Berlin - Anfänge einer Großstadt - Hans Ostwald - E-Book

Berlin - Anfänge einer Großstadt E-Book

Hans Ostwald

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Beschreibung

»Die Sinfonie der Großstadt« in Textform »Das Berlin der 1920er und sein Großstadtmythos haben ihre Wurzeln im Kaiserreich. Wer wissen möchte, wie aus dem beschaulichen Spree-Athen das brodelnde Spree-Chicago wurde, sollte Hans Ostwald lesen.« Volker Kutscher Als Hans Ostwald zu Beginn des 20. Jahrhunderts die ersten Großstadt-Dokumente in Auftrag gibt, ahnt er nicht, dass die Reihe mit zwanzig geplanten Milieustudien schnell auf fünfzig Bände anwachsen wird. Es entstehen Texte, die Berlins Vielschichtigkeit durchdringen und ein breites Panorama aus ebenso rauen wie poetischen Momenten des Großstadtlebens abbilden. Ostwald selbst verbringt etwa eine Nacht im Obdachlosenheim und findet Autoren, die sich im Milieu der Geisterbeschwörer auskennen oder über die nicht immer legalen Machenschaften auf der Pferderennbahn Hoppegarten schreiben. Und es gibt noch Brisanteres: Magnus Hirschfelds Schilderung der Homosexuellenszene rief nach Erscheinen einen waschechten Skandal hervor, Wilhelm Hammers Band über lesbische Paarbeziehungen wurde sogar sofort verboten. Nie zuvor gab es einen ähnlich groß angelegten Versuch, das Wesen einer Großstadt in all seinen Facetten einzufangen wie mit dieser Reihe. Thomas Böhm hat eine Auswahl getroffen, die das Berlin der Jahrhundertwende zum Leben erweckt, verblüffende Parallelen zwischen damals und heute offenbart und Lust darauf macht, die – wie Ostwald es formulierte – »Giftblüten«, »eigentümlichen Persönlichkeiten«, »Vorzüge und Verkehrtheiten« Berlins zu erkunden.

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Hans Ostwald

Berlin - Anfänge einer Großstadt

Szenen und Reportagen 1904-1908

Herausgegeben von Thomas Böhm

Kurzübersicht

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Titelseite

Über Hans Ostwald

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Über Hans Ostwald

Hans Ostwald (1873–1940) lebte in Berlin. Er war der Verfasser des semi-autobiografischen Romans Vagabonden (1900). Ostwald sah sich als Chronist seiner Zeit, besonders der unteren Sozialklassen und Randmilieus. Zwischen 1904 und 1908 verantwortete er die Veröffentlichungsreihe Großstadt-Dokumente.

 

Der Herausgeber

Thomas Böhm leitete das Literaturhaus Köln und gestaltete das Programm des Internationalen Literaturfestivals Berlin (ilb) sowie die Buchmessen-Gastlandauftritte von Island, der Schweiz und Norwegen mit. Seit 2014 moderiert er die Sendung Die Literaturagenten auf radioeins (rbb)

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Über dieses Buch

Als Hans Ostwald zu Beginn des 20. Jahrhunderts die ersten Großstadt-Dokumente in Auftrag gibt, ahnt er nicht, dass die Reihe mit zwanzig geplanten Milieustudien schnell auf fünfzig Bände anwachsen wird.

 

Es entstehen Texte, die Berlins Vielschichtigkeit durchdringen und ein breites Panorama aus ebenso rauen wie poetischen Momenten des Großstadtlebens abbilden. Ostwald selbst verbringt etwa eine Nacht im Obdachlosenheim und findet Autoren, die sich im Milieu der Geisterbeschwörer auskennen oder über die nicht immer legalen Machenschaften auf der Pferderennbahn Hoppegarten schreiben. Und es gibt noch Brisanteres: Magnus Hirschfelds Schilderung der Homosexuellenszene rief nach Erscheinen einen waschechten Skandal hervor, Wilhelm Hammers Band über lesbische Paarbeziehungen wurde sogar sofort verboten.

 

Nie zuvor gab es einen ähnlich groß angelegten Versuch, das Wesen einer Großstadt in all seinen Facetten einzufangen wie mit dieser Reihe. Thomas Böhm hat eine Auswahl getroffen, die das Berlin der Jahrhundertwende zum Leben erweckt, verblüffende Parallelen zwischen damals und heute offenbart und Lust darauf macht, die – wie Ostwald es formulierte – »Giftblüten«, »eigentümlichen Persönlichkeiten«, »Vorzüge und Verkehrtheiten« Berlins zu erkunden.

 

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Inhaltsverzeichnis

Widmung

Eingangsbilder

»Das Leben selbst soll sich mitteilen …«

Texte aus den Großstadt-Dokumenten – die Anfänge Berlins in Szenen und Reportagen

I. Der Sachkenner nimmt den Wissbegierigen an die Hand

Wie sich das Stadtbild verändert hat

Unterwegs mit Bummlern und Nachtschwärmern

Trinkerrettungsbrigade der Heilsarmee

Mörderische Wohnungszustände

Radfahren um und in Berlin

Die Klubs

Abend im Scheunenviertel

Abfälle

Kaffeeklappen

Wo mit Schneid getanzt wird

II. Orte modernsten Lebens

Berlins erste Bars

Nachtlokale

Renntag in Hoppegarten

Steher-Weltrekord in Friedenau

Wasser- und Rasensport

Das »große Material« des Kriminalgerichts Moabit

Bouillonkeller

Im Familienvarieté

Das internationale Varieté

Urningskneipe

Das Bankenviertel

In der Dynamitkiste

Was das KaDeWe anbietet

Im Konfektionsviertel

In der Passage

III. Die sittlichen und sozialen Zustände

Der Homosexuellen-Strich im Tiergarten

Berliner Toleranz gegenüber homosexuellen Paaren

Der Fortpflanzungstrieb im Hüttenfeuer der Großstadt

Die Rückständigkeit der Stadtverwaltung

Gebäude und Mentalität der Berliner Schulen

Der Verkehr zwischen Beamtentum und Publikum

Eine Nacht auf der Polizeiwache

Eine Nacht bei den Obdachlosen

Sammelpunkte für das Verbrechertum

Entlassene Strafgefangene

Volksgesundheit und versäumter Grundstückserwerb

Wöchnerinnenunterkünfte

Heimarbeiterinnen

Was ein Berliner Musikant erlebte

IV. Eigenartige Persönlichkeiten

Seltsame Typen aus dem Berliner Nachtleben

Ottilie Ehrlich, Schriftstellerin – ein Fall von Uranismus

Klubexistenzen

Die Tricks der Falschspieler

Die Berliner Lehrerschaft

Der Bankdirektor

Der Kassenbote

Frau L., Medium

Revolverfred, Narbenemil und die Internationalisierung des Verbrechens

Mieze und der Heiratsschwindler

Die Autoren der vorliegenden Auswahl

Verzeichnis der Straßen, Orte, Stadtteile und Lokalitäten

Schlussbilder

Für A. & H.

und ihr zukünftiges Berlin

Wittenbergplatz: Baustelle des Kaufhaus des Westens (KaDeWe) bei Beginn der Bauarbeiten, 1905 © ullstein bild - ullstein bild

Vermutlich Szene in einem Berliner Bordell, 1900 © ullstein bild – Haeckel Archiv

Frau schläft im Sitzen auf einer Parkbank im Tiergarten © ullstein bild – Haeckel Archiv

Blick von der Weidendammbrücke in die Friedrichstraße © ullstein bild –Waldemar Titzenthaler

»Das Leben selbst soll sich mitteilen …«

Die Großstadt-Dokumente: Hans Ostwalds publizistische Pioniertat zwischen Literatur, Wissenschaft und Journalismus

Abends spät, nach dem großen Ordensfest. Draußen ist Winter. An den Garderobenständern hängen kostbare Pelze, einfachere Mäntel und Offizierskragen. Damen sitzen in luxuriösen Jacketts, Pelzhüte auf duftig frisierten Haaren, mit ihren Männern an den Tischen. Hinten ein Schriftsteller mit einer jungen Schauspielerin. Er grüßt zum Tisch einer Familie hinüber. Man lächelt – aber grüßt zurück … Die Damen tuscheln miteinander.

Glänzende Theatertoiletten schimmern hier und da zwischen Herren im schwarzen Frack.

Und an den Wandtischen glänzen Orden – in Gold und Silber und Edelsteinen. Ein ganz kleiner, graubärtiger Herr sitzt dort, den Kopf mit den müde geschlossenen Augen vornüber. Die Orden hängen bis auf die Erde hinab.

Und alles flüstert lächelnd:

»Menzel – der alte Menzel …«

Der in die Jahre gekommene Chronist Berlins ist müde, alt, hat seine Schuldigkeit getan. Er wird vom neuen Chronisten beobachtet, der ihn zum Gegenstand eines seiner Texte macht. So ließe sich diese Szene lesen. Sie spielt im Café Josty, dem »Balkon vom Berlin«, jenem Künstlercafé am Potsdamer Platz, in dem schon Heinrich Heine, Joseph von Eichendorff, die Brüder Grimm und schließlich Theodor Fontane verkehrten. Und eben Adolf Menzel. Jener Menzel, dessen Malerei, Graphik und Zeichnungen prägend für die Kunstrichtung des Realismus in Deutschland waren. Ein Maler, der mit der aufkommenden Photographie wetteiferte, der noch genauer, noch wahrhaftiger, noch präziser als sie sein wollte. Ein Dokumentarist zwischen den Zeiten und Welten, der in seinen Bildern sowohl Preußens Glanz und Glorie, als auch die Lächerlichkeit des neureichen Bürgertums sowie die Produktionsverhältnisse und Lebenswirklichkeit der Industriearbeiter und Handwerker gezeigt hat. In Summe: ein so umfassendes Bild der preußischen Gesellschaft und der Stadt Berlin wie es kein zweites in der Kunstgeschichte gibt.

Menzel starb 1905. Im selben Jahr erschien der von Hans Ostwald verfasste Band 7 der Großstadt-Dokumente mit dem Titel Berliner Kaffeehäuser, in dem sich die Episode mit dem dösenden Menzel findet.

Eine Episode, die einen wesentlichen Zug der Großstadt-Dokumente zeigt: die detailreiche Schilderung einer Szene mit ihren sozialen Dimensionen. Das Nebeneinander von »kostbaren«, »einfacheren« und Offiziersmänteln zeigt die Mischung des Publikums, das Zusammentreffen von Menschen unterschiedlicher gesellschaftlicher Stellung an einem Ort, der in seiner Pracht, seinem sinnlichen Flair, seinen erotischen Möglichkeiten für die Großstadt steht. All das wird angedeutet, aber nicht weiter ausgeführt. Die Episode an sich hat keine Pointe; sie ist eine Momentaufnahme. Um ein umfassenderes Verständnis dieses Ortes zu bekommen, muss er zu unterschiedlichen Tages- und Jahreszeiten besucht werden, nicht nur wie in diesem Fall »abends spät« im Winter. Folgerichtig spielt die nächste Episode dieses Textes an einem Frühlingsabend.

Und um ein umfassenderes Verständnis der Kaffeehäuser zu bekommen, müssen nicht nur die mondänen Konditoreien wie das Café Josty, sondern alle Arten von Kaffeeausschänken besucht werden, insbesondere auch die Kaffeeklappen,[1] in denen die hart arbeitende Bevölkerung verkehrt. Die Art, wie Ostwald im Band Berliner Kaffeehäuser immer weitere Kreise der Darstellung zieht, ist beispielhaft für die gesamte, von ihm herausgegebene Reihe Großstadt-Dokumente, Ostwalds moderner Chronik, deren erster Band mit der folgenden programmatischen Vorrede beginnt:

Diese Großstadtdokumente sollen über die eigenartigen Persönlichkeiten, und Bevölkerungsschichten, über die sittlichen und sozialen Zustände unserer modernen Großstädte Licht verbreiten. Sie sollen nicht aus Vergangenheiten, aus staubigen Urkunden und alten Nachrichten ihren Inhalt schöpfen. Sie sollen aus dem vollen Leben heraus ihren Extrakt geben. Ja, das soll diese Sammlung vor allen ähnlichen auszeichnen: Nicht über Bücher oder über Kunstwerke soll gesprochen werden – das Leben selbst soll sich mitteilen, soll als Stoff dienen. Und zwar das modernste Leben: das Leben der Großstadt.

Die letzten Jahrzehnte haben diese imponierenden Menschenanhäufungen geschaffen, die wir Großstadt nennen. Selbst wer ihre abscheulichen Mängel erkennt und hasst, wird ihr doch einen gewissen Kulturwert nicht absprechen können. Und wer ihren Kulturwert preist, wird ihre Mängel nicht übersehen dürfen.

So soll in dieser Sammlung versucht werden, beides dokumentarisch festzusetzen: den Wert, die Vorzüge der Großstadt und – ihre Missstände, Verderbtheit und Verkehrtheiten.

Die verblüffende Raschheit des Wachsens der Großstädte schließt fast aus, dass ihr riesenhafter Gehalt in einem Kunstwerk, etwa in einem Roman wiedergegeben werden kann. Das ist selbst einem Zola nicht immer gelungen. Und wir wollen froh sein, dass wir über die Zeit solcher Romane hinweg sind.

Die Erkenntnis, dass ein Kunstwerk kaum noch den gewaltigen Stoff bewältigen kann – und dass dann immer noch manches unbeantwortet bleibt, hat mich zu der Überzeugung geführt, dass eine kurze, knappe Darstellung des Stoffes viel mehr bieten kann, dass sie auch besser informierend und erkenntnisgebend wirken wird. Sie soll deshalb die künstlerischen Reize durchaus nicht ganz entbehren.

Aber gerade auf die Information lege ich großen Wert. Es ist bei der Vielfältigkeit des Großstadtlebens, bei seiner Universalität jetzt ganz unmöglich, dass ein Einzelner sich einen Einblick in all die Wege und Adern verschafft, durch die ihr Blut pulst. Er muss zufrieden sein, wenn er in seinem Spezialfach Bescheid weiß. Er muss zufrieden sein, wenn er die Straßen seines Viertels kennt.

Nun aber kommen so oft Dinge an die Oberfläche, die uns alle erregen, die uns allen vielerlei Fragen auf die Lippen locken. Aber – die Fragen bleiben unbeantwortet.

So, als die kleine Lucie Berlin ermordet wurde.[2] Wer wusste da etwas vom Zuhältertum? Kein ernsthafter Mensch wagt, ernsthaft darüber zu schreiben. Keiner kennt den Zusammenhang und die sozialen Eigentümlichkeiten dieser Lebenserscheinung. Oft kommt sie in aufregenden Prozessen zur Sprache. Dann bringen Zeitungen und Zeitschriften die Berichte. Aber einer Darstellung oder ernsteren Besprechung solcher Kulturerscheinungen verschließen selbst bedeutende Zeitschriften ihre Spalten.

Da wurden in letzter Zeit so oft Prozesse aus dem Leben der Banken und aus dem Geldverkehr verhandelt. Ganz ungeheuerliche Dinge schienen dort vorgegangen zu sein. Aber – vieles wurde von den meisten gar nicht verstanden. Wer ist denn heute über die vielen Arten von Banken informiert? Wer, außer den Börsenleuten, versteht etwas von den Vorgängen an der Börse?

Und doch ist kaum ein Gebiet heute so wichtig und ausschlaggebend im Erwerbsleben – und rückwirkend auch auf Sitte und Anschauung, wie der Geldverkehr.

Man braucht nicht selbst Kapitalist zu sein, und möchte doch gern unterrichtet werden.

Auch über homosexuelle Erscheinungen tauchten in den Gerichtsberichten der Zeitungen kurze Notizen auf. Notizen, die viele Menschen stutzig machen. Aber – eine Aufklärung über das Wesen der Sache erwarteten alle vergeblich von der Zeitung.

Und das eben sollen diese Großstadtdokumente: Aufklärung über das Wesen der Sache geben – unterrichten.

Unsere moderne Wissenschaft, unsere moderne Weltanschauung ist so weit gediehen, dass wir jetzt getrost vor manchen bisher verpönten Sachen die Augen öffnen dürfen. Ja, die Bevölkerungsgruppen und Zustände bedeuten in unserer sozialen Struktur so viel, dass wir endlich die Augen öffnen müssen.

Aber nicht nur mit den Sitten und Unsitten der Großstadt, mit ihren dunklen Winkeln und dunklen Menschen soll sich diese Sammlung befassen. Nein, auch das Geistes- und Arbeitsleben soll hier seine Schilderung und Kritik finden.

So wird sich einer der ersten Bände mit dem interessanten Leben der Bohème beschäftigen. Viele von unseren großen Künstlern, die wir jetzt alle in unser Herz geschlossen haben, werden dort in ihren wirren Werdejahren geschildert.

Ein anderer Band wird über Gemeinschaften und Sektierer sprechen. In unserer Zeit der sonderbaren Sehnsüchte, der Gemeinschaften, der religiösen oder spiritistischen oder theosophischen Zirkel wird dieser Band gewiss von Wert sein – um so mehr, da er von einem Berufenen kommt, von einem Sachkenner.

Und so soll diese ganze Sammlung ein Wegweiser durch dies Labyrinth der Großstadt werden. Der Sachkenner soll den Wissbegierigen an die Hand nehmen und ihn hindurchführen durch diese zahllosen Wirrnisse.

Zuerst beschränkt sich die Sammlung auf Berlin – was nicht ausschließt, dass sie später auf andere Großstädte ausgedehnt wird … Dieser erste Band ist nichts weiter als eine Einleitung. Sie soll nur die Vielfältigkeit der Großstadt zeichnen – ohne etwa das Unternehmen auf das darin angedeutete Stoffgebiet festzunageln. Gibt doch schon die Liste der ersten Bände die Allseitigkeit der Großstadtdokumente zu erkennen – die übrigens schon darum Anspruch auf Wert erheben, weil sie durchaus dokumentarisch sein werden – und die auch des wissenschaftlichen Wertes nicht entbehren werden – wenn sie sich auch nicht an verstaubte Papiere, sondern an das Leben halten …

 

Hans Ostwald.

Großlichterfelde, im September 1904.

Aus diesem Vorwort zu »Dunkle Winkel in Berlin« sprechen ein großes Selbstbewusstsein, eine programmatische Vision und publizistisches Kalkül. Das Selbstbewusstsein schöpfte Hans Ostwald aus seinem Werdegang. Geboren wurde er am 31. Juli 1873 in Berlin, als sechstes von sieben Kindern der Schuhmachertochter Wilhelmine Breitmann und Robert Ostwald, eines Schmieds, der von Magdeburg in die boomende Reichshauptstadt ging, um in einer Maschinenfabrik zu arbeiten.[3] Aufgewachsen zunächst in einer Arbeitergegend mit Schlachthof und Industrieanlagen, später im Berliner »Quartier Latin« nahe der Elsasser Straße (die in den Großstadt-Dokumenten wiederholt vorkommt), hatte es Hans Ostwald zum renommierten Journalisten und Autor gebracht.

Hans Ostwald, 1897

Sein erster erlernter Beruf war jedoch der des Goldschmieds. Die vierjährige Ausbildung begann er als Vierzehnjähriger im Jahre 1887 bei dem Hofgoldschmied Hugo Schaper, dessen Werkstatt sich in der Potsdamer Straße 8, in unmittelbarer Nähe zum Potsdamer Platz, befand, dem Scharnier zwischen dem alten Stadtkern und der am Kurfürstendamm entstandenen – und bereits damals so genannten – City West. Dadurch, dass Ostwald weiterhin mit seinen Eltern in einer Arbeiterunterkunft wohnte, zugleich aber regelmäßig Botendienste in die Villen und Wohnungen der Kundschaft Hugo Schapers machte, hatte er im Angesicht dieser enormen sozialen Kontraste schon früh die Möglichkeit, das Gespür eines »Grenzgängers zwischen den Gesellschaftsschichten«[4] zu entwickeln.

Anders als sein Bruder, der ein eigenes Juweliergeschäft eröffnete, ging Ostwald am Ende seiner Berliner Lehrjahre auf die Walz, was einen akzeptierten Teil der Handwerkerausbildung darstellte, der dazu dienen sollte, sich bei anderen Meistern Spezialkenntnisse zu erwerben. Aber Ostwald, der die Jahre bei Schaper als »abscheuliche Tyrannei« empfunden hatte, suchte keine anderen Goldschmiede, sondern begab sich, einem »romantischen Trieb« folgend, in die Gesellschaft der Landstreicher. Er nahm deren Lebensstil an, ging mit ihnen auf Betteltouren, übernachtete in ihren Quartieren, trug die »Maskerade der Verweigerung«, führte das Leben eines Vagabunden und traf auf Menschen und ihre Lebensbedingungen, die für seine frühen literarischen und journalistischen Texte prägend werden sollten. Mehr noch: Seine Erfahrungen als Landstreicher gaben Ostwald eine besondere Authentizität. Durch sie verfügte er »über eine Biographie, mit der andere Schriftsteller die Figuren ihrer Romane ausstatteten«.[5]

Zurückgekehrt nach Berlin, begann er seine Vagabundenerlebnisse aufzuzeichnen, verfasste zudem Erzählungen über das ihn umgebende Arbeitermilieu. Er schickte diese Arbeitsproben an Felix Hollaender, den Mitherausgeber der 1895 gegründeten Zeitung Welt am Montag, deren Name schon die Marktlücke andeutet, in die diese Publikation gestoßen war; sie erschien, anders als die anderen Tageszeitungen Berlins wie das Berliner Tageblatt, der Lokal-Anzeiger und die Vossische Zeitung, ausschließlich am Montag. Da die Welt am Montag im Straßenverkauf ihren wichtigsten Vertriebsweg hatte, musste sie mit Schlagzeilen aufwarten, die den Zeitungsjungen etwas Spektakuläres zum Ausrufen gab. Daneben bot die Zeitung jedoch ein breites Spektrum von Themen, vom Börsenteil bis zu Lokalereignissen, von Sportberichten bis zum Alltagsgeschehen. Besonderen Wert legte Hollaender, der bereits während seines Studiums erfolgreich Romane veröffentlicht hatte, auf das Feuilleton. So gewann er unter anderem Kurt Eisner, Alfred Kerr und Gustav Landauer als Beiträger, die neben Kritiken zu Theater, Konzerten und zur Literatur auch Reportagen über das soziale Leben der Hauptstadt lieferten, dafür auf eigene Faust recherchieren mussten und die Rolle von urbanen Reportern übernahmen.

In seiner Zeit bei der Welt am Montag lernte Ostwald eine ganze Reihe solcher jungen, aufstrebenden, vielseitigen Autoren kennen, die später Beiträger der Großstadt-Dokumente wurden, wie Julius Bab, der Band 2 Die Berliner Bohème schrieb, Georg Bernhard (Band 8, Berliner Banken) und Hans Hyan, der den Band 28 Schwere Jungen beisteuerte.[6]

Ab 1897 arbeitete Ostwald zudem für den Vorwärts, das Zentralorgan der SPD, das in dieser Zeit um einen Feuilletonteil erweitert wurde. Für diese »Unterhaltungsblatt« betitelte Beilage schrieb Ostwald über den rasanten Wandel der Stadt, den Abriss ganzer Straßenzüge, die Entstehung neuer Wohnviertel, über Architektur, die Faszination der Schaufenster, die nächtliche Beleuchtung, die Werbung und über die permanenten Kontraste zum Metropolenflair: die Arbeiterkinder, Stadtstreicher, Straßenfeger und Menschen in anderen aufreibenden, schlechtbezahlten Berufen. In diesen frühen Texten sind die Prostituierten, die Zuhälter, das Rotlichtmilieu noch nicht präsent – Themen, die die Großstadt-Dokumente vom ersten Band an durchziehen.

Was Ostwalds Stadttexte von Anfang an kennzeichnet, ist ihre »Zielgerichtetheit«. Statt wie ein urbaner Spaziergänger gemächlich durch die Straßen zu schlendern und dabei auf Zufallsereignisse zu warten (wie dies beispielsweise Walter Benjamin und Franz Hessel taten), war Ostwalds Arbeitsweise eine ganz andere: »Hingehen, schauen, entdecken und aufschreiben. Wenn man nach einer Leitfigur für Ostwalds Stadtexpeditionen sucht, dann drängt sich weniger der Flaneur als viel mehr der urbane Reporter auf« – so Ralf Thies, der pointiert ergänzt, dass Ostwald »zielstrebig und entschlossen« zu den Orten seines Interesses »marschierte (…), wenn er sich nicht gleich in die Stadtbahn setzte«.[7]

 

Im Jahre 1900 erschien Ostwalds Roman Vagabunden, für den er sich – auf Anraten Felix Hollaenders, dem das Buch auch gewidmet ist – nochmals in die Welt der Landstreicher begab. Deren Lebensweise wird in »Vagabunden« weder heroisierend noch mit sittlicher Empörung dargestellt, stattdessen beschreibt Ostwald ihre sozialen Regeln und Bräuche, die sich teilweise zurückverfolgen lassen bis in die Zeit des Römischen Reiches, in denen ehemalige Gladiatoren durch Germanien zogen.[8] Im Unterschied zu anderen Autoren der Zeit, die sich in ihren Studien den Landstreichern »nur mit Ekelgefühlen« näherten,[9] stellte Ostwald die Vagabunden nicht als grundsätzlich faule, durch Veranlagung zum Schmarotzertum bestimmte Subjekte dar, sondern schilderte die in vielen Landstreicher-Biographien vergleichbaren Stationen des sozialen Abstiegs: Verlust der Arbeitsstelle, Lebenskrise, Alkoholismus, Obdachlosigkeit. Ein Abstieg, der von dem nur auf Repression und Strafe bedachten staatlichen Fürsorgesystem nicht aufgehalten wurde. Ein System, das den Gedanken der Inklusion nicht kannte.

Das Buch trug Ostwald den Ruf eines ausgewiesenen Experten auf dem Gebiet des Vagabundentums ein, obwohl der Text klare literarisch-fiktionale Züge trägt. Er beginnt in der Tradition des Bildungsromans und nimmt Anleihen bei Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts: Ein junger Mann zieht nach einem Streit mit den Eltern in die Welt. Er wahrt jedoch den Kontakt nach Hause, berichtet seiner Schwester in Briefen über seine Erlebnisse. Schnell kommt er ins Milieu der »Kunden«, wie sich die Landstreicher selbst nennen, zeichnet ihre Lebensgeschichten auf, ihre verschiedenen Arten zu »fechten« (betteln), ihre ritualisierten Umgangsformen. Diese gewissermaßen ethnographischen Passagen sowie umfangreiche Listen von Begriffen aus der »Kundensprache« geben Ostwalds Buch den Charakter einer Einführung in das wichtigste Element der vagabundischen Subkultur: ihre seit Jahrhunderten überlieferte Standessprache. Solche Wortlisten und »Übersetzungen« tauchen auch in den Großstadt-Dokumenten auf. Mal sind die Bedeutungen in den Text eingefügt, es gibt aber auch ganze Glossare, z.B. im Band Schwere Jungen, in dem sich ein Anhang mit dem Titel »Die Gaunersprache« findet.

Ein weiteres Merkmal des Romans, das sich in den Großstadt-Dokumenten wiederfinden lässt, sind die von den Figuren selbst er[18]zählten, in wörtlicher Rede wiedergegebenen Berichte über ihr Schicksal:

»Ich wo – na, wat soll ick dir lange Geschichten vormachen – sie hat sich mit einem andern eingelassen. Un da habe ick alles verschmort, wat ick hatte, na – und nu woll’n wir mal sehn, ob’t nich in’t jroße Dorf (Berlin) wat zu dhun jibt. In Stettin war nischt mehr los. Und du?«[10]

Diese im mündlichen Duktus, mit allen umgangssprachlichen, dialektalen Formulierungen, allen Verstößen gegen Grammatik und Syntax wiedergegebenen Berichte machen die Sprechenden zu authentischen, glaubwürdigen Zeugen, lassen ihnen zu einem hohen Grade die Deutungsgewalt über ihre Lebensgeschichte.

Um die Nähe für dieses geradezu intime Dokumentieren herzustellen, bediente sich Ostwald der Verkleidung, zog sich an wie ein Vagabund, was es ihm auch ermöglichte, die Perspektive eines »Kunden« einzunehmen und Fürsorgeeinrichtungen zu inspizieren.

All diese Arbeitsmethoden und Schreibtechniken, die Ostwald in seinen frühen Jahren als Reporter und Autor entwickelte – darunter wohl auch eine »perfekte Technik des verdeckten Mitschreibens«[11] – finden sich von Anfang an in den Großstadt-Dokumenten, so zum Beispiel in »Eine Nacht bei den Obdachlosen«[12] oder bei der Wiedergabe der Dialoge zwischen den vor Schlachthöfen wartenden Frauen in »Abfälle«.[13]

Im ersten Text von Dunkle Winkel in Berlin knüpft Ostwald zudem an einen weiteren Strang seines bisherigen Werkes an. Am Anfang von »Im Bouillonkeller« »erklingt« ein Lied, gesungen von einem Zuhälter, das den Erzähler und seinen Begleiter »gegen drei Uhr morgens« in das düstere Etablissement lockt. Solches Gesangsgut hatte Ostwald 1903 in Lieder aus dem Rinnstein veröffentlicht – einer Sammlung von Liedtexten, die er in den Landstreicher-Wirtshäusern mitgeschrieben hatte und die er später um derbe Volkslieder und Berliner Dirnenlieder erweiterte. Im Vorwort zu dieser Sammlung betont Ostwald, hier besinge das Volk sein Leben selbst in Liedern, die durch ihre »Ursprünglichkeit«, »Frische« und »naive Kraft« gekennzeichnet seien, und von »wirklichem Erleben« kündeten.

Während Leser wie Erich Mühsam Ostwalds Buch als »außerordentlich verdienstvoll« und »staunenderregend« bezeichneten, empörte sich der Rezensent der Vossischen Zeitung darüber, dass es sich bei der Sammlung um einen »Misthaufen von Cynismen« handele.[14] Für Ralf Thies steht diese Liedersammlung im Horizont der Arbeit Ostwalds als eines »Archivars der Volkskulturen der Verfemten«,[15] zu der ebenso auch die Beschreibung des Vagabundenlebens gehörte. Bereits der Titel der Liedsammlung zeigt, wie stark und kalkuliert Ostwalds Impetus war: Greift er doch mit »Lieder aus dem Rinnstein« eine Formulierung Kaiser Wilhelm II. auf, der Ende September 1894 anlässlich der ersten Aufführung von Hauptmanns »Die Weber« im Deutschen Theater von »Rinnsteinliteratur« gesprochen und aus Protest seine Loge im Schauspielhaus gekündigt hatte.[16]

Ostwald nahm sich des Themas der Landstreicherei, das eines der großen, ungelösten sozialen Probleme im Deutschen Reich darstellte, nicht nur literarisch und dokumentarisch an. 1903 veröffentlichte er die Schrift Die Bekämpfung der Landstreicherei, in der er die Grundsätze der öffentlichen Fürsorge als eine »Mischung aus Almosengeben und Repression« beschrieb und grundsätzlich infrage stellte, da deren Institutionen von Bedürftigen als »Zwangsanstalten«, nicht aber als »Hilfsanstalten« erlebt wurden.[17] Dagegen entwickelte Ostwald ein Konzept, das seiner Zeit weit voraus war: Er verlangte Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und eine gesetzliche Arbeitslosenversicherung – eine Einrichtung, die erst 1927 in Deutschland eingeführt werden sollte.

Der Aspekt der Beschreibung gesellschaftlicher Missstände, die Prüfung und Kritik der gegen sie getroffenen Maßnahmen, die Entwicklung eigener Konzepte – dieser sozialpolitische Impetus durchzieht die Großstadt-Dokumente, gehört zu ihrem einzigartigen, changierenden Charakter zwischen Metropolen-Reportage, soziologischer Studie, politischem Pamphlet und literarischem Text. Ein Changieren, das Ostwald in der Vorrede zum ersten Band mit den Stichworten »Kunstwerk«, »Information« und »Wissenschaft« benennt und das das Projekt zu einer Art Forschungslabor macht, »in dem verschiedene Modelle der Beobachtung und Beschreibung des urbanen Lebens erprobt wurden«.[18] Einer Beschreibung also, die nach Meinung Ostwalds selbst einem so herausragenden Autor wie Émile Zola unmöglich geworden war – daher seine Bemerkung in der Vorrede: »Die Zeit solcher Romane ist vorbei«, die bei aller programmatischen Berechtigung durchaus auch ein Stück Vermessenheit in sich trägt.

An die Stelle der großen Entwürfe, der geschlossenen Erzählung der Stadtromane, setzt Ostwald mit den Großstadt-Dokumenten eine Collage aus kurzen, informativen Studien und anderen kleinformatigen Texten. Und an die Stelle des einzelnen Autors tritt ein Kollektiv von »intellektuellen Vagabunden«, wie Ralf Thies den Kreis der Beitragenden zu den Großstadt-Dokumenten nennt. Jens Bisky beschreibt sie in Berlin – Biographie einer großen Stadt wie folgt: »Sie kannten, worüber sie schrieben, aus eigener Anschauung und eigenem Erleben. Sie gingen in Viertel, die kein Baedecker empfahl, und entdeckten das moderne Leben als die Sehenswürdigkeit der Großstädte schlechthin.«[19]

Gemeinsam war den Autoren der Großstadt-Dokumente eine »Aufgeschlossenheit gegenüber neuen kulturellen Entwicklungen, sozialen Bewegungen und technischen Innovationen« und zugleich »eine ausgeprägte Skepsis gegenüber etablierten gesellschaftlichen Gruppen, wobei ihre oppositionelle und provokative Haltung gegenüber dem Establishment einige von ihnen in Konflikt mit der Staatsgewalt brachte«.[20] So beispielsweise Albert Weidner, Autor des Bandes Aus den Tiefen der Berliner Arbeiterbewegung.[21] Weidner, der sich einem humanitären Anarcho-Sozialismus verschrieben hatte, kurzlebige libertäre Blätter wie den Armen Teufel und den Sozialist herausgab, stand unter ständiger Beobachtung durch die politische Polizei und war 1894 wegen sogenannter »Preßvergehen«, der Publikation politisch unliebsamer Texte, zu einem Jahr Gefängnis verurteilt worden.[22]

Grundsätzlich lassen sich zwei Gruppen von Beitragenden zu den Großstadt-Dokumenten unterscheiden:[23] Auf der einen Seite die Reporter und Feuilletonisten, deren Blick für das Neue und Unvertraute der Metropole durch ihre Zeitungsarbeit geschärft worden war. Auf der anderen Seite finden sich die »aus ihrer Berufspraxis heraus schreibenden Praktiker, hauptsächlich Ärzte und Rechtsanwälte, die, als Spezialisten ihres Fachgebietes, auf eigene Erfahrungen mit Behörden und Klienten, bzw. Patienten zurückgreifen konnten«.[24]

Es handelt sich um Erfahrungen, die immer wieder und sozusagen im Original-Ton in die Großstadt-Dokumente eingefügt werden, wie zum Beispiel von Magnus Hirschfeld, der den ausführlichen Bericht eines Mannes im Wortlaut wiedergibt, der beinahe Opfer eines Erpressers geworden wäre.[25] Diese Einfügungen gehören zu den »Dokumenten der Menschlichkeiten«, an denen Ostwald besonders gelegen war. Er übernahm den Begriff von Hippolyte Taine, welcher im Bezug auf die Romane Balzacs von »document humain« sprach.[26] Ostwald waren diese schriftlichen Selbstdarstellungen wichtig, weil die Lesenden durch sie Näheres »vom Werden und Treiben, von den Empfindungen, Ansichten und Absichten der Beteiligten erfahren«[27] und so Verständnis für ihre Werdegänge entwickeln konnten.

 

Die von Ostwald in seinem Programm für die Großstadt-Dokumente formulierte Absicht, »das Leben so nah wie möglich« abzubilden, stieß in der zeitgenössischen Rezeption auf Irritation (die Kölnische Zeitung nannte die Reihe einen »eigenartigen literarischen Nachläufer des Naturalismus«[28]) – und auf offene Ablehnung. Besonders negativ waren die Reaktionen auf jene Bände, die sich mit dem urbanen Elend, den Zuhältern und Prostituierten und den Formen von Sexualität beschäftigten, die von der »Normalität« abwichen. Aufgrund dieser Bände wurde den Großstadt-Dokumenten immer wieder vorgeworfen, dass sie »vorwiegend die Nachtseiten Berlins« thematisieren würden.[29]

Dass diese »Nachtseiten« tatsächlich breiten Raum in der Reihe einnahmen, lag zunächst am Gegenstand selbst, gehörten sie doch zu den besonderen Großstadt-Sensationen, jenen – so Ostwald – »Giftblüten«, die die Metropole hervorbrachte, und mussten entsprechend des titelgebenden, dokumentarischen Anspruchs des Projekts mit der gleichen Genauigkeit und Zuverlässigkeit beschrieben werden wie Warenhäuser, Bankenviertel und mondäne Klubs.

Erwähnt werden muss in diesem Zusammenhang zudem, dass die Jahrhundertwende eine wichtige Phase der Formierung der Sexualwissenschaften war, vom Aufkommen der Psychoanalyse bis zu einem Wandel in der Bewertung gleichgeschlechtlicher Beziehungsformen. Nicht von ungefähr ist mit Magnus Hirschfeld einer der bis heute renommiertesten Sexualwissenschaftler ein Beiträger der Großstadt-Dokumente. Mehr noch: Der von ihm verfasste Band Berlins drittes Geschlecht ist als einziger auch außerhalb des Kontexts der Reihe bekannt und gilt als Meilenstein schwuler Stadtgeschichtsschreibung. Bis in die 1920er-Jahre erfüllte Hirschfelds Band jedoch noch einen anderen Zweck: Er wurde von homosexuellen Touristen, die Anschluss an die Szene finden wollten, zwar nicht als Reiseführer (die Klarnamen der entsprechenden Orte fehlten natürlich, da Homosexualität als Verbrechen verfolgt wurde), aber so doch wie ein »Gegen-Baedecker«[30] als eine Art Wegweiser genutzt. Ein Wegweiser vorbei an den Ordnungshütern, die überall in den Großstadt-Dokumenten präsent sind, meist in ironischer Anspielung auf die im Spanien des 16. Jahrhunderts entstandene, berittene Polizeitruppe als »Hermandad« bezeichnet. Wo die »Hermandad« in den Großstadt-Dokumenten auftaucht, da droht sie, schikaniert, schüchtert ein. Dies geschah aus der Überzeugung heraus, autoritäres Auftreten sei das einzig wirkungsvolle Verhalten gegenüber Zuhältern und Prostituierten genau wie gegenüber Obdachlosen – galt deren Schicksal doch als selbstverschuldet, wurde ihr soziales Elend mit einer vermeintlichen Willensschwäche erklärt und Forderungen nach staatlichen Hilfsmaßnahmen mit dem Hinweis auf die Eigenverantwortung der Betroffenen zurückgewiesen.[31] Als einziges Mittel, den städtischen Außenseitern wieder auf den »richtigen Weg« zu helfen, galten Strafen. Dementsprechend gefürchtet waren zum Beispiel Obdachlosenasyle, da dort, suchte ein Obdachloser sie zu häufig auf, die Verhaftung und Einweisung in ein Arbeitshaus drohte, in dem brutale Haftbedingungen, Drangsalierungen durch das Wachpersonal und sexuelle Übergriffe an der Tagesordnung waren, wie Ernst Schuchardt in Band 33 Sechs Monate Arbeitshaus ausführt.

Im Vorwort zu diesem Band erläutert Ostwald: »Ich enthalte mich mit Absicht jedes weiteren Kommentars – erwarte aber, dass Psychologen, Kriminalisten, Soziologen, Politiker, Menschenfreunde und Menschenfeinde den Wert dieses Dokuments zu schätzen wissen, dass sie sich den Kern aus der Schale herausschälen.« Gerade diese Haltung wurde, so Ralf Thies, Ostwald immer wieder vorgeworfen: »Wenn [er] unkommentiert Unterdrückung und Kriminalisierungspraktiken kenntlich macht, anstatt die städtischen Außenseiter als Delinquenten und Nichtsnutze zu beschimpfen, wurde dies bereits als Parteinahme zu ihren Gunsten interpretiert.«[32]

Für Ostwald war der Umgang mit Randgruppen und Bedürftigen jedoch ein Gradmesser für die Humanität einer Gesellschaft. Er betonte:

Jeder, der sich ein wenig mit dem Strafrecht und seinen Folgen beschäftigt hat, weiß, dass Strafen nicht hilft. Änderung der Zustände und Änderung der Menschen brauchen wir. Änderung der Menschen bringt uns aber keine noch so strenge Strafe, sondern allein die Erziehung kann uns bessere Menschen bringen.[33]

Wie sehr es Ostwald um die Sachlichkeit der Darstellung ging und nicht etwa um Sensationalismus, zeigen bereits die Titel der Einzelbände, bei denen es ein Leichtes gewesen wäre, aus den jeweiligen Themen reißerische Titel zu bilden, um eine voyeuristisch orientierte Leserschaft anzusprechen.[34] Die nachfolgende Titelliste aller 50 Bände der Großstadt-Dokumente belegt auch, dass es Ostwald keineswegs daran gelegen war, bloß die Nachtseiten Berlins herauszustellen, sondern auch die Bedeutung der Stadt als Handels- und Verwaltungsmetropole betont werden sollte:

Band 1 Hans Ostwald: Dunkle Winkel in Berlin

Band 2 Julius Bab: Die Berliner Bohème

Band 3 Magnus Hirschfeld: Berlins drittes Geschlecht

Band 4 Hans Ostwald: Berliner Tanzlokale

Band 5 Hans Ostwald: Zuhältertum in Berlin

Band 6 Eberhard Buchner: Sekten und Sektierer in Berlin

Band 7 Hans Ostwald: Berliner Kaffeehäuser

Band 8 Georg Bernhard: Berliner Banken

Band 9 Albert Weidner: Aus den Tiefen der Berliner Arbeiterbewegung

Band 10 Arno Arndt: Berliner Sport

Band 11 Max Winter: Das Goldene Wiener Herz

Band 12 Otto Herschmann: Wiener Sport

Band 13 Max Winter: Im Unterirdischen Wien

Band 14 Felix Salten: Wiener Adel

Band 15 Moritz Loeb: Berliner Konfektion

Band 16 Emil Bader: Wiener Verbrecher

Band 17 Alfred Deutsch-German: Wiener Mädel

Band 18 Adolf Goetz: Ballin, ein königlicher Kaufmann

Band 19 Victor Noack: Was ein Berliner Musikant erlebte

Band 20 Johannes Tews: Berliner Lehrer. (Ersetzte den verbotenen ursprünglichen Band 20 Wilhelm Hammers, Die Tribadie Berlins, vgl. S. 31f.)

Band 21 Johannes Werthauer: Berliner Schwindel

Band 22 Eberhard Buchner: Varieté und Tingeltangel in Berlin

Band 23 Wilhelm Hammer: Zehn Lebensläufe Berliner Kontrollmädchen

Band 24 Franz Hoeniger: Berliner Gerichte

Band 25 Spectator: Berliner Klubs

Band 26 Ella Mensch: Bilderstürmer in der Berliner Frauenbewegung

Band 27 Max Marcuse: Uneheliche Mütter

Band 28 Hans Hyan: Schwere Jungen

Band 29 Walter Turszinsky: Berliner Theater

Band 30 Satyr: Lebeweltnächte in der Friedrichstadt

Band 31 Johannes Werthauer: Moabitrium. Szenen aus der Großstadt-Strafrechtspflege

Band 32 Viktor Günther: Petersbourg s’amuse

Band 33 Hans Schuchardt: Sechs Monate Arbeitshaus

Band 34 Assessor: Die Berliner Polizei

Band 35 Hans Ostwald: Berliner Spielertum

Band 36 Hans Freimark: Moderne Geisterbeschwörer und Wahrheitssucher

Band 37 M. Baer: Der internationale Mädchenhandel

Band 38 Leo Benario: Die Wucherer und ihre Opfer

Band 39 Triton: Der Hamburger »Junge Mann«

Band 40 Johannes Werthauer: Sittlichkeitsdelikte in der Großstadt

Band 41 Magnus Hirschfeld: Die Gurgel Berlins

Band 42 Walter Bahn: Meine Klienten. Beiträge zur modernen Inquisition

Band 43 Clerk: Berliner Beamte

Band 44 Martin Ebeling: Großstadt-Sozialismus

Band 45 Albert Südekum: Großstädtisches Wohnungselend

Band 46 Balder Olden: Der Hamburger Hafen

Band 47 Leo Colze: Berliner Warenhäuser

Band 48 Georg Buschan: Geschlecht und Verbrechen

Band 49 Alfred Lasson: Gefährdete und verwahrloste Jugend

Band 50 Edmund Edel: Neu-Berlin

Anhand der Einzelbandliste wird zudem Ostwalds Anliegen deutlich, das Wesen der Großstadt Berlin im Kontrast zu anderen Großstädten herauszuarbeiten: zu Wien und in geringerem Umfang zu Hamburg.

Der Vergleich mit Wien war von Beginn des Projekts an vorgesehen, galten Berlin und Wien doch als Gegensatzpaar: die Retortenstadt nach amerikanischem Vorbild an der Spree versus die alte Kulturstadt an der Donau. Mark Twain hatte in einem Zeitungsbericht über eine seiner Europareisen Berlin beschrieben und dabei dessen Unübersichtlichkeit betont, die ein Gefühl der Verlorenheit bei ihm auslöste (»I felt lost in Berlin«). Zugleich hob Twain die Neuheit der Stadt hervor (»the newest I’ve ever seen«) und verglich sie mit der unüberschaubarsten und neuesten Stadt Amerikas: »Berlin is the European Chicago.«[35]

Bemerkenswert ist, wie wenig Berlin in den Großstadt-Dokumenten mit Paris verglichen wird, wo doch das Nachtleben einen ständig präsenten Aspekt der Texte darstellt und sich beide Städte in der Intensität und im Angebot des Nachtlebens kaum nachstanden, wie der französische Schriftsteller Jules Huret in seiner Beschreibung Berlins festhält, die in den gleichen Jahren entstand wie die Großstadt-Dokumente. Huret schreibt: »Berlin steht Paris in nichts nach, die Fröhlichkeit ausgenommen«, doch angesichts dessen schnellen Wachstums könne es durchaus sein, dass Berlin Paris bald auch »in dieser Hinsicht überholt«.[36]

Die mangelnde Wahrnehmung Frankreichs mag auch ein Grund dafür sein, dass Ostwald ein Autor entging, dessen Projekt als Vorläufer der Großstadt-Dokumente gelten kann: Nicolas Edmonde Restif de la Bretonne, der in Les contemporaines, ou avantures des plus jolies femmes de l’âge présent in einem geradezu dokumentarischen Stil – als »nächtlicher Zuschauer« – das Leben in Paris und auf dem Lande vor und während der Französischen Revolution beschrieben hat.[37] Dass Rétif de la Bretonne, der von Goethe, Schiller und Wilhelm von Humboldt rezipiert wurde und als meistgelesener französischer Autor in Deutschland galt, von Ostwald nicht erwähnt wird, mag allerdings auch damit erklärbar sein, dass Ostwald eben – wie zitiert – aus dem Leben und »nicht aus Vergangenheiten, aus staubigen Urkunden und alten Nachrichten« schöpfen wollte.

Doch zurück zu der von Twain konstatierten »Unübersichtlichkeit«. Dieser Eindruck Berlins als einer Stadt, die ständig neue Menschen aufnahm, in der verschiedene Sprachen gesprochen wurden, in der unablässig neue Häuser und Straßen gebaut wurden, was das Gesicht der Stadt fortwährend veränderte, war im deutschen Bildungsbürgertum weit verbreitet. Das Gegenmodell zu dieser bedrohlichen Stadt war Wien, das Werner Sombart 1907 euphorisch beschrieb: »Wien ist Musik. Ist Harmonie. Also wieder Kultur. Ganzheit. Ausgeglichenheit. (…) An Wien und Wiener Art orientieren wir uns, wenn wir wissen wollen, was Kultur ist. An Wien erstarken wir wieder, wenn wir vom Ekel über die moderne menschliche Entwicklung erfüllt sind.«[38]

Folgt man dem von Ostwald in seiner Vorrede angedeuteten und auch seitens des Verlags veröffentlichten Editionsplan, sollten die Großstadt-Dokumente zunächst auf zwanzig Bände angelegt sein, von denen sich zehn mit Berlin, dann zehn mit Wien beschäftigen sollten. Dieser Plan wurde jedoch nicht verwirklicht. Offensichtlich wurden nicht alle zugesagten Wien-Beiträge geliefert, sodass Programmplätze, die für Wiener Themen vorgesehen waren, mit Bänden zu Berlin gefüllt wurden.

So blieb der geplante kontrastive Städtevergleich unvollendet, zumal selbst die erschienenen und thematisch korrespondierenden Bände wie Band 10 Berliner Sport und Band 12 Wiener Sport keinerlei Bezug aufeinander nahmen, keine Verknüpfungen herstellten, sich nicht einmal zitierten.

Trotzdem hatte das »absichtsvolle Nebeneinander«[39] der Wiener und Berliner Bände einen Erkenntniswert. Denn in den Wiener Dokumenten zeichneten Autoren wie der spätere Starfeuilletonist und Autor der Romanvorlage von Bambi Felix Salten sowie insbesondere der heute als »Wallraf der Monarchie« geltende Max Winter ein Bild von Wien, das dem Mythos der harmonischen Kulturmetropole widersprach. Auch Wien trug die Züge einer rußenden Stadt, voller Armut und Elend, dem mit Ignoranz begegnet wurde. Eine Stadt, in der vor allem auch der Antisemitismus verbreitet war, wie Otto Herschmann hervorhob, indem er darauf hinwies, dass Wien als einzige europäische Hauptstadt mit Karl Lueger von einem Bürgermeister regiert wurde, der unverhohlen antisemitische Ansichten vertrat.[40]

 

Die Idee des Städtevergleichs wurde von Ostwald nicht weiterverfolgt, als er nach den ersten Erfolgen der Reihe deren Ausweitung auf 50 Bände festlegte. Möglichweise war der Verzicht auf eine solche Ausrichtung auch den Schwierigkeiten geschuldet, in die Ostwalds Verlag im Laufe der Publikation der Großstadt-Dokumente geriet.

Bei diesem handelte es sich um den 1894 in Leipzig gegründeten Verlag Hermann Seemann Nachfolger GmbH, der im Jahr 1900 in den Besitz von Victor Schweizer überging. Schweizer entwickelte ein breit gestreutes und schnell erfolgreiches Programm, unter anderem mit Autorinnen und Autoren der klassischen Moderne wie August Strindberg, dessen erste deutsche Edition bei Seemann erschien. Schweizer, der als Genie der Reklame galt, brachte eine »Moderne Frauen-Bibliothek« mit Texten aus dem Umfeld der Frauenbewegung heraus sowie skandalträchtige Titel, wie die als anrüchig geltenden Romane der Frauenrechtlerin Maria Janitschek, deren Novellensammlung Die neue Eva beschlagnahmt wurde, was vom Verlag umgehend als Werbung für Janitscheks andere Bücher genutzt wurde. Entsprechende Werbeanzeigen finden sich in den ersten Bänden der Großstadt-Dokumente. Ostwald selbst zeigt diese Werbung mit dem Verbotenen in einer süffisanten Szene in Band 1. Im Text »In der Passage« gibt es eine Buchhandlung, in deren Schaufenster es von Büchern mit Banderolen wimmelt, auf denen es heißt: »Interessant! Verboten gewesen!!« oder »Konfisziert gewesen!«.[41]

Schweizer betrieb die Publikation der Großstadt-Dokumente mit einem erheblichen Werbeaufwand: mit Anzeigen ebenso wie mit einem Prospekt für die Buchhandlungen, denen zudem Sonderkonditionen eingeräumt wurden. Um die Herstellungskosten niedrig zu halten, wurde auf Illustrationen in den Bänden verzichtet, der Umfang auf 100 Seiten begrenzt, was der vor dem Ersten Weltkrieg gebräuchlichen Publikationsform der Kleinen Monographie entsprach. Die broschierte Ausgabe im Oktavformat von 20 × 12 cm kostete eine Mark und wurde zeitweise wegen des vergleichsweise geringen Preises als »Volksausgabe« angeboten. Als sich der Verkaufserfolg der Reihe abzeichnete, bot der Verlag zusätzlich eine Leinenausgabe für je zwei Mark pro Band sowie Sammlerrabatt bei Abnahme von zehn Bänden an.

Der niedrige Preis und das handliche Format entsprachen Ostwalds Absicht, »Verbrauchsbücher« zu schaffen, die eine große Leserschaft erreichten, denn: »Leute, die für ein Buch fünf oder zehn Mark ausgeben können, haben absolut nicht das alleinige Recht auf Information«.[42]

Eine bizarre Blüte des Erfolgs war das immer wieder an die Autoren herangetragene Verlangen, sie bei ihren Recherchen begleiten zu dürfen. So berichtet Hans Hyan davon, dass er häufig Bekannte und weniger Bekannte auf seine Recherche-Touren mitnehmen musste, die jedoch nicht die erhofften Erlebnisse in den »Dunklen Winkeln« machten:

Umschlag von Band 1 der Großstadt-Dokumente: Dunkle Winkel in Berlin

Denn selbst wenn ich wollte, könnte ich den Leuten in unserm heutigen Berlin kaum noch etwas anderes zeigen als ein paar schlecht gekleidete, ordinär aussehende Menschen in der Umgebung einer schmutzigen und meist gar nicht wohlriechenden Destille. Die Annahme, dass die Verbrecher den neugierig hereinkommenden Herrschaften sogleich ein kleines Nachtasyl vorspielen werden, ist eigentlich recht naiv.[43]

Ursprung dieser Lust am Nacherleben mag auch die »Gefahr« evozierende Gestaltung der Reihe sein. Sie oblag dem Illustrator und Gebrauchsgraphiker Paul Haase, einem renommierten Plakatkünstler und Mitarbeiter des Simplicissimus. Haases Coverentwurf zeigt zuoberst eine stilisierte Raubkatze, unter deren Tatzen der Schriftzug »Großstadt-Dokumente« verläuft. Darunter finden sich der jeweilige Autorenname und der Titel des Einzelbandes, gerahmt von einem grünschwarzen Ornament. Diese Gestaltung gab der Reihe einen hohen Wiedererkennungswert und eben den Ruch einer Expedition in den Dschungel.

Geplant war, dass binnen eines Jahres zwanzig Bände der Großstadt-Dokumente erscheinen sollten, von denen die Berliner Serie gut vorbereitet war; Ostwald selbst war Verfasser von vier Bänden. Doch zu den bereits erwähnten Schwierigkeiten mit der Pendant-Serie Berlin/Wien kamen bald gravierende finanzielle Probleme, ausgelöst durch ein Direktoriumsmitglied des Seemann-Verlags, das im großen Stil Verlagsgelder veruntreut hatte. In dem am 7. Dezember 1905 eröffneten Konkursverfahren konnte Schweizer zwar die Fortführung des Verlagsprogrammes sichern, verlor aber in der Folge wichtige Mitarbeiter wie den Schriftsteller René Schickele, der die bei Seemann erscheinende Zeitschrift Magazin herausgab, sowie den findigen Cheflektor Jakob Heyne.

Dass die Großstadt-Dokumente weiterhin erscheinen konnten, lag vor allem an ihrem finanziellen Erfolg: der Konkursverwalter erwartete sich weitere Einnahmen aus der Reihe, wahrscheinlich auf Kosten Ostwalds und seiner Autoren, die wohl auf ihnen zustehende Honorare verzichteten.[44]

Das erste Großstadt-Dokument, das in der Zeit der Konkursverwaltung erschien, war Band 20, Wilhelm Hammers Die Tribadie Berlins, eine Sammlung von Lebensgeschichten lesbischer Frauen, mit der Ostwald offensichtlich auf einen ähnlichen Erfolg spekulierte wie mit Hirschfelds Band zum Dritten Geschlecht, handelte es sich bei Hammers Schrift doch um die bis dato erste größere Darstellung weiblicher Homosexualität in Deutschland.[45] Um die Zensur nicht auf den Plan zu rufen, ließ er einige Passagen im Manuskript streichen, in denen lesbische Sexualpraktiken geschildert werden. Andere ließ er ins Lateinische übersetzen.

Die Rechnung ging zunächst auf: innerhalb weniger Monate erreichte der Band sechs Auflagen. Dann schritt jedoch das Amtsgericht Berlin-Mitte ein, ließ das Buch beschlagnahmen und klagte Verleger, Herausgeber und Autor wegen »Verbreitung pornographischer Schriften« an. Zwar wurde die Klage aufgrund von Gutachten, die den »durchaus ernsten Charakter« des Buches bestätigten, fallengelassen, der Richter verfügte jedoch die »Unbrauchbarmachung aller Exemplare«. Daraufhin nahm Ostwald Hammers Buch aus der Reihe und ersetzte Band 20 mit einem anderen zum Thema »Berliner Lehrer«. Zudem verzichtete er auf bereits vorbereitete Titel, die die Zensur erneut provoziert hätten, darunter Beiträge zu Themen wie »Berliner Grand-Kokotten«, »Berliner Flagellanten, Sadisten und Masochisten« oder »Missbrauchte Kinder und Kinderprostitution in Berlin«.

 

Anfang 1907 erkrankte Ostwald an Neurasthenie, jener »Nervositätsepidemie« der wilhelminischen Epoche, die als Folge des hektischen Großstadtlebens gedeutet wurde. »Ostwald hatte das Tempo Berlins zu seinem eigenen Lebenstempo gemacht, sich der Hetze und Jagd auf die Dauer aber nicht gewachsen gezeigt«,[46] diagnostiziert Ralf Thies mit Blick auf Ostwalds jahrelanges Arbeitspensum an der Belastungsgrenze und der damit verbundenen permanenten Selbstüberforderung.

Er zog sich nach Rapallo an die italienische Riviera zurück, betrieb jedoch die Großstadt-Dokumente von dort weiterhin »im gewohnt industriell anmutenden Eiltempo« – verlor allerdings auch zunehmend den konzeptionellen Ansatz der Reihe, nahm Bände über Sankt Petersburg und den »Internationalen Mädchenhandel« auf, improvisierte einzelne Bände wie die Nummer 35 Berliner Spielertum, in dem die Texte ungeordnet nebeneinanderstehen und in den – offensichtlich, um den nötigen Umfang zu gewährleisten – Aufsätze von Hans von Manteuffel, dem Falschspiel-Spezialisten der Berliner Kriminalpolizei, aufgenommen wurden.[47]

Im Sommer 1908 erschien mit Edmund Edels Neu-Berlin der letzte Band der Reihe, an der Ostwald mittlerweile das Interesse verloren hatte, was nicht nur in der schwankenden Qualität der letzten Bände zum Ausdruck kommt, sondern auch darin, dass er sich nicht mehr an den Neuausgaben der Großstadt-Dokumente beteiligte, die der Seemann-Verlag in Sammelbänden betrieb. Hatte Ostwald Neuauflagen einzelner Bände bis dahin immer wieder mit aktualisierten Vorworten versehen, so erschienen die Sammelbände unter dem Titel Im Sittenspiegel der Großstadt. Gesammelte Großstadt-Dokumente weder überarbeitet noch mit einem Vorwort des Herausgebers.

 

Die weitere Biographie Ostwalds sei an dieser Stelle lediglich skizziert, mit Blick auf das »Nachleben« der Großstadt-Dokumente. Nach einem erfolglosen Zeitschriftenprojekt, das zunächst Das Kulturparlament hieß, später in Diskussion umbenannt wurde und Themenheften zu »Kulturfragen« wie »Der Monismus«, »Die Bodenreform« und »Sexuelle Enthaltsamkeit« brachte, schuf sich Ostwald in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eine neue Reputation als Berliner Kultur- und Sittengeschichtsschreiber. Kennzeichen seiner Reihen und Einzeltitel wie Berlin und die Berlinerin (1909–1911) war dabei nicht mehr das Recherchieren, sondern das Zitieren. Ganz entgegen seiner Kampfansage in der Vorrede der Großstadt-Dokumente hielt er sich nun »an verstaubte Papiere« und nicht mehr »an das Leben«. An die Stelle der Investigation trat die Lektüre der einschlägigen Berlinliteratur wie Otto Leixners »Soziale Briefe aus Berlin«, Adolf Glaßbrenners »Berliner Volksleben«, Ernst Dronkes »Berlin« sowie der Schriften von Bettina von Arnim, E.T.A. Hoffmann und Theodor Fontane, die er in seinen Büchern ausgiebig zitierte, paraphrasierte, collagierte, eigene Texte in diese »Sittengeschichten« einfügte und so eine »Selbsthistorisierung als klassischer Berlinautor« betrieb.[48]

Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs ließ sich Ostwald von der nationalen Begeisterung und einem neuen »Gefühl von Zusammengehörigkeit« anstecken, verfasste kriegsverherrlichende Texte und leistete von 1916 bis 1918 als Mitarbeiter des Kriegsamtes einen erheblichen Beitrag zur Frontpropaganda des Deutschen Reiches.[49] Seine Propagandaaktivitäten nahmen mitunter groteske Formen an: so stellte er eine »Berliner Witzparade« zusammen, die den Soldaten als »Tornister-Humor« zur Lektüre angeboten wurde.

Es sollte jedoch just diese Ausrichtung auf den Witz und den vermeintlichen »Volkshumor« sein, auf den sich Ostwalds Erfolg in den 1920er-Jahren gründete. War er zunächst mit Neuauflagen alter Bestseller erfolgreich – wobei er die Großstadt-Dokumente nicht publizistisch »recycelte« – waren es vor allem zwei Bücher, die ihn besonders bekannt machen: Der Urberliner und Das Zillebuch.

Der Urberliner versammelte – so der Untertitel – »Witz, Humor und Anekdote«, um zu zeigen, dass »der Berliner sich mit einem Witzwort im rasenden Verkehr, beim Dröhnen der Motore, im ermüdenden Getriebe der ›Klapperschlangen‹ (Schreibmaschinen) und bei der anstrengenden Nachtarbeit in den lärmerfüllten Setzersälen und in dem Säuregeruch der chemischen Fabriken immer wieder an einen herzhaften Witz zu erquicken und mit vielen Unannehmlichkeiten abzufinden«[50] weiß.

Für Ralf Thies ist Der Urberliner ein Ausdruck von Ostwalds »Sehnsucht nach einer Verbundenheit über die Klassenschranken hinaus«. Einer Verbundenheit, die auf einer »Mentalität der Respektlosigkeit« und des beständigen Kritisierens beruht, die in der aggressiven Alltagsrhetorik und schlagenden Kommentaren zum Ausdruck kommt. Idealtypen dieses Humors findet Ostwald im Droschkenkutscher in der Friedrichstraße wie in der Hökerin aus der Markthalle. Prostituierte, Bettler, Zuhälter, Obdachlose kommen im Urberliner nicht mehr zu Wort, genauso wenig wie der politische Witz des Vormärzes. So ist Der Urberliner nichts weiter als »harmlose Berliner Schmutzliteratur«,[51] ohne jeden Anklang von politisch Riskantem oder sittlich Anstößigem.

Ein ähnlicher Verlust des Bezugs zum »Miljöh« lässt sich auch in Leben und Werk Heinrich Zilles nachzeichnen, mit dem Ostwald bereits seit 1908 zusammengearbeitet hatte, als er das Vorwort zu Zilles erstem Künstleralbum Kinder der Straße verfasste – den allerersten Aufsatz über Zilles zeichnerisches Werk überhaupt und, so der Kunsthistoriker Matthias Flügge, »lange Zeit das treffendste (…), was über Zille geschrieben worden ist«.[52]

Nach dem Ersten Weltkrieg erfuhr Zille die längst überfällige Ehrung als Künstler und wurde zum Mitglied der Akademie der Künste berufen. In der Öffentlichkeit wurde er aber vor allem als folkloristischer Witzezeichner, als »Vater Zille« und »Pinselheinrich«, wahrgenommen; er war zu dem geworden, was man heute eine »Marke« nennt. Es gab Zille-Hosenknöpfe, Zille-Zigaretten, (bis heute existierende) Zille-Kneipen und alljährlich im Sportpalast einen »Hofball bei Zille«, bei dem sich das Publikum als Figuren aus den Zillebüchern verkleidete. Ostwald beschreibt in seinem 1929 erschienenen Zillebuch deren Anblick:

Die elegantesten Damen hatten sich zurechtgemacht als Fischerliese oder Bollenjuste. Der Name stammt nicht von einer Händlerin mit Bollen, d.h. Zwiebeln, sondern war Spitzname eines Straßenmädchens, das mit »Bollen«, mit Löchern in den Strümpfen auf den Strich im alten Scheunenviertel ging. Die Herren kamen als Apachenjüngling, als Patentlude und Saloneinbrecher. Die Haare dick mit Pomade verschmiert und ’ne kesse Sechse in die Stirn gezogen. Viele hatten sich eine künstliche Tätowierung auf Hände und Arme malen lassen. Die meisten aber glaubten, mit einem »blauen« Auge den größten Eindruck zu schinden.[53]

Wenn man bedenkt, mit welcher sozialen Emphase Ostwald die Not der Prostituierten in den Großstadt-Dokumenten darstellte, mit welchem Verve er die Aufmerksamkeit des Bürgertums auf solche Orte wie das Scheunenviertel lenken wollte, ist es bemerkenswert, dass er dieses zynische Schauspiel der Verkleidung »elegantester Damen« als »Straßenmädchen« kommentarlos hinnimmt.

Überhaupt hatte er sich von seinen Anfängen weitestgehend distanziert, ließ in den 1920er-Jahren keines seiner Bücher wie Berliner Nachtbilder, Berliner Dirnentum und keinen seiner Bände aus den Großstadt-Dokumenten neu auflegen oder in seine neuen Werke einfließen. Anders als beispielsweise Magnus Hirschfeld, der in seinem Hauptwerk Geschlechtskunde (das ihm den Ruf als führenden Sexologen seiner Zeit eintrug) ausführlich Texte von Ostwald, Wilhelm Hammer und Max Marcuse aus den Großstadt-Dokumenten zitiert.

 

Folgende Episode zeigt, dass Ostwald Anfang der 1930er-Jahre nur noch als volkstümlicher Berlinautor galt, der es nicht mit den neuen Größen der deutschsprachigen Literatur aufnehmen konnte. Am »Tag des Buches« fand im März 1930 eine Lesung im Berliner Kaufhaus Karstadt am Hermannplatz statt, bei der Egon Erwin Kisch, Vicky Baum, Ernst Toller und eben Hans Ostwald lasen. Die Literarische Welt, eine der führenden Kulturzeitschriften dieser Jahre, schildert das während der Lesung wechselnde Publikum. Während Kisch »Intellektuelle linksgerichteter Kreise« und Toller »junge Proletarier« anzogen, hörten der Lesung Vicky Baums vor allem »Damen im Pelzmantel« zu. »Und als Hans Ostwald aus seinen Sammlungen Berliner Geschichten und Zille-Anekdoten vorlas, saß neben mir« – so Hans Samter, der Berichterstatter der Literarischen Welt – »ein alter Mann, der aussah wie die Verkörperung des Großvaters Koblank aus Erdmann Graesers schönem Buch«.[54] Dass Ostwald in Verbindung gebracht wird mit einer Figur aus einem sentimentalen Berlin-Roman und jeder Verweis auf seine frühen Berlin-Texte fehlt, die ja in ihrer Direktheit, ihrem Blick für das Moderne, die Nachtseiten und das Mondäne durchaus als Vorläufer der Werke Kischs, Tollers und Baums angesehen werden können, zeigt, wie sehr Ostwald mittlerweile als lebender Anachronismus angesehen wurde.[55]

Da er selbst den Bezug zu seinen frühen Großstadt-Texten verloren hatte, entging ihm auch, dass sie Mitte der 20er-Jahre erstmals international rezipiert wurden. In seinem 1925 erschienenen, als erstes Standardwerk der Chicago School of Sociology geltenden Buch The City nennt Louis Wirth zwei Publikationen, die der Chicagoer Schule vorangegangen sind: Charles Booths Life and Labour of the People of London von 1892 und die Großstadt-Dokumente. Während die 16 Bände der Londoner Reihe lediglich pauschal erwähnt werden, führt Wirth die einzelnen Bände der Berliner Großstadt-Dokumente gesondert auf und kommentiert sie ausführlich.[56] Eine ähnliche Würdigung als Quelle in Deutschland, geschweige denn eine Wahrnehmung in der deutschen Stadtsoziologie ist den Großstadt-Dokumenten bis heute nicht widerfahren.[57]

 

In seiner 1931 veröffentlichten Sittengeschichte der Inflation vollzieht Ostwald dann die Abkehr vom Bild der Großstadt als »imponierender Menschenanhäufung« und einem Phänomen mit »Kulturwert«. In seiner Darstellung der »Roaring Twenties« tauchen die aus den Großstadt-Dokumenten bekannten Themen wie Glücksspiel, Prostitution, Vergnügungskultur, Straßenkriminalität und Okkultismus wieder auf. Doch nicht mehr aus der Perspektive von »Sachkennern«, die die »Wissbegierigen an die Hand nehmen«, sondern aus der Perspektive eines distanzierten Zeitungslesers, der Ostwald mittlerweile geworden war, ein weit entfernter Beobachter, dem sowohl die Kenntnis als auch der Zugang zu den Orten und den Gewährsleuten dieses Goldenen Berlins fehlte.

Aus seiner Distanz heraus fällt Ostwald abfällige Urteile über »maßlose Vergnügungssucht«, zeigt keinerlei mitfühlendes Interesse mehr für die Außenseiterfiguren und schreibt von einem »reinigenden Wind«, der den »üblen Duft übersteigerter Erotik und Inflationsverbrechen und Gewohnheiten« aus der zum Sündenbabel gesunkenen Stadt weht.

Diesen »reinigenden Wind« machte er nach der Machtergreifung im Januar 1933 in den Nationalsozialisten aus. Obwohl er bis 1932 noch das Parteibuch der SPD besaß und seinem Sohn gegenüber klarstellte, dass er Hitler nicht wählen würde, suchte er die »erste sich bietende Gelegenheit (…), um seinen Kotau vor den neuen Herrschern zu verrichten und sich ihnen als politisch zuverlässiger Autor anzudienen«.[58]

Ostwald wusste – wie Verweise und Zitate in seinen Schriften jener Zeit beweisen – genau über die Ziele der Nationalsozialisten Bescheid, erhoffte sich von ihrer Politik offensichtlich sowohl die erwähnte Aufhebung der Klassenschranken sowie die Lösung sozialer Probleme, die sozialdemokratischen Regierungen nicht gelungen waren, insbesondere das Problem der Obdachlosigkeit. Es mutet schon wie ein unheimlicher Zufall an, dass Josef Goebbels im Oktober 1934 just jenes Obdachlosenasyl in der Berliner Fröbelstraße besuchte, das Ostwald in »Eine Nacht bei den Obdachlosen« im ersten Band der Großstadt-Dokumente beschrieben hat.[59]

In einem Bericht über Goebbels’ Besuch heißt es in der Deutschen Allgemeinen Zeitung:

Dieser Besuch erregte bei den Ärmsten der Armen, die das Hauptkontingent der Besucher dieses städtischen Instituts bilden, um so größere Befriedigung, als er auch hier gänzlich unerwartet kam und seit der Errichtung dieses Asyls im Jahre 1888 bisher auch in der Systemzeit noch nie ein Minister dort erschienen war. Dr. Goebbels besichtigte eingehend Unterkunft und Verpflegungsmöglichkeiten des Obdachlosenasyls, stellte durch Kostproben die Qualität des eben zur Verteilung gelangenden Abendessens fest und unterhielt sich lange mit den Insassen, die sich um ihn versammelt hatten. Bezeichnend für die durch den Nationalsozialismus schon gehobene Moral auch dieses Instituts war der immer wiederkehrende Wunsch nach Arbeit. Dr. Goebbels betonte demgegenüber, dass es dem Führer schon gelungen sei, 4½ Millionen Menschen wieder in Arbeit und Brot zu bringen; es stehe in absehbarer Zeit zu erwarten, dass auch der Rest der Erwerbslosigkeit seine Beseitigung finde. Wie einschneidend das nationalsozialistische Reformwerk auch hier gewirkt habe, beweise eindeutig die Tatsache, dass die Belegschaft dieses Asyls von einem Höchststand von 5000 Köpfen vor der Machtergreifung auf einen heutigen Durchschnitt von 250 gesunken sei.[60]

Die Beseitigung des Bettelwesens und der Obdachlosigkeit waren jedoch weniger Resultat der nationalsozialistischen Arbeitspolitik als großangelegter »Bettlerrazzien«, nach denen die verhafteten Obdachlosen in Zuchthäuser und Konzentrationslager gebracht wurden.[61]

Davor verschloss Ostwald jedoch ebenso die Augen wie vor der Verbrennung der Schriften von Autoren, die zu den Großstadt-Dokumenten beigetragen hatten: Magnus Hirschfeld und Georg Bernhard. Bei der Bücherverbrennung auf dem Bebelplatz wurde gar die Büste Magnus Hirschfelds aus dem Sexualwissenschaftlichen Institut von einem SA-Mann »weithin sichtbar auf einem Stock«[62] mitgeführt.

Ostwald entwickelte nicht einmal in Ansätzen eine oppositionelle Haltung gegen die sich abzeichnende Diktatur. Im Gegenteil: Er trat dem extremistischen »Kampfbund für deutsche Kultur« bei, schloss sich seiner NS-Ortsgruppe an und versuchte mittels des NS-Apparats einen Plan zu verwirklichen, mit dem er bereits in den 1910er-Jahren gescheitert war – eine Initiative zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit. Diese sollte nun in einer »Binnenkolonialisierung« bestehen: ländliche Arbeitersiedlungen sollten in trockengelegten Moorlandschaften und auf kultiviertem Ödland errichtet werden, um die Großstädte zu »entproletarisieren«. Da die Nationalsozialisten in ihrem »Wirtschaftlichen Sofortprogramm« Pläne formulierten, die Ostwalds Idee der Binnenkolonialisierung ähnelten, wollte dieser die Gunst der Stunde nutzen, kaufte einen Hof nahe Stettin und plante, dort ein Versuchsgut zu errichten. Er brachte dazu sein gesamtes erspartes Vermögen ein – und scheiterte kläglich, weil die örtlichen politischen Beauftragten ihre anfänglich gemachten Zusagen zurückzogen. Private Initiativen in der Arbeits- und Siedlungspolitik waren politisch unerwünscht.[63]

Auch Ostwalds Versuche, sich als Schriftsteller anzudienen, blieben erfolglos. Es gelang ihm zwar, eine kleine Zahl von Artikeln für den Angriff und den Völkischen Beobachter zu schreiben, doch stand er trotz Intervention von Nazi-Schriftstellern, die sich für seine Parteitreue verbürgten, unter dem Verdacht, ein »Konjunkturritter«, also ein politischer Opportunist, zu sein, zumal seine Kultur- und Sittengeschichte Berlins, der Band Männliche Prostitution aus der Reihe Berliner Dirnentum sowie der von ihm verfasste Band 5 der Großstadt-Dokumente über das Zuhältertum in Berlin auf der von der Reichsschrifttumskammer herausgegebenen »Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums« standen. So blieben ihm die Ehrungen und Auszeichnungen verwehrt, mit denen er – wie er seinem Sohn sagte – zu seinem 65. Geburtstag fest rechnete, als Anerkennung seines Aufstiegs vom Arbeitersohn zum Bestsellerautor, vom Vagabunden zur respektierten Persönlichkeit.[64]

Bis in seine letzten Jahre Publikationsprojekte planend – u.a. einen »Neuen Urberliner«, ein »Neues Zillebuch«, eine 30-bändige Deutsche Geschichte und eine Autobiographie mit dem Titel Meinen Menschen – starb Ostwald am 8. Februar 1940 im Alter von 67 Jahren an den Folgen eines Herzinfarkts. Sein Nachruf in der Berliner Morgenpost, für die er über 40 Jahre geschrieben hatte, fiel, so Ralf Thies, »dürr«[65] aus und fand sich auf derselben Seite wie die Mitteilungen über die Uhrzeiten der allgemeinen Verdunkelung. Der Bombenkrieg, die Zerstörung Berlins hatte begonnen. Hans Ostwald, der einst so empathische Chronist der Stadt, sollte sie nicht mehr miterleben.

Zu dieser Auswahl

Die nachfolgend zusammengestellten Texte folgen einem Konzept, das an vielen Stellen der Großstadt-Dokumente zum Ausdruck kommt: das des Rundgangs, der zu den »auffälligsten empirischen Verfahren von Ostwalds Stadtethnographie«[66] gehört. Max Winter, ein Autor der Wiener Großstadt-Dokumente, sprach von »Entdeckungsreisen«, Magnus Hirschfeld bezeichnete seine Erkundungen der homosexuellen Subkultur Berlins als »Streife«. Da die Lesenden in nahezu touristischer Manier durch die Stadt geführt werden, während ihnen soziologisches Fachwissen unterbreitet wird, ließe sich auch von »soziologischen Stadtführern« sprechen. Um die vorliegende Auswahl auch tatsächlich in diesem stadtführenden Sinne nutzen zu können, findet sich im Anhang ein Verzeichnis der in den Texten vorkommenden Straßennamen und Lokalitäten; zusätzlich erleichtert ein im Vor- und Nachsatz in Ausschnitten abgedruckter Stadtplan von 1904 die Orientierung.

Auswahl und Zusammenstellung folgten zwei Prinzipien: zum einen sollte die große Bandbreite der Themen in den Großstadt-Dokumenten widergespiegelt werden. Deshalb finden sind manche Einzelbände nicht berücksichtigt, insbesondere jene, die sich wiederholt mit der Prostitution, dem Nachtleben und dem Zuhältertum beschäftigen – Themen, die (wie die zeitgenössische Kritik nicht zu Unrecht bemängelte) viele Bände durchziehen und hier in einem Maß präsentiert werden, das ausreicht, um die jeweiligen Anliegen und das Insider-Wissen der Autoren zum Ausdruck zu bringen.

Zum anderen übernimmt diese Zusammenstellung ein Prinzip, das in der Reihe mittels der Abfolge der Einzelbände umgesetzt wurde: das Prinzip des Kontrastes, das dazu führt, dass zuweilen Themen schroff und unvermittelt nebeneinanderstehen, so wie das Leben der Großstadt eben eines des unvermittelten Nebeneinanders ist. Ein Leben in Widersprüchen, die es für Großstadtmenschen auszuhalten gilt. Ralf Thies weist darauf hin, dass Ostwald viel von seiner Leserschaft verlangte: »Gelassenheit gegenüber den unvermeidlichen negativen Begleitumständen städtischen Lebens wie der allgemeinen Kleinkriminalität, Sympathie mit Außenseiterfiguren wie Homosexuellen, Stadtstreichern und Prostituierten und Gerechtigkeit statt Almosen für die Verlierer der urbanen Modernisierung, die Arbeitslosen, unehelichen Mütter und verwahrlosten Kinder«.[67] Dieser Anspruch Ostwalds verleiht den Großstadt-Dokumenten ebenso ihre Aktualität wie die Kontinuitäten der Stadtpolitik und der Berliner Mentalität, die zu entdecken ich den Lesenden überlasse.

Wie nah wir dem Berlin der Jahre 1904–1908 sind, zeigt sich auch an der Zugänglichkeit und Lesbarkeit der Texte, die erklärungsbedürftig meist nur in Bezug auf die darin genannten, heute vergessenen Persönlichkeiten sind. Deren Biographien werden in den Fußnoten kurz zur Orientierung erwähnt. Gewöhnungsbedürftig sind bei der ersten Lektüre womöglich die Enden der ausgewählten Texte, denen oftmals eine abschließende Pointe, ein wirklicher Schluss fehlt – was nicht auf vorgenommene Kürzungen zurückzuführen ist. Die vorgestellten Texte sind in der Regel vollständig wiedergegeben, so wie sie sich als Kapitel in den Einzelbänden der Großstadt-Dokumente finden. Auch die Titel wurden übernommen. Bei den wenigen Texten, die als Ausschnitte präsentiert werden, wurden im Sinne Ostwald’scher Sachlichkeit Titel gewählt, die sich als Formulierung im Text wiederfinden.

Die Pointenlosigkeit ist ein wiederkehrendes Merkmal der Großstadt-Dokumente. In ihr drückt sich, meiner Meinung nach, der angestrebte Charakter der Texte zwischen Wissenschaft, Literatur und Journalismus aus. Eine »vielsagende«, »bezeichnende« Schlussfügung hätte etwas Künstliches, würde der dokumentarischen Idee zuwiderlaufen.

Schließlich hoffe ich mit dieser Auswahl die bis heute gültige Idee des Projektes abbilden zu können. Eine Idee, die Ostwald im Laufe seines Lebens zwar verriet, die er aber in den Großstadt-Dokumenten mit einer nie wieder erreichten Konsequenz und Breite der Darstellung formuliert hat. Diese Idee lautet: Die wahre Größe einer Stadt misst sich daran, wie sehr sie bereit ist, ausnahmslos alle Menschen, die in ihr leben, als ihre Bürgerinnen und Bürger zu betrachten und am Leben in ihren Straßen, Institutionen und in ihren Geschichtsbüchern teilhaben zu lassen.

 

Thomas Böhm.

Berlin-Wilmersdorf, im März 2020.

Texte aus den Großstadt-Dokumenten – die Anfänge Berlins in Szenen und Reportagen

I. Der Sachkenner nimmt den Wissbegierigen an die Hand

Wie sich das Stadtbild verändert hat

Am 2. September 1870 herrschte in unserer Schule, im Kaiserin- Augusta-Gymnasium in Charlottenburg,[68] große Aufregung. Der Pedell[69] hatte ein Pult inmitten des Schulhofes aufgestellt und unser Direktor hielt von dieser Rostra herunter eine schwungvolle Rede an die versammelte Schülerschaft, deren Inhalt uns Knirpsen wahrscheinlich damals unverständlich gewesen ist. Aber sie gipfelte in der Verkündigung, dass Napoleon gefangen sei und dass wir infolgedessen einen freien Schultag hätten.

Ich weiß heute nicht mehr, welche Nachricht einen größeren Eindruck auf mich gemacht hat, die, dass der Erbfeind in unseren Händen oder die, dass ich den schönen Herbsttag in der freien Luft verleben konnte, anstatt mit meinen damals noch ziemlich klein geratenen Körperteilen die Schulbank zu drücken.

Als ich zu früher Stunde nach Hause jagte und meinem Vater, der im Garten stand, die große Nachricht brachte, erfüllte es mich mit Stolz, dass ich der Erste sein konnte, der diese Nachricht mitteilte.

Damals war Charlottenburg noch ein kleines Städtchen und weit entfernt von Berlin, und die Pferdebahn, die erst seit vier Jahren durch den Tiergarten zog, vermittelte allein den Verkehr mit Berlin, unterstützt von einigen aus der vormärzlichen Zeit übrig gebliebenen Torwagen.

Ich entsinne mich, wie damals die Nachricht und die Depeschen aus dem Kriege zu uns kamen. Es war nicht wie heute, wo ein Ereignis, das Tausende von Meilen von uns entfernt stattgefunden hat, ein paar Stunden später in Extraausgaben der Hauptzeitungen an allen Ecken von Groß-Berlin sofort dem Publikum mitgeteilt wird. Wir Jungens damals hatten eine Art Stafettendienst eingerichtet und liefen den Depeschenträgern, die aus Berlin zu Fuß kamen, bis zum [50]großen Stern[70] und noch weiter entgegen und rannten dann mit den Extrablättern triumphierend nach Charlottenburg zurück. Triumphierend und stolz rannten wir atemlos. Atemlos wie Siegesboten. In unserer jungen Brust schwoll das Gefühl, teilzuhaben an der Entwickelung einer neuen Zeit. Ich sah dem Einzug der Truppen zu, die mit Eichenlaub geschmückt vom Feldzug zurückkehrten. Ich habe mit meinem Vater, der als Arzt in den Garnisonslazaretts beschäftigt war, die verwundeten Turkos[71] besucht und die großen Scharen der anderen französischen Besiegten. Und der tolle Jubel, der bei den Festen erscholl, die man unseren heimgekehrten tapferen Soldaten gab, ließ in meinem Kinderherzen einen nie verklingenden Widerhall zurück.

Dann kamen die Gründerjahre und mit ihnen der Goldregen über Berlin, den die Milliarden der Franzosen[72]