Mannes vor zehn Jahren wehrte sie sich erfolgreich gegen die Versuche ihrer Mutter, sie wieder unter die Haube zu bringen. »Auf keinen Fall.«

»Was hast du gegen ihn?«

»Nichts, abgesehen davon, dass du mich mit ihm verkuppeln willst.«

»Aber warum willst du denn nicht wieder heiraten? Du bist doch noch ganz ansehnlich.«

Anne lachte laut auf. »Ganz ansehnlich ist gut, Großmutter. Die Männer stehen Schlange vor ihrer Garderobe.«

»Im Theater!« Elizabeth schürzte abschätzig die Lippen. »Und? Hat sie schon von irgendeinem dieser Herren einen Heiratsantrag bekommen?«

Sarahs Geduld war nun endgültig erschöpft. »Hör zu, Mutter: Ich werde nicht wieder heiraten. Weder einen ›dieser Herren‹ noch Mr. Henderson. Mein Leben gefällt mir sehr gut, so wie es ist.«

»Dir mag es gefallen«, versetzte Elizabeth. »Aber was ist mit Anne? Du solltest zumindest Rücksicht auf deine Tochter nehmen. Immerhin wird es für sie auch langsam Zeit, sich nach einem Ehemann umzusehen. Und so wie du dich benimmst …«

»Halte Anne da raus!« Sarahs Stimme wurde schrill und kippte. Sie atmete tief durch. Schreien war Gift für ihre Stimmbänder. Ruhiger fuhr sie fort: »Meine Tochter wird nicht mit achtzehn Jahren an eine sogenannte gute Partie verschachert.«

Nicht so wie ich.

1. Kapitel

Am Hafen ließ Peer seine beiden Begleiter vorangehen und schlug den Kragen hoch. Der Wind fühlte sich hier noch kälter an als in der Stadt. Seit gestern regnete es, jetzt mischten sich erste Schneeflocken unter die Tropfen. Er sah sich um. Mindestens dreißig Schiffe lagen hier. Wahre Schmuckstücke neben Seelenverkäufern, die aussahen, als würden sie beim ersten Sturm auseinanderbrechen. Das also war die Robbenfängerflotte von Victoria.

Alex drehte sich zu ihm um. »Was für ein Mistwetter«, brummte er. »Ich muss verrückt gewesen sein, mich hierauf einzulassen. Wir hätten uns ein Schiff in Richtung Südsee suchen sollen.«

»Aber auf einem Robbenfänger verdienst du mehr als auf einem Schiff, das Tropenholz transportiert«, gab Emil, ihr Führer, zurück.

»Hoffentlich.« Zweifel klang aus Alex’ Stimme.

Peer lächelte. »Wenn er das sagt, kannst du es glauben.«

Peer kannte Emil schon seit seiner Kindheit, sie kamen aus demselben Dorf in Westschweden. Alles, was er über Navigation wusste, hatte Emil ihm beigebracht.

Endlich blieb Emil stehen und deutete auf ein Schiff. »Da ist sie. Das ist die Victory.«

Peer hielt die Luft an. Vor ihm lag der schönste Schoner, den er je gesehen hatte, und er hatte mit seinen fast vierunddreißig Jahren einige gesehen. Die Victory war ein Toppsegelschoner, schlank und schnittig, mit niedrigen Deckaufbauten, ganz auf Schnelligkeit gebaut.

Langsam schritt er die Mauer entlang, ließ den Blick über das Schiff gleiten. Wie schnell sie wohl war?

»Peer, du starrst sie an, als wäre sie eine Frau. Lass uns zurückgehen, den verdammten Vertrag unterzeichnen und etwas trinken.«

Er ignorierte Alex’ Murren und wandte sich an Emil. »Wer hat sie gebaut, Matthew Turner?«

Emil nickte. »Ja, sie kommt aus Turners Werft. Ich wusste, sie wird dir gefallen.«

»Sie ist großartig.« Sein Entschluss stand fest, er würde auf diesem Schiff anheuern. Er wollte sie unter Segeln sehen, am Ruder stehen und fühlen, wie sie sich in den Wind legte. Mit Emil würde es eine großartige Fahrt werden. Und danach würde er endlich genug Geld haben, um sich seinen langgehegten Traum zu erfüllen, eine Navigationsschule zu besuchen und selbst Steuermann zu werden. Irgendwann würde er ein Schiff wie dieses navigieren.

»Zu welchem Heuerbaas müssen wir?«

»Kein Heuerbaas. Ihr macht den Kontrakt direkt mit Kapitän Brandon.«

Peer runzelte die Stirn. So etwas war ungewöhnlich.

»Er ist der Eigner der Victory«, erklärte Emil. »Er muss keiner Reederei gegenüber Rechenschaft ablegen. Warum soll er diesen Haien Vermittlungsgebühr bezahlen?«

Da war etwas dran. Unter den Heuerbaasen gab es oft genug Halunken, die nur darauf aus waren, die Seeleute um ihren Vorschuss zu betrügen.

»Wie ist der Alte so?«

»Brandon? Er ist ein harter Hund, aber gerecht. Wenn ihr eure Arbeit gut macht, gibt es keine Probleme. Mit Drückebergern ist er allerdings nicht zimperlich.«

Diese Beschreibung passte wohl auf die meisten Kapitäne, mit denen Peer gefahren war. »Kommst du mit ihm klar?«

Emil hob die Schultern. »Ich fahre jetzt zum dritten Mal mit ihm und weiß fast nichts über ihn. Er redet nicht viel. Aber er ist ein großartiger Seemann, und wenn jemand weiß, wo man die Robben findet, dann er. Seine Jäger gehören zu den Besten. Mit ihm könnt ihr gutes Geld verdienen. Also?«

Peer sah Alex an. »Was meinst du?«

Alex lachte. »Ich kann dich wohl kaum von deiner neuen Flamme trennen. Also lass uns diesen Kapitän Brandon suchen und unterschreiben. Und danach möchte ich in diesem Pub, das wir auf dem Weg hierher gesehen haben, was trinken.«

»Gute Idee«, stimmte Emil zu. »Dort finden wir auch Brandon. Es wird bald dunkel. Lasst uns die Details im Warmen besprechen.«

Er führte sie zu Drake’s Pub, einer der Kneipen am Hafen. Sie schien bei den Seeleuten sehr beliebt zu sein, fast alle Tische waren besetzt. Als Peer die beiden ausgesprochen hübschen Frauen hinter dem Tresen entdeckte, wusste er auch, warum.

Alex strahlte bei ihrem Anblick. Zielstrebig steuerte er auf die Bar zu, doch Emil hielt ihn auf und wies auf einen der Tische. »Dort sitzt Brandon. Ihr solltet erst mit ihm reden.«

Peer sah hinüber. Der Mann, der aufstand und auf sie zukam, war noch größer als er selbst, dabei überragte er schon die meisten Männer. Aber es war nicht seine Größe, die ihn beeindruckte, es war seine Haltung, seine Ausstrahlung. Peer erkannte einen Anführer, wenn er ihn sah. Für einen Schiffseigner erschien er recht jung, Peer schätzte ihn auf Ende dreißig.

Brandon nickte Emil zu. »Wen bringen Sie mir da, Mr. Nordström?«

»Mr. Svensson, einen Freund von mir, und Mr. Fuller aus Australien. Mit diesen beiden wäre unsere Mannschaft komplett.«

»Setzt euch.« Der Kapitän wies auf einen freien Tisch. »Wart ihr schon mal auf Robbenjagd?«

Alex verneinte.

»Ich habe in Schweden Robben gejagt«, sagte Peer.

»Hmm.« Brandon strich sich übers Kinn und musterte ihn. »Kannst du ein Fangboot steuern?«

»Ja.«

»Der Junge kann alles steuern, was ein Ruder und ein Segel hat«, schaltete Emil sich ein.

Brandon hob die Brauen. »Und er redet nicht viel. Nun gut. Ihr seid hiermit angeheuert.«

Die Formalitäten waren schnell erledigt. Die Victory sollte in zwei Tagen auslaufen zur Jagd vor der japanischen Küste. Etwa sechs Monate würde die Fahrt dauern. Die Bezahlung war gut, und Brandon stellte eine Gewinnbeteiligung in Aussicht, sollte die Jagd erfolgreich sein.

Nachdem sie ihre Unterschrift geleistet hatten, kehrte Brandon zurück an seinen Tisch.

»Und, was hältst du von ihm?«, wandte sich Emil an Peer.

»Er weiß, was er tut. Ich glaube, man kann gut mit ihm arbeiten.« Peer wies mit dem Kinn auf die Männer, die bei Brandon saßen. »Wer sind die?«

»Die Jäger«, antwortete Emil. »Die Victory führt fünf Fangboote. Für jedes Boot gibt es einen Jäger und zwei Matrosen. Einer steuert und einer pullt.« Er trank sein Bier aus, stand auf und fischte ein paar Münzen aus seiner Hosentasche. »Reicht gerade noch. Ich muss noch mal los, hab ’ne Verabredung.«

»Oho«, sagte Alex. »Wer ist die Glückliche?«

»Schön wär’s. Ein Kerl ist’s. Na ja, wird hoffentlich nicht so lange dauern. Ich wollte heute mal früh schlafen gehen.«

Am nächsten Morgen wurde Peer von einer lautstarken Diskussion vor der Tür des Schlafsaals geweckt. In seinem Kopf ging es zu wie in einem Steinbruch – die Stimmen lösten eine Schmerzlawine aus, die pochend und polternd gegen seine Schädeldecke krachte. Stöhnend richtete er sich auf. Zum Teufel, warum konnten die da draußen ihre Meinungsverschiedenheiten nicht woanders lösen? Er beugte sich über den Rand seines Stockbettes, um nach Alex zu sehen, der unter ihm schlief, richtete sich jedoch schnell wieder auf, als der Raum sich um ihn zu drehen schien. Ganz offensichtlich hatte er gestern zu viel getrunken. Er erinnerte sich noch, dass Alex mit einer der Bardamen geschäkert hatte und sie anschließend singend durch die Straßen zum Seemannsheim geschwankt waren. Wie er ins Bett gekommen war, wusste er nicht mehr.

Die Tür flog auf, und der Schlafbaas trat ein, gefolgt von Kapitän Brandon und einem Mann in der Uniform der Hafenpolizei.

Dankbar, dass er am Abend zuvor nicht mehr in der Lage gewesen war, sich auszuziehen, schwang sich Peer aus dem Bett.

»Hier sind die beiden Männer, die Mr. Nordström zuletzt gesprochen haben«, sagte Brandon.

Der Officer trat einen Schritt vor. »Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen. Folgen Sie mir bitte.« Er warf einen Blick auf Alex, der sich aus seiner Decke schälte. »Und Sie ebenfalls.«

Grummelnd setzte Alex sich auf. »Wassn passiert?«, nuschelte er und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.

Peer schüttelte den Kopf, was einen erneuten Schwindelanfall auslöste. Was meinte Brandon damit, sie seien die Letzten, die mit Emil gesprochen hätten?

Er blickte zu Brandon hinüber, doch dessen Gesicht verriet nichts.

Zusammen mit Alex folgte er den Männern in das Büro des Schlafbaas. Der reagierte ausgesprochen unwillig, als der Officer ihn aufforderte, den Raum zu verlassen. »Ich kann keinen Ärger brauchen.«

»Es will auch niemand Ärger machen«, antwortete der Polizist und zückte einen Stift. »Sie sind?«, wandte er sich an Peer.

»Peer Svensson.« Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Worum geht es?«

»Das erfahren Sie gleich. Sie sind Skandinavier?«

»Schwede.«

»Ah ja. Und Sie?« Er drehte sich zu Alex.

»Alexander Fuller, Australier.«

»Also Brite. Kannten Sie Mr. Nordström schon länger?«

»Ich bin Australier!«, wiederholte Alex deutlich. »Nein, ich kannte ihn erst seit gestern.«

»So.« Der Officer kritzelte auf seinen Block. »Sie waren gestern Abend zusammen in Drake’s Pub?«

Wieso sprach der Mann nur zu Alex? Allmählich verlor Peer die Geduld. »Was ist mit Emil?«

»Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass wir Mr. Nordström heute Morgen tot aufgefunden haben. Wir gehen von einem Unfall aus.«

Peer starrte den Polizisten an. Emil war tot? Das konnte nicht sein. Und von was für einem Unfall sprach er? Verwirrt fuhr er sich mit der Hand übers Gesicht. Wenn doch bloß dieses Dröhnen in seinem Kopf aufhören wollte.

»Wie lange waren Sie gestern im Drake’s, Mr. Svensson?«

»Ich weiß es nicht genau. Lange.«

»Wie ich es sagte«, sprach der Polizist jetzt Brandon an. »Ein Unfall. Er hat sich betrunken und ist ins Hafenbecken gefallen.«

»Moment«, fuhr Peer dazwischen. »Emil war nicht betrunken. Er hatte nur ein Bier und ist dann gegangen, weil er noch verabredet war.«

Der Blick, den der Officer ihm zuwarf, war mehr als zweifelnd. »Wissen Sie, mit wem?«

»Nein. Nur, dass er sich mit einem Mann treffen wollte.«

»Wahrscheinlich hat er dann mit dem noch ein paar Bierchen gekippt. Die Fangflotte läuft die nächsten Tage aus, am Hafen wimmelt es von besoffenen Seeleuten.« Sein Gesicht verriet deutlich seine Abneigung gegen die ›Abschiedsfeiern‹ der Robbenfänger.

»Das glaube ich nicht«, widersprach Peer. »Er wollte früh schlafen gehen, und er hatte kein Geld mehr.«

»Und was glauben Sie dann?«

Peer dachte nach. Emil fiel nicht einfach so ins Wasser, und außerdem konnte er schwimmen. »Vielleicht ist er überfallen worden?«

Der Officer schüttelte den Kopf. »Sie haben selbst gesagt, er hatte kein Geld bei sich. Warum sollte jemand einen Fremden umbringen, wenn nicht für Geld? Wer hätte einen Vorteil von Mr. Nordströms Tod?«

»Vielleicht hatte er Feinde?«, warf Alex ein.

»Das müssten Sie doch wissen?«, wandte sich der Polizist an Brandon.

»Ich glaube nicht, dass er Feinde hatte. Bei der Mannschaft war er beliebt. Von seinem Privatleben weiß ich allerdings nichts.«

»Und auch nicht, mit wem er sich gestern treffen wollte?«

»Nein. Aber wie ich schon sagte, wir wollten ursprünglich morgen auslaufen. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn wir die Sache schnell zum Abschluss bringen könnten. Ich muss einen neuen Steuermann finden, und jeder Tag, den ich länger warten muss, kostet mich Geld.«

Verwundert sah Peer ihn an. Sein Gesicht zeigte keine Regung. Berührte ihn der Tod seines Steuermanns so wenig?

Zurück im Schlafraum, setzte Peer sich aufs Bett und vergrub das Gesicht in den Händen. Erst jetzt begriff er wirklich, was passiert war. Emil war tot. Einfach so. Nicht bei Kap Hoorn gesunken, nicht in einem Sturm über Bord gegangen, Dinge, mit denen jeder Seemann rechnen musste, sondern ertrunken, weil er von der Hafenmauer ins Wasser gefallen war.

»Es tut mir leid. Du mochtest ihn sehr, nicht wahr?«, sagte Alex leise.

»Er war mein Lehrer und mein Freund. Mit ihm als Steuermann habe ich meine erste große Fahrt gemacht, mit ihm bin ich das erste Mal um Kap Hoorn gesegelt.«

Jahrelang hatten sie auf denselben Schiffen angeheuert. Irgendwann hatten sich ihre Wege getrennt, bis vor ein paar Tagen. Und nun würde er nie wieder mit ihm segeln.

2. Kapitel

Rosalies marmorweiße Wangen erröteten in tiefer Glut, ihre Lippen bebten. Sie wagte nicht, ihren Blick zu John zu heben. Das Feuer in seinen Augen würde sie versengen. So lange hatte sie auf ihn gewartet. Und nun hielt er sie fest in seinen starken Armen. Mit süßer Stimme hauchte sie ihr »Ja«.

Sarah schnaubte wenig damenhaft und schlug das Buch zu. Für heute war ihr Bedarf an glühenden Wangen, bebenden Lippen und starken Armen mehr als gedeckt. Unwillkürlich fragte sie sich, wie es um die Ehe ihrer Schwester bestellt war, dass sie mit Begeisterung solche Bücher las. Sie hatte geglaubt, dass Mary und ihr Mann glücklicher zusammenlebten, als es bei ihr und Arthur der Fall gewesen war. Nach außen waren sie die perfekte Familie. Er liebevoll und aufmerksam, sie seine charmante Ehefrau, mit zwei reizenden Kindern. Doch auch Marys Ehe war arrangiert, genauso wie ihre eigene. Kannte sie ein Paar, das sich wirklich liebte?

Sie richtete sich in ihrem Deckstuhl auf und ließ den Blick über das Meer gleiten. Die Sonne schien, doch der Wind war recht kalt. Trotzdem genoss sie es, hier zu sitzen, zu lesen oder einfach ihren Gedanken nachzuhängen.

Ihr ungebührliches Schnauben hatte die ältere Dame im Stuhl neben ihr aus dem Schlummer gerissen. Sie setzte sich auf und warf Sarah einen prüfenden Blick zu. »Ist alles in Ordnung, meine Liebe? Oder werden Sie jetzt auch noch seekrank?«

Sarah lachte. Seit die Kalani vor drei Tagen San Francisco in Richtung Hawaii verlassen hatte, war mehr als die Hälfte der Passagiere der ersten Klasse seekrank geworden. Waren am ersten Abend noch fast alle vollzählig zum Abendessen erschienen, wurden es danach mit jeder Mahlzeit weniger. Sarah und Mrs. Spencer, die jetzt neben ihr saß, gehörten zu den wenigen, die offensichtlich immun gegen das Schaukeln der Kalani waren. Mrs. Spencers Gatte dagegen lag in seiner Kabine und litt. Seine Pflege überließ sie dem Butler, sie zog die frische Luft an Deck vor, wie sie unverblümt erklärte, zumal Mr. Spencer ausgesprochen unleidlich sei, wenn er krank sei.

»Nein, seekrank bin ich nicht«, beantwortete sie Mrs. Spencers Frage. »Aber mir ist ein bisschen übel von zu viel bebenden Lippen bei den Damen und dem unglaublichen Edelmut von Lord John.« Sie deutete auf das Buch in ihrem Schoß.

Mrs. Spencer beugte sich hinüber, ihre Augen funkelten. »Die verlorene Braut. Ein Liebesroman. Wo haben Sie so etwas her, aus der Bordbibliothek?«

»Meine Schwester hat es mir geschenkt. Sie liebt solche Romane.«

»Da lobe ich mir meine Lektüre. Von diesem Franzosen, Jules Verne. 20000 Meilen unter dem Meer.« Sie hielt ihr Buch hoch. »Sehr spannend und ganz ohne Liebe.« Ein tiefes, fast grollendes Lachen kam aus ihrer Kehle. »Die romantischen Liebesgeschichten überlasse ich lieber unserem jungen Pärchen dort.«

Sarah folgte ihrem Blick. An der Reling standen Tom und Maggie Wright. Seit vier Monaten verheiratet, wie sie voll Stolz am ersten Abend verkündet hatten. Sie waren auf dem Weg nach Oahu, wo Tom seinem kinderlosen Onkel bei der Bewirtschaftung einer Ananasplantage helfen sollte, um sie später einmal zu übernehmen. Maggies Lebensplanung erschöpfte sich darin, viele Kinder zu bekommen.

Die beiden schienen sehr verliebt, und Sarah wünschte sich plötzlich, einen Blick in die Zukunft tun zu können und sie in zehn Jahren zu sehen. Würde Maggie ihren Gemahl immer noch so anhimmeln, wenn er verschwitzt, müde und gereizt von der Arbeit nach Hause kam? Und würde Tom noch eine ihrer Haarsträhnen um seinen Finger wickeln und ihr zärtlich über die Wange streichen, wie er es gerade eben tat, wenn ihre Figur nach mehreren Schwangerschaften ihre mädchenhafte Grazie verloren hatte? Sie wünschte es den beiden, aber sie zweifelte daran. Liebe, die ganz große Liebe, gab es in Romanen oder auf der Bühne. Im wirklichen Leben war sie eine Ausnahme.

Ihre Großeltern hatten sich geliebt. Ihre Großmutter hatte oft erzählt, wie sie damals in Italien den jungen Rebellen, der sich nach Napoleons Herrschaft dem Geheimbund »Junges Italien« angeschlossen hatte, aus dem Gefängnis befreit hatte. Sie hatten fliehen müssen und waren aus diesem Grund nach Amerika gekommen. Mit nichts weiter als ein paar Dollar in der Tasche und einigen Weinstöcken im Gepäck, die ihm sein Bruder noch zugesteckt hatte. Sarah konnte die Geschichte nicht oft genug hören, auch wenn sie in ihrer Phantasie die Großmutter nicht mit der jungen, mutigen Frau übereinbringen konnte. In ihren Jungmädchenträumen war sie es selbst, die den Geliebten vor dem Zugriff der Häscher rettete.

Wahrscheinlich kam daher ihre Liebe zur Oper. Träume, die sie auf der Bühne lebte. Und was würde werden, wenn sie das nicht mehr konnte?

Einer der chinesischen Stewards unterbrach ihre Gedanken. »Wir servieren jetzt Tee und Gebäck im Blauen Salon«, verkündete er lautstark.

»Schon wieder essen.« Ächzend stemmte sich Mrs. Spencer aus ihrem Stuhl. »Aber was soll man auch sonst den ganzen Tag tun? Wenn das so weitergeht, passt mir meine Garderobe nicht mehr, bis wir in Hongkong sind.«

»Sie fahren bis Hongkong?« Sarah hatte sich ebenfalls erhoben.

»Ja. Mein Gatte tritt eine Stelle im Generalkonsulat dort an. Aber vorher machen wir ein paar Tage Ferien auf Hawaii. Begleiten Sie mich zum Tee?«

Warum nicht? Sie mochte Mrs. Spencer. Zwar hatte sie eine spitze Zunge und einen scharfen Blick für menschliche Schwächen, aber sie war nicht boshaft, und Sarah fand ihre Gesellschaft sehr viel unterhaltsamer als die des jungen Paares oder des amerikanischen Navy-Offiziers, der sich seit gestern um ihre Aufmerksamkeit bemühte.

»Ich hoffe doch sehr, dass wir bald besseres Wetter bekommen«, sagte Mrs. Spencer auf dem Weg zum Salon. »Normalerweise ist die Fahrt nach Hawaii ein Vergnügen, aber nicht, wenn es weiterhin so kalt und windig bleibt.«

Beim Abendessen erschienen die Passagiere der ersten Klasse wieder fast vollzählig im Speisesaal. Auch Mr. Spencer hatte seine Seekrankheit überwunden und begleitete seine Frau. Er erwies sich als äußerst charmanter, welterfahrener Mann und amüsanter Plauderer, ganz anders, als Sarah ihn sich vorgestellt hatte.

Zu ihrer Tischgesellschaft gehörte ein weiteres Paar, Mr. und Mrs. Denninger aus Los Angeles. Mrs. Denninger musterte Sarah eingehend, als sie einander vorgestellt wurden, und auch ihr kam die Frau vage bekannt vor. Vielleicht hatten sie sich auf einer der vielen Wohltätigkeitsveranstaltungen getroffen. Sie dachte nicht weiter darüber nach.

Mrs. Denninger riss sofort die Unterhaltung an sich, erzählte den neuesten Tratsch aus San Francisco und Los Angeles.

Sarah beteiligte sich nicht an dem Gespräch. Sie war auf diesem Schiff, um dem gesellschaftlichen Klatsch zu entkommen, stattdessen verfolgte er sie in Gestalt dieser Walküre. Hoffentlich ging sie nicht regelmäßig in die Oper.

Nachdem das Dessert gereicht worden war, beugte Mrs. Denninger sich zu Sarah hinüber. »Jetzt weiß ich, woher ich Sie kenne. Sie sind die Witwe von Arthur Tanner, dem Eisenbahnbaron.«

Sarah nickte. »Ja. Mein Mann war Mr. Arthur Tanner.« Worauf wollte sie hinaus?

»Stellen Sie sich vor, dann sind wir weitläufig miteinander verwandt«, erklärte Mrs. Denninger gewichtig. »Meine Tante war eine Cousine zweiten Grades der Mutter Ihres Mannes.«

»Ach ja, wie interessant.« Sarah lächelte unverbindlich. Ganz bestimmt würde sie nicht versuchen, diese Fäden zu entwirren.

»Oh ja, und stellen Sie sich vor, ich kenne das Familiengeheimnis der Tanners.« Triumphierend sah Mrs. Denninger in die Runde. »Wollen Sie es hören?«

Sarah schluckte heftig. Das hörte sich nicht nach einer Enthüllung über Emilia Rossi an. Auch wenn die Tanners es nicht gerne sahen, dass Arthurs Witwe als Opernsängerin auftrat, so war es doch kein Familiengeheimnis. Aber wenn es das nicht war, dann konnte sie nur etwas anderes meinen.

Die Luft in Sarahs Lungen schien zu Eis zu werden. Es konnte nicht sein. Es gab nur zwei Menschen, die davon wussten.

Lächeln. Sie musste lächeln und dafür sorgen, dass ihre Stimme nicht zitterte. »Familiengeheimnisse bei Tanners? Kaum zu glauben.«

»Ja, stellen Sie sich vor.« Mrs. Denninger griff nach ihrem Glas, nahm einen großen Schluck Champagner und genoss sichtlich die Situation. Alle am Tisch warteten auf ihre nächsten Worte.

»Die äußerst ehrwürdige Familie Tanner hat eine Schauspielerin in der Verwandtschaft.«

Sarah ertränkte das hysterische Kichern in ihrer Kehle mit einem Schluck Wein. Wenn es stimmte, war es tatsächlich ein kleiner Skandal. Aber es war nicht die Enthüllung, die sie befürchtet hatte. Erleichtert ließ sie sich zurücksinken.

»Eine Schauspielerin? So wie Sarah Bernhardt, mit vielen Liebhabern?«, fragte Maggie eifrig.

»So in etwa.« Mrs. Denninger senkte die Stimme. »Sie ist die Tochter seines Bruders. Er ist mit einer italienischen Gräfin von nicht ganz einwandfreier Herkunft durchgebrannt und wurde von der Familie verstoßen.«

Es konnte stimmen. Arthur hatte nie von einem Bruder gesprochen.

»Sie ist in England eine berühmte Bühnenschauspielerin. Illustre Verwandtschaft, nicht wahr, Mrs. Tanner?«

Sarah lächelte. »Allerdings. Und es ist mir tatsächlich völlig neu.«

Die Herren zogen sich in den Rauchsalon zurück, die Damen schlenderten noch eine Runde auf dem Promenadendeck.

Mrs. Spencer hakte sich bei Sarah ein und verlangsamte ihren Schritt. »Sie hatten Glück, dass Ihr Geheimnis nicht offengelegt wurde.«

»Wie bitte?«, fragte Sarah scharf. Warum wollten plötzlich alle irgendwelche Geheimnisse enthüllen?

Mrs. Spencer zwinkerte ihr zu. »Sie sind Emilia Rossi. Ich habe Sie vor einiger Zeit auf der Bühne gesehen, und ich vergesse nie ein Gesicht. Ihre Violetta hat mich zu Tränen gerührt. Weiß die ehrenwerte Familie Tanner davon?«

»Sie wissen es. Solange ich nur unter meinem Künstlernamen auftrete und den Namen der Familie nicht kompromittiere, dulden sie es, deshalb wäre ich sehr dankbar, wenn Sie mein Inkognito wahren könnten.«

»Selbstverständlich.« Sie machte eine kurze Pause. »Ist denn etwas dran an den Gerüchten, dass Sie wegen einer unglücklichen Liebe nicht mehr singen wollen?«

Sarah lachte laut auf. »Nein, wirklich nicht. Ich fahre nach Hawaii, um vor dem nächsten Auftritt ein wenig Ruhe zu haben.«

Es war die Antwort, die sie jedem gab, der nach dem Grund ihrer Reise fragte.

Mrs. Spencer nickte. »Jetzt, da ich Sie kenne, kann ich mir das auch nicht vorstellen.«

Später saß Sarah in ihrer Kabine, vor ihr lag das Libretto von Puccinis neuester Oper. Sie starrte auf den Text, ohne ihn zu lesen. Stattdessen dachte sie an ihr Gespräch mit Mrs. Spencer. Also machte die Geschichte von einer unglücklichen Liebe immer noch die Runde.

Sie schüttelte den Kopf. Liebe war zum letzten Mal vor etwa zwanzig Jahren ein Problem für sie gewesen. Der Grund für ihre ›Flucht‹ nach Hawaii war ein anderer. Schreiknötchen nannte sich das Phänomen, das jeder Sänger fürchtete. Sie hatte es für eine vorübergehende Heiserkeit gehalten, bis zu ihrem Arztbesuch.

»Meine Liebe, Sie haben sich übernommen«, hatte der Arzt ihr erklärt. »Ihre Stimmbänder sind überreizt. Sie müssen sie schonen. Wenn Sie Ihre Stimme behalten wollen, dürfen Sie die nächsten Wochen nicht singen.« Er hatte ihr Hoffnung gemacht, dass die Knötchen auf ihren Stimmbändern sich nach ein paar Wochen Ruhe zurückbilden würden. Das war auch geschehen, jedoch glich ihre Stimme immer noch nicht wieder dem glasklaren Sopran, für den sie berühmt war. Bis jetzt wussten weder die Presse noch ihre Kollegen, warum sie ihre Lieblingsrolle, die Tosca, der zweiten Besetzung überlassen hatte. Wenn sie es herausfanden, konnte es das Ende ihrer Karriere bedeuten.

Es sei eine »Kopfsache«, hatte ihre Gesangslehrerin erklärt. Sie setze sich zu sehr unter Druck. Sie hatte Sarah dazu geraten, San Francisco für eine Weile zu verlassen, um zur Ruhe zu kommen.

3. Kapitel

Auch die nächsten Tage blieb das Wetter unstet. Normalerweise wehte in diesen Breiten der Nordostpassat, der für gleichmäßige, warme Witterung sorgte, hatte der Erste Offizier erzählt, aber dieses Jahr blieb er aus. So etwas passierte wohl ab und zu.

Drei Tage bevor die Kalani Hawaii erreichen sollte, verdichteten sich frühmorgens die Wolken, und die Wellen wurden höher. Sarah musste sich auf dem Weg von ihrer Kabine zum Speisesaal am Geländer in den Gängen festhalten.

Nach dem Frühstück begaben sich fast alle Passagiere auf das Promenadendeck. Sarah warf einen Blick nach unten auf das Deck der dritten Klasse. An der Reling drängten sich die Menschen und warfen besorgte Blicke auf die dunkle Wolkenwand, die sich bedrohlich von Süden her dem Schiff näherte.

»Das sieht nicht gut aus.« Andrew Jordan, der Navy-Offizier, stand neben Sarah und blickte, die Augenbrauen zusammengezogen, hinaus aufs Meer. »Hoffentlich braut sich da kein Taifun zusammen.«

»Ein Taifun?«

»Ein tropischer Wirbelsturm. Aber es ist nicht die richtige Jahreszeit dafür.« Er schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. »Machen Sie sich keine Sorgen, es wird wohl nur ein Unwetter sein. Außerdem ist die Kalani ein gutes Schiff und der Kapitän sehr erfahren.«

Irgendwie trugen seine Worte nicht zu ihrer Beruhigung bei. Ebenso wenig die Tatsache, dass sie ihn kurze Zeit später auf dem Brückendeck im Gespräch mit dem Kapitän und zwei Offizieren entdeckte. Der Kapitän verschwand im Brückenhaus, und kurz danach änderte das Schiff den Kurs. Statt direkt lief die Kalani jetzt schräg auf den Sturm zu, und außerdem wurde sie deutlich schneller. Aus den Schornsteinen drangen dicke Rauchwolken.

Trotz der Geschwindigkeit der Kalani rückte die Wolkenwand unaufhaltsam näher. Sarah fröstelte. Oberhalb der Wolken zeigte der Himmel ein unheimliches, schwefliges Gelb. Erste Windböen fegten über das Deck, zerrten an Sarahs Kleidern und an ihren Haaren, bliesen dem Herrn neben ihr den Hut vom Kopf.

Kurze Zeit später erschien der Erste Offizier und bat die Passagiere, sich nach unten in den Speisesaal zu begeben, dort sei es sicherer. Die meisten folgten seiner Aufforderung sofort, nur einige Männer blieben zurück.

Im Speisesaal setzte Sarah sich zu den Spencers und Andrew Jordan. Anscheinend war der Plan des Kapitäns, dem Sturm auszuweichen, nicht von Erfolg gekrönt. Durch die Fenster konnte sie sehen, wie die Wellen sich höher und höher türmten. Die Kalani schaukelte und schlingerte, das Heulen des Windes übertönte das Dröhnen der Maschinen.

Nach einer halben Stunde betrat einer der Offiziere den Speisesaal, sein Gesicht war blass und sein Ausdruck besorgt. »Meine Damen und Herren!« Er wartete, bis alle Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet war. »Ich möchte Sie bitten, Ihre Rettungswesten anzulegen.«

Die Aufforderung löste Unruhe aus. Einige Leute sprangen auf und rannten zum Ausgang. Eine Frau packte den Offizier am Arm. »Sinken wir?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein Ma’am, wir sinken nicht. Aber aus Sicherheitsgründen sollten Sie die Westen tragen.«

Sarah klammerte sich an der Tischkante fest, als eine gewaltige Welle die Kalani traf. Ein Vibrieren lief durch den Schiffsrumpf. Andrew Jordan kniff die Augen zusammen und schien angestrengt zu lauschen. Dann erhob er sich. »Kommen Sie.«

Ohne auf ihre Antwort zu warten, packte er Sarah am Arm und zog sie zum Ausgang, wo die Kabinenstewards Schwimmwesten austeilten. Misstrauisch betrachtete Sarah die Korkweste in Andrews Hand. Sie hatte von Leuten gehört, die in diesen Dingern ertranken, weil sie falsch konstruiert waren oder sich das Material mit Wasser vollsaugte. »Ich weiß nicht …«

Andrew zog ihr die Weste über den Kopf. »Da draußen können Sie sich ohne Weste nicht über Wasser halten.«

»Ich dachte, es besteht keine Gefahr.« Diese ganze Situation erschien ihr so unwirklich, so absurd, dass sie keine Angst hatte.

Andrew beugte sich vor. »Merken Sie, wie das Schiff rollt? Die Maschinen arbeiten nicht mehr. Wir sind manövrierunfähig.« Er machte eine Pause. »Das hält sie nicht lange aus, sie wird sinken.«

Sarah schluckte heftig. Bilder schwirrten in ihrem Kopf. Der Untergang der City of Rio vor drei Jahren. Das Schiff war in der Bucht von San Francisco auf ein Riff gelaufen und gesunken. Sie dachte an die Berichte von den Rettungsbooten, die beim Herablassen kenterten, von Menschen, die vom Sog des untergehenden Schiffes in den Tod gerissen wurden. Hundertachtunddreißig Menschen waren damals gestorben.

»Warum tun sie nichts?« Sie wies auf die Besatzungsmitglieder und den Ersten Offizier.

»Werden sie gleich, wahrscheinlich wollen sie eine Panik vermeiden.«

Wieder ging ein Ruck durch die Kalani.

Andrew schob sie vor sich her nach draußen. »Bleiben Sie hier, halten Sie sich fest, bis die Boote bereit sind. Ich schaue, wo ich helfen kann.«

Sarah sah ihm nach. Wie besonnen er war.

Maggie und Tom kamen nach draußen. Beide trugen bereits Westen.

»Glauben Sie, dass wir sinken?« Maggie klammerte sich krampfhaft an Toms Arm, in ihrer Stimme klang Angst.

Was hatte Andrew gesagt? Der Kapitän wollte eine Panik vermeiden.

»Ich glaube nicht«, antwortete Sarah mit aller Überzeugung, die sie aufbieten konnte.

»Woher wollen Sie das wissen?«, fauchte Mrs. Denninger, die mit den Verschnürungen ihrer Weste kämpfte.

Sarah zuckte die Schultern.

Zwei der Offiziere erschienen auf dem Promenadendeck. »Bitte gehen Sie zurück in den Speisesaal. Dort ist es sicherer.«

»Damit wir alle mit untergehen, wenn das Schiff sinkt?«, rief Maggie.

»Wir sinken nicht«, erklärte der Zweite Offizier ruhig. »Es ist ein wenig Wasser in den Maschinenraum eingedrungen, aber wir haben die Schotten geschlossen, und die Pumpen laufen.«

Sarah erinnerte sich an die Erklärung des Offiziers während einer Führung vor einigen Tagen. Die Kalani hatte wasserdichte Türen, die im Notfall geschlossen wurden und verhinderten, dass Wasser sich in den unteren Decks ausbreitete. Erleichtert atmete sie auf. Dann konnte doch eigentlich nichts mehr passieren. Sicher hatte Andrew sich mit seiner Vorhersage getäuscht. Vielleicht hatte er gar nicht an die Schotten gedacht.

Unschlüssig klammerte sie sich an das Geländer.

Es widerstrebte ihr, wieder nach unten zu gehen; außerdem hatte Andrew ihr gesagt, sie solle hier draußen bleiben, und er hatte dafür bestimmt seine Gründe.

Die Wellen waren inzwischen so hoch, dass sie über das untere Deck fluteten. Täuschte sie sich, oder hatte das Schiff leichte Schlagseite? Vielleicht machte es auch nur den Eindruck, weil sie auf der sturmabgewandten Seite stand.

Unter Umständen war es im Inneren doch sicherer.

Sie hangelte sich am Geländer entlang zur Tür, als ein heftiger Schlag die Kalani traf. Neben ihr wurden die Leute zu Boden geschleudert, rutschten über die nassen Planken. Aus dem Inneren des Schiffes drangen der Lärm von splitterndem Glas und Schreie. Gischt sprühte über das Promenadendeck, durchnässte Sarahs Kleider.

Schreckensbleich im Gesicht, drängten die Leute aus dem Speisesaal zurück aufs Deck. Mrs. Spencer blutete aus einer Wunde am Arm, war jedoch bemerkenswert gelassen. Sie zerrte Maggie hinter sich her, die hysterisch nach Tom schrie.

»Ich bin hier!« Tom half einer älteren Frau die Treppe hinauf.

Sarah sah sich um. Diesmal gab es keinen Zweifel, das Schiff lag tiefer als sonst. Sie kämpfte sich zu Mrs. Spencer. »Was ist passiert?«

»Eine Welle hat die Fenster zum Speisesaal eingeschlagen, er steht unter Wasser.«

Aus den Ausgängen quollen die Passagiere der dritten Klasse. Manche weinten, doch die meisten waren sehr gefasst. Allerdings trugen nicht alle eine Weste.

»Wo bekommen wir Rettungswesten?«, schrie ein Mann.

»Meine Damen und Herren, bitte bewahren Sie Ruhe«, rief einer der Offiziere durch ein Megaphon. »Die Rettungswesten befinden sich in Ihren Kabinen, aber Sie können auch am Aufgang zur Brücke welche bekommen.« Er wies auf zwei Stewards, die Westen aus einer Kiste zogen und verteilten.

Zu Sarahs Erleichterung bezogen mehrere Offiziere Position auf dem Deck und gaben Anweisung, die Rettungsboote klarzumachen.

»Darf ich Frauen und Kinder hierherbitten«, rief einer der Offiziere und löste damit einen Ansturm auf das erste Boot aus.

Frauen und Kinder zuerst. Niemals hätte sie erwartet, diesen Satz einmal zu hören. Immer noch hatte Sarah dieses unwirkliche Gefühl, fast als träume sie. Plötzlich war sie sehr froh, dass Anne sie nicht auf diese Reise begleitet hatte. Sie würde vor Angst um ihre Tochter sterben. Um sich selbst machte sie sich keine Gedanken. Ihr würde schon nichts passieren.

Die Matrosen halfen den Frauen ins Boot. Sarah blieb, wo sie war, und beobachtete das Treiben. Sie hatte keine Angst. Es gab genug Rettungsboote für alle, die Kalani war nur zu einem Drittel gebucht, und sie wollte erst sehen, wie das Abfieren des Bootes vor sich ging.

Mit ihr warteten Maggie und Tom, weil Maggie sich weigerte, ohne ihren Mann zu gehen. Und auch Mr. und Mrs. Spencer standen noch in ihrer Nähe und sprachen miteinander.

Als das Boot fast voll war, winkte der Offizier zwei Matrosen herbei, die ebenfalls einstiegen. Dann wurde es langsam hinuntergelassen. Als es auf dem Wasser aufsetzte, wurde es sofort von einer Welle erfasst und gegen die Bordwand gedrückt. Schreie erklangen. Die beiden Matrosen im Boot reagierten geistesgegenwärtig, hakten die Leinen los und schoben das Boot mit den Rudern von der Kalani fort.

Sarah atmete auf, anscheinend verstanden die Leute hier ihr Geschäft.

»Warum sind Sie noch hier?« Andrew war zurückgekommen und fasste sie entschlossen am Arm. »Sie steigen sofort ins nächste Boot.«

»Aber es gibt doch genug Boote«, wandte sie ein.

»Aber nicht genug Zeit«, gab er sehr ernst zurück.

Inzwischen wurde ein zweites Boot hinabgelassen. Das nächste war bereit, und jetzt durften auch Männer an Bord. Andrew half den Leuten beim Einsteigen.

Sarah stand bei den Wartenden, als jemand sie von hinten packte und herumriss. Ein Mann drückte sie gegen die Reling und zerrte an ihrer Rettungsweste. Einen Augenblick war sie wie gelähmt, dann griff sie nach seinen Händen und versuchte, sich loszumachen, doch er knurrte nur etwas Unverständliches und presste sie noch fester gegen die Reling. Sie schnappte nach Luft.

»Lassen Sie mich!« Ihre Stimme war ein schwächliches Keuchen. Der Mann machte sich grob an den Schnüren ihrer Weste zu schaffen, doch er zog die Knoten nur fester zu.

Verzweifelt bemühte sich Sarah, freizukommen. Bemerkte denn keiner von den anderen, was hier vorging? Endlich lockerte er seinen Griff, hielt sie nur noch mit einer Hand gepackt. Tief atmete sie ein.

Aber dann entdeckte sie das Messer in seiner anderen Hand.

Gellend rief sie um Hilfe, einmal, zweimal. Der Kerl würde sie umbringen, um an ihre Weste zu kommen. Er ließ nicht von ihr ab, sondern versuchte fluchend, die Schnüre aufzuschneiden. »Halt still!«

Sie musste lauter sein. Sie konnte lauter sein. Wenn sie sang, hörte man sie im letzten Winkel der Grand Opera. Sie füllte ihre Lungen mit so viel Luft wie möglich und schrie aus voller Kraft. Die ungewohnte Lautstärke ließ den Mann zurückfahren.

Und dann war Andrew da.

»Lass sie los!« Er schlug dem Mann die Faust ins Gesicht und zerrte ihn von Sarah fort. Heftig atmend klammerte sie sich an die Reling.

Als wäre der Zwischenfall ein Signal gewesen, war es vorbei mit der Disziplin an Bord. Die Menschen drängelten und schubsten und begannen, um die Plätze vor den Rettungsbooten zu kämpfen.

Sarah wich zurück. Weiter hinten gab es auch noch Boote, vielleicht war es dort besser.

Inzwischen hatte sich das Deck der Kalani deutlich geneigt.

Plötzlich hörte Sarah einen Knall, wie von einer gewaltigen Explosion.

Dann brach eine Sturzsee über sie herein. Ihre Hände wurden von der Reling gerissen. Sie wurde herumgewirbelt und nach unten gezogen. Eine Welle musste sie über Bord geschleudert haben und drückte sie unter Wasser.

Sie wusste nicht, wo oben und wo unten war. Die Luft wurde knapp. Wild schlug sie um sich. Immer noch hielt die Welle sie gefangen, zog sie tiefer. Ihre Lungen schmerzten.

Sie musste auftauchen, sie musste atmen. Sie riss die Augen auf, aber um sie herum war es dämmrig, sie konnte die Wasseroberfläche nicht erkennen. Rote Funken tanzten vor ihren Augen. Dann kam ihr die Erkenntnis in erschreckender Klarheit. Sie würde hier sterben.

Sie würde niemals mehr singen. Und sie würde ihre Tochter nicht mehr wiedersehen. Nicht erleben, wie Anne studierte, nicht wissen, ob sie sich verlieben, ob sie vielleicht Kinder haben würde.

Sie braucht mich doch noch, dachte sie. Und dann wurde alles schwarz.

4. Kapitel

Leise vor sich hinfluchend holte Peer die Überreste des zerrissenen Außenklüvers ein. Die Gewalt des Sturmes war gebrochen, aber die Wogen gingen immer noch so hoch, dass es schwierig war, auf der Backspitze das Gleichgewicht zu halten. Immer wieder sprühte Gischt über den Bugspriet und durchnässte seine Kleider.

Es würde eine Heidenarbeit werden, das Segel zu flicken, und er wusste jetzt schon, wem Andersen diese Arbeit aufs Auge drücken würde, nämlich ihm. Der neue Steuermann und er waren sich vom ersten Moment an nicht grün gewesen.

»Wir hatten Glück, Mr. Andersen«, sagte der Kapitän in diesem Augenblick. »Außer ein paar zerfetzten Segeln gibt es keine Schäden.«

Glück traf die Sache nicht ganz. Es war Kapitän Brandons Geschick als Seemann, welches die Victory gerettet hatte. Normalerweise gab es im Februar vor Hawaii nicht so starke Stürme, die Taifunsaison fing erst im Juni an. Doch dieser Sturm hatte einem Taifun in nichts nachgestanden. Zwei Tage lang hatte er getobt und den Schoner weit von seinem Kurs abgetrieben. Noch mehr Zeitverlust.

Diese Fahrt stand unter keinem guten Stern. Erst Emils Tod, dann dieser Sturm.

Ein Rippenstoß unterbrach seine Gedanken.

»Steh hier nicht so blöde rum, Svensson. Was ist los mit dem Segel?«

Andersen, der Wichtigtuer. Peer begriff immer noch nicht, wieso Brandon ausgerechnet ihn als Emils Nachfolger angeheuert hatte. Der Mann kannte sich vielleicht mit Navigation aus, aber von Segelschiffen verstand er nichts.

»Ich denke nicht, dass man es reparieren kann, Sir.«

»Du denkst? Überlass das Denken mal lieber denen, die es können. Natürlich kann man es flicken.«

Peer schluckte die Antwort, die ihm auf der Zunge lag, hinunter. In den vergangenen drei Wochen war er mehr als einmal mit Andersen aneinandergeraten. Es half nichts, der Mann war sein Vorgesetzter, und seinem Vorgesetzten widersprach man nicht ungestraft. »Jawohl, Sir.«

Anscheinend war sein Ton unterwürfig genug, denn Andersen nickte und ging nach achtern.

Peer spuckte aus. Wie er es hasste, vor diesem Kerl zu kriechen. Im Grunde bereute er es, auf der Victory angeheuert zu haben, jetzt, da Emil nicht mehr lebte. Er verstaute das zerfetzte Segel in einer Kiste und sah hinaus aufs Meer. Der Wind hatte sich gelegt, aber der Himmel war immer noch bewölkt, und es regnete.

Durch den Regenschleier entdeckte er einen dunklen Punkt auf den Wellen. Er wischte sich über die Augen. Nein, er musste sich täuschen, da war nichts.

Angestrengt kniff er die Augen zusammen und suchte das Meer ab.

Dort war es wieder. Irgendetwas trieb auf den Wogen.

»Boot, steuerbord voraus!«, rief Nielsen vom Mast.

Also hatte er doch richtig gesehen. Die Männer an Deck versammelten sich auf der Leeseite der Victory und starrten aufmerksam aufs Meer.

»Scheint ein Rettungsboot zu sein«, meldete Nielsen von oben.

»Das fehlte noch. Als ob wir nicht schon genug Zeit verloren hätten«, knurrte Brandon und gab Befehl zum Beidrehen.

»Da hatte wohl jemand weniger Glück als wir«, murmelte Alex neben ihm, mit Blick auf das Boot, das jetzt schnell näher kam. Dann stutzte er. »Ich glaub’s nicht …«

»Was glaubst du nicht?«, fragte Peer.

Alex schüttelte den Kopf, zwinkerte ein paarmal und starrte wieder auf das Boot. Schließlich fing er an zu lachen und verpasste Peer einen Rippenstoß. »Da ist ’ne Frau dabei!«

Tatsächlich, jetzt erkannte er es auch. Eine der Gestalten war deutlich kleiner und hatte langes, dunkles Haar.

Das Boot ging längsseits, die Leinen wurden festgemacht. Die Männer der Victory drängelten und schubsten, um einen Blick auf die Neuankömmlinge zu erhaschen.

»Mach doch mal Platz!«

»Ich will auch was sehen, geh woandershin!«

»Pass bloß auf!«

Das waren Reilly und Brady, der eine Ire und der andere Engländer. Sie gerieten ständig aneinander, und Peer hatte bereits mehr als einen Streit zwischen ihnen geschlichtet. Aber im Moment interessierte es ihn nicht, ob die beiden sich die Köpfe einschlugen.

Die beiden Männer im Boot hoben die Frau in die hinabgestreckten Arme des Kapitäns. Peer konnte von ihr nicht mehr erkennen als eine Flut dunkelbrauner Locken und ein bleiches Gesicht. Brandon stellte sie auf die Füße und half dann den beiden Männern an Bord.

Die Frau schwankte und griff nach den Wanten. Sie war sehr blass. Auch die beiden Männer wirkten erschöpft. Wie lange sie wohl schon in diesem Boot saßen?

Im ersten Moment waren die Matrosen vor ihr zurückgewichen, jetzt schoben sie sich wieder näher und tuschelten.

»Starr doch nicht so.«

»Starrst ja selbst.«

»Wie alt die wohl ist?«

»Die sieht aber lecker aus, hoffentlich behält er sie eine Weile hier.«

»Eine Frau an Bord bedeutet Unglück. Besser, er bringt sie so schnell wie möglich an Land.«

Peer grinste. Das war mal wieder typisch Hale. Abergläubisch waren alle Seeleute mehr oder weniger, er selbst war da keine Ausnahme, aber bei Hale nahm es schon fanatische Ausmaße an. Er sah in jeder Möwe einen Unglücksboten.

Inzwischen war das Boot an Bord gehievt worden. Brandon wies zwei Männer an, es festzulaschen. Dann zog er die Augenbrauen zusammen und sah zu der Frau hinüber. »Svensson, bring sie in die freie Kabine neben Mr. Andersens.« Er machte eine Pause. »Und lass deine Finger von ihr!«

Die Männer feixten.

»Brauchst du Hilfe?«, rief Alex und erntete einen bösen Blick von Brandon.

Peer ignorierte das Gefrotzel seiner Kameraden und rief nach dem Schiffsjungen: »Willy, hol eine Kanne Wasser und eine Tasse und bring sie in die Backbordkabine.«

Dann trat er zu der Frau. Ihre Hände umklammerten die Wanten, ihr Kopf lehnte an den Leinen, und sie hielt die Augen geschlossen.

»Kommen Sie, ich bringe Sie in Ihre Kabine.«

Sie nickte, ließ die Wanten los und taumelte gegen ihn, als die Victory krängte.

»Entschuldigung«, murmelte sie.

Er stützte sie. Wie klein sie war, sie reichte ihm gerade bis zur Schulter.

Und nun? Es schien nicht so, als könne sie laufen, geschweige denn die Treppe hinunterklettern. Es war wohl am besten, wenn er sie trug. Vorsichtig nahm er sie auf die Arme.

»Du hast’s gut!«, rief einer der Männer ihm nach.

Er trug sie den Niedergang hinunter in die Kabine und bettete sie in die Koje.

Willy stellte die Kanne und einen Becher auf den Tisch in der Ecke und starrte ihr dann neugierig ins Gesicht. »Wer sie wohl ist?«

Das fragte er sich auch. Ein Mädchen war sie nicht mehr, ihre Haut war glatt, doch in ihren Augenwinkeln zeigten sich kleine Fältchen, und um ihren Mund lag ein Zug, der auf Lebenserfahrung schließen ließ. Ihr Gesicht war schmal, mit ausgeprägten Wangenknochen und einem Kinn, das einen starken Willen verriet. Kein liebliches Gesicht, aber ihm gefiel, was er sah. Er mochte keine puppenhaften Frauen.

Sie blinzelte. Rasch schob er einen Arm unter ihre Schultern, half ihr, sich aufzusetzen und hielt ihr den Becher mit Wasser an die Lippen. Sie umklammerte ihn mit beiden Händen und trank in hastigen Zügen.

Er wartete einen Moment, dann zog er sachte den Becher weg. »Langsam trinken. Sonst kommt alles wieder raus.«

Sie nickte, schloss die Augen und ließ sich zurücksinken.

Einen Augenblick später verrieten ihm ihre regelmäßigen Atemzüge, dass sie eingeschlafen war. Ratlos sah er auf sie hinab. Ihre Kleider waren nass, konnte er sie einfach so liegen lassen? Am Ende wurde sie krank. Zumindest den Rock und die Bluse sollte er ihr ausziehen.

Er schickte Willy hinaus.

Zögernd streckte er die Hand aus und strich ihr das Haar aus der Stirn. Sie rührte sich nicht. Seine Hände zitterten ein wenig, als er ihre Bluse aufknöpfte. Darunter trug sie ein spitzenverziertes Unterhemd aus einem seidigen Stoff, das den Ansatz ihrer Brüste erkennen ließ. Sein Mund wurde trocken.

Sie schlief weiter, auch als er ihr die Schuhe und den Rock auszog.

Heiliger Klabautermann, hatte diese Frau Formen! Üppige Brüste, eine schlanke Taille, wohlgerundete Hüften.

Ihm wurde heiß. Schnell zog er die verschlissene Decke über sie. Danach hängte er ihre Kleider zum Trocknen über den Stuhl.

»Svensson, was treibst du da unten?« Andersen stand am Niedergang.

»Nichts«, rief er zurück. »Ich komme.«

Seine Kameraden bestürmten ihn mit Fragen, kaum dass er wieder an Deck war.

»Wie alt ist sie?«

»Ist sie verheiratet?«

»Spricht sie Englisch?«

»Hast du sie ausgezogen? Wie sieht sie aus?«

Er hob die Hände. »Ich weiß nichts. Sie schläft. Was sagen die beiden Männer?«

»Sie waren auf einem Schiff der Pacific Mail Steamship Company. San Francisco-Hawaii und weiter nach Yokohama. Sind in den Sturm gekommen. Der eine ist Heizer und der Gelbe Kabinensteward«, antwortete Alex.

Brandon nickte Peer zu. »Geht es der Lady gut?«

»Ich denke schon, sie ist nur sehr erschöpft.«

»Wisst ihr, wer sie ist oder wo sie herkommt?«, wandte sich der Kapitän an die beiden Männer.

Der Chinese trat vor. »Sie ist aus San Francisco. Mrs. Arthur Tanner. Sie reist allein. Mehr weiß ich nicht.«

Brandon wirkte überrascht. »Arthur Tanner?«, murmelte er. Dann schüttelte er den Kopf, als wolle er einen Gedanken verscheuchen. »Im Logis sind noch Kojen frei«, sagte er zu den beiden Männern. »Ruht euch aus. Ich entscheide später, was wir tun werden.«

5. Kapitel

In ihrem Traum war sie wieder ein Kind. Sie lag in einer Wiege und wurde sanft geschaukelt. Sie hielt die Augen geschlossen und versuchte, den Traum festzuhalten, aber er entglitt ihr, blieb zurück, während sie erwachte.

Das leichte Wiegen wurde zu einem übelkeiterregenden Schlingern. Sarah zog sich die Decke über den Kopf, wollte zurück in die warme, tröstliche Dunkelheit sinken, aber es gelang ihr nicht. Widerwillig öffnete sie die Augen. In ihrem Kopf hämmerte es, als hätte sie zu viel Champagner getrunken, ihre Lippen waren trocken und rissig, und ihre Zunge fühlte sich geschwollen an.

Wo war sie? Zweifellos auf einem Schiff, aber nicht auf der Kalani, so viel stand fest. Ihr Bett dort war größer und weicher. Außerdem fehlte das ständige Brummen der Maschinen. Dafür knarrte und knarzte es hier bei jedem Rollen. Von draußen drangen Rufe an ihr Ohr, dazu das Rauschen des Windes.

Wind! Der Sturm, haushohe Wellen, die Maschinen waren ausgefallen. Und dann war überall um sie herum Wasser, und Gischt, die ihr den Atem nahm.

Ruckartig setzte sie sich auf, schnappte nach Luft.

Das Schiff hob und senkte sich gleichmäßig. Sie war in Sicherheit.

Was war geschehen? Langsam kehrte die Erinnerung zurück.

Einer der Brecher hatte sie über Bord gespült und unter Wasser gedrückt, bis sie das Bewusstsein verloren hatte. Dass sie noch lebte, verdankte sie den beiden Männern, die sie in eines der kleineren Boote gezogen hatten, mit denen normalerweise der Kapitän an Land gerudert wurde.

Was war aus ihnen geworden? Waren sie ebenfalls an Bord dieses Schiffes? Und was war mit den anderen geschehen? Mit Andrew, den Spencers und Maggie und Tom? Hatten sie es in eines der Rettungsboote geschafft?

Die Wogen waren so hoch gewesen, dass sie die anderen Boote aus den Augen verloren hatte. In den darauffolgenden Stunden war das Boot umhergetrieben, ein Spielzeug in der Gewalt der Wellen. Irgendwann hatte der Sturm nachgelassen, es war dunkel geworden.

Wie kam sie überhaupt hierher? Sie entsann sich nur bruchstückhaft. Ein Segelschiff. Ein Mann, der sie über die Reling hob. Ihr war schwindelig geworden, und jemand hatte sie aufgefangen. Sie erinnerte sich an die kratzige Wolle seines Pullovers an ihrer Wange und an ein Gefühl von Sicherheit, als er sie die Treppe hinuntergetragen hatte. Er hatte ihr etwas zu trinken eingeflößt, und dann musste sie eingeschlafen sein.

Sie blickte sich um. Trübes Licht fiel durch ein schmutziges Oberlicht und erhellte eine kleine Kabine, von der Decke baumelte eine Öllampe. In einer Ecke befand sich ein kleiner Ofen, an der Wand daneben standen ein schmaler Schreibtisch und ein Stuhl.

Und auf dem Stuhl lagen ihr Rock und ihre Bluse!

Hastig schob sie die Decke von sich weg und sah an sich herab. Sie trug nur noch ihr Hemd.

Der Mann hatte sie ausgezogen!

Ihre Wangen brannten. Vor Scham, aber auch vor Zorn. Sie hielt sich nicht für prüde, im Gegenteil. Wenn es ihre Rolle erforderte, trat sie durchaus auch leichter bekleidet auf die Bühne, und auch in der Theatergarderobe waren die Türen nicht immer verschlossen, es mochte der eine oder andere Kollege schon mal einen Blick auf sie im Hemd erhascht haben. Aber das war immer noch etwas anderes, als halbnackt in fremder Umgebung aufzuwachen, entkleidet von einem wildfremden Mann.

Sie würde sich beim Kapitän über diese Behandlung beschweren.

Aber vielleicht war es ja der Kapitän selber gewesen, was dann?

Sie schluckte. In diesem Fall war es wohl das Beste, wenn sie den Vorfall überging, so tat, als erinnere sie sich an nichts.

Sie sah sich weiter um. Die Koje, in der sie geschlafen hatte, war nur eine einfache Holzpritsche, kurz und schmal, mit einer dünnen Matratze und einer fleckigen Decke, die sich grob und rau anfühlte. An den Wänden hingen Seile und Gerätschaften, die sie nicht kannte, daneben mehrere Regenjacken. Darunter standen schwere Seestiefel.

Hatte man sie etwa in einer Abstellkammer untergebracht? Was war das für ein seltsames Schiff? Womöglich befand sie sich auf einem dieser Fischkutter. Sie schauderte. Dann wäre sie allein auf einem Schiff voller Männer.

Und einer von ihnen hatte sie entkleidet.

Sie schloss die Augen und atmete ein paarmal tief ein und aus. Ruhe bewahren. Nicht daran denken.

Vorsichtig stand sie auf – und musste sich sofort wieder setzen. Der Raum schien sich um sie zu drehen. Sie beugte sich vor, legte den Kopf auf die Knie und wartete, bis der Schwindel vorbeiging.

Auf dem Schreibtisch entdeckte sie einen Krug mit Wasser und einen Becher. Schnell füllte sie den Becher und trank ihn in einem Zug leer. Ihr Magen rebellierte sofort. Würgend fiel sie auf die Knie und übergab sich in den Nachttopf, der neben der Koje stand. Als es vorbei war, richtete sie sich auf und strich sich das Haar aus der Stirn.

Sie solle langsam trinken, hatte der Mann gesagt. Sie schenkte sich erneut ein und trank in kleinen Schlucken, machte nach jedem Schluck eine Pause. Diesmal behielt sie die Flüssigkeit bei sich. Sie wartete eine Weile, dann trank sie einen zweiten Becher.

Danach war ihr etwas wohler, und sie kleidete sich an. Sie musste unbedingt mit dem Kapitän dieses Schiffes sprechen.

Einen Augenblick zögerte sie, die Hand bereits an der Türklinke. Was erwartete sie dort draußen?

Schließlich öffnete sie die Tür. Ihr Blick fiel in einen größeren Raum. Ein junger Mann war emsig dabei, einen großen Tisch zu scheuern. Er war so vertieft in seine Arbeit, dass er sie erst bemerkte, als sie ihm einen guten Morgen wünschte.

Er fuhr hoch und starrte sie an. Dann schluckte er, und eine tiefe Röte breitete sich über sein rundes, ein wenig einfältiges Gesicht aus. »G-G-Guten Tag, Ma’am.«

Er wirkte sehr jung, etwa so alt wie ihre Tochter. Achtzehn Jahre, vielleicht noch jünger. Sie lächelte ihm zu. »Wo finde ich den Kapitän?«

Er räusperte sich und schluckte erneut. »An Deck, Ma’am.« Er zeigte auf eine Treppe. »Da rauf.«

»Danke.«

Vorsichtig stieg sie die schmalen Stufen nach oben. Ein frischer Wind blies ihr ins Gesicht, als sie nach draußen trat. Neugierig sah sie sich um.

Es war ein Segelschiff. Kein besonders großes, ein Zweimaster. Ein Fischkutter schien es nicht zu sein, sie konnte keine Netze entdecken. Eigentlich sah es ganz hübsch aus, wie es so mit weißen Segeln dahinrauschte. Fast wie eine der Jachten ihrer Freunde. Aber eine Jacht war es nicht. Die Männer an Bord waren eindeutig Seeleute und keine Herrensegler. Einige machten sich an irgendwelchem Tauwerk zu schaffen, andere schrubbten das Deck. Ein paar Meter entfernt stand ein Mann an der Reling und beobachtete mit kritischem Blick die Segel.

Niemand beachtete sie.

Zögernd trat sie ein paar Schritte vor. Der Wind griff nach ihr, zerrte an ihren Haaren und blies lange Strähnen vor ihr Gesicht. Einen Fluch murmelnd drehte sie sich um und versuchte, ihr Haar notdürftig zu einem Knoten zu schlingen. Sie war gerade damit fertig, als sich jemand neben ihr räusperte.

»Ma’am, ich möchte Sie sehr bitten, Ihre Morgentoilette in Zukunft in Ihrer Kabine zu erledigen. Sie halten meine Männer von der Arbeit ab.«

Was sollte das heißen? Verwirrt sah sie sich um. Alle Männer an Deck hatten aufgehört zu arbeiten und starrten sie an.

Augenblicklich wurde ihr klar, warum.

Sie stand mit erhobenen Armen, der Wind drückte Bluse und Rock eng an ihren Körper, sodass sich ihre Rundungen nur allzu deutlich abzeichnen mussten.

Ihre Wangen wurden heiß, sie kreuzte die Arme vor der Brust. »Ja, also – tut mir leid.«

Ein spöttisches Lächeln erschien auf dem Gesicht des Mannes neben ihr. Er schien etwas sagen zu wollen, doch plötzlich schlingerte das Schiff, und er eilte zu dem Mann am Steuer und griff ins Rad. »Halt das Schiff auf Kurs, oder es setzt was!«, blaffte er ihn an und wandte sich dann an die Matrosen. »Los, an die Arbeit! Ihr habt genug gesehen!«

Zwar gehorchten die Männer seinem Befehl, aber sie warfen ihr verstohlene Blicke zu und tuschelten.

Sarah wünschte sich, im Boden zu versinken. Selten war ihr etwas so peinlich gewesen wie dieser Auftritt.

Der Mann, der sie angesprochen hatte, lehnte nicht weit von ihr an der Kajüte am Heck, in der sich auch ihre Kabine befand, und musterte sie unverfroren.

Ihr Unbehagen wuchs. »Meine Männer«, hatte er gesagt, also musste er der Kapitän dieses Schiffes sein. Warum begrüßte er sie nicht, wie sich das gehörte?

Schließlich ging sie zu ihm hinüber und sprach ihn an. »Sie sind der Kapitän?«

Er nickte. »John Brandon.«

»Sarah Tanner«, stellte sie sich vor und reichte ihm die Hand. »Ich muss Ihnen danken.« Sie lächelte ihn an. »Sie haben mir das Leben gerettet.«

Seine Antwort bestand aus einem Schulterzucken. Sarah wartete einen Moment, aber er schwieg.

»Wo bin ich hier?«, fragte sie endlich.

»Auf der Victory.«