Berlin Potsdamer Platz - Bernward Schneider - E-Book

Berlin Potsdamer Platz E-Book

Bernward Schneider

4,5

Beschreibung

Berlin, Juni 1934: Gerüchte über einen Putsch der SA zirkulieren in der Stadt, der Konflikt zwischen Hitler und Röhm steuert auf einen Höhepunkt zu. Als sich der Anwalt Eugen Goltz mit dem SS-Mann Zerner trifft, der geheime Hintergrundinformationen verkaufen will, geraten die Männer in die Fänge eines SA-Todeskommandos. Mantiss, der Anführer des Kommandos, übt grausame Rache an Zerner. Goltz überlebt und fasst den Entschluss, seinen mächtigen Widersacher Mantiss unschädlich zu machen …

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Bernward Schneider

Berlin Potsdamer Platz

Dieses Buch wurde vermittelt durch

die Literaturagentur erzähl:perspektive, München

(www.erzaehlperspektive.de).

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2013–Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: René Stein

Herstellung: Christoph Neubert

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

1

Beim Anblick der unheimlichen Gestalten, die wie böse Geister hinter den Bäumen der kleinen Parkanlage aufgetaucht waren, dämmerte mir, dass meine Gutgläubigkeit mir erneut zum Verhängnis geworden war. Noch konnte ich die Gesichter der Männer nicht erkennen, aber schon die Art, wie sie sich uns langsam näherten, deutete auf etwas Schlimmes hin.

»Wer sind diese Leute?«, fragte der junge Zerner. »Was wollen sie von uns?«

Bei meiner Ankunft vor einigen Minuten war an der Straße weit und breit nichts Auffälliges zu sehen gewesen, doch jetzt fielen mir die beiden Mercedes-Limousinen ein, die ein Stück die Argentinische Allee hinunter geparkt hatten, und ich erinnerte mich vage des dumpfen Gefühls, das mich bei ihrem Anblick beschlichen hatte.

»Ich habe sie nicht bestellt«, antwortete ich, damit der junge Mann nicht dachte, dass ich es war, der den Männern einen Tipp gegeben hatte. »Ich befürchte, dass unser Treffen verraten wurde.«

Zerner war blass geworden, und die Art, wie er mich ansah, ließ mich spüren, dass er trotz meiner gegenläufigen Beteuerung Zweifel an meiner Redlichkeit empfand. Wir kannten uns erst seit ein paar Minuten, er wusste nichts von mir, und mehr als seinen Namen hatte auch ich von ihm bisher nicht in Erfahrung gebracht.

»Einige von ihnen tragen SA-Uniformen«, sagte der junge Mann, als er in die Richtung der finsteren Bedrohung sah. »Verdammt, so war es nicht abgesprochen.«

Sie waren zu sechst; vier Männer in gelbbrauner SA-Montur und zwei Männer in hellen Anzügen, und beim genaueren Hinsehen erkannte ich die beiden Zivilisten.

Der eine der beiden war Rudolf Mantiss, ein ehemals hoher Reichswehroffizier und obendrein mein Schwager. Der andere hieß Philipp Arnheim, Eigner der Dellbrück Bank. Beide waren zugleich führende Mitglieder einer okkulten Loge, die sich in der Inszenierung von Ritualen gefiel, die der schwarzen Magie zuzuordnen waren. Außerdem waren sie beide in meinen Augen gewissenlose Verbrecher.

»Die Namen der Zivilisten kenne ich«, sagte ich leise, als die Männer uns fast erreicht hatten. »Arnheim und Mantiss.«

»Mantiss?«, fragte Zerner. »Ja, tatsächlich! Mein Gott! Dann bin ich verloren!«

Er wollte noch etwas hinzufügen, doch er kam nicht mehr dazu. Zwei von den Uniformierten waren bereits hinter ihn getreten, rissen ihn grob an den Armen zurück und zogen ihn ein paar Meter weit von mir fort. Die beiden anderen Uniformierten stellten sich links und rechts von mir auf und nahmen mich fest in ihre Mitte.

Rudolf Mantiss trug einen Filzhut, der einen Schatten auf seine markanten Züge und seine stahlblauen Augen warf. Er stand mit dem Rücken zur Sonne, die von Westen her die Parkanlage beschien und deren Strahlen an diesem Juniabend kaum etwas von ihrer Kraft eingebüßt hatten. Sein hageres, gut geschnittenes und von der Sonne gebräuntes Gesicht war hart, fast wie Granit; er wirkte wie ein Herr über Leben und Tod.

»Eugen Goltz«, sagte er, nachdem er mich eine Weile kalt gemustert hatte, »wo auch immer man unserer Gesellschaft zu schaden sucht, hat dieser Herr seine Hände mit im Spiel.«

Er war ein Ausdruck kalter Selbstgewissheit, ihn umgab eine schreckenerregende Aura von Macht, mit der er über mein Schicksal und das des jungen Zerner gebot. Er war ein gefährlicher Mann, und die Tatsache, dass er mit meiner Schwester Doris verheiratet war, gab mir keinen Grund, nicht besorgt zu sein.

Sein Freund Philipp Arnheim stand etwas abseits, als sei er nur zu seinem Vergnügen mitgekommen und nicht dazu verpflichtet, bei der Drecksarbeit mitzumachen. Doch so einfach war es natürlich nicht; jedes führende Mitglied der Organisation, der Mantiss vorstand, musste von Zeit zu Zeit Flagge zeigen, um seine rückhaltlose Treue zu beweisen.

Arnheim ergriff als nächster das Wort.

»Sie scheinen nichts dazu gelernt zu haben, Goltz«, sagte der Bankier. »Wie lange wollen Sie unsere Geduld strapazieren? Finden Sie nicht auch, dass Sie den Bogen allmählich überspannt haben? Was ist Ihre Erklärung?«

Er war ein Mann in den späten Vierzigern, etwas jünger als sein Freund Mantiss, ein schlanker, hoch gewachsener Mann mit einem kahl rasierten Schädel und einem grausamen, wenngleich nicht unattraktiven Gesicht. Sein heller Sommeranzug war maßgeschneidert. Er sah aus, als käme er direkt aus der Bank und hätte keine Zeit gehabt, sich umzuziehen; aber wahrscheinlich war alles Absicht.

»Was wollen Sie von mir?«, erwiderte ich, indem ich mich innerlich wappnete und zusammenriss. »Nicht ich, sondern Sie sind mir eine Erklärung schuldig. Weder dieser junge Mann hier noch ich selbst haben irgendetwas getan, das sich gegen die Interessen Ihrer Gesellschaft richten könnte.«

»Hören Sie auf, mich für dumm zu verkaufen«, erwiderte Arnheim scharf. »Ich weiß es besser als Sie. Mir scheint, dass die Zeit gekommen ist, einmal ein deutliches Exempel zu statuieren, damit Sie erkennen, dass wir bei der Verfolgung unserer Ziele unbeirrbar sind–und dass wir keinen Spaß verstehen, wenn sich jemand einen bösen Scherz mit uns erlaubt.«

Es war nicht zu übersehen, dass Mantiss und Arnheim die Anführer des Greifkommandos waren, das uns gestellt hatte, und schon in diesem Moment beschlich mich das Gefühl, dass alles, was von nun an geschehen würde, einem längst gefassten Plan entsprach. Sie hatten bereits entschieden, was mit uns geschehen sollte, und weder dem Jungen noch mir würde es möglich sein, auf diese Entscheidung Einfluss zu nehmen. Ich sah es ihren Gesichtern an, die uns auf kalte Weise zulächelten, und dem gnadenlosen Ausdruck in ihren Augen.

Mantiss nahm den Blick von mir und widmete sich dem jungen Mann.

»Wie heißen Sie?«

Zerner schluckte. »Aber Sie wissen doch…«

»Name!«, bellte Mantiss.

»Gerrit Zerner.«

»Ihre Wohnadresse?«

»Ich habe keine feste Anschrift.«

»Irgendwo werden Sie nächtigen!«

»In einer Laube, in einer Gartenkolonie.«

Mantiss starrte den Jungen an. »Gartenkolonie?« Er atmete tief durch, als müsste er sich beruhigen. »Welche Kolonie?«

»Südgelände in Schöneberg.«

»Südgelände in Schöneberg!«, wiederholte Mantiss und lächelte. »Aha! Habe ich es mir doch gedacht! Und die Parzelle? Auch diese Häuser haben Anschriften! Und lügen Sie mich nicht an, sonst wird es nicht nur Ihnen, sondern auch Ihrem Mädchen schlecht ergehen.«

Mädchen, dachte ich, woher wusste Mantiss, dass Zerner ein Mädchen hatte?

»Fliederweg 18«, sagte Zerner.

Fieberhaft überlegte ich, was ich sagen könnte, um dem jungen Mann zu helfen. Aber es gab nichts, das ich zu seiner Verteidigung hätte vorbringen können. Ich wusste nicht einmal, wessen wir uns aus der Sicht unserer Häscher schuldig gemacht hatten. Für mich war diese Sache nicht mehr gewesen, als dem Anliegen von Henny von Tryska, die eine Logenschwester der beiden furchtbaren Okkultisten war, zu entsprechen. Sie hatte mich gebeten, den jungen Mann in dem Park nahe der Siedlung Onkel Toms Hütte zu treffen. Ich sollte in Erfahrung bringen, was dieser ihr verkaufen wollte.

»Sie gehören einer Parteiorganisation an, nicht wahr?«, sagte Mantiss zu dem jungen Mann. »SA oder SS?«

»SS«, murmelte er.

»Ein SS-Mann also«, sagte Mantiss und nickte, als wären seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt worden. »Es gibt in der SS eine Weisung, die lautet: ›Der SS-Mann ist das vorbildlichste Parteimitglied, das sich denken lässt.‹« Er machte eine unheilschwangere Pause, in der er den jungen Mann nicht aus den Augen ließ. »Wenn also jemand, der nicht der Partei angehört, für ein Vergehen hart bestraft wird, so verdient ein SS-Mann für das gleiche Vergehen eine ungleich härtere Strafe. Stimmen Sie mit mir darin überein?«

»Noch bin ich in der SS nur ein Bewerber«, verteidigte sich Zerner, musste aber schlucken, da ihm unter dem Blick von Mantiss klar wurde, dass ihm dieser Einwand kaum etwas nützen würde. »Man hat mich aufgefordert, der SS beizutreten. Meine endgültige Aufnahme ist bisher nicht erfolgt.«

»Umso schlimmer«, stellte Mantiss fest. »Dass Sie ein Bewerber sind, entlastet Sie nicht, sondern erhöht noch die Schwere Ihrer Schuld!«

»Ich wollte Sie doch nur warnen«, entgegnete der junge Mann.

»Warnen?«, fragte Mantiss drohend. »Wovor denn?«

»Vor einigen Herren in der SS, die Ihnen Übles wollen.«

Das Gesicht des Okkultisten wurde dunkel. »Lügen Sie mich nicht an!«, donnerte er den armen Kerl an. »Sie wollten die Interessen der Partei verraten, indem Sie zweifelhafte Informationen an den Meistbietenden zu verkaufen suchen. Sie sind ein Erpresser, und für jemanden wie Sie, der sich als Mann der SS auf dieses erbärmliche Niveau begibt, kann es keine Gnade geben. Das steht außer Frage! Da die Pflichten eines SS-Mannes auch für Sie bereits Geltung besitzen, können Sie sich einen Rest an Würde, sofern Sie ihn noch besitzen, nur dadurch bewahren, dass Sie die unweigerlichen Konsequenzen Ihres Verhaltens auf sich nehmen, und bei allem, was folgt, Ihre Haltung beweisen!«

Zerner begann zu zittern, sagte aber nichts. Die Angst hatte ihm die Sprache verschlagen.

Mir selbst ging es kaum anders. Nicht nur die Angst vor dem, was kommen würde, sondern auch der Eindruck, dass jede Gegenwehr und jeglicher Erklärungsversuch vergeblich wären, rüttelten an meinen Nerven, und wenn ich auch äußerlich so tat, als ginge mich das hier alles nichts an, kostete es mich große Kraft, meine Haltung zu bewahren.

Mantiss betrachtete nachdenklich den jungen Zerner, und ich konnte deutlich spüren, dass der Logenführer Böses im Sinn hatte. Es war, als überlegte er, wie das Exempel aussehen sollte, das er entschlossen war, an uns beiden zu statuieren. Ich zweifelte, ob einer von uns beiden diesen Abend überleben würde, aber ich wusste, dass Zerner stärker gefährdet war als ich, und ich konnte spüren, dass auch er begriff, dass ihm etwas Furchtbares blühte.

»Der junge Mann hat mir keine Informationen verkauft«, unternahm ich einen Versuch, Zerner zu helfen. »Ich weiß nicht einmal, was ihm hier unterstellt wird. Wie dem auch sei: Die Vorwürfe bestehen zu Unrecht. Rudolf, du bist auf der falschen Spur!« Mantiss schenkte mir keine Beachtung, so wie er sich überhaupt in keiner Weise den Anschein gab, als ob er das, was er vorhatte, würde rechtfertigen müssen. Er wirkte wie ein Richter, der sein Urteil gefällt, aber noch nicht verkündet hatte, und der es deshalb nicht für nötig hielt, die Verhandlung fortzuführen.

»Unkenntnis und Dummheit schützen vor Strafe nicht«, sagte er verächtlich. »Ihr werdet uns begleiten. Wir machen einen kleinen Ausflug, raus aus der Stadt.«

Er wandte sich zu seinen uniformierten Schergen. »Auf dann!«, sagte er entschlossen.

Wir verließen den Park, Zerner und ich inmitten unserer Bewacher, und die wenigen Passanten, die uns begegneten, sahen schnell weg und gingen zügig weiter.

Ich blickte mich um, ob nicht doch jemand auf der Straße vorüberging, der uns helfen könnte; aber ich wusste, dass die Vorstellung illusorisch war. Wenn die Braunhemden in Erscheinung traten, suchte jeder das Weite. Auch wehren konnten wir uns nicht; jedenfalls nicht mit Aussicht auf Erfolg, die Männer waren in der Überzahl und obendrein bewaffnet. Der Überraschungscoup von Mantiss war gelungen.

Die schwarzen Wagen, die zu ihnen gehörten, waren dieselben, die ich zuvor an der Argentinischen Allee gesehen hatte. Massige Limousinen, deren Lack unheilvoll im nicht weichen wollenden Sonnenlicht glitzerte.

Automatisch registrierte ich das Kennzeichen des Wagens, zu dem sie mich führten, und obwohl ich Zweifel empfand, dass es mir noch einmal etwas nützen würde, prägte ich es mir ein.

Schon schubsten sie uns in die Wagen, Zerner in den einen, mich in den anderen. In meinem nahm auch Rudolf Mantiss Platz, und die Todesfahrt–denn den Eindruck machte sie von Anfang an auf mich–begann. Ein blonder SA-Mann, der sich hinter das Steuer gesetzt hatte, lenkte die Limousine in schneller Fahrt die Argentinische Allee hinunter, der zweite Wagen raste hinter dem unsrigen her.

Mantiss saß neben dem Fahrer, seine Schergen hatten sich rechts und links von mir positioniert. Einer der beiden hielt eine Pistole in der Hand, deren Mündung er auf mich richtete.

»Du hast einen ganz falschen Eindruck gewonnen, Rudolf«, sagte ich in Richtung meines Schwagers in dem Bestreben, vielleicht doch noch etwas zu retten. »Ich weiß gar nicht, um was es hier geht, und ich bin ziemlich sicher, dass weder der junge Zerner noch ich in etwas verstrickt sind, das dich gerade umtreibt. Ich handle als Anwalt und mache nur meine Arbeit.«

Ich ahnte, dass es mir nicht helfen würde, wenn ich mich darauf berief, dass ich nur meinem Beruf nachginge, wollte aber nichts unversucht lassen.

»Spar dir deine Erklärungen«, entgegnete der Logenvorsitzende denn auch ungerührt, ohne den Blick nach hinten zu wenden, »sie interessieren mich nicht. Du kannst deine Situation nicht verbessern–«, hier machte er eine bedeutungsschwangere Pause, »wohl aber verschlimmern, wenn du weiter Unsinn daherredest. Also halt am besten ganz einfach den Mund.«

»Was du hier unternimmst, ist reine Willkür«, entgegnete ich trotzdem. »Die Gesetze gelten auch für dich.«

Er fuhr herum. »Ja, die Gesetze gelten auch für mich, nur sind diese Gesetze anders beschaffen als du denkst. Herrn Zerner als SS-Mann sind sie besser bekannt als dir.«

Der Fahrer jagte die Limousine weiter nach Südwesten, über Wannsee stadtauswärts in Richtung Potsdam. Wahrscheinlich suchten sie einen abgelegenen Ort außerhalb der Stadt, ging es mir durch den Sinn, wo sie ihr Vorhaben ungestört ausführen konnten.

Die Stunde war nicht eben günstig für eine geheime Aktion, wie Mantiss sie anscheinend plante. Es war ein heller Juniabend und so bald würde die Sonne nicht untergehen, der Schutz der Dunkelheit also auf sich warten lassen.

Mantiss schien sich seiner Sache dennoch recht sicher zu sein, und aufgrund der Anweisungen, die er dem Fahrer gab, machte es mir bald den Eindruck, dass er sein Ziel nicht suchen musste, sondern ganz genau kannte. Als wir die Stadtgrenze erreichten, dirigierte er den Wagen aufs Land hinaus, wo wir durch eine Sommerlandschaft aus Wäldern, Wiesen und Seen fuhren; gelegentlich waren Dächer von Dörfern zu sehen.

Es war ein herrlicher Abend, und man hätte die Fahrt genießen können, wäre sie nicht durch furchtbare Ahnungen getrübt gewesen. Die Sonne war noch kräftig und warf nur erste vorsichtige Schatten auf die Landschaft. In ihrer Glut pflügte links von uns ein Bauer mit seinem Trecker durch ein Feld.

»Langsamer«, sagte Mantiss zu dem Fahrer. »Da vorne rechts abbiegen.«

Die Limousine rumpelte über einen unbefestigten Weg und wir fuhren auf ein Gehölz zu. Es war ein Mischwald aus Buchen und Kiefern, und Mantiss dirigierte den Wagen in den Schatten einiger Bäume. »Aussteigen!«, kam das Kommando, und gleich darauf standen Zerner und ich in der milden Abendluft.

Ein leicht abfallender Weg führte in den Wald hinein, und aus dem Licht der frühen Abendsonne schoben unsere Häscher uns in das Dunkel der Bäume, in eine Welt aus dichtem Braun und Grün. Der Weg, dem wir folgten, schlängelte sich so eng zwischen nahe beieinander stehenden Kiefern fort, dass die Zweige des Unterholzes unsere Arme streiften, und endete schließlich an einer Lichtung, die eine Oase in der dunkelgrünen und braunen Schattenwelt bildete.

Nachdem der gesamte Trupp den Platz erreicht hatte, machte Mantiss eine Handbewegung, die sich erkennbar auf Zerner bezog, und zwei der SA-Männer griffen ihn an den Armen und schoben ihn in die Mitte der Lichtung.

Der junge Mann blieb gefasst, auch wenn er ahnen mochte, dass die Weisung des Anführers, mit der er scheinbar einen stillschweigenden Befehl gab, ein stilles Todesurteil darstellte.

Mantiss trat auf ihn zu.

»Ich bin unschuldig«, sagte Zerner, der sichtlich mit den Tränen kämpfte. »Sie verstehen das alles ganz falsch, Herr Mantiss.«

Er wirkte noch so jugendlich und so jungenhaft, und es tat mir weh, als ich daran dachte, dass er die im Westen stehende Sonne vielleicht niemals wieder würde aufgehen sehen. Er war ein gut aussehender Kerl mit blondem Haar, einem bronzefarbenen Gesicht mit hohen Wangenknochen, und sein offen stehendes, kurzärmeliges Hemd zeigte einen Teil der glatten, schön gezeichneten Brust. Er besaß eine natürliche Anmut, und vielleicht gab diese ihm auch die Kraft, das Rückgrat aufrecht zu halten und auch angesichts des Geschicks, das ihm drohen mochte, nicht die ihm angeborene Haltung zu verlieren.

Mantiss lächelte. Fast genüsslich musterte er den jungen Mann, und ich ahnte, dass ihn ein besonders böser Gedanke beschäftigte.

»Ich verstehe das schon ganz richtig«, sagte er, nachdem er eine Weile stumm geblieben war. »Es ist auch ganz einfach: Schweigen ist das höchste Gebot! Verräter unterstehen der Feme!«

Der Junge wurde blass und seine Lippen begannen zu zittern.

»Bitte, mein Herr, lassen Sie mich gehen«, schluchzte er. »Ich habe Ihnen nichts getan. Geben Sie mir die Chance, die Dinge ins Reine zu bringen.«

Mantiss machte einen Schritt nach vorn, sodass er dem jungen Mann direkt gegenüberstand, dann erfasste er mit beiden Händen die Seiten des aufgeknöpften Hemdes und riss es auseinander, bis alle Knöpfe wegsprangen. Einer der Uniformierten trat hinter den Jungen und zog ihm mit einem Ruck das Hemd von der Schulter und von den Armen. Der Junge stand nun mit nacktem Oberkörper auf der Lichtung.

Der SA-Mann schüttelte das Hemd, ob etwas herausfallen würde, was aber nicht geschah. Er sah in die äußere Hemdtasche, die aber auch nichts enthielt. Daraufhin riss er das Hemd mit seinen groben Händen in der Mitte entzwei und warf es zur Seite. Es war eine Geste, die offensichtlich bedeuten sollte, dass der Junge kein Hemd mehr brauchte. Ohne dass jemand etwas gesagt hatte, schien der Stab über ihn gebrochen zu sein.

»Hose und Schuhe–alles ausziehen!«, befahl Mantiss.

Gerrit beugte sich nieder und löste mit zitternden Händen die Schnallen seiner Sandalen, und als er barfuß war, kam die Hose dran.

»Durchsucht seine Sachen!«, befahl Mantiss seinen Schergen.

Er musterte Gerrits erstaunlich makellosen und in harmonischen Verhältnissen gewachsenen Körper. »Es ist wirklich schade um die guten arischen Anlagen, um derentwillen man Sie in die SS geholt hat«, sagte er. »Aber als Opfer unserer Sache machen Sie auch keine schlechte Figur. Hoffen wir, dass die Erfahrungen, die Sie in diesem Leben machen mussten, Ihnen im nächsten zugutekommen werden. Wenn alles auf die rechte Weise geschieht, werden Sie sogar unserer Sache noch dienen können.«

»Ich glaube, ich kann Ihnen als Lebender mehr nützen«, sagte Gerrit mit einem Ton in seiner Stimme, der das ganze Ausmaß seiner Verzweiflung durchschimmern ließ. »Ich bin wirklich unschuldig. Das müssen Sie mir glauben!«

Das Gesicht seines Peinigers blieb eisig und kalt. »Wir werden bald sehen, ob Sie unschuldig sind«, sagte er.

Es dauerte nicht lange, bis der SA-Mann, der die Sachen des Jungen aufhob und untersuchte, aus der Gesäßtasche der Hose ein gefaltetes Dokument zutage förderte, außerdem einen Schlüssel und anderen Krimskrams.

»Den Schlüssel und das Dokument«, sagte Mantiss, und sofort händigte man ihm beides aus. »Seine Sachen nehmen wir mit, das Zeug wird alles verbrannt!«

Mantiss faltete das Papier auseinander und überflog den Text.

»Sind Sie mit Rahn befreundet?«, fragte er und blickte von dem Papier auf.

»Rahn ist tot.«

Mantiss schaute zur Seite und nickte. »Sie waren also mit ihm befreundet?«

»Ja, ich kannte ihn«, bestätigte Zerner knapp.

Mantiss blickte wieder auf das Papier. »Es ist eine Abschrift«, sagte er, nachdem er den Text ein weiteres Mal überflogen hatte. »Wo ist das Original?«

»In einem sicheren Versteck.«

Mantiss lachte böse. »In einem sicheren Versteck, das Sie uns nicht verraten wollen, solange Sie nicht das Geld haben, das wir Ihnen bezahlen sollen. Sie sind mir ein schöner Erpresser.«

»Ich wollte Sie wirklich nur warnen«, begann Zerner von Neuem. »Die SS plant Rache an Personen, die auf Rahns Liste stehen, und auch anderen…«

»Wer versucht, ein solches Dokument zu verkaufen, ist ein Schuft!«, unterbrach Mantiss den Jungen mit einem hasserfüllten Fauchen. »Aber Sie haben sich verkalkuliert, junger Mann! So eine Liste kann jeder schreiben. Die Abschrift beweist so wenig wie das Original. Böses Blut aber kann man mit einem solchen Wisch säen. Doch wer Hass sät, wird Hass ernten! Mag das Ding in seinem Versteck bleiben, wenn es dort sicher aufgehoben ist, ich brauche es nicht. Als SS-Mann sind Sie nicht nur ein Erpresser, sondern ein Verräter obendrein. Darauf steht der Tod. Das wissen Sie!«

Irgendetwas stimmte hier nicht. Die Entrüstung von Mantiss wirkte nicht echt. Auf das Original des Dokuments schien er verzichten zu können; aber den Tod Zerners wollte er unbedingt, als hätte er seine Freude daran, den jungen Erpresser sterben zu sehen. Sein Hass war nicht gespielt, aber es drängte sich mir auf, dass er aus einer anderen als der vorgeblichen Quelle stammte. Was trieb Mantiss an? War es der Wunsch nach Rache, der ihn motivierte? Durch welches Verhängnis waren Zerner und Mantiss miteinander verbunden?

»Bitte!«, bat der junge Mann zitternd. »Ich werde alles wiedergutmachen. Ich gebe Ihnen nicht nur das Original der Liste, sondern alles, was ich noch habe, nur lassen Sie mir mein Leben.«

In den Augen von Rudolf Mantiss war nichts als ein kaltes Leuchten.

»Das Femegericht, das hier zusammengekommen ist, um über Ihr Schicksal zu befinden, besteht aus meiner Person«, erwiderte er unbeeindruckt, als wollte er jeder weiteren Diskussion Einhalt gebieten. »Als Ihr Richter verurteile ich Sie hiermit zum Tode durch den Strang. Das Urteil wird noch vor Einbruch der Dunkelheit vollstreckt.«

Der Junge kämpfte mit den Tränen.

»Aber es wäre ein furchtbares Unrecht«, erwiderte er schluchzend. »Das können Sie doch nicht tun, Herr Mantiss! Bitte, seien Sie gnädig! Ich bin unschuldig!«

»Bewahren Sie Haltung!«, entgegnete Mantiss grausam. »Ihre Strafe ist einem jungen Menschen wie Ihnen angemessen und sollte von Ihnen akzeptiert werden. Das freiwillige Opfer gewährt den höchsten Gewinn.« Er wandte sich an seine Leute. »Fort mit ihm! Bindet ihn drüben an einen der Bäume, damit er nicht wegzulaufen versucht.«

Zwei der Männer ergriffen Zerner und zogen ihn in Richtung des Waldes.

»Halt!«, sagte ich. »Auch vor einem Femegericht hat ein Mann das Recht, sich zu verteidigen.«

Mantiss sah mich verächtlich an. »Ach, du bist auch noch da! Spielst den Verteidiger! Pass auf, dass wir mit dir nicht dasselbe machen wie mit ihm. Und was die Rechte angeht: Wir leben in einer neuen Zeit, und über die Rechte bestimme ich als der Vorsitzende dieses Gerichts. Dieser Mann wird sterben, weil es weiterer Beweise für seinen schäbigen Verrat nicht bedarf. Mein Urteil ist unumstößlich.« Er wandte sich zur Seite, wo sein Freund Arnheim stand, und die beiden lächelten einander zu.

»Rudolf, nimm doch Vernunft an!«, versuchte ich es weiter. »Du tust diesem jungen Menschen Unrecht. Er ist doch kaum erwachsen.«

Mantiss sah zu seinen Schergen. »Gebt dem Herrn Anwalt einen Spaten, damit er euch bei dem Ausschaufeln des Grabes hilft. So kann er etwas Sinnvolles tun.«

»Arnheim, tun Sie etwas!«, wandte ich mich an den zweiten Mann in der Hierarchie. »Das hier muss auf keinen Fall sein! Es gibt keinen Grund, Zerner zu töten, ob er nun zur SS gehört oder nicht. Sie haben kein Recht, ein solches Urteil zu verhängen!«

»Halten Sie sich da raus, Goltz!«, entgegnete Arnheim. »Dem Jungen kann niemand mehr helfen. Ein Erpresser und Verräter wie er hat den Tod verdient. Das war nie anders. Es kann keine Gnade für ihn geben.«

Mantiss machte eine Handbewegung, die mir galt, und seine Leute zogen mich ein Stück von der Lichtung fort.

Die SA-Männer hatten mehrere Spaten mitgebracht. Ein Handlanger hatte bereits begonnen, hinter ein paar Bäumen die Umrisse einer Grube abzustechen, die ausgehoben werden sollte, und damit wurde nun unverzüglich begonnen. Auch mir gab man einen Spaten.

»Los, fang an!«, befahl der Uniformierte, der mir am nächsten stand, und schob mich in Richtung der Stelle, wo das Grab des Jungen geschaufelt werden sollte.

»Und beeilt euch mit dem Ausgraben!«, hörte ich Mantiss sagen. »Wenn alle Vorbereitungen abgeschlossen sind, wird das Urteil vollstreckt.«

Als ich mich umdrehte, sah ich, wie die Männer Zerner an einen Baumstamm zerrten, der nur ein paar Meter von mir entfernt am Rande der Lichtung wuchs. Mit einem Strick fesselten sie ihm zuerst die Hände auf den Rücken und schlugen den Strick dann um den Stamm und um seinen nackten Brustkorb herum.

Das Ganze war eine grausame Posse, wurde mir in diesem Moment klar; es war ein bis in die Einzelheiten geplantes, abgekartetes Spiel. Mantiss war kein Ermittler, der sein Opfer quälte, damit es ihm ein Geheimnis verriet. Er war ein Richter, dem es um seine persönliche Genugtuung ging. In Zerner hatte er ein Opfer gefunden, das diesem Bedürfnis genügte; ein Opfer, das jung und schön, aber nicht notwendig schuldig war.

2

Der Potsdamer Platz sah aus, als feierten sie dort ein Fest. Gegenüber an der Ecke Stresemannstraße präsentierte sich Haus Vaterland Kempinski in gleißender Beleuchtung, und überall an den Fassaden glänzten die Reklametafeln schamlos grell. Die Leute tummelten sich vor den Kneipen und Restaurants, daneben wühlten sich die Autos um die Normaluhr herum. Es war eine umtriebige Sommernacht, doch mir selbst kam die schillernde Dynamik, die den Ort beherrschte, seltsam unwirklich vor.

Die Limousinen bogen in die Leipziger Straße ein und rollten kurz darauf an den Bordsteinrand. Der Beifahrer sprang aus dem Wagen und riss die hintere Tür von außen auf, dann stieß man mich regelrecht auf die Straße hinaus. Ein paar Passanten blickten irritiert in meine Richtung, als ich neben ihnen über das Pflaster stolperte, bevor sie einen schnellen Blick auf die Fahrzeuge warfen, die mit laufenden Motoren am Rande der Fahrbahn standen.

Als ich mich zur Straße umdrehte, waren die schweren Limousinen wieder angefahren und hatten sich mit ihren pompösen Silhouetten recht weit entfernt; kurz darauf verschwanden sie vollständig in der von Gelbtönen erhellten Nacht.

Neben mir blinkte eine Leuchtreklame, die ein paar Schatten über das Pflaster tanzen ließ. Ich klopfte mir den Dreck von der Kleidung, dann entfernte ich mich zügig zur Leipziger Straße hin. An der nächsten Ecke bog ich ab und eilte die Wilhelmstraße hinauf, vorbei am imposanten Kaiserhof-Hotel und an den Stätten der Macht: dem Reichsfinanzministerium, dem Auswärtigen Amt und der Reichskanzlei.

Frau von Tryska saß im ›Schwarzen Ferkel‹ an der Ecke Linden und Neue Wilhelmstraße allein an einem Tisch. Obwohl wir verabredet waren, schien sie einen Moment lang überrascht, mich zu sehen.

»Ich warte schon länger als eine Stunde auf Sie«, begrüßte sie mich kalt und förmlich. »Sie finden mich ein wenig verstimmt.«

Sie war eine korpulente Frau nahe der Sechzig, mit stark dunkelblond gefärbtem Haar. Die Witwe eines rheinischen Stahlfabrikanten hatte vor einiger Zeit ihren Hauptwohnsitz vom Rhein an die Spree verlegt, und wie sie mir gestern erzählt hatte, wohnte sie nicht mehr in einem Hotel, sondern besaß eine eigene Wohnung.

Ich setzte mich zu ihr an den Tisch, ohne etwas zu sagen.

Sie betrachtete mich genauer. »Ist etwas schief gegangen?«

Ein Ober kam des Weges. Ich bat ihn um ein großes Glas Wasser und einen Kognak.

»Sprechen Sie!«, sagte Frau von Tryska.

»Alles ist schief gegangen!«

Sie betrachtete mich mit ihren kleinen Augen. »Wie–alles? Haben Sie das Dokument?«

»Wenn alles schief gegangen ist, habe ich auch kein Dokument.«

»Was ist geschehen?«

»Der Mann, den ich getroffen habe, ist tot«, erzählte ich ihr leise. »Er hieß Gerrit Zerner. Ich denke, dass der Name richtig ist. Er war noch fast ein Junge. Mantiss hat ihn hinrichten lassen. Er hat von unserem Treffen gewusst.«

Obwohl es in der Bar ziemlich dunkel war, konnte ich sehen, dass Frau von Tryska blass geworden war.

»Dieser furchtbare Mann!«, sagte sie, als sie endlich Worte fand. »Er hat kein Gewissen!« Sie griff zu ihrem Weinglas und nahm einen Schluck, wobei sie es vermied, mich anzusehen.

»Wie kann Mantiss von meinem Treffen mit Zerner erfahren haben?«

Ihr Blick ging an mir vorbei und konzentrierte sich auf das Fenster in meinem Hintergrund. »Das hätte ich selbst gern gewusst.«

Der Ober kam und brachte das Wasser und den Kognak. Ich leerte das Wasserglas in einem Zug und stürzte den Kognak hinterher.

»Woher sollte Mantiss von dem Treffen gewusst haben, wenn nicht von Ihnen?«

»Moment mal!« Sie richtete die unruhigen Augen auf mich. »Ich habe mit Mantiss nicht über das Treffen gesprochen.«

»Mit wem haben Sie dann darüber gesprochen?«

Sie atmete tief durch. »Haben Sie selbst keine Erklärung für Mantiss’ Erscheinen?«

Die dumpfe Betäubung, die mich seit meinem Erlebnis draußen im Wald schützend wie ein Nebel umgab, bekam erste Risse.

»Lenken Sie nicht ab!«, entfuhr es mir in heftigem Ton.

Sie senkte den Blick. »War Philipp Arnheim auch bei dem Treffen zugegen?«

»Wo der eine ist, da ist der andere nicht weit. Außerdem hatten sie ein paar Schläger mitgebracht. Man hat uns in Autos verfrachtet und aus der Stadt gefahren. In einem kleinen Waldstück haben sie dem Jungen den Garaus gemacht. Also: Wer wusste von dem Treffen? Mit wem haben Sie darüber gesprochen?«

»Die undichte Stelle kann nur Philipp Arnheim gewesen sein«, gab die Dame mit einem Seufzer zurück. »Er hat nämlich auch einen Erpresserbrief bekommen. Wahrscheinlich wollte der Junge uns gegeneinander ausspielen, um die Summe hochzutreiben. Von unserer engen Verbindung hat er wohl nicht gewusst. Als Arnheim mir davon erzählte, erklärte ich ihm, dass ich der Sache nachgehen würde, und als der Junge wieder anrief, stimmte ich seinem Vorschlag zu, das Material einem Rechtsanwalt zu präsentieren. So kamen Sie ins Spiel.«

»Sie hätten doch wissen müssen, dass Arnheim seinen Freund Mantiss einschaltet und dieser sich den Jungen greift, um selbst in den Besitz des Materials zu kommen.«

Sie betrachtete nachdenklich das Weinglas vor ihr auf dem Tisch. »Musste ich das? Ich glaube nicht! Jedenfalls habe ich nicht damit gerechnet, dass Mantiss und Arnheim meine Pläne durchkreuzen könnten! Ich bin ehrlich entsetzt über das, was ich von Ihnen höre.«

Sie konnte mich nicht täuschen. Ich wusste, dass sie kaum besser war als Mantiss und Konsorten. Auch sie gehörte zu der ›Loge der Brüder und Schwestern vom Licht‹ und war zusammen mit Mantiss und Arnheim eines der führenden Mitglieder dieser zweifelhaften Vereinigung. Wenn die große Sache, der sie ihr Leben gewidmet hatte, es rechtfertigte, kannte auch sie keine Gnade. Und die große Sache, an die sie glaubte wie andere an Gott, war der nationalsozialistische Sieg. Dieser Sieg war in gewisser Hinsicht bereits eingetreten, nur eben noch nicht ganz. Die alte Republik war in Teilen stets lebendig, und was die Umsetzung ihrer Ziele anging, wähnten sich die Anhänger der Bewegung immer noch am Anfang.

»Wer hat alles einen Erpresserbrief bekommen?«, fragte ich sie.

Frau von Tryska schüttelte den Kopf. »Mir ist außer Arnheim und mir niemand bekannt.«

»Als Sie mich gestern in meinem Büro aufgesucht haben, erzählten Sie mir, dass Sie belastendes Material über Mantiss ankaufen wollten. Jetzt stellt sich mir die Sache ganz anders dar. Sie haben mich getäuscht!«

Sie blickte sich um. »Reden Sie nicht so laut! Wir sind nicht allein. Lauscher sind heutzutage überall anzutreffen.«

Das Lokal, in dem wir saßen, hatte einst als Weinstube begonnen, aber der Inhaber hatte eines Tages erkannt, dass mit Wein allein der Frohsinn mühsamer aus den Startlöchern kam als mit härteren Sachen. Inzwischen war das Lokal für seine Auswahl an exotischen Branntweinen bekannt.

»Ja, dank Ihres lieben Führers.«

»Sagen Sie so etwas nicht! Sie wissen, das höre ich nicht gern.«

Um meine innere Verfassung war es nicht gut bestellt. Ich hatte das Gefühl, als könnte ich die Welt ohne Alkohol nicht länger ertragen, und ich winkte dem Ober, damit er mir einen neuen Kognak mit einem weiteren Glas Wasser brächte.

»Ich hätte es gleich wissen müssen, dass es nur Schwierigkeiten geben wird, wenn ich von Ihnen einen Auftrag übernehme«, sagte ich leise. »Die Quittung kam schneller, als ich es für möglich gehalten habe.«

Sie runzelte die Stirn. »Sie sind etwas voreilig, Herr Goltz. Abgerechnet wird erst am Schluss. Das Spiel ist noch nicht vorbei.«

»Was geht mich Ihr Spiel an?«

Ein Lächeln wanderte über ihr breites Gesicht. »Sie wissen, dass Sie keine Alternative hatten, als mir zur Seite zu stehen.«

»Es gibt immer Alternativen.«

Sie betrachte mich, als sei sie weiterhin amüsiert. »Sie haben nichts zu befürchten. Wäre es anders, wären Sie jetzt gar nicht hier.«

»Das klingt, als hätten Sie mit dieser Möglichkeit gerechnet.«

Sie sah mir unmittelbar ins Gesicht. »Hadern Sie nicht mit Ihrem Geschick, Herr Goltz! Am Ende wird es Ihr Nachteil nicht gewesen sein, mir geholfen zu haben. Man hat Ihnen schließlich nichts getan!«

»Man hat mich gezwungen, diesem furchtbaren Menschen bei seiner frevelhaften Tat zu assistieren«, widersprach ich ihr. »Für Mantiss war von Anfang an klar, dass der Junge sterben musste, als wüsste er über dessen Pläne schon vollständig Bescheid. Er kannte Zerner sogar. Der Tod des Jungen war ihm das Wichtigste, alles Weitere schien ihm fast gleichgültig zu sein. Man hat mich benutzt. Ich habe das Gefühl, am Tod des jungen Zerner mitschuldig geworden zu sein.«

»Genau darauf haben Mantiss und Arnheim spekuliert!«, entgegnete sie. »Was können Sie dafür, wenn Mantiss einen Mord begeht. Es passieren so viele Morde, die auf das Konto der SA gehen; einer mehr oder weniger–das muss Sie nicht belasten, zumal Sie keine Chance hatten, die Tat dieser Männer zu verhindern. Hören Sie also auf, sich zu quälen. Viel wichtiger ist das Dokument. Hat der Junge es nicht dabei gehabt?«

Die Art, wie sie zur Tagesordnung überging, ärgerte mich. Doch ich schluckte den Groll hinunter.

»Beim Durchsuchen seiner Kleidung haben sie ein Schriftstück gefunden«, berichtete ich. »Es war wohl eine Abschrift von einem Original, das irgendwo versteckt sein soll.«

»Was stand drin?«

»Mantiss hat mir den Inhalt nicht vorgelesen. Es war eine Liste mit Namen, weiter weiß ich nichts. Mantiss schien davon nicht sonderlich beeindruckt.«

»Und wo ist das Original? Hat Mantiss den jungen Mann nicht gezwungen, das Versteck preiszugeben? Er ist doch sonst nicht zimperlich.«

»Ich hatte das Gefühl, dass Mantiss das Original gar nicht brauchte«, erwiderte ich. »Trotzdem kann es dabei nicht nur um etwas Nebensächliches oder Ungefährliches gegangen sein, denn sonst hätte er den Jungen wohl nicht umbringen lassen.«

Das Einzige, das ich weiter über den Inhalt des Dokuments wusste, war der Name Rahn, den Mantiss bei Zerners Befragung in den Mund genommen hatte; doch diesen Namen wollte ich vorerst für mich behalten.

Henny von Tryska seufzte. »Wir sind also genauso schlau wie am Anfang.«

»Sie haben doch mit dem jungen Zerner telefoniert; hat er keine Andeutungen darüber gemacht, was er Ihnen verkaufen wollte?«

Sie zögerte einen Moment und gab sich dann einen Ruck. »Er sprach von brisanten Unterlagen, die Namen enthielten, die auf eine Todesliste gesetzt werden könnten«, erklärte sie und machte eine bedeutungsschwere Pause, bevor sie hinzufügte, »…wenn sie in unbefugte Hände gelangten.«

Ich bekam einen neuen Kognak und kippte ihn hinunter. Der Alkohol begann zu wirken.

»Eine Todesliste? Hat er das wirklich gesagt?«

»Genau dieses Wort hat er gebraucht.«

Ich blickte mich um. In dem Lokal ging es umtriebig zu. Kein Mensch beachtete uns.

»Dann verstehe ich erst recht nicht, weshalb Mantiss den Jungen umgebracht hat. Zerner beteuerte mehrfach, er habe Mantiss nur warnen wollen, aber der hat ihn überhaupt nicht angehört. Hat er gesagt, wer diese Todesliste aufstellen will?«

»Er dachte wohl an die Gestapo oder die SS.«

»Aus welchem Grund sollten die solche Listen aufstellen? Es kommt mir merkwürdig vor.«

»Es gehen Gerüchte um, dass die SA eine Revolte gegen die Regierung plant, obwohl Hitler die Revolution für beendet erklärt hat. SS und Gestapo bereiten Gegenmaßnahmen vor.«

Geschichten über eine bevorstehende Revolte der SA zirkulierten bereits seit geraumer Zeit in der Stadt. Bisher hatte ich auf das Gerede nicht viel gegeben. Aber wenn wirklich Todeslisten aufgestellt wurden, bekamen diese Gerüchte natürlich ein anderes Gewicht. »Und Sie selbst sind auch ein Kandidat für diese Liste?«

Sie nickte. »Angeblich ja.«

»Was haben Sie denn getan, dass man Ihnen gegenüber zu solchen Maßnahmen greifen möchte?«, fragte ich vorsichtig.

Sie zuckte die Achseln. »Ich habe wirklich keine Ahnung, was dieser Erpresser in der Hand haben könnte, um mich in Misskredit zu bringen. Deshalb wollte ich der Sache nachgehen. Soweit es mich betrifft, kann es sich bei dieser Liste nur um eine Fälschung handeln.«

Ich wusste, dass sie jede Menge Dreck am Stecken hatte. Sie war ein kaltherziger Mensch und eine radikale Anhängerin der nationalen Erhebung, und wenn sie auch mir gegenüber freundlich tat, wusste ich aus leidvoller Erfahrung sehr gut, dass sie bereit war, für ihre Überzeugungen über Leichen zu gehen.

»Verschweigen Sie mir nicht etwas?«, fragte ich sie. Sie hatte mir bisher keinen Grund gegeben, ihr zu vertrauen, und auch jetzt traute ich ihr nicht. »Hat Zerner Ihnen wirklich nicht ein paar Details genannt? Wenn er nicht wenigstens eine Andeutung gemacht hätte, würde es mich sehr wundern.«

Sie zögerte und nippte an ihrem Glas. »Das Dokument, das er mir verkaufen wollte, hatte irgendetwas mit dem Tod von Horst Wessel zu tun.«

Ich starrte sie an. »Wie? Meinen Sie den Horst Wessel, von dem alle reden?«

»Ja, den Märtyrer der Bewegung.«

»Der ist doch schon seit ein paar Jahren tot!«

»Wenn ich den Erpresser richtig verstanden habe, ging es wohl nicht um Wessel selbst, sondern um seine Mörder.«

»Sitzen die nicht hinter Gittern?«

»Die Vorgänge um diesen Mord wurden nie ganz aufgeklärt. Sicher haben Sie davon gehört, dass in der vergangenen Woche zwei weitere Mittäter zum Tode verurteilt worden sind?«

Die Erwähnung dieses Gerichtsverfahrens versetzte mich in Unmut. »Was für ein absurdes Urteil! Ich habe in der Zeitung davon gelesen. Die armen Kerle waren doch nur Mitläufer und hatten mit dem Mord an sich gar nichts zu tun! Eigentlich unbegreiflich, wie ein Gericht deshalb ein Todesurteil fällen kann; allerdings wirklich gewundert hat es mich nicht.«

»Haben Sie etwa Mitleid mit diesen Leuten? Das verdienen sie nicht! Die Sache wurde neu aufgerollt. Es wurden bisher nicht alle Täter gefasst. Man hat weitere Mittäter gesucht und gefunden. Die SA nimmt Rache. Der neue Prozess zeigt, welche Macht sich diese Organisation angeeignet hat und wie gefährlich sie geworden ist.«

Dass ausgerechnet Frau von Tryska sich um die Macht der SA sorgte, verwunderte mich.

»Unterhalten Sie nicht selbst enge Kontakte zu dieser Organisation? Zwischen der ›Loge der Brüder und Schwestern des Lichts‹ und der SA bestehen doch seit Langem ausgezeichnete Verbindungen.«

Sie machte eine abwehrende Handbewegung. »Es ist alles in Bewegung geraten! Die SA treibt die Dinge in eine falsche Richtung. Sie spaltet unsere Gesellschaft und ist zu einem Hindernis für die Fortentwicklung der neuen Ordnung geworden. Dagegen muss etwas unternommen werden.«

»Ist das der Grund, weshalb Sie Material gegen Mantiss und Arnheim sammeln? Sogar Material, das gefälscht sein könnte?«

»Beide Herren stehen mit führenden Kräften der SA in freundschaftlicher Verbindung«, erwiderte sie. »Ich brauche etwas, das genug Sprengstoff bietet, um ihren Einfluss auf unsere nationalsozialistische Bewegung zu stoppen. Ein Beweisstück, etwas Schriftliches.«

»Um was damit zu tun?«

Sie hob die Augen und sah mich offen an. »Um mich damit zum Führer zu begeben; nur er kann uns helfen. Wir müssen diesen Leuten zuvorkommen, nur darin liegt unsere Chance.«

»Zuvorkommen? Wobei denn?«

»Hitlers größte Sorge ist der greise Reichspräsident. Er bemüht sich ihm gegenüber konsequent um Korrektheit und Loyalität. Jede Bemerkung, jeder Hinweis von Hindenburg sind ihm Gebot. Hindenburg hat sich am 4.Juni–früher als üblich–auf sein Gut Neudeck zurückgezogen. Die Tage des alten Herrn sind gezählt. Es ist fraglich, ob er noch einmal nach Berlin zurückkehren wird. Mit dem nahenden Tod des Präsidenten ist die Frage akut geworden, wer neuer Reichspräsident wird.«

»Für Hitler gibt es da doch keinen Zweifel–er selbst.«

»So einfach ist es nicht–es gibt Kräfte, die das verhindern wollen.«

»Als Reichskanzler hat Hitler ein hohes Amt. Er braucht kein zweites.«

»Es darf nicht geschehen, dass einer seiner Gegner in das Reichspräsidentenamt gelangt«, widersprach sie mir scharf.

Ich lehnte mich zurück. Tatsächlich hatte man von Machtkämpfen in der Führung der Nationalsozialisten gehört. Von verschiedenen Seiten war Hitler aufgerufen worden, etwas gegen die willkürlichen Gewalttaten der SA-Männer zu tun. Besonders heftiger Kritik für seine Untätigkeit in dieser Frage sah sich der Reichskanzler seitens der nationalkonservativen Kreise ausgesetzt, mit denen er gemeinsam die Regierung des Landes bildete. Der Vizekanzler Franz von Papen hatte Mitte des Monats an der Marburger Universität eine Rede gehalten, bei der er die Exzesse der Nationalsozialisten, insbesondere die andauernden Gewalttaten der SA, beklagt und ein Ende des Terrors gefordert hatte. Wie dieser Tage im Kollegenkreis auf dem Gerichtsflur gemunkelt worden war, hatte Hitler wütend auf die Rede reagiert, und der Propagandaminister Goebbels hatte deren weitere Veröffentlichung unterbunden. Hitlers Stellung als Reichskanzler erschien erstmals seit seiner Berufung in dieses Amt auch außerhalb der SA nicht mehr unangefochten zu sein.

»Hat der SA-Chef Röhm inzwischen Anspruch auf das Amt des Reichspräsidenten erhoben?«

Sie blickte auf. »Ein Homosexueller als Reichspräsident? Gott bewahre! Der Chef der SA hält seinen Gruppenführer Prinz Auwi von Preußen für den geeigneten Kandidaten. Die SA ist entschlossen, Gewalt anzuwenden, um ihre Pläne durchzusetzen.«

»Im Moment steht nichts zu befürchten«, entgegnete ich. »Wie ich hörte, hat Röhm seine SA für den ganzen Monat Juli in den Urlaub geschickt. Er selbst soll auf eine mehrwöchige Kur nach Bad Wiessee in Oberbayern gefahren sein. Es wundert mich, dass man Gegenmaßnahmen ausgerechnet jetzt ergreifen will und sogar Todeslisten zusammenstellt.«

»Egal, wie weit die Vorbereitungen der SA für einen Gewaltstreich gediehen sind! Der SA muss mit aller Entschiedenheit entgegengetreten werden. Es ist Zeit, dass gehandelt wird. Andere tun das bereits. Die Reichswehr hat Truppen zusammengezogen und die Wachen am Reichswehrministerium erheblich verstärkt. Nur der Führer hat sich noch nicht entschieden; es gilt, die Entscheidung vorzubereiten, die er zu treffen hat. Aus diesem Grunde bedarf es schriftlicher Beweise, die die Ruchlosigkeit wichtiger Personen in dieser Organisation offenbaren. Die Übergabe eines solches Beweises in meine Hände ist am Abend von eben diesen ruchlosen Gestalten, von denen ich sprach, vereitelt worden.«