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Eine junge Frau sucht ihr Glück in der Neuen Welt.
Pennsylvania, 1861: Die junge Esther wächst behütet in einer Amisch-Gemeinde auf, doch der Sezessionskrieg spaltet das Land. Sie fühlt sich machtlos, während plündernde Soldaten von Hof zu Hof ziehen und der Krieg immer näher rückt. Eines Tages findet sie den schwer verletzten Soldaten Jack auf ihrem Land. Obwohl er ein Feind ist, kümmert Esther sich um ihn und pflegt ihn gesund, bis er wieder zu Kräften kommt. Allmählich verlieben die beiden sich ineinander – doch sie wissen, diese Liebe muss ein Geheimnis bleiben ...
Die emotionale Geschichte einer verbotenen Liebe vor der besonderen historischen Kulisse der Amischen.
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Seitenzahl: 450
Während in Amerika der Sezessionskrieg tobt, leben die junge Esther und ihr Bruder Ben behütet in einer Familie von Amischen. Ihre Gemeinde will mit dem Krieg nichts zu tun haben und erwartet das auch von ihren Mitgliedern. Trotzdem meldet sich Ben freiwillig als Sanitäter und zieht sich damit den Unmut der Ältesten zu. Doch dann kommt der Krieg auch nach Pennsylvania und erschüttert die heile Welt der Amisch. Eines Tages findet Esther einen verletzten Soldaten auf dem Land ihrer Familie und versteckt ihn gegen den Willen der Gemeinde bei sich auf dem Hof.
Karin Seemayer, geboren 1959, machte eine Ausbildung zur Reiseverkehrskauffrau und war beruflich und privat viel unterwegs. Die meisten ihrer Romanideen sind auf diesen Reisen entstanden. Allerdings musste die Umsetzung warten, bis ihre drei Kinder erwachsen waren. Heute lebt sie im Taunus. Im Aufbau Taschenbuch sind ihre Romane „Die Tochter der Toskana“, „Das Gutshaus in der Toskana“, „Sterne über der Toskana“, „Die Sehnsucht der Albatrosse“ und „Das Geheimnis des Nordsterns“ sowie der erste Band der Amisch-Saga „Der Himmel über Amerika. Rebekkas Weg“ lieferbar.
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Karin Seemayer
Der Himmel über Amerika - Esthers Entscheidung
Roman
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
Informationen zum Buch
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1. Kapitel
Jacobstown, Anfang März 1861
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
November 1862, Fredericksburg
12. Kapitel
13. Kapitel
Jacobstown Juni 1863
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
Camp Hoffman, Maryland 1864
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
Nachwort und Danksagung
Impressum
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So, die Brote sind fertig.« Esther knetete ein letztes Mal den Teig, dann formte sie vier Laibe daraus und deckte sie mit einem Tuch ab. Der Teig musste noch einmal gehen, bevor die Brote in den Backofen konnten.
»Ich bin auch fertig«, sagte Elisabeth, richtete sich auf und streckte den Rücken. In einem Korb vor ihr lagen zehn gerupfte Hühner, im Korb daneben die Federn.
Esther rieb ihre schmerzenden Hände. Seit Tagen buken und kochten sie für die Hochzeit, die übermorgen auf dem Mühlenhof stattfinden sollte. Mehr als sechzig Gäste wurden zur Vermählung ihrer Schwester Magdalena Hochleitner, genannt Lena, und Michael Wagner erwartet. Natürlich mussten die Frauen vom Mühlenhof die Vorbereitungen nicht alleine treffen. In der geräumigen Küche der Hochleitners saßen auch die drei Schwestern des Bräutigams und schälten Unmengen Kartoffeln. Außerdem würde jeder Gast etwas zum Fest mitbringen. So war es Brauch.
In der letzten Woche hatten Esthers Vater David und ihre Brüder Ben und Caleb bereits geschlachtet und gewurstet. Schinken und Würste hingen in der Räucherkammer.
Während die jungen Frauen das Essen vorbereiteten, kümmerten sich Esthers Stiefmutter Ruth und Großmutter Rebekka um das Haus. Schon die Woche zuvor hatten sie alle Tischdecken und Vorhänge gewaschen. Diese Woche hatten sie die Fenster geputzt und die Böden geschrubbt. In den Zimmern waren die Betten frisch bezogen, für die Gäste von außerhalb, die hier übernachten würden.
Esther wischte eben den großen Tisch ab, als sie Hufschläge und das Rattern von Wagenrädern auf dem Hof hörte. Ihre Großmutter eilte an die Haustür und öffnete sie.
»Ah, Simon und Josua, guten Tag. Ihr bringt uns die Bänke? Sehr schön. Tragt sie bitte in die Scheune.«
»Guten Tag, Rebekka.«
Wie immer erkannte Esther Simon Baumgartners Stimme sofort.
»Ich bringe auch zwei Kannen Milch mit. Soll ich sie in die Milchkammer tragen?«
»Sehr gerne, vielen Dank. Du kennst ja den Weg.«
Esther legte das Tuch weg und ging zur Haustür. Draußen luden Simon und sein Bruder Josua die Bänke vom Wagen.
»Hallo Esther.« Simon lächelte und winkte ihr zu. Etwas befangen erwiderte sie sein Lächeln. Im Alter von vierzehn Jahren war sie bis über beide Ohren in ihn verliebt gewesen. Seine sanften dunkelbraunen Augen hatten es ihr angetan, ebenso wie seine hellbraunen Locken und sein Lächeln, bei dem sich ein Grübchen in seiner linken Wange bildete. Doch am meisten mochte sie seine Stimme. Sie klang immer ein wenig heiser, doch gerade das gefiel ihr. Wenn er sprach, dachte sie an das leise Rascheln eines Weizenfeldes im Wind. Außerdem war er einer der wenigen Männer, die größer waren als sie. Doch er war sechs Jahre älter als sie und hatte sie stets wie eine jüngere Schwester behandelt. Zahllose Nächte hatte sie schlaflos im Bett gelegen und darum gebetet, er möge sie endlich bemerken. In anderen Nächten hatte sie sich ausgemalt, wie sie ihm ihre Liebe gestand. Sich vorgestellt, wie er ihre Hände nahm und ihr sagte, dass er sie auch liebte und nur geschwiegen hatte, weil sie noch so jung war.
In ihren Träumen hatte er versprochen zu warten, bis sie sechzehn wäre und zum Singen gehen durfte, dem Treffen der heiratsfähigen jungen Leute nach dem Gottesdienst.
Doch ein Jahr später hatte er Rachel Yoder geheiratet. Esther hatte nächtelang ihr Kissen nass geweint. Inzwischen hatten er und Rachel drei Kinder, und Esther hatte ihre Verliebtheit überwunden. Doch immer noch fand sie seine Augen wunderschön, konnte sich an seinem Lächeln nicht sattsehen, und beim Klang seiner Stimme hörte sie das Rauschen der Weizenfelder im Wind. Kein anderer Mann hatte ihr seither wirklich gefallen.
Sie riss sich von seinem Anblick los und wandte sich an ihre Großmutter. »Die Brote können bald in den Ofen, die Hühner sind gerupft, und die Kartoffeln sind schon in der Suppe.«
»Wunderbar. Ihr seid sehr fleißig. Es wird eine schöne Hochzeit.«
Esther stimmte zu. Lena war sehr verliebt in Michael. Seit der Armendiener in seiner Aufgabe als »Schtecklimann«, als Heiratsvermittler, bei ihrem Vater für Michael um ihre Hand angehalten hatte, schien sie wie auf Wolken zu gehen. Ihr Vater hatte der Hochzeit sofort zugestimmt, die Wagners und die Hochleitners waren einander seit Langem freundschaftlich verbunden. Auch die Schwester ihrer Großmutter, Großtante Susanna, war mit einem Wagner verheiratet.
Als es dämmerte, spannten Michaels Schwestern ihr Pferd vor ihren Wagen und machten sich auf den Heimweg.
Esther ging mit Lena in den Ziegenstall zum Melken, anschließend brachten sie die Milch in die Milchkammer.
Dunkelheit senkte sich über das Land. Die Schwestern blieben einige Minuten vor der Haustür stehen. Esther lauschte auf das Plätschern des Baches, der hinter dem Gemüsegarten floss. Von der Mühle, die am Bach stand, drang das leise Klappern des Mühlrads herüber. Es war windstill, am Himmel stand ein halber Mond. Die Nacht würde kalt werden. Nebel stieg aus den Wiesen und zwischen den Bäumen empor und verzauberte den Mühlenhof. Aus dem Wald hinter dem Bach hörte sie ein Käuzchen rufen.
»Nur noch einen Tag, dann bist du verheiratet«, sagte Esther. »Bist du sehr aufgeregt?«
»Weniger, als ich erwartet habe. Jetzt, wo es so weit ist, ist es ein seltsames Gefühl, dass ich hier fortgehen soll. Du wirst mir fehlen.«
»Du ziehst ja nicht weit weg. Nur eine Meile weiter. Wir werden uns oft besuchen.«
»Ja. Das werden wir.« Lena schluckte. »Ich wünschte, Mutter könnte dabei sein. Sie fehlt mir immer noch, obwohl es schon so lange her ist.«
Esther seufzte. Ihre Mutter war vor acht Jahren gestorben. Damals waren Lena zehn und sie zwölf Jahre alt gewesen. Johanna hatte keine der Hochzeiten ihrer Kinder miterlebt.
Im Jahr nach dem Tod ihrer Mutter hatte ihr Vater wieder geheiratet. Ruth Shrock, eine kinderlose Witwe.
»Ich denke, Ruth wird froh sein, dass nun ein weiterer Störenfried aus dem Haus ist«, sagte Lena, und ihre Stimme klang bitter. »Wenn du und Ben dann noch heiratet, hat sie endlich ihre Ruhe.«
»Nun, noch habe ich keine Heiratspläne und Ben auch nicht, soweit ich weiß.« Esther lachte. »Sie muss es noch ein bisschen mit uns aushalten.« Dann wurde sie ernst. »Ich glaube, es war nicht leicht für sie. Vater hat gedacht, sie könne uns die Mutter ersetzen, doch sie hatte ja keine Erfahrung mit Kindern oder gar jungen Leuten im schwierigen Alter.«
Esther spürte Lenas Blick. Sie und Lena hatten als jüngste der Hochleitner Kinder wohl am meisten unter der Strenge ihrer Stiefmutter gelitten. Besonders Lena, die ihrer verstorbenen Mutter aus dem Gesicht geschnitten war, hatte es mit Ruth schwer gehabt.
»Vielleicht hast du recht«, sagte Lena. »Ich hatte immer das Gefühl, ich kann ihr nichts recht machen. Egal, wie sehr ich mich angestrengt habe, sie hatte immer etwas an mir auszusetzen.«
»Ich glaube, dieses Gefühl hatten wir alle.« Fröstelnd zog Esther die Schultern hoch. »Mir wird kalt. Lass uns hineingehen.«
Am nächsten Morgen zogen Esther und Lena das Bett in der Stube ab, in der sie bisher gemeinsam geschlafen hatten. Die ersten zwei Nächte nach der Hochzeit würde das Brautpaar im Hause der Brauteltern verbringen. Esther und Lena bezogen das Bett neu und schmückten den Raum mit den immergünen Zweigen des Lebensbaumes.
An der Wand hing auf einem Bügel Lenas Brautkleid aus dunkelblauer Baumwolle. Sie hatte es selbst genäht, auch das war Brauch. Es war schlicht und ohne jede Verzierung, doch der Stoff war aus langfaseriger Baumwolle gewebt und hatte daher einen schönen Schimmer. Ihr Großvater Daniel hatte ihn in Columbia besorgt.
Esther brachte ihr Bettzeug in eine kleine Kammer unter dem Dach. Als sie die Treppe wieder hinunterstieg, klopfte es an die Haustür.
»Ich gehe schon«, rief ihre Großmutter.
Esther hörte ihre raschen Schritte. Trotz ihrer vierundsechzig Jahre bewegte sie sich leichtfüßig wie eine junge Frau. Sie öffnete die Haustür.
»Ah, guten Tag Lydia. Komm doch rein.«
Esther seufzte leise. Lydia Grabill, die Frau des Bischofs, war eine der größten Tratschtanten von Jacobstown. Sie wusste über alles Bescheid und hatte das dringende Bedürfnis, ihr Wissen zu teilen.
»Ich hatte noch eingemachte Kirschen und habe einen Kirschkuchen für die Hochzeit gebacken«, sagte sie fröhlich. »Wo soll ich ihn hinbringen?«
»Ich bringe ihn in die Vorratskammer«, sagte Ruth, die aus der Küche kam. »Vielen Dank, liebe Lydia.«
Sie nahm Lydia das Kuchenblech ab und ging hinaus.
Rebekka bat Lydia in die Wohnstube.
Esther blieb auf dem Absatz im ersten Stock stehen und sah ihnen nach.
»Ich freu mich ja so für Magdalena«, sagte Lydia. »Es ist ein großes Glück, dass sie einen so netten Mann gefunden hat.«
»Ja, Michael ist auch sehr glücklich«, antwortete ihre Großmutter trocken.
»Natürlich kann sich auch Michael glücklich schätzen.« Lydia räusperte sich. »Als ich gesehen habe, wie viel Sellerie ihr letztes Jahr gepflanzt habt, dachte ich, eure Esther würde heiraten. Eigentlich ist es höchste Zeit für sie.«
»Sie ist zwanzig«, antwortete Großmutter. »Das ist noch nicht so alt.«
»Aber jetzt heiratet sogar ihre jüngere Schwester, und sie hat immer noch niemanden. Man macht sich schon so seine Gedanken. Was soll denn aus ihr werden, wenn sie keinen Mann findet?«
Esther ballte die Fäuste. Sie wusste, dass man darüber redete, dass sie noch nicht verheiratet war, und eigentlich hätte ihr auch klar sein müssen, dass die Hochzeit ihrer jüngeren Schwester manchen Leuten Anlass bot, sich den Mund über sie zu zerreißen.
Aus der Stube hörte sie Großmutters leises Lachen. »Ach, da mache ich mir keine Sorgen. Esther hat nur noch nicht den richtigen Mann gefunden. Ich bin sicher, sie wird ihm früher oder später begegnen.«
»Ich glaube, mit dieser Einstellung macht ihr einen Fehler. Das Mädel ist einfach zu wählerisch. Mein Isaac wollte ihr ja den Hof machen, doch sie hat so getan, als merke sie es nicht. Na ja, wenn sie noch länger wartet, wird sie wohl einen Witwer nehmen müssen, weil alle jungen Männer vergeben sind.«
»Das wird sich zeigen. Ich kann verstehen, dass sie aus Liebe heiraten will. Das habe ich auch getan.«
»Tss. Liebe. Die jungen Männer hier sind ihr nicht gut genug. Sie meint, es müsse ein Besonderer kommen. Dabei hat sie nun nicht gerade die Auswahl, nicht jeder will eine Frau, die größer ist als er selbst. Meinen Isaac würde es nicht stören.«
»Ich bin sicher, Gott wird ihr den rechten Weg weisen, wenn es so weit ist«, entgegnete ihre Großmutter, nun deutlich schärfer. »Vielen Dank für den Kuchen, liebe Lydia. Ich muss jetzt Ruth bei den Vorbereitungen helfen.«
Stühle scharrten über den Boden. Hastig wich Esther zurück und versteckte sich hinter der Tür. Sie kochte vor Zorn. ›Mein Isaac‹, dachte sie. Lydias Isaac war ihr einziger Sohn, und seine Mutter vergötterte ihn. Seine Familie gehörte zu den ersten, die vor hundertfünfzig Jahren hierhergekommen waren. Sie besaßen riesige Ländereien, und sein Vater war der Bischof. Das war alles nicht Isaacs Verdienst, trotzdem tat er so, als sei er ein Geschenk für jedes Mädchen. Dabei war er nur verwöhnt und eingebildet.
Letztes Jahr hatte er Naomi Wagner den Hof gemacht, die Enkelin von Esthers Großtante Susanna und deren Mann Ruben. Doch die bildhübsche Naomi hatte einen Mann aus Lancaster geheiratet.
Isaac hatte anschließend so getan, als hätte er Naomi verschmäht und nicht umgekehrt. Kurz danach hatte er angefangen, sich um Esther zu bemühen. Doch sie fand ihn weder nett noch anziehend, und so war sie auf seine Annäherungsversuche nicht eingegangen. Sie hatte es wirklich nicht eilig mit dem Heiraten. Im Grunde war sie mit ihrem Leben sehr zufrieden. Ihr Vater ließ ihr viele Freiheiten, oft zum Ärger ihrer Stiefmutter. Im letzten Jahr hatte sie es übernommen, sich um die Ziegen zu kümmern, und ihr selbst gemachter Ziegenkäse wurde bis nach York und Harrisburg verkauft. Sie konnte tatsächlich für sich selbst sorgen, sie brauchte niemanden, der sie ernährte. Manchmal fragte sie sich, ob mit ihr etwas nicht stimmte. Abgesehen von der Schwärmerei für Simon vor sechs Jahren, hatte sie sich nie verliebt. Wenn die Mädchen nach der Gemeeh beim Liebesmahl die Köpfe zusammensteckten und tuschelten, Blicke mit den jungen Burschen tauschten, albern kicherten und erröteten, wenn einer sie ansprach, fühlte sie sich immer fremd.
Am Tag der Hochzeit wurde Esther vom Prasseln des Regens an den Scheiben geweckt. Sie stieg die Treppe hinunter und betrat Lenas Zimmer. Lena stand am Fenster und blickte unglücklich auf den Hof. Esther trat zu ihr.
»Regnet es schon lange?«
»Ich habe es schon gehört, als es noch dunkel war. Die Wege werden schlammig sein.«
Esther lächelte. »Das wird niemanden daran hindern zu kommen.«
»Das nicht, aber …« Ein Klopfen an der Tür unterbrach sie. Ihre Großmutter trat ein, ein Tablett in den Händen.
»Guten Morgen« sagte sie fröhlich. »Ich habe euch das Frühstück gebracht, weil heute ein besonderer Tag ist.«
Sie stellte das Tablett auf den Tisch. Der Duft frischen Kaffees füllte den Raum. Esther griff nach einem Becher. »Danke, das ist lieb von dir.«
Lena stand immer noch am Fenster. »Was ist los, mein Kind?«, fragte Großmutter. »Du guckst ja so traurig. Heute ist doch ein Tag zum Freuen.«
»Es regnet schon seit Stunden.«
»Ja, Sonnenschein wäre schöner gewesen, aber das kann man sich nicht aussuchen. Und weißt du, deine Ehe wird auch nicht nur aus eitel Sonnenschein bestehen. Auch wenn du es jetzt nicht für möglich hältst, es wird Momente geben, in denen du wünschst, du hättest nicht geheiratet. Und jetzt versuche, ein bisschen was zu essen.«
Esther griff nach einem Brötchen. »War es bei dir so, Großmutter?«
»Wie?«
»Dass du mal gewünscht hast, du hättest Großvater nicht geheiratet.«
Rebekka lächelte und wirkte plötzlich um Jahre jünger. »Ja, allerdings. Jede Ehe hat solche Momente. Deshalb verspricht man sich, zusammenzuhalten, in Liebe und in Leid, im Guten wie im Schlechten. Das redet man nicht nur so daher, man muss es leben.«
Lena setzte sich, griff nach einer Tasse und nippte an ihrem Kaffee. »Ich weiß nicht, ob ich etwas essen kann. Mein Magen ist wie zugeschnürt.«
»Du solltest es versuchen. Die Andacht wird lange dauern. Und ach, Esther, hast du dir überlegt, wer dein Newwehocker sein soll?«
Esther zuckte mit den Schultern. Die Newwehocker waren die unverheirateten Freunde und Verwandte des Brautpaares. Sie saßen beim Essen an einem extra Tisch, und zwar ausnahmsweise paarweise nebeneinander und nicht wie sonst Männer und Frauen getrennt. Und natürlich gaben die Paare, die sich dort bildeten, Grund zu Spekulationen über anstehende Hochzeiten.
»Nein. Mir wäre es am liebsten, wenn ich bei den Eckleuten sitzen könnte. Egal wer neben mir sitzt, es werden sofort alle darüber reden, ob ich endlich heirate.«
»Das werden sie so oder so«, sagte Großmutter.
»Ja, ich weiß, ich habe Lydia Grabill gestern gehört, als sie den Kuchen gebracht hat. Also wenn ich schon bei den Newwehockern sitzen muss, dann bitte nicht neben ›ihrem Isaac‹.«
Lena lachte. »Das verstehe ich sehr gut.«
»Wir überlassen es einfach dem Zufall«, sagte ihre Großmutter. »Wer weiß, vielleicht sind unter den Gästen der Wagners von außerhalb nette junge Männer.«
Eine Stunde später rollten die ersten Wagen auf den Hof. Zuerst kamen die Verwandten. Onkel Cal, Onkel Joseph und Tante Sarah, alle mit Familie. Tante Magdalena aus Philadelphia war mit ihrer Familie schon am Abend zuvor eingetroffen. Auch Esthers verheiratete Geschwister Becky und Dan trafen ein. Rebekkas und Daniels zahlreiche Enkel kümmerten sich um die Pferde. Die Frauen gingen ins Haus, die Männer in die Scheune. Esther und Lena standen in ihrer Stube, die heute Brautzimmer sein würde. Esther hatte ihr schwarzes Sonntagskleid und die weiße Schürze angezogen und ihr Haar unter einer Haube verborgen. Lena trug nun ihr neues Kleid, ihr rötlich braunes Haar, dass dem ihrer Mutter glich, war zu einem Knoten gesteckt. Sie trug eine weiße Kapp aus Organdy, die den Haaransatz freiließ. Nervös steckte sie eine vorwitzige Locke zurück unter die Haube. »Wie sehe ich aus?«, wandte sie sich an Esther.
Sie lächelte. »Du strahlst so sehr, dass niemand merken wird, dass die Sonne nicht scheint«, antwortete sie.
Lena verdrehte die Augen. »Ich wollte keine Komplimente hören.«
»Es war mein Ernst«, sagte Esther.
»Danke. Ich weiß, es ist eitel, aber ich möchte heute hübsch aussehen.«
»Du bist wunderschön. Michael kann sich glücklich schätzen, dich zur Frau zu bekommen.«
Ein seliges Lächeln zog über Lenas Gesicht. »Ich bin auch sehr glücklich, ihn zu bekommen. Und du siehst heute auch sehr hübsch aus.«
»Danke.« Im Stillen dachte sie, dass Lena einfach nur nett sein wollte. Sie hatte sich schon des Öfteren heimlich in dem kleinen Spiegel betrachtet, den ihr Vater zum Rasieren benutzte, sie wusste, wie sie aussah. Ihr Kinn und ihre Wangenknochen waren ein wenig zu ausgeprägt, um lieblich zu sein, ihr Mund war zu groß. Das Schönste an ihr waren ihre Augen. Sie waren zwar nicht so groß und rund wie Lenas, sondern mandelförmig, aber von einem intensiven Blau, wie die Farbe der Schmucksteine, die hier auf den Märkten verkauft wurden. Türkise nannte man sie.
Sie strich ihr Kleid glatt. Es war schlicht geschnitten, wie alle Kleider der Amisch, und wurde vorne von sieben Nadeln zusammengehalten. Dann gingen Lena und sie hinunter und begrüßten die Gäste.
Einige Zeit später kam der »Vorgeher«, in diesem Fall der Armendiener Elam Fisher, und holte die Frauen in die Scheune, wo der Gottesdienst stattfinden würde. Die Männer hatten bereits auf der linken Seite Platz genommen, die Frauen setzten sich auf die Bänke an der rechten Seite. Lena und Michael waren noch nicht da, sie hatten noch eine kurze Unterredung mit Joseph Grabill, dem Bischof von Jacobsville. Esther saß heute in der ersten Reihe, zwischen ihrer Großmutter und Ruth.
Schließlich betrat Bischof Grabill die Scheune, gefolgt von Lena und Michael. Hand in Hand stand das Brautpaar vor der Gemeinde und leistete das Eheversprechen: dass sie nach christlicher Ordnung Mann und Weib seien, Liebe und Leid miteinander tragen würden. Großmutter Rebekka wandte bei diesen Worten den Kopf und sah hinüber zu ihrem Mann Daniel. Auch er blickte sie an und lächelte. Unwillkürlich lächelte auch Esther. Ihre Großeltern gehörten zu den Paaren, die sich ihre Liebe ein Leben lang bewahrt hatten, und in diesem Augenblick schienen sie wie durch ein unsichtbares Band einander verbunden.
Vielleicht tat sie sich deshalb so schwer mit den jungen Männern, dachte Esther, weil sie das Vorbild für eine große Liebe immer vor Augen hatte.
Nach der kurzen Trauungszeremonie hielt Jakob Graber, einer der Ältesten, die Predigt, danach wurden Lieder aus dem Ausbund gesungen. Nach fast drei Stunden Gottesdienst sprach der Bischof das Schlusswort.
Die Frauen gingen ins Haus und holten Platten mit Braten, Wurst, Käse. Unterdessen stellten die Männer die Bänke um, bauten aus Holzböcken und Brettern provisorische Tische.
Esther und ihre Schwestern breiteten weiße Tischdecken darüber. Lena und Michael saßen mit ihren Freunden an einem Tisch in der Ecke. Vor ihnen türmten sich die Speisen.
Ein weiter Tisch war für die Newwehocker reserviert. Esther hielt sich hinter ihrem Bruder Benjamin, um Isaacs beharrlichen Versuchen, ihren Blick aufzufangen, zu entgehen. Sie hatte Erfolg, Isaac setzte sich schließlich neben Rachel Graber. Esther fand neben Jonah Baumgartner, einem Vetter von Josua, Platz. Ben wurde von Hannah Lapp mit Beschlag belegt. Es schien ihm nicht unangenehm zu sein, seine Augen, die blau waren, wie bei allen Hochleitners, leuchteten, und er unterhielt sich sehr angeregt mit ihr. Esther gegenüber saß Noah Kauffmann, Bens bester Freund, neben Martha Beiler.
Esther tauschte ein paar Nettigkeiten mit Jonah aus. Er war ein Jahr jünger als sie und offensichtlich ebenso wenig auf der Suche nach einer Braut wie sie nach einem Bräutigam. Als das durch Zufall zur Sprache kam, verstanden sie sich sehr gut. Wie sich herausstellte, kam Jonahs Familie aus einer Gemeinde bei Mifflin, die weniger strenge Regeln hatte. Die Mifflin-Amisch hatten sich vor einigen Jahren von ihrer ursprünglichen Gemeinde abgespalten, weil ihnen manche Gebote zu streng ausgelegt wurden, so das Verbot von Musikinstrumenten. Sie hielten ihren Gottesdienst in einem Gemeindehaus, in dem es sogar ein Piano gab. Als Jonah davon erzählte, rümpfte Isaac die Nase.
»Ein Gemeindehaus?«
»Ja. Ein Gemeindehaus ist sehr praktisch. Niemand muss mehr sein Haus und die Scheune freiräumen, damit alle Platz haben. Unser Haus ist groß und liegt so, dass es für jeden gut erreichbar ist.«
»Aber es ist nicht der amische Weg. Die Engländer und die Außenweltler haben Häuser für den Gottesdienst. Wir sollten uns nicht mit ihnen gemein machen.«
Ben unterbrach sein Gespräch mit Hannah. »Ich finde die Idee gut. Gott achtet nicht darauf, wo man zu ihm betet. Warum sollte er etwas gegen ein Haus für die Gemeeh haben?«
»Wir Amisch hatten so etwas nie.«
»Nur weil etwas neu ist, muss es nicht schlecht sein«, sagte Jonah. »Und außerdem stimmt es nicht. Auch in der alten Heimat gab es Gemeinden, die Bethäuser hatten. Mein Großvater kommt aus Hessen-Nassau und hat mir das erzählt.«
Isaac runzelte die Stirn, doch offenbar fiel ihm keine passende Erwiderung ein, denn er schwieg.
»Und ihr habt wirklich ein Piano?«, fragte Esther.
»Ja. Wir spielen es nur bei der Gemeeh, als Begleitung zu den Liedern.« Jonah zwinkerte, als er das sagte.
Esther unterdrückte ein Lächeln. Das glaubte sie niemals. Beim Singen waren die jungen Leute unter sich, wie hier auch, und niemand würde hören, wenn sie Piano spielten. Sie begegnete Bens Blick. Seine Augen funkelten.
»Das finde ich sehr interessant. Bei uns ist ein Piano nicht erlaubt, nur ganz einfache Instrumente. Mein Großvater hat eine Mundharmonika. Er spielt sehr gut.«
»Das ist eitel«, erklärte Isaac mit finsterer Miene.
»So? Dein Vater findet das aber nicht«, gab Esther zurück. »Er sagt, es sei nicht viel anders, als zu singen, da die Töne mit der Atemluft gemacht werden.«
Isaacs Gesicht wurde noch mürrischer, er warf Esther einen bösen Blick zu, den sie ungerührt erwiderte. Geschah ihm recht, wenn er sich mit seiner Besserwisserei blamierte.
Einen Augenblick herrschte betretenes Schweigen am Tisch, dann beugte sich Noah Kauffmann vor. »Habt ihr schon gehört, dass Pennsylvania sich für die Union erklärt hat?«
Wenn er das Thema wechseln wollte, so war ihm das gelungen. Alle jungen Männer am Tisch wandten sich ihm zu.
»Woher weißt du das?«, fragte Elias Beiler, der wegen seines feuerroten Haarschopfs von allen nur Rotfuchs Elias genannt wurde.
»Mein Vater war gestern in York und hat eine Zeitung mitgebracht.«
»Und was spielt das für uns für eine Rolle?«, brummte Isaac, nach wie vor schlecht gelaunt.
»Wenn es zum Krieg kommt, wird Pennsylvania gegen die Südstaaten in den Kampf ziehen müssen«, antwortete Noah. »Das wird einigen nicht gefallen. Es gibt viele Demokraten hier.«
»Das ist Sache der Engländer«, erklärte Eli Kurtz. »Wir haben damit nichts zu schaffen.«
Noah schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Ich finde es nicht richtig, sich nicht dafür zu interessieren, was in diesem Land vor sich geht. Ein Krieg kann uns alle betreffen, selbst wenn wir nicht kämpfen.«
»Ich glaube nicht, dass es zum Krieg kommt«, sagte Eli. »Eher entlässt Lincoln die Südstaaten aus der Union, als gegen sein eigenes Volk zu kämpfen.«
Esther lauschte stumm. Auch zu Hause war ab und zu über die Sezession gesprochen worden und über die Absicht der Südstaaten, einen eigenen Staat zu gründen. Aber bisher war das alles sehr weit weg gewesen. Etwas, das vielleicht irgendwann einmal passieren könnte – aber nichts mit ihrem Leben zu tun hatte. Doch jetzt lief ihr bei Noahs Worten ein Schauer über den Rücken.
»Lasst uns nicht über Krieg reden«, sagte Hannah und lächelte Ben an. »Heute ist doch ein Freudentag.«
Selbst wenn die jungen Männer vielleicht gerne das Thema weiterverfolgt hätten, waren sie zu höflich dazu.
Zwei Nächte blieben Lena und Michael auf dem Mühlenhof der Hochleitners, dann zogen sie in das Haus, das Michael auf einem Stück Land errichtet hatte, das sein Vater ihm gegeben hatte. Es lag an der äußeren Grenze des Wagnerhofes, dahinter erstreckte sich der Wald. Esther vermisste ihre Schwester. Sechs Kinder waren sie gewesen, die zusammen aufgewachsen waren, miteinander gespielt, sich gezankt und geliebt hatten. Jetzt lebten nur noch Ben und sie zu Hause. Sie verstand sich gut mit ihm. Aber es war doch etwas anderes als mit Lena.
Ende März wurden die ersten Zicklein geboren, und Esther hatte morgens viel mit dem Melken zu tun. Sie mochte die Ziegen sehr. Jede von ihnen war irgendwie besonders. Flöckchen, eine reinweiße Geiß, war ausgesprochen anschmiegsam. Sie kam immer sofort zu Esther, wenn sie den Stall betrat, und wollte ausgiebig hinter dem Ansatz der Hörner gekratzt werden. Die dreifarbige Liese dagegen hielt so lange Abstand, bis Esther ihr ein Stück Apfel oder Möhre gab, erst dann ließ sie sich melken.
Esther dachte ebenso wie ihre Großmutter, dass Ziegen ausgesprochen klug seien. Das zeigte sich schon daran, dass sie die Ausbrecherkönige unter den Tieren waren. Immer wieder fanden sie Lücken im Weidezaun, so dass Esther mindestens einmal in der Woche die Ziegen aus dem Wäldchen, das die Mühle umgab, holen musste.
Glücklicherweise hatte ihr Vater vor drei Jahren von schottischen Einwanderern einen Hund gekauft, der es schaffte, die kleine Herde binnen kurzer Zeit zusammen- und auf die Weide zu treiben. Er war nicht besonders groß, schwarz-weiß und hörte auf den Namen Max. Esther hatte zuvor noch nie einen Hund gesehen, der so arbeitete wie Max. Geduckt, mit dem Bauch fast auf dem Boden, schlich er auf die Ziegen zu, fixierte sie mit seinen bernsteinfarbenen Augen, bis sie vor ihm flüchteten. Dann setzte er ihnen nach und trieb sie durch das Tor auf die Weide oder auch in den Stall. Esther und Ben waren so begeistert von der Arbeitsweise dieses Hundes, dass sie ihren Vater überreden wollten, eine passende Hündin zu kaufen und diese Art Hütehund zu züchten.
Der Frühling war für die Bauern eine arbeitsreiche Zeit, doch für den Müller gab es weniger zu tun. Alle Bauern waren mit der Bestellung des Landes beschäftigt, noch gab es kein Korn zu mahlen, und es wurden auch nur wenige Häuser gebaut, so dass auch die Sägemühle nicht oft lief. Esther und ihre Großmutter kümmerten sich um den Gemüsegarten, Esther molk morgens und abends die Ziegen, Großmutter die beiden Kühe. Einen Teil der Ziegenmilch spendeten sie an Mütter der Gemeinde, die nicht genug Milch hatten, um ihre Kinder zu stillen. Großmutter hatte Esther erzählt, dass Ziegenmilch ihren Vater David im Hungerjahr 1816 vor dem Tod gerettet hatte. Aus der Milch, die sie behielten, machte Esther Käse.
Esther liebte den Frühling. Es war schön, wenn die Tage länger wurden und sie vom Gesang der Vögel geweckt wurde. Die Luft war schmeichelnd weich, und aus dem Garten wehte der Duft von Blumen und Kräutern herüber.
An diesem Morgen fand sie die Ziegen im Stall unruhig. Selbst Flöckchen reagierte nicht auf ihr Locken. Sie holte eine Geiß nach der anderen aus dem Verschlag, band sie fest und molk sie. Neun Geißen und einen Bock hatten sie zurzeit, und natürlich die Zicklein. Nach dem Melken holte sie Max. Er sollte die Ziegen auf die Weide treiben. Doch als er in den Stall kam, blieb er stehen und sah auf die Wand, hinter der das Heu gelagert wurde. Seine Nackenhaare stellten sich auf, ein tiefes Grollen drang aus seiner Kehle.
Verwundert sah Esther ihn an. »Was hast du denn, Max?«
Immer noch knurrend schlich Max auf die Wand zu. Die Ziegen ignorierte er vollständig. Beunruhigt griff Esther nach der Mistgabel, die an der Wand lehnte. Vielleicht war ein Fuchs oder ein Marder in den Stall eingedrungen. Max hatte die Wand erreicht und fing wild zu bellen an. Dabei fletschte er die Zähne, sein Fell war gesträubt. Esther hielt die Mistgabel so vor sich, dass sie ein angreifendes Tier abwehren konnte, und folgte ihm vorsichtig, bis sie hinter die Trennwand sehen konnte.
Ein leises Keuchen entfuhr ihr. Es war kein Fuchs und auch kein Marder. Zwei Männer hatten sich ins Heu hinter die Wand gekauert und starrten Max aus großen Augen an. Unwillkürlich hob Esther die Mistgabel.
»Wir tun Ihnen nichts, Ma’am!«, rief einer der Männer.
Erschrocken über sich selbst, stellte sie die Gabel weg und wies Max an, sich hinzulegen.
Die Männer hatten dunkle Haut, und ihre erschrockenen Augen verrieten Esther, dass sie mindestens genauso viel Angst vor ihr hatten wie sie vor ihnen. Da sie sich hier versteckten, konnten sie nur geflüchtete Sklaven sein, die sich nach Kanada durchschlagen wollten.
»Danke, Ma’am«, sagte der eine. »Wir haben nur einen Platz für die Nacht gesucht. Wir gehen gleich.«
Er stand auf und half dem anderen auf die Beine. Der stöhnte beim Aufstehen und hielt sich die Seite.
»Sind Sie verletzt?« Esther trat einen Schritt näher.
»Es ist nichts«, sagte er. »Lassen Sie uns einfach gehen.«
Ein Hustenanfall schüttelte ihn, er stützte sich auf den anderen Mann. Unschlüssig sah Esther die beiden an.
»Wollen Sie nicht wenigstens etwas essen, bevor Sie weiterziehen? Bis nach Kanada ist es eine lange Reise.«
»Woher wissen Sie, dass wir nach Kanada wollen?«, fragte der Unverletzte. Er war der Kleinere und der Ältere der beiden.
»Ich – ich dachte es mir.«
Etwas unsicher trat sie einen Schritt zurück. Vielleicht waren die beiden doch nicht so harmlos. Sicher wollten sie nicht, dass jemand von ihrem Ziel erfuhr.
Der Ältere schien ihre Angst zu spüren. »Ma’am, darf ich fragen, wer Sie sind?«
»Ich bin Esther Hochleitner.«
»Ich bin Moses Bowman, und das ist Sam Parker. Wir kommen aus Virginia. Und Sie haben recht, wir wollen nach Kanada. Aber ich fürchte, wir sind vom Weg abgekommen. Können Sie mir sagen, wo wir hier sind?«
»Der nächste Ort heißt Jacobstown. Fast alle, die hier leben, sind Amisch.«
»Amisch?«
»Wir sind eine – eine Gemeinschaft von Gläubigen.«
Moses nickte. »Wir sollten hier in der Nähe jemanden treffen, der uns weiterhilft.«
»Hier? Das kann ich mir nicht vorstellen. Wir halten uns raus aus der Politik.«
»Dann habe ich mich sicher getäuscht und etwas verwechselt, Ma’am«, sagte Moses schnell. Zu schnell, wie sie fand. Aber was ging es sie an, wen die beiden Männer treffen wollten? Vielleicht war es sogar besser, sie wusste es nicht.
»Komm, Sam, wir gehen«, sagte Moses. »Leben Sie wohl, Ma’am.«
In diesem Augenblick knarrte die Stalltür.
»Esther, was ist denn los?«, hörte sie Bens Stimme. »Ruth sucht dich.«
Hastig wandte sie sich um. »Ich komme schon.«
Doch Ben war bereits hereingekommen und stand jetzt neben ihr.
»Was …?« Er starrte die beiden Männer an. »Was tut ihr hier?«
»Sie haben eine Unterkunft für die Nacht gesucht und wollten jetzt gehen«, sagte Esther schnell.
Ben rührte sich nicht von der Stelle. »Ihr seid geflüchtete Sklaven?«
Moses und Sam wichen zurück. Moses blickte sich um, offenbar suchte er nach einer Fluchtmöglichkeit. Doch es gab keine. Der Weg nach draußen führte an Ben und ihr vorbei. Esther sah die Verzweiflung in den Gesichtern der Männer.
»Ben ist mein Bruder«, sagte sie schnell. »Er wird euch nichts tun.«
»Und ich werde auch nicht zum Sheriff gehen«, ergänzte Ben.
Sam hustete und sank zu Boden, beide Hände an seine Seite gepresst.
»Was ist ihm zugestoßen?«, fragte Ben.
»Er ist einen Abhang hinuntergestürzt. Ich vermute, er hat sich eine Rippe gebrochen.«
»Ich würde mir das gerne ansehen«, sagte Esther.
Moses hob die Schultern. »Bei gebrochenen Rippen kann man nichts tun.«
»Man könnte es zumindest verbinden, und er müsste ein paar Tage ausruhen.«
»Das ist nicht möglich Ma’am. Die Sklavenjäger sind uns auf den Fersen. Wir sind ihnen knapp entkommen, weil wir eine Zeit lang in einem Bach gelaufen sind. Aber ihre Hunde werden unsere Spur bald wieder aufgenommen haben.«
»Sie jagen euch mit Hunden?« Ungläubig starrte Ben die beiden Männer an. »Aber ihr seid doch jetzt in den Nordstaaten.«
Moses lachte bitter auf. »Es sind Nordstaatler, die uns jagen. Sie bekommen Geld für jeden eingefangenen Sklaven.« Er beugte sich über Sam. »Los, du musst auf die Beine kommen.«
»In diesem Zustand kommt er nicht weit«, erklärte Esther entschieden. »Ben, geh ins Haus und besorg etwas zu essen und einen Verband. Ich treibe die Ziegen auf die Weide, und dann sehe ich nach seinen Rippen.«
Ohne auf Antwort zu warten, wandte sie sich um und pfiff nach Max. »Los, bring sie raus.«
Geduckt setzte Max sich hinter die Ziegen und trieb sie vor sich her, den Weg entlang bis auf die Weide. Esther schloss das Tor und kraulte Max kurz hinter den Ohren. »Ja, du bist ein feiner Hund.«
Sie lief zurück zum Hof und legte ihn an die Kette vor seiner Hütte. »Ich lasse dich nachher wieder los, aber jetzt musst du erst mal hierbleiben.«
Rasch lief sie ins Haus und füllte seinen Futternapf. Der Frühstückstisch war bereits gedeckt, doch weder ihre Großeltern noch ihr Vater waren zu sehen.
Esther stellte dem Hund den Futternapf an die Hundehütte, dann hastete sie zurück in den Ziegenstall.
Ben war schon dort. Er hatte den beiden Männern Brot, Schinken und Käse gebracht. Moses und Sam saßen hinter der Wand, hinter der sie sich versteckt hatten, und schlangen das Essen hinunter.
»Wie lange habt ihr nichts mehr gegessen?«, fragte Esther.
»Zwei Tage«, sagte Moses zwischen zwei Bissen.
Als die Männer fertig waren, bat Esther Sam, sein Hemd auszuziehen. Auf der rechten Seite seines Brustkorbs war die Haut aufgeschürft.
»Sie müssen auf einen Stein oder Ast gestürzt sein«, sagte Esther. Sachte strich sie über die Stelle. Sam zog scharf die Luft ein, was einen sofortigen Hustenanfall zur Folge hatte. Er krümmte sich vor Schmerzen.
»Die Schmerzen beim Husten sprechen für eine oder mehrere gebrochene Rippen. Sind Sie lungenkrank?«
Moses antwortete, da Sam immer noch nach Luft rang. »Er hat sich wohl erkältet, wir sind zwei Tage lang in feuchten Kleidern rumgelaufen und haben nicht gewagt, ein Feuer zu machen.«
»Sie sollten wirklich hierbleiben«, sagte Esther. »Ich könnte Umschläge für seine Rippen machen und Tee kochen.«
»Das können wir nicht.«
»Ihr solltet auf sie hören«, erklang plötzlich die Stimme ihres Großvaters. »Bei uns wird euch niemand suchen.«
Esther ließ vor Schreck den Verband fallen. Moses ballte die Fäuste, und Ben blickte Großvater Daniel entsetzt an. »Wie lange stehst du schon dort?«
»Lange genug. Ich habe dich aus der Vorratskammer kommen sehen und mich gefragt, warum wir die Ziegen jetzt mit ihrem eigenen Käse und mit Schinken füttern.«
Er wandte sich an die beiden Männer. »Meine Enkelin hat recht, Sie sollten ein oder zwei Tage bleiben. Das Wetter wird schlecht, es soll regnen. Er wird sich eine Lungenentzündung holen, wenn er weiter in nassen Kleidern herumläuft. Er braucht etwas gegen den Husten.«
Ben atmete sichtlich erleichtert aus, Esther lächelte, doch Moses runzelte die Stirn. »Auch wenn ich Ihren Absichten traue, können wir nicht bleiben. Wir müssen einen Zug bekommen.«
»Underground Railroad?«, sagte Großvater leise.
Verwundert sah Esther ihn an. Diesen Namen hatte sie noch nie gehört. Die Eisenbahnlinie verlief bei Harrisburg, doch sie hieß Pennsylvania Railroad.
Überraschung malte sich auf Moses’ Gesicht. »Ja, Sir.«
»Daniel. Nicht Sir, einfach Daniel.«
»Ich bin Moses, das ist Sam.«
»Gut, zwei Tage mehr oder weniger machen nichts aus, die Schaffner wissen, dass immer etwas dazwischenkommen kann. Ich bringe euch in die Mühle, da ist es sicherer als hier im Stall.«
»Danke, Sir … Daniel«, antwortete Moses. Sam bückte sich, um sein Hemd wieder aufzuheben. Dabei drehte er ihnen den Rücken zu. Unwillkürlich hob Esther die Hand vor den Mund, um einen Aufschrei zu unterdrücken, Ben holte zischend Luft.
Sams Rücken war von Narben verunstaltet. Unzählige Striemen bildeten ein Rautenmuster, das sich von seinen Schultern bis zu seiner Taille zog. Vermutlich gingen sie sogar noch weiter, doch das verdeckte die Hose.
Esther wandte den Blick ab, bis Sam das Hemd wieder angezogen hatte. Ben schüttelte stumm den Kopf.
»Wartet einen Moment, ich komme gleich wieder«, sagte ihr Großvater zu den Männern. »Esther, Ben, sagt bitte eurer Großmutter, dass wir Gäste haben, die den Mühlenfrieden beanspruchen, und dass einer von ihnen etwas gegen Husten und Prellungen braucht. Anschließend macht ihr eure Arbeit wie immer und sprecht mit niemandem darüber. Ich sage eurem Vater Bescheid.«
Esther und Ben gingen hinüber zum Haus.
»Waren das Peitschenstriemen auf seinem Rücken?«, fragte Esther leise.
»Ich glaube schon. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Sie müssen ihm den ganzen Rücken blutig geschlagen haben.«
»Ich wusste nicht, dass sie das tun. Warum dürfen sie das?«
»Ich wusste das auch nicht.« Ben schüttelte den Kopf. »Jedes Pferd wird bei uns besser behandelt. Was sind das für Menschen, die so etwas tun?«
»Sie glauben wohl, dass sie im Recht sind. Wie die Menschen, die unsere Vorfahren eingekerkert, gefoltert und hingerichtet haben.«
Wie alle Amisch war Esther mit den Geschichten aus dem Märtyrerspiegel aufgewachsen.
»Nein, das ist anders. Die, die unsere Vorfahren verfolgt haben, waren der Meinung, dass die Täufer böse waren, Ketzer, sie wollten ihren Glauben verteidigen. Sklavenhalter denken, dass diese Menschen ihnen gehören und sie deshalb mit ihnen machen können, was sie wollen.«
»Großvater wirkte nicht besonders überrascht wegen der beiden Männer. Als hätte er schon öfter mit geflüchteten Sklaven zu tun gehabt, findest du nicht?«
»Den Eindruck hatte ich auch«, sagte Ben langsam. »Aber er hat ja auch einiges erlebt. Vielleicht hatte er früher schon mal mit Sklaven zu tun.«
Esthers Großmutter stand in der Küche und schälte Kartoffeln.
»Du hast lange zum Melken gebraucht. Ist mit den Ziegen alles in Ordnung?«
»Ja, sie sind jetzt auf der Weide. Es waren zwei Männer im Stall. Geflüchtete Sklaven. Sie haben sich über Nacht dort versteckt.«
Rebekka wandte sich um. »Bei uns? Sind sie noch da?«
»Großvater will sie in die Mühle bringen. Er sagte etwas von Mühlenfrieden und dass der eine etwas gegen Husten und Prellungen braucht. Ich glaube, er hat sich eine Rippe gebrochen.«
Großmutter legte das Messer fort und wischte sich die Hände an einem Handtuch ab.
»Gegen Husten hilft am besten Königskerzen-Sirup, und für die Prellung Quarkwickel und eine Abkochung aus Arnika.«
Sie ging zu dem Schrank, in dem sie ihre Kräuter und Heilmittel aufbewahrte.
»Was meint Großvater mit Mühlenfrieden?«, fragte Ben.
»Das gab es früher in Deutschland. Wenn sich jemand in eine Mühle flüchtete, durfte man ihn nicht mit Gewalt herausholen, selbst wenn es ein Verbrecher war. Er bekam Asyl.«
»Davon habe ich noch nie gehört.«
»Das gibt es hier auch nicht. Aber Daniel will mir damit sagen, dass er dort Leute versteckt.«
»Also tut er das nicht zum ersten Mal«, sagte Ben schnell.
Rebekka lächelte verstohlen, gab jedoch keine Antwort.
Die Vorhersage ihres Großvaters bewahrheitete sich, im Laufe des Vormittags begann es zu regnen. Esther saß mit ihrer Großmutter in der Stube, sie stopfte, Rebekka nähte an einem Quilt. Sie sprachen über Alltägliches, was sie demnächst im Gemüsegarten pflanzen würden, welche Arbeiten sonst noch anstanden, doch Esthers Gedanken kreisten ständig um die beiden geflüchteten Männer. Und immer sah sie den von Narben entstellten Rücken des Jüngeren, Sam, vor sich. Doch da ihre Großmutter das Thema nicht ansprach, wagte sie es auch nicht. Nach dem Mittagessen sattelte ihr Großvater sein Pferd.
»Ich bin bis zum Abendessen wieder da«, rief er ihnen zu, bevor er vom Hof ritt.
Esther warf ihrer Großmutter einen fragenden Blick zu. Rebekka hob die Schultern. »Es ist besser, wenn keiner weiß, wohin er reitet.«
In Gedanken versunken spülte Esther das Geschirr. Sie wusste wenig über Sklaverei. In Pennsylvania gab es keine Sklaven. Dass jetzt zwischen Nord und Süd über die Abschaffung gestritten wurde, dass es vielleicht sogar Krieg deswegen geben könnte, hatte nichts mit ihrem Leben zu tun. Auch bei den Amisch gab es Menschen, die Sklaverei nicht für unrecht hielten. Sie begründeten es damit, dass es auch zu Zeiten des Herrn Jesus Sklaven gegeben und er nichts dagegen gesagt hatte.
Doch jetzt hatte Esther gesehen, was es bedeutete, ein Sklave zu sein. Einem anderen Menschen zu gehören, der einen zur Arbeit einsetzen, schlagen oder verkaufen durfte wie einen Ochsen. Gerade als sie mit dem Spülen fertig war, klopfte es an die Tür.
»Ich gehe schon, Großmutter«, rief sie und öffnete.
Isaac Grabill lächelte ihr entgegen. »Grüß Gott, Esther. Ich war gerade in der Mühle und dachte, ich sage dir noch guten Tag.«
Sie konnte ihn nicht einfach vor der Tür stehen lassen, also bat sie ihn herein.
Wie selbstverständlich hängte er Hut und Mantel an einen Haken im Hausflur und ging weiter in die Stube, wo ihre Großmutter saß.
»Guten Tag, Rebekka.«
»Ich wünsche dir auch einen guten Tag. Möchtest du etwas trinken? Einen Becher Milch?«
»Ja, sehr gerne.« Er setzte auf die Bank am Fenster und warf Esther einen auffordernden Blick zu. Es kostete sie einiges an Beherrschung, ihm freundlich zuzunicken. Er benahm sich, als wäre er hier zu Hause, und erwartete wie selbstverständlich, dass sie ihn bediente. Hoffentlich blieb er nicht so lange. Zumindest konnte sie sich darauf verlassen, dass ihre Großmutter sie nicht mit ihm alleine ließe. Sie ging in die Küche.
»Was führt dich denn zu uns?«, fragte Rebekka, während Esther einen Becher mit Milch füllte.
»Ich war in der Mühle, um mit Esthers Vater zu sprechen.«
Esther zuckte zusammen. Um ein Haar wäre ihr der Becher aus der Hand geglitten. Was? Isaac würde doch nicht die Dreistigkeit besitzen, über ihren Kopf hinweg mit ihrem Vater über eine mögliche Verbindung zwischen ihnen zu reden?
»Mein Vater rodet den Wald im Norden, damit wir Farmland gewinnen. Aus dem Holz werde ich ein Haus bauen, und deshalb wollte ich fragen, wann es passt, es zum Sägen zu bringen.«
Esther stellte den Becher und einen Teller mit Gebäck auf ein Tablett und trug es hinüber in die Stube.
Von seiner Bank aus lächelte Isaac ihr entgegen und rutschte demonstrativ ein Stück zur Seite.
O nein, ich werde mich nicht zu dir setzen, dachte sie. Sie reichte ihm den Becher, stellte den Teller mit dem Gebäck auf die Bank und setzte sich dann an den Esstisch.
»So, du willst ein Haus bauen«, sagte sie, weil er sie erwartungsvoll ansah.
»Ja, und es wird ein großes Haus, es gibt viel Holz zu sägen.«
Natürlich, dachte Esther. Isaac musste ein großes Haus haben, um sich wichtig zu fühlen. Zu gerne hätte sie ihn darauf aufmerksam gemacht, dass er gerade protze, doch sie blieb höflich. »Das wird meinen Vater sicher freuen.«
»Das bedeutet, du wirst bald heiraten«, sagte ihre Großmutter. »Aber bestimmt verrätst du uns nicht, wer die Glückliche sein wird.«
Die Bemerkung war nicht aus der Luft gegriffen. Heiratswillige wurden des Öfteren recht derb gehänselt, deshalb versuchten die meisten, ihr Geheimnis so lange wie möglich zu wahren.
Isaac räusperte sich. »Nun, ich bin noch nicht ganz sicher«, erklärte er salbungsvoll. »Es ist keine leichte Entscheidung. Als einziger Sohn werde ich den Hof meines Vaters weiterführen. Und als Sohn des Bischofs muss ich darauf achten, wer meine Frau wird, wenn ihr versteht, was ich meine …«
Esther verstand es eigentlich nicht. Der Bischof wurde von der Gemeinde gewählt. Das Amt wurde nicht vererbt. Der Sohn des Bischofs war nur ein junger Mann wie jeder andere auch.
»Ach, ich denke, darüber musst du dir keine Gedanken machen«, sagte Rebekka. »Du bist ja nicht der Bischof.«
Esther gluckste und verwandelte ihr Lachen rasch in einen Husten. Isaac hob irritiert die Brauen.
»Nun, trotzdem fühle ich mich dem Amt meines Vaters verpflichtet und werde sorgfältig wählen. Auf Äußerlichkeiten lege ich bei meiner Braut keinen Wert.«
Dass er bei dieser Bemerkung den Blick über sie wandern ließ, trieb Esther das Blut ins Gesicht. Sie mochte groß sein und keine Schönheit, aber hässlich war sie gewiss nicht.
Isaac fuhr fort: »Aber fest im Glauben muss sie sein und tüchtig.«
»Nun, eine verantwortungsvolle Aufgabe für eine junge Frau«, sagte Rebekka, und Esther glaubte, ein wenig Spott in ihrer Stimme zu hören. »Doch es gibt sicher einige Mädchen, die deinen Vorstellungen entsprechen.«
»Ja, die gibt es, und deshalb ist es nicht so leicht, eine Wahl zu treffen.«
Esther hatte genug von diesem Geschwätz. Isaac tat gerade so, als würde jedes Mädchen in Jacobsville ihn zum Mann haben wollen. Sie stand auf.
»Ich muss mich entschuldigen, ich wollte heute noch buttern. Ich wünsche dir noch einen schönen Tag, Isaac. Großmutter, wenn du mich brauchst, ich bin in der Milchkammer.«
Als sie die Stube verließ, sagte Isaac: »So etwas meine ich, liebe Rebekka. Andere Mädchen würden lieber hier sitzen und mit mir plaudern, aber Esther denkt an ihre Pflichten und lässt sich nicht von Annehmlichkeiten verlocken.«
Hastig griff Esther nach ihrem Umhang und eilte aus der Tür. Draußen lehnte sie sich an die Hauswand und lachte, bis ihr der Bauch wehtat. Dieser Mann war unglaublich. Annehmlichkeiten! Lieber butterte sie und mistete die Ställe aus, als ihre Zeit mit ihm zu verschwenden.
Kurz vor dem Abendessen kam Großvater Daniel zurück. Während des Essens herrschte eine seltsame Atmosphäre. Ihr Großvater sagte nichts von den beiden Männern, er erzählte auch nicht, wo er gewesen war, ganz gegen seine Gewohnheit. Sie sprachen über Alltägliches, die Arbeit auf dem Hof, doch das Unausgesprochene schien wie eine unsichtbare Wolke über dem Esstisch zu schweben.
Esthers Vater erzählte von Isaacs Besuch in der Mühle.
»Er bekommt ein Stück Land von seinem Vater und will sich ein Haus bauen. Es wird wohl ein sehr großes Haus, wenn ich bedenke, wie viel Holz er sägen lassen will. Und eilig hat er es auch noch. Aber erst einmal ist das Holz für Michaels und Lenas Scheune dran.«
»Es reicht, wenn sein Haus vor dem Herbst fertig wird. Jetzt hat niemand mehr Zeit zum Heiraten«, sagte Rebekka.
»Gibt es denn schon eine Auserwählte, die dem heiligen Isaac mindestens zehn Kinder schenken darf?«, spottete Ben.
Lachend schilderte Rebekka seinen Besuch im Haus. »Ihr hätten ihn hören sollen. Er sucht eine Frau, die seiner würdig ist, und meinte, das sei keine leichte Sache, weil sein Vater Bischof ist. Er hat angedeutet, dass unsere Esther wohl seinen Vorstellungen entspricht und die Ehre hat, in die engere Wahl zu kommen.«
Ben riss die Augen auf. »Esther?«
»Nun«, sagte Ruth langsam. »Sein Vater ist nicht nur der Bischof, sondern auch der reichste Mann von Jacobsville, und Isaac wird den gesamten Besitz erben. Esther wäre gut versorgt, wenn sie seine Frau würde.«
Esther traute ihren Ohren nicht. »Isaac Grabill ist ein eingebildeter, aufgeblasener Esel, ich würde ihn nicht heiraten, wenn er der einzige Mann wäre. Lieber bleibe ich Jungfrau.«
»Wenn du so weitermachst, könnte das passieren«, fuhr Ruth sie an. »Dir scheint kein Mann hier gut genug zu sein. Dabei bist du schon zwanzig.«
»Ben ist zweiundzwanzig, und bei ihm stört es niemanden, dass er noch nicht verheiratet ist.«
»Benjamin ist ein Mann, er kann sich mehr Zeit lassen. Aber es gibt nicht mehr viele unverheiratete Männer, die älter sind als du.«
»Dann heirate ich eben nicht.«
»Was redest du da, Esther?«, sagte ihr Vater. »Jeder, egal ob Frau oder Mann, sollte heiraten.«
Esther öffnete den Mund, um erneut zu widersprechen, doch ihr Vater schüttelte den Kopf. »Nein, schweig jetzt. Woher hast du nur diese Dickköpfigkeit?«
Zornig presste sie die Lippen zusammen, doch ihr Großvater lachte.
»Die hat sie wohl von ihrer Großmutter. Rebekka wollte auch niemanden aus ihrem Heimatort heiraten.«
»Stattdessen habe ich mich in einen Fremden verliebt, sehr zum Ärger meines Vaters.« Rebekka lächelte ihren Mann an. Esther horchte auf. »Dein Vater war mit Großvater nicht einverstanden?«
»Nein, gar nicht. Ich hatte einen ›Verehrer‹, einen jungen Mann, den mein Vater sehr mochte, und ich hatte mich auch schon bereit erklärt, ihn zu heiraten. Doch dann kam Daniel, und ich habe gemerkt, dass ich bis dahin gar nicht gewusst hatte, was Liebe ist.«
»Setz den Kindern keine Flöhe in die Ohren«, brummte ihr Vater.
»Vielleicht«, sagte Rebekka nachdenklich, »wäre es gut, wenn Esther mal aus Jacobsville hinauskäme. Andere Menschen kennenlernt. Entweder sie trifft woanders auf einen Mann, den sie lieben kann, oder sie sieht die jungen Männer hier mit anderen Augen, wenn sie wiederkommt.«
Das klang verlockend. Tatsächlich war sie noch nie aus Jacobsville fort gewesen, von Einkaufsfahrten nach York oder Harrisburg abgesehen.
Ihr Vater runzelte die Stirn. »Wie stellst du dir das vor? Soll sie alleine über das Land fahren? In diesen Zeiten?«
»Natürlich soll sie nicht alleine fahren«, sagte ihre Großmutter. »Ich könnte sie begleiten.«
»Oder ich«, warf Ben ein. In seinen Augen funkelte es.
Esther lächelte ihn an. Das klang sogar noch verlockender. Auch wenn Ben sie häufig neckte, verstanden sie sich doch sehr gut.
Ihr Vater wiegte zweifelnd den Kopf. »Im Frühjahr ist zu viel zu tun, da kann ich auf Ben nicht verzichten.«
»Aber in der Mühle hilft dir doch Caleb.«
»Ich meine auch nicht die Mühle. Wer soll sich um das Gemüse und die Tiere kümmern, wenn Ben und Esther nicht hier sind?«
»Er soll ja nicht wochenlang fortbleiben«, erklärte ihr Großvater. »Er soll Esther nur begleiten. Ich halte es für eine gute Idee, wenn das Mädel mal woandershin kommt.«
»Und wo willst du sie überhaupt hinschicken?«
»Ich dachte an Philadelphia, zu Becky«, sagte ihre Großmutter.
»Oh ja!«, rief Esther. Mit ihrer Schwester Becky hatte sie sich immer gut verstanden. Sie war vier Jahre älter als sie und seit fünf Jahren verheiratet. Ihr Mann hatte in Philadelphia einen Laden, in dem er Zaumzeug, Geschirre und Sättel fertigte und verkaufte.
Auch Ben nickte. »Nach Philadelphia wollte ich auch schon lange. Es gibt dort einen Tischler, bei dem Jonas Kurtz einige Monate in der Lehre war.«
David schüttelte den Kopf. »Einige Monate wirst du nicht bleiben können.«
»Das will ich auch gar nicht. Ich will mich nur mal bei ihm umsehen und mit ihm reden. Jonas lobt ihn sehr, er sei ein Meister seines Fachs. Er meint, ich könne viel von ihm lernen.«
Ben arbeitete seit einigen Jahren bei dem Zimmermann Jonas Kurtz. Da sein älterer Bruder Caleb die Mühle übernehmen würde, hatte er sich einen anderen Beruf suchen müssen. Schon immer hatte er gerne mit Holz gearbeitet, und da er mit der Sägemühle aufgewachsen war, hatte er sich entschieden, Zimmermann zu lernen.
»Bitte, Vater«, sagte Esther. »Ich würde Becky so gerne besuchen.«
»Ich denke darüber nach. Aber wenn, dann erst Ende Mai, wenn die Aussaat vorüber ist und noch nicht geerntet werden kann. Und wer kümmert sich um die Ziegen, wenn du nicht da bist? Elisabeth«, er nickte in die Richtung von Calebs Frau, »kann es nicht tun.«
Das wusste Esther. Elisabeth erwartete Ende Juli ihr drittes Kind.
Rebekka lächelte. »Das kann ich tun.«
Auch am nächsten Tag regnete es, wie Daniel vorhergesagt hatte. Erst gegen Mittag hörte es auf, doch der Himmel blieb wolkenverhangen. Esther, Ruth und Elisabeth hatten den Vormittag in der Küche verbracht, um Essen für die Gemeeh am Sonntag vorzubereiten. Jetzt wollte Esther die Regenpause nutzen, um die Hühner zu füttern und nach beiden trächtigen Ziegen zu sehen, die im Stall standen.
Max wuselte um ihre Beine, als sie zum Hühnerstall ging, doch plötzlich blieb er stehen, spitzte die Ohren und begann zu bellen.
Wildes Hundegebell antwortete, dann hörte Esther Hufschläge. Fremde kamen auf den Hof. Zwei Reiter und ein Mann zu Fuß, der zwei große, schlappohrige Hunde führte, die an ihren Leinen zerrten und Max anbellten. Die drei Männer boten einen martialischen Anblick. Sie trugen Pistolen am Gürtel, Gewehre über den Rücken und über der Brust Patronengurte. An den Sätteln hingen aufgerollte Peitschen. Der mit den Hunden war glatt rasiert, der andere hatte einen struppigen schwarzen Bart, und der dritte trug einen braunen Schnurrbart, dessen Enden über seine Mundwinkel nach unten hingen, was ihm ein finsteres Aussehen verlieh.
Gänsehaut kroch von Esthers Rücken hinauf zur Kopfhaut. Waren das Sklavenjäger? Bestimmt. Wer sonst würde derartig bewaffnet und mit Hunden hierherkommen?
Ihre Hände wurden feucht. Mechanisch strich sie ihre Schürze glatt, dann kontrollierte sie den Sitz ihrer Haube.
Der Bärtige zog den Hut. »Guten Morgen, Ma’am.«
Er musste rufen, um das Gebell der Hunde zu übertönen.
Der andere Mann ruckte an den Leinen. »Kusch! Leise jetzt«, fuhr er die Hunde an. Doch da auch Max weiterhin knurrte und bellte, gaben sie keine Ruhe.
Esther unternahm nichts, um Max zu beruhigen. So würde der Lärm hoffentlich ihren Großvater oder Ben herlocken. Ihr Vater und Caleb waren in der Mühle. Sie schluckte schwer. Waren die beiden geflüchteten Sklaven auch noch dort?
»Was ist denn hier los?«, ertönte die Stimme ihres Großvaters von der Haustür her. Einen Augenblick später kam Ben aus dem Pferdestall gelaufen.
Vor Erleichterung wurden Esthers Knie weich.