Bernd Stegemann - Kritik des Theaters - Bernd Stegemann - E-Book

Bernd Stegemann - Kritik des Theaters E-Book

Bernd Stegemann

4,7

Beschreibung

Die Sehnsucht des Theaters gilt der Darstellung des Menschen. Diese Sehnsucht hat die Postdramatik, so ihr profiliertester Kritiker Bernd Stegemann, zu Unrecht in Zweifel gezogen. Die Tradition von Mimesis, Spiel und Bedeutung wurde durch Selbstreferenz, Ironie und Performativität ersetzt. In den Spielen der Postdramatik erscheint die Realität nur noch als Simulation. Alle Ereignisse sind zu Zeichen ihrer selbst geworden und kokettieren mit dem Anschein von Authentizität. Die kapitalistisch organisierte Gesellschaft bleibt von diesen Spielen ungestört. Sie macht ihre zerstörerischen Geschäfte mit fiktivem Geld, das im Leben der Menschen eine verblüffend echte Rolle spielt. "Kritik des Theaters" ist nicht nur eine grundsätzliche Kritik an der verbreiteten Beschränkung auf postdramatische Spielarten, es ist ein Plädoyer für die Wiederbelebung der Kritikfähigkeit des Theaters. Bernd Stegemanns Befund: Das Theater kann das Unsichtbare sichtbar machen. Es hat die sinnliche und intellektuelle Kraft, realistisch zu sein, nicht, indem es die Welt verdoppelt, sondern die Realität zwingt, sich zu zeigen. Es spielt mit den Dingen hinter dem Schein und bringt die Totalität der Erscheinungen momentweise zur Enthüllung.

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Bernd Stegemann

 

Kritik des Theaters

Theater der Zeit

 

Für Nicole

 

Einleitung

 

Die Kritik am neoliberalen Denken ist im Zentrum der reichen Gesellschaften angekommen. Die Produktion egoistischer Subjekte durch den emotionalen Kapitalismus wird erstmalig seit den Protesten der 68er wieder bemerkt. Doch der Kapitalismus ist nicht mehr der gleiche wie vor fünfzig Jahren. Er hat rasend schnell hinzugelernt und steht heute in seinem neuen Geist monströser und unbesiegbarer da denn je. Keine Finanzkrise, keine Occupy-Bewegung und keine bildungsbürgerliche Sorge um das symbolische wie reale Kapital können ihn mehr in Frage stellen. Seine Kraft besteht darin, jede Kritik als Wachstumsimpuls vereinnahmen zu können. Doch nicht nur, dass jeder Protest sein T-Shirt bekommt, sondern auch auf einer völlig anderen Ebene hat sich die Forderung nach mehr Geld zum absoluten Maßstab der Gesellschaft gemacht. Hinter dem Rücken konkreter Lebensverhältnisse hat sich das Geld zu einem postmodernen Kapital entwickelt, das sein Ziel, sich dem regulierenden Zugriff politischer Herrschaft zu entziehen, weitestgehend erreicht hat. Die Spätmoderne hat sich somit in zwei einander diametral entgegengesetzte Richtungen entwickelt: Auf der Theorieseite der Postmoderne verflüssigen die Denkbewegungen der Dekonstruktionen alle Fundamente von Meinung, Haltung und Handlung. Auf der praktischen Seite wird genau diese Form der Derealisierung des Sozialen von der Finanzindustrie genutzt, um ihre Produkte immer raffinierter zu machen. Was den Geisteswissenschaften die Derridasche Différance ist, war der Finanzindustrie die Black-Scholes-Formel.

Doch während sich das postmoderne Lebensgefühl noch in den Überbietungsspielen des Nichtdarstellbaren, der Verweigerung der Repräsentation und der Freiheit in der Kontingenz gefällt, nutzt der postmoderne Kapitalismus die gleichen Theorien, um sein Handeln von jeder Verantwortung zu befreien. Die postmoderne Antwort auf die alte Frage nach der Entfremdung des Menschen in der Welt besteht heute in der globalen Produktion von egoistischer Subjektivität. Damit schließt sich zum ersten Mal seit dem Mittelalter wieder der Riss zwischen den Mühen des Lebens und seiner Begründungsideologie in einem geschlossenen Glaubenssystem. Die Gesellschaften der Spätmoderne beten das interessengeleitete Subjekt und die Mechanismen seiner Bereicherung als natürliche Ordnung der Welt an. Doch was den Vielen als Freiheit verkauft wird, ist der Höhepunkt von Entfremdung, was von den Arbeitern als Kreativität gefordert wird, ist die Folge fehlender Solidarität, und was allen stolz als Kontingenzbewusstsein oder Postfundamentalismus vorgeführt wird, führt zur Selbst-Entmachtung gegenüber den Strategien des postmodernen Kapitalismus.

Mit den Kritikformen vergangener Jahrzehnte ist dem postmodernen Kapitalismus nicht mehr beizukommen. Die Aufregung über gierige Banker, korrupte Politiker und egoistische Mitmenschen flammt inzwischen gerne auch im konservativen Lager auf und taugt als Sprengsatz im Erregungsspiel öffentlicher Aufmerksamkeit. Doch spricht die Empörung des Wutbürgers am meisten von der eigenen Gekränktheit, dass ein System, dem man doch vertraut hat, nun solche unangenehmen Eigenschaften entwickelt. Was von dieser Kritik zu halten ist, ob sie es mit der Entladung des Unbehagens bewenden lässt und sich mit kleineren Korrekturen zufrieden gibt, muss die Zukunft zeigen. Auf ihren Veränderungswillen zu vertrauen, solange sie aus der Position des Eigentümers spricht, der um seinen Besitz bangt, wäre leichtsinnig. Denn die Kritik des Wutbürgers bleibt bisher in der Empörung über die monströse Verzerrung gefangen. Die Frage nach den immanenten Ursachen der Entfremdung im kapitalistischen Arbeitsregime wagt sie nicht zu stellen.

Seit einigen Jahren entsteht vor allem in der Soziologie ein Nachdenken über Kritik und Gesellschaft, das die Eigenschaften des neuen Kapitalismus sehr ernst nimmt. Eine Anwendung dieses neuen kritischen Bewusstseins auf die verschiedenen Bereiche der Gesellschaft steht noch am Anfang. Die Künste sind hierbei ein besonders komplexer Bereich von Gesellschaft, da sie ihrem Selbstverständnis nach eine kritische Funktion ausüben. Doch gerade dieser Glaube an die eigene Kritikfähigkeit ist im postmodernen Denken zerstört worden. Im Säurebad der Kontingenz haben sich die Haltungen zur Welt zu Zitaten, Relativierungen und Selbstreferenzen aufgelöst.

Eine Kritik des Theaters trifft heute auf eine Vielfalt theatraler Ausdrucksformen und ästhetischer Präferenzen, deren gemeinsamer Grund darin besteht, keinen gemeinsamen Grund mehr zu haben und keine Form von Gemeinschaft mehr zu akzeptieren. Eine Kritik des Theaters muss von daher mit einer Kritik der postmodernen Weltanschauung beginnen. Da diese sich als Ende aller Ideologien begreift, ist eine Ideologiekritik besonders kompliziert. Doch sobald der gut versteckte Zusammenhang von postmoderner Theoriebildung und neuem Geist des Kapitalismus erkannt ist, entpuppen sich ihre Denkformen als ideologische Herrschaftsmittel, die Interessen verschleiern und Hierarchien als Natur erscheinen lassen wollen. Die Behauptung der Postmoderne, selbst keine Ideologie zu sein, stellt die raffinierte Selbstimmunisierung dar, die dem neuen Kapitalismus seine Tarnung verschafft, um weiterhin behaupten zu können, die effizienteste Lebensform für den natürlichen Egoismus der Menschen zu sein. Beide Ausprägungen der Postmoderne – die ästhetische und die ökonomische – schützen sich gegenseitig und schläfern damit die Fähigkeit der Gesellschaft, Kritik formulieren zu können, seit Jahrzehnten ein.

Die Kunst des Theaters ist in unterschiedlicher Weise diesen Ermattungsstrategien zum Opfer gefallen. Kontingenzbewusstsein und Misstrauen gegen die Wirkung theatralischer Mittel haben sich gegenseitig befördert und dabei immer weiter in die Selbstbeschäftigung verstrickt. Die postmodernen Ästhetiken haben die Erklärungskraft der Dialektik, die sich in der mimetischen Kraft des Schauspielens künstlerisch ausdrückt, in zwei unverbundene Denkformen zerschlagen. Aus Dialektik werden Selbstreferenzen und Paradoxien. Um diesen selbst geschnürten gordischen Knoten von Rekursion und Relativismus anders auflösen zu können, als in den Spielen des Authentischen und der Ironie, ist ein großes Maß an Ausdauer nötig. Wie kann Theater jenseits des paradoxen Automatismus der Ironie intelligent sein, und wie entsteht eine Gegenwart des Theaters jenseits der Präsenzeffekte postmoderner Ästhetik? Diese Fragen erscheinen im undialektischen Denkhorizont der Postmoderne unbeantwortbar. Diese Provokation ernst zu nehmen, begibt sich die »Kritik des Theaters« auf den Weg.

I. Postmoderne des Theaters

»Das Wissen, das im Uebermaasse ohne Hunger, ja wider das Bedürfnis aufgenommen wird, wirkt jetzt nicht mehr als umgestaltendes, nach aussen treibendes Motiv und bleibt in einer gewissen chaotischen Innenwelt verborgen […] und so ist die ganze moderne Bildung wesentlich innerlich: auswendig hat der Buchbinder so etwas darauf gedruckt wie: Handbuch innerlicher Bildung für äusserliche Barbaren.«

Friedrich Nietzsche Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben1

1. Postmoderne Ästhetik

Warum noch immer von Postmoderne sprechen? Handelt es sich dabei nicht um eine Architekturtheorie der 1970er Jahre oder um eine modische Kulturtheorie der 1980er Jahre? Getragen von einem Aufbruchsgeist und dem Wunsch nach Emanzipation aus fest gefügten Hierarchien, leisteten die Theorien der Dekonstruktion ganze Arbeit. Die Zersplitterung der Machtverhältnisse hat zurückgewirkt auf jedes einzelne Subjekt. Was einst notwendige Arbeit an der Verflüssigung der Verhältnisse war, ist nun zum Zwang für jeden geworden, sich an immer neue Verhältnisse anpassen zu müssen. Die Auflösung aller Verbindlichkeiten führte einst zu dem einheitlich uneinheitlichen Lebensgefühl der Postmoderne. Man lebte nach der Orgie, aber man lebte nicht schlecht mit dem Gefühl einer sanften Melancholie. Die Schlachten schienen geschlagen zu sein, nun konnte man ohne Auftrag seinen ständig wechselnden Launen folgen. Heute hingegen hat sich die Abgeklärtheit des postmodernen Lebensgefühls in einen permanenten Zwang zur Flexibilität der Arbeitskraft verwandelt und die vollständige Erosion einer daran möglichen Kritik herbeigeführt. Aus der postmodernen Party wurde die omnipräsente Kontrollgesellschaft. Alle leben nun als dezentrierte Menschen, immer reaktionsbereit und ohne die falsche Sehnsucht nach einem Daseinsgrund. Die letzten Leidensmomente an der Zersplitterung der Welt oder der Fremdheit des eigenen Lebens scheinen abgeklungen zu sein. Die Kontingenz der Moderne hat ihren Schrecken verloren. Die Dinge und die Menschen stehen nun nebeneinander und niemand kann sie mehr in einer großen, alles verbindenden Geschichte erzählen. Na und?, werden die meisten denken, und man wird schwerlich jemanden finden, der noch an den Widersprüchen und Unvereinbarkeiten seiner Zeit verzweifelt. Wenn das Ganze auch nicht mehr zu verstehen ist, bieten sich darin doch so viele Lebensnischen und Sinnangebote, dass jeder nach seiner Fasson glücklich werden kann. Die Träume der Aufklärung und der Emanzipation scheinen verwirklicht. Man lebt in den zwanglosen Zwängen, ohne sie als Entfremdung zu erfahren. Man nutzt sie vielmehr als Lebensmöglichkeiten und bastelt an seinen Lebensentwürfen nach dem Motto: Alles bleibt vorläufig, und das ist auch gut so. Wir entscheiden uns ungern und denken zu unserer Beruhigung, dass das alles noch nichts bedeuten muss. Und auch diese Selbstrelativierung im Vorläufigen muss nichts bedeuten, da der Gedanke der Endlichkeit allen Lebens keinen Platz mehr hat. Würde er für einen Moment gedacht, erschiene augenblicklich alles Ambivalente wie die Vergeudung unwiederbringlicher Lebenszeit.

Die Gestalt der Gegenwart ist von der Postmoderne nachhaltig verändert worden. Jede Epoche hat ihr eigenes Konzept von Zeit. Je nachdem, wie Vergangenheit und Zukunft gedacht werden, erhält die Gegenwart eine andere Qualität. Wird die Zukunft als ein Ort verstanden, der erobert werden muss, damit es dort anders und womöglich besser zugeht als in der Gegenwart, wird diese zwangsläufig zu einer Vorbereitung für diese Zukunft. Die Gegenwart muss etwas leisten, damit die Zukunft so wird, wie sie in der Gegenwart gedacht wird. Die gegenwärtige Zukunft bestimmt dann die zukünftige Gegenwart. Dieses Konzept wurde in der Moderne konsequent verfolgt. Doch die großen Katastrophen des 19. und 20. Jahrhunderts haben die Zukunftsseligkeit stark erschüttert. Wer die Gegenwart für eine bessere Welt opfert, erreicht diese womöglich genau darum nie.

Die Postmoderne verzichtet aufgrund der Schrecken der Vergangenheit auf allzu große Hoffnungen für die Zukunft. Im Bewusstsein des vollständigen Scheiterns aller Zukunftskonzepte in der Vergangenheit wird die Gegenwart nun zu einem absoluten Ort. Sie ist kein Durchgangszimmer mehr für eine bessere andere Welt. Die Mühen der Ebene, die es zu durchwandern galt, um zu einem gelobten Land zu kommen, werden als gefährliche Zeitverschwendung empfunden. Das postmoderne Konzept von Gegenwart ist folgerichtig eine Feier des Augenblicks. Der jeweilige Moment ist das einzige Leben, das dem Menschen zur Verfügung steht. Ein Aufschub von Erlebnismöglichkeiten wäre ein unverantwortlicher Umgang mit der eigenen Lebenszeit. Die Gegenwart wird so zur einzig möglichen Zeit. Vergangenheit und Zukunft kommen in ihr gleichzeitig vor, ohne jedoch die Gegenwart zu einer vergänglichen Vor- oder Nachbereitungszeit zu entwerten. Das Gefühl der Gleichzeitigkeit und damit auch der Gleichwertigkeit zeichnet die Postmoderne aus. In der so gestärkten Gegenwart sind alle Optionen gleichermaßen kontingent, sie sind also möglich, aber nicht mehr notwendig. In einer kontingenten Gegenwart verschwinden die Gespenster der Vergangenheit und die Trugbilder der Zukunft. Man lebt den Moment und verfolgt seinen Anspruch auf Erfüllung sofort. Oder wie es Heiner Müller schon 1990 formulierte: »Die Urformel der Postmoderne ist das, was Goethe als Ursünde begreift. Also zum Augenblick zu sagen: ›Verweile doch! du bist so schön.‹

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