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Der moderne Mensch führt Glaubenskriege, ohne an Gott zu glauben Menschen treten scharenweise aus der Kirche aus. Religion spielt im Leben vieler keine Rolle. Man könnte meinen, wir lebten in der gottlosesten Welt, die es jemals gab. Aber stimmt das überhaupt? Hat der Glaube nicht längst einen anderen Ort in unserer Welt gefunden? Bernd Stegemann legt eine hochaktuelle Bestandsaufnahme der Welt vor, in der das Individuum den Platz Gottes eingenommen hat. Ohne Gott sind wir frei. Doch wohin führt uns die Freiheit? Die Weltkriege und totalitären Herrschaften des 20. Jahrhunderts, Klimakatastrophen und massenhafter Konsum sollten uns zu denken geben. Stattdessen wird schrill die Apokalypse verkündet. Während die Bindung der Religion in tausend Teile zersprungen ist, hat ausgerechnet der hochmütige Glaube an absolute Wahrheiten überlebt. Ideologische Übertreibungen, Populismus, Fanatismus und Fundamentalismus sind allgegenwärtig. Wohl keine Zeit war so orientierungslos und zugleich so erregt. Dabei wäre eine Umkehr nötig. Nur wenn wir anerkennen, dass unsere Ansprüche kein göttlicher Wille sind, wenn wir die Demut dem Bescheidwissen vorziehen, können wir die Welt bewahren oder sogar besser machen.
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Seitenzahl: 307
Bernd Stegemann
Was vom Glauben bleibt
Wege aus der atheistischen Apokalypse
Klett-Cotta
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Klett-Cotta
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ISBN 978-3-608-98830-7
E-Book ISBN 978-3-608-12366-1
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Mein Anfang der Suche
Glaube
Glauben ohne Religion
Säkulare Seelen
Politische Theologie
Falsche Propheten
Religion ohne Glauben
Hoffnung
Glauben ohne Hoffnung
Nihilismus
Protest und Unfehlbarkeit
Glaubenshärte
Liebe
Glauben ohne Liebe
Vertrieben aus dem Paradies
Die Krankheit zum Tode
Ressentiment
Nach der atheistischen Apokalypse
Glauben Sie?
Empfänglich machen für das Empfangen
Glaubensschwachheit
Eine jüdische Geschichte
Anmerkungen
Ein Ungläubiger schreibt über den Glauben. Aber der Ungläubige ist katholisch. Aufgewachsen im westfälischen Münsterland, wusste ich lange nicht, dass es neben dem Katholizismus noch ein anderes, davon abtrünniges Christentum gibt. Hier katholisch zu sein, bedeutete in den 1970er Jahren die Verwirklichung des »katholikos« als dem einen Glauben, der für alle gilt. Doch trotz der Kindheit im schwarzen Münsterland blieben meine Begegnungen mit der Kirche oder dem Religionsunterricht blass. Es gibt nur eine einzige Erinnerung, in der mir der katholische Glauben lebendig widerfahren ist. Der Philosophielehrer am Gymnasium hatte Kontakt zu dem Religionsphilosophen Josef Pieper, der uns eines Tages besuchte.
Diese Begegnung war so nachhaltig, dass ich bis heute seine Bücher, wenn ich sie in einem Antiquariat finde, kaufe und alsbald lese. Seine drei Essays »Über den Glauben«[1], »Über die Hoffnung«[2] und »Über die Liebe«[3] begleiten mich seit den 1990er Jahren. Und immer wieder habe ich mit dem Gedanken gespielt, mir einmal über meinen Nicht-Glauben Rechenschaft abzulegen. Es sollte nach der gymnasialen Begegnung aber noch vierzig Jahre dauern, bis ich mir die Zeit nehmen wollte, meine Gedanken dazu aufzuschreiben. Das Resultat ist für mich selbst irritierend.
Anfänglich dachte ich, anhand ausgewählter Stationen in meinem Leben die Nähe und Ferne zum Glauben ausmessen zu können. Schließlich ist das Christentum die Religion, die den Lebensweg zum Maßstab des Glaubens gemacht hat. Nicht im Rückzug der Meditation oder in der weltflüchtigen Askese liegen die entscheidenden Prüfungen des Christen, sondern in den alltäglichen Entscheidungen bahnt sich der Weg zum Seelenheil oder zur Sünde. Doch ich musste alsbald feststellen, dass mein Leben nicht mit den überlieferten Formen von Himmel und Hölle zu beschreiben ist. Die Sprache des Glaubens kam mir wie ein falsches Kostüm vor. Es passte nicht, und ich konnte mich im Spiegel nicht wiedererkennen.
Bei der weiteren Beschäftigung mit dem Glauben kristallisierten sich zwei diametral entgegengesetzte Einsichten heraus. Die Säkularisation war in mir so weit fortgeschritten, dass ich meinen Unglauben nicht mehr als katholische Laxheit beschreiben konnte. Und zugleich entdeckte ich in mir eine Vielfalt von Einstellungen eines Gläubigen, die alle ihre Wurzeln im Christentum haben und doch zu etwas gänzlich Anderem geworden sind. Diese Glaubenspartikel haben eine Gestalt angenommen, die man vorläufig nur als gespenstisch beschreiben kann. Die irritierende Einsicht besteht also darin, dass sowohl mein Unglaube als auch die überall verstreuten Glaubensreste Kinder des Christentums sind und dass sie zugleich quer zur christlichen Tradition stehen. Die Situation des Glaubens erwies sich als viel komplizierter, als ich es mir vorgestellt hatte.
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Die Bücher von Josef Pieper hatten mir seinerzeit ein Gefühl von Geborgenheit vermittelt. Mit dem Vokabular des Existentialismus und vor dem Hintergrund der Katastrophen des Zweiten Weltkriegs konnte er die Not des Einzelnen in Worte fassen und der metaphysischen Obdachlosigkeit den Halt eines größeren Zusammenhangs geben. Der Trost seiner Schriften lag darin, dass ein heimatloses Gefühl in seinen Worten einen Ort bekam. Eine ähnliche Wirkung hatten die Texte von Romano Guardini auf mich.[4] Beide Autoren bauen eine Brücke zwischen den säkular zerstörten Seelen des 20. Jahrhunderts und den Glaubenswahrheiten des Christentums.
Aber ich erinnere mich, dass die Aufgehobenheit nur so lange vorhielt, wie die Lektüre dauerte. Es gab in mir keinen Ankerplatz für die erbaulich tröstenden Sätze. Die christlichen Grundworte, zu denen »Glaube«, »Hoffnung«, »Liebe« gehören und deren Auslegung beide Autoren mit Bildung und Geduld betrieben, verloren ihren Sinn, sobald mein Geist wieder in die Gegenwart glitt. Diese Spurlosigkeit der reinen Lektüre war, ex negativo, eine Bestätigung des Katholischen. Es braucht die Sakramente, in denen das Göttliche anwesend werden kann, und es braucht das Ritual der Messe, um die Gemeinschaft des Glaubens zu stiften. Niemand ist für sich alleine katholisch, und niemand wird gläubig, weil er Bücher liest.
Die Bestätigung des Katholischen führte bei mir aber zu keiner Bekehrung. Der Glaube blieb fern, und es gab keine lebendige Erfahrung mit einer Gemeinde.[5] Trotz der geringen Konsequenzen der Lektüre und trotz des Mangels an gläubigen Mitmenschen sind mir die Erinnerungen an diese andere Art des Seelenlebens bis heute kostbar. Ich will nicht bewerten, wieviel Sentimentalität darin steckt. Denn zugleich ist mir bewusst, wie unzureichend diese Versuche waren.
So stand ich also hilflos vor einem Phänomen, das zu dem tiefsten Gefühl gehört, zu dem Menschen fähig sind, und fand keine Tür, die sich für mich öffnen würde. Dass ich in dieser Lage nicht alleine bin, zeigt die uferlose Mühe der Gottsuchenden, die sich zu allen Zeiten in zahllosen Texten ausgedrückt haben. Seit den Evangelien gehört die Suche nach Gott zu den schwersten Aufgaben. Und nur wenigen widerfährt die Bekehrung so dramatisch und unmittelbar wie Paulus. Wem Gott erscheint, der ist in einem Augenblick erlöst. Doch gerade dieses Sehnsuchtsbild der Erlösung durch Gottes Gegenwart steht bis heute als Hindernis vor dem Glauben. Denn wer darauf wartet, durch Gottes Hilfe zu ihm zu finden, der verharrt in falscher Untätigkeit.
Zugleich, und das macht eine der vielen nachdenklich stimmenden Wahrheiten des Christentums aus, liegt der Weg zum Glauben nicht allein in des Menschen Hand. Wer meint, es ohne göttliche Hilfe zu schaffen, der entfernt sich in seinem Mühen ebenso von der Gnade des Glaubenkönnens wie der Müßige, der auf den göttlichen Fingerzeig wartet. Da Gott unseren Geist übersteigt, ist die Voraussetzung, an ihn glauben zu können, ein Geschenk, das nur von Gott kommen kann. Seine Gnade ist kein Beweis für seine Existenz, aber sie ist eine Tür, die vom Menschen nicht selbst geöffnet werden kann, deren Offenheit er aber bemerken muss, will er nicht die Öffnung seiner Seele zum Göttlichen verpassen. Der Ungläubige kann das Geschenk erhoffen oder er kann es mit weltlichem Selbstbewusstsein ablehnen. Meine Gottferne war womöglich so groß, dass ich das Geschenk nicht hätte annehmen können, weil ich es nicht wahrgenommen hätte. Und meine Ahnung ist, dass ich mit dieser Seelenblindheit nicht alleine bin.
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Die Ahnung, die mich beim Schreiben nie verlassen hat, besteht darin, dass meine Glaubensuntauglichkeit und die Unzahl magischer Praktiken, die meinen Alltag begleiten, nicht nur eine individuelle Besonderheit sind. Überall bemerke ich die seltsame Gleichzeitigkeit von Ungläubigkeit und quasi-religiöser Gewissheit. Indem der Glaube aus der Obhut der Religion heraustritt, wird er zu dem unordentlichen Gefühl, das er vielleicht schon immer war.
Im Glauben vereinen sich zahlreiche widersprüchliche Aspekte. Er gibt Sicherheit, die bis zum Hochmut reichen kann. Der Gläubige fühlt sich auserwählt, und in der Selbsterhöhung kann er sich zur Missionierung aufgerufen fühlen. Der Wunsch, alle Menschen mögen an seinem Glaubensglück teilhaben, kann schließlich in Fanatismus umschlagen, wenn die Ungläubigen nicht bekehrt, sondern bestraft werden sollen.
Auf der Gegenseite lehrt der Glaube Demut. Wer anerkennt, dass es etwas gibt, das mehr ist, als der Geist zu begreifen vermag, und wer anerkennt, dass unser Leben von dieser Macht gehalten wird, der wird sich seiner eigenen Abhängigkeit bewusst. Das Schicksal liegt nicht in Menschenhand. Das anzuerkennen und nicht darüber zu verzweifeln oder zynisch zu werden, benötigt die christliche Kraft zur Demut. In einer für den säkularen Geist irritierenden Wendung führt die Demut zur Hoffnung. Die schlechthinnige Abhängigkeit des Lebens neu zu fühlen gehört zu den größten Aufgaben unserer Zeit.
Hochmut und Demut liegen im Glauben eng beieinander. Zu welcher Seite das Pendel ausschlägt, ist von der religiösen Gestalt abhängig, die dem Glauben gegeben wird. Das unordentliche Gefühl ist formbar in seiner weltlichen Gestalt. In seinem Kern bleibt es jedoch immer gleich. Der Kern allen religiösen Glaubens besteht darin, dass das, woran geglaubt wird, auf den zurückstrahlt, der daran glaubt. Diese Rückstrahlung verführt dann zum Hochmut, da man sich als auserwählt empfindet, oder es leitet zur Demut, da man in der Anbetung des Göttlichen seine eigene Ohnmacht erlebt.
Religionen geben dem unordentlichen Gefühl eine Gestalt. Darum unterscheidet sich die Ausprägung des Glaubens in den unterschiedlichen religiösen Konfessionen. Die Unterwerfung des Islam ist ein anderes Glauben als das vertrauensvoll-prüfende Verhältnis des Judentums oder die Inkarnation Gottes im Menschen, die das Christentum begründet.
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Wir leben im dritten Jahrhundert des Experiments ohne Gott, und hier hat sich eine weitere, post-religiöse Gestalt des Glaubens gebildet.[6] Das Kennzeichen des gegenwärtigen Glaubens ist seine Zersplitterung. Die wichtigste Folge der Auflösung des Glaubens ist eine Paradoxie: Wir glauben nicht mehr, woran wir glauben. Konkret zeigt sich das Paradox in den unzähligen Verbindungen, die die Glaubenspartikel mit säkularen Inhalten eingegangen sind.
Der säkulare Glaube, wie man diese religionslosen Glaubensgefühle nennen könnte, verweigert den Kern des sakralen Glaubens. Der sakrale Glaube streckte sich in die Transzendenz. Und er hoffte, dass durch die Rückstrahlung des Geglaubten auf den Gläubigen etwas von der Unverfügbarkeit des Göttlichen in der Menschenwelt anwesend werden möge. Der säkulare Glaube tastet nicht mehr über die Grenze zur Transzendenz, und er will sich auch nicht mehr an eine göttliche Macht binden.
Der grundlegende Unterschied zwischen dem religiösen und dem säkularen Glauben besteht darin, dass in diesem nicht mehr die Abhängigkeit erfahren wird, die Demut lehrt. Statt durch den Glauben zur Demut zu finden, schlägt der säkulare Glaube die entgegengesetzte Richtung ein. Nicht mehr das Unverfügbare strahlt auf den Gläubigen zurück, sondern das Gefühl des Glaubens verleiht einem Ereignis in der Welt eine absolute Bedeutung. Der säkulare Gläubige verleiht selbst die höheren Weihen des Geglaubten.
Der religiöse Glaube lebt in der permanenten Versuchung, zum Hochmut des Fanatismus zu werden. Die ungewisse Erwartung, ob die Seele erlöst oder verdammt wird, verführt zu den apokalyptischen Vorstellungen, in denen der Untergang der Welt mit dem Beginn des Gottesreichs verknüpft wird. Die atheistische Apokalypse wirkt seelenverwandt, unterscheidet sich jedoch grundlegend.[7] Der säkulare Glaube steht vor der Versuchung, den Glauben zu einem privaten Fetisch zu verharmlosen oder ihn zu einem innerweltlichen Bescheidwissen zu verhärten. Der säkulare Glaube führt zur Esoterik oder zum Hochmut der absoluten Gewissheit in weltlichen Belangen.
Die Gefühlslage einer drohenden atheistischen Apokalypse folgt aus dieser Mischung von Privatreligion und innerweltlichem Bescheidwissen. Ihre Gestalt findet sich in so vielen Formen, wie es Individuen gibt, die ihre Meinung und ihr Wollen zur allgemeinen Wahrheit erklären. Die atheistische Apokalypse hat also zwei verschiedene Dimensionen. Zum einen wird damit beschrieben, wie das säkulare Denken sich selbst zum Gott erklärt und darum seine subjektiven Ängste zur allgemeinen Apokalypse vergrößert. Und zum anderen wird damit beschrieben, wie eine Welt ohne Glauben die Zerstörungskräfte der Menschen entfesselt, so dass eine globale Katastrophe vorhersehbar wird.
Die atheistische Apokalypse beschreibt die Seelenlage im säkularen Individualismus, und sie ist eine soziale Dynamik in Konsumgesellschaften. Dadurch, dass sie Stimmung und reales Geschehen zugleich ist, wird sie zu einem schwer fasslichen Phänomen. Darin gleicht sie der christlichen Apokalypse. Doch der Unterschied bleibt kategorisch. Denn der säkulare Glaube bewertet seine apokalyptische Gestimmtheit nicht als Verfallsform des religiösen Glaubens, sondern er ist noch im Angesicht der Gefahr stolz auf seine Befreiung von der transzendenten Bindung.
Aus diesem Stolz auf die Autonomie entsteht sein blinder Fleck, der ihn nicht sehen lässt, worin seine säkulare Hybris besteht. Was vom Göttlichen zurückstrahlt und so den religiösen Glauben bestimmt, kehrt sich beim säkularen Glauben vollständig in sich selbst und wird zur Selbstverzauberung des Individuums. Ohne die Erinnerung, dass im religiösen Glauben etwas für wahr gehalten wird, das der Mensch nicht begreifen kann, wird der säkulare Glaube zu einer innerweltlichen Gewissheit, die zugleich die Rationalität und das Göttliche beleidigt.
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Das unordentliche Gefühl des Glaubens wurde von Religionen jahrtausendelang geformt und auch deformiert. Das säkulare Zeitalter ist stolz darauf, sich von dieser Zurichtung befreit zu haben. Die Ahnung, dass diese Freisetzung der widersprüchlichen Energien nicht nur gut ist, wird bis heute vom Stolz auf die Befreiung verdeckt. Dabei mehren sich die Anzeichen, dass ein religionsbefreiter Glaube nicht nur harmlos ist. Denn die Glaubenspartikel verbinden sich ohne religiöse Orientierung beliebig mit säkularen Gefühlen und Gedanken. Aus diesen Verbindungen entstehen die neuen heilig-unheiligen Überzeugungen, die das Bild der Moderne bestimmen.
Dabei verhalten sich nicht nur die heilig-unheiligen Überzeugungen widersprüchlich, sondern der säkulare Glaube hat zwei Ausprägungen, die schwer miteinander zu vereinbaren sind. Er stellt zum einen eine Verbindung zwischen weltlichen Wahrheiten und dem Gefühl der absoluten Gewissheit her. Das führt zu den ideologischen Übertreibungen der Moderne, zu denen die apokalyptischen Phantasien ebenso zählen wie die politischen Heilslehren. Und zum anderen stellt er die religiösen Glaubensgefühle unter Verdacht, die Errungenschaften der rationalen Vernunft rückgängig machen zu wollen. Was wie ein Widerspruch wirkt, ist aber das Erfolgsrezept des säkularen Glaubens. Als Splitter sind die Glaubensgefühle willkommen, um den weltlichen Gefühlen eine absolute Gründung zu geben. Doch zugleich wird jeder Versuch, die Glaubensreste um den Kern eines religiösen Glaubens zu versammeln, als Angriff auf die säkulare Vernunft abgewehrt. Im dritten Jahrhundert des Experiments ohne religiösen Glauben ist diese Abwehr von Versuchen, den Glauben an Gott zu binden, so tief verwurzelt, dass der Glaube nicht mehr zur Religion findet.
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Das unordentliche Gefühl des Glaubens ist in der Welt zerlaufen. Dort sind die Glaubenspartikel in zwei Bereichen neue Verbindungen eingegangen. Sie haben sich mit Meinungen zusammengeschlossen, die dadurch zu einem anmaßenden Bescheidwissen verhärtet sind. Und sie haben sich mit den alltäglichen Unsicherheiten verbunden und diese in die Gestalt der privatreligiösen Absicherungen verwandelt.
Das Bescheidwissen zeigt sich in den zahlreichen politischen und weltanschaulichen Fundamentalismen unserer Zeit. Die Unversöhnlichkeit, mit der Widersprüche ausgetragen werden, ist die Erscheinungsweise der Glaubensreste in einer säkularen Welt. Was Eric Voegelin »politische Gnosis« genannt hat, besteht in dem Anspruch auf absolute Wahrheit bei fehlender religiöser Demut. Die ideologischen Heilslehren des 20. Jahrhunderts sind die blutige Konsequenz der politischen Gnosis. Die Glaubenspartikel »Erlösung«, »Paradies« oder »Apokalypse« werden im Mund der falschen Propheten zur Propaganda, die zum innerweltlichen Fanatismus anstachelt. Die folgenreiche Paradoxie der politischen Gnosis liegt darin, mit religiösen Gefühlen zu wuchern, ohne aber die religiöse Dimension anzuerkennen. Die Hybris der falschen Propheten besteht darin, eine irdische Erlösung ins Werk setzen zu wollen, die sich selbst für absolut wahr hält.[8] In der glaubenslosen Gegenwart bewirken die Angstpredigt vor der Apokalypse und die falsche Hoffnung auf Erlösung noch immer das größte Unheil.
Auf der anderen Seite der Glaubensreste stehen die magischen Beruhigungsmittel. Die säkulare Welt betreibt einen riesigen technischen Aufwand, um die Zukunft planbar zu machen. Das Gefühl der Unsicherheit erstreckt sich von den alltäglichen Sorgen bis zur Angst vor dem Weltuntergang. Die Unsicherheit ist der Nachhall der Lebensangst, die Menschen zu allen Zeiten hatten. Seitdem die religiösen Trostformeln gegen die Angst nicht mehr geglaubt werden, arbeitet die moderne Welt an Ersatzprodukten. Versicherungen sollen Sicherheit geben, und ihr Geschäftsmodell besteht darin, dass das Gefühl der Unsicherheit mit jeder weiteren Versicherung wächst. Die Offenheit der Zukunft wird zur trostlosen Bedrohung, wenn menschliches Planen diese Zukunft beherrschen will. Im Handel mit Lebenszuversicht tummeln sich die falschen Propheten der magischen Rettung, die, wenn die Hoffnung noch nicht erloschen ist, leicht zu erkennen wären. Dass sie so regen Zulauf haben, zeigt, wie verzweifelt die Hoffnungslosigkeit die Seelen gemacht hat.[9] Der zersplitterte Glaube führt zum irrationalen Gemüt des Individualismus, Glauben und Aberglauben nicht mehr unterscheiden zu können, da das Selbstbewusstsein die Hoheit über das Geglaubte nicht abgeben mag.
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Wir haben die Fähigkeit des Glaubens in so andere Bahnen gelenkt, dass er zwar manches Mal noch wie ein christliches Leben aussieht, dass diese Ähnlichkeit aber die eines Schattens ist. Die Umrisse der Gestalt mögen noch stimmen, doch es gibt keinen Leib mehr und der Schatten wird im abnehmenden Licht verschwinden. Die Glaubensreste sind zwar in alle Poren der säkularen Gesellschaft eingedrungen, doch sind sie dort nicht mehr als Religion zusammengebunden. Es ist im Gegenteil so, dass die Glaubenspartikel als Verstärker säkularer Gedanken wirken, wenn sie sich in politischen Ideologien stark machen oder wenn sie sich in alltäglichen Ungewissheiten einnisten.
Der eine Gott, der seinen Sohn für die Sünden der Menschen geopfert hat, ist eine Glaubensformel, die in ihrem Anspruch an jeden Einzelnen außerordentlich ist. Ethisches Gebot und Gottesglaube sind im Christentum unlösbar miteinander verbunden. Nächstenliebe und Gottesliebe sind eine Einheit, die größten Anfeindungen ausgesetzt ist. An Gott zu glauben und den Nächsten zu lieben erscheint gleichermaßen unmöglich. Es gibt unzählige Situationen im Leben, in denen die Nächstenliebe als unerfüllbares Gebot erscheint. Und im dritten Jahrhundert des Experiments ohne Gott daran zu erinnern, wirkt wie eine Aufforderung der Vernunft zur Kapitulation: »Während der andere für uns immer tödliche Bedrohung ist, erwartet der Glaubende in einer Regung der Unvernunft davon auch das Leben.«[10]
Die Gnade des Glaubens ist zugleich die Kraft zur Nächstenliebe. Beides ist dem Menschen unverfügbar. Nur wer darum bittet, die Gnade des Glaubens zu empfangen, kann die Kraft der Nächstenliebe finden. Der christliche Gott stellt die höchste Anforderung, denn ein einfaches und doch unerfüllbares Gebot zu befolgen, verlangt vom Gläubigen unendlich viel mehr, als einen Gottesdienst zu feiern, in dem komplizierte Rituale befolgt werden müssen. Die Unverfügbarkeit des christlichen Glaubens folgt nicht aus einem Mysterium, das durch Prüfungen abgeschirmt wird, sondern sie ist in jedem Moment des Lebens präsent, in dem der Nächste mir nicht als ein mir Nahestehender begegnet. Die Unmöglichkeit des christlichen Glaubens ist zu allen Zeiten gleich. Und doch unterscheidet sich die säkulare Zeit grundlegend. Denn nun resultiert die Unmöglichkeit des Glaubens nicht nur aus der Fülle der Begegnungen, die von Lieblosigkeit geprägt sind, sondern sie folgt auch aus der Zersplitterung des Glaubensgefühls.
Religio meint in einer seiner vielen Bedeutungen die Bindung, die alles miteinander verbindet. Ein Glaube ohne die Bindungen der Religion ist ein heimatloses Gefühl, das sich mit beliebigen Ereignissen verbinden kann. Diese Willkür ist in unserer Zeit so üblich, dass wir darin kein Problem erkennen können. Dabei sind die Konsequenzen einer zerbrochenen Religion in zwei Dimensionen gewaltig: Das Gebot der Nächstenliebe wird ohne die Kraft des Glaubens und ohne göttliche Hilfe ein unerfüllbares Gesetz. Und die heilig-unheiligen Bindungen, die die Glaubensreste in der säkularen Welt eingehen, werden zur Gefahr, je radikaler der Individualismus herrscht.
Die Verheerungen des säkularisierten Glaubens zeigen sich heute in allen Lebensbereichen. In jedem einzelnen Ich, das seine Ansprüche mit göttlicher Gewissheit vorbringt, regiert der falsche Prophet eines säkularen Glaubens. Im Politischen verführen die falschen Propheten zur Begeisterung, zu den Auserwählten zu gehören: Die eigene Nation wird zum Werkzeug eines göttlichen Plans. Die eigene Partei wird zum Verkünder der allgemeinen Wahrheit und die eigene Meinung wird zur Inkarnation einer universellen Botschaft. Die Unversöhnlichkeit, die in demokratisch-säkularen Gesellschaften zunimmt, folgt aus den heilig-unheiligen Verbindungen.
Die höchste Verwirklichung des Göttlichen in der säkularen Welt ist das Individuum. Hier werden die Ansprüche des Ich zum Zentrum der Welt. In einer solchen Welt wird der Glaube zur Droge, die die Begeisterung für das Selbst entfacht. Er wird zum Betäubungsmittel, das die Zweifel überdeckt, und zum Anabolikum, durch die das Ego und seine Ansprüche ins Maßlose wachsen. Der Fanatismus, die Anbetung des Menschen und die Selbstvergöttlichung des Ich sind durch einen Abgrund von der religiösen Wahrheit getrennt. Die Zanksucht des Individuums scheint, wollte man sie noch ein letztes Mal theologisch deuten, Gottes Strafe für die vom Glauben Abgefallenen. Den vergöttlichten Individuen droht die atheistische Apokalypse. Der Weg dahin ist mit den Predigten der falschen Propheten gepflastert.
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Glauben ohne Religion ist das Kennzeichen unsere Zeit. Und die Erscheinungen des Göttlichen sind die virtuos ihre Individualität auslebenden Menschen, die sich selbst zum Gott erklärt haben. So finden sich die Glaubensreste überall, und ihr Wirken ist umso negativer, je unbemerkter sie bleiben. Um diese Glaubensreste aufzuspüren, wird im ersten Kapitel »Glaube« an die Geschichte der Säkularisation erinnert. Ihr Verlauf spiegelt den mühevollen Prozess, ohne Religion mit dem Glauben einen Frieden zu finden. Wie oft diese Absicht im Unheil endete, ist nach dem blutigen 20. Jahrhundert mit seinen ideologischen Heilslehren wohl jedem präsent.
Im zweiten Kapitel »Hoffnung« werden die Glaubensreste betrachtet, die keine Hoffnung mehr haben. Hier stößt man auf die Trümmerberge des Nihilismus und seine panisch-verzweifelten Versuche, im großen Nein der Revolte ein Gefühl der Verbundenheit zu erhaschen. Und hier begegnen uns die menschenleeren Kirchen und ihre Priester, deren skeptische Hoffnung nicht mehr den Schwund an Glaubenskraft aufwiegen kann und darum an der Lösung jeder Bindung mitwirkt.
Im dritten Kapitel »Liebe« werden die Glaubensreste, die sich von der Liebe abgelöst haben, betrachtet. Ohne Liebe zu leben, bedeutet, nicht mehr im Paradies zu leben. Hier stößt man in das traurigste Kapitel der Glaubensuntauglichkeit vor. Die Einsamkeit des Individuums hatte Kierkegaard in der Krankheit zum Tode bereits am Beginn des säkularen Zeitalters diagnostiziert. Doch die Dimension dieser Krankheit wird erst im vollends entwickelten Individualismus des 21. Jahrhunderts offenbar. Wenn Individualismus bedeutet, Ansprüche zu haben und sie für berechtigt zu halten, ist das Ressentiment die notwendige Reaktion einer Seele, die ihre Ansprüche für nicht befriedigt erachtet. Die Selbstvergöttlichung führt in die Hölle des Einzelnen, der sich von Welt, Gott und Menschen gekränkt fühlt.
Im letzten Kapitel schließlich soll zwei Augenaufschläge lang ein hoffnungsvoller Blick aus der verzweifelten Gegenwart gewagt werden. Die anspruchsvolle Mühe des französischen Soziologen Bruno Latour, die Sprache des Christentums wieder zum Leben zu erwecken, provoziert den Intellekt. Und die sich selbst in Demut übenden Gedanken einer Glaubensschwachheit widersprechen dem säkularen Hochmut oder ergänzen – je nach religiöser Stimmung – die Hoffnung, durch geistige Anstrengung zum Glauben zu finden. Ob wir wirklich nach dem Paradies leben und was das bedeuten könnte, wird zum Schluss von einer jüdischen Geschichte aus der Tradition der Mystik beantwortet.
Glauben heißt immer: jemandem etwas glauben.
Josef Pieper[11]
Glauben unterscheidet sich vom Wissen und von der Meinung. Das Wissen hat valide Gründe, warum es etwas für wahr hält. Die Meinung ist sich einer Sache sicher, auch wenn sie dieses nicht hinreichend begründen kann. Der Glaube hingegen weiß nicht und ist doch gewisser als die Meinung. Sowohl Meinung wie Glaube können sich ihrer Schwäche bewusst bleiben oder sich zur fanatischen Gewissheit verhärten. Doch allein der Glaube gründet darauf, eine Beziehung zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten zu stiften. Josef Pieper findet für diese Kraft, die sich über die Immanenz hinaus in die Transzendenz wagt, eine anschaulich weltliche Übersetzung. So wie der religiöse Glaube sich über das, was Menschen wissen können, in den Bereich des Göttlichen hinaus erstreckt, so stiftet der Glaube auf Erden ein Band zwischen der inneren Unendlichkeit der einen Seele mit einer anderen Seele.
Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber hat auf diese Besonderheit des Glaubens verwiesen, als er die zwei Arten des Glaubens unterschieden hat.[12] Der griechisch-christliche Glaube meint ausschließlich das Fürwahrhalten von Sätzen, während der jüdische Glaube das Vertrauensverhältnis zu Gott beansprucht. Josef Pieper widerspricht hier, indem er auch für den christlichen Glauben das Verhältnis zwischen Gott und Mensch zur Grundlage des Glaubens macht.
Glauben ist immer ein Fürwahrhalten von etwas, das jemand mir mitgeteilt hat. Ich kann nicht einer Blume glauben oder dem Sternenhimmel. Ich kann über beide sehr vieles wissen, und bei der Produktion des Wissens über sie sind sie meine wichtigsten Helfer. Will ich ihnen hingegen glauben, schreibe ich der Natur oder dem Kosmos Eigenschaften zu, die sie zu Akteuren mit einem eigenen Willen machen. Ich kann also nur jemandem glauben, mit dem ich in einem Verhältnis zwischen Ich und Du stehe.
Es gibt aber noch einen weiteren Unterschied zwischen dem Wissen und dem Glauben. Niemand muss glauben, und es gibt keine zwingenden Beweise, die den Glauben notwendig machen. Zu glauben ist immer eine freie Entscheidung. Wer hingegen in den Kategorien der Vernunft denkt, der muss ihren logischen Schlüssen folgen. Es ist keine Glaubensfrage und es ist auch keine Frage der freien Entscheidung, ob zwei mal zwei vier ergibt. In Glaubensfragen gibt es diesen Zwang der Logik nicht. Wer glaubt, könnte nicht glauben oder an etwas anderes glauben. So zumindest denkt es der Ungläubige. Die Freiheit des Glaubens ist aber nur solange existent, wie noch nicht geglaubt wird.
Es gibt aber nicht nur zwei Arten zu glauben, wie Martin Buber meint, sondern im Glauben sind zwei verschiedene Dimensionen verborgen. Zum einen ist mit dem Glauben eine menschliche Fähigkeit gemeint, und zum anderen wird im Glauben etwas vorgestellt, an das geglaubt wird. Im Englischen gibt es für diese unterschiedliche Bedeutung zwei verschiedene Worte: faith bedeutet glauben im Sinne von Vertrauen, und believe bedeutet glauben im Sinne eines religiösen Glaubens an Gott. Ein Für-wahr-Halten im Vertrauen und das Für-wahr-Gehaltene im Glauben sind verschieden und müssen im religiösen Glauben zusammenfinden.
Im deutschen »glauben« ist dieser Unterschied bereits in der Sprache aufgehoben. An jemanden zu glauben, vertrauensvoll gläubig zu leben oder an Gott zu glauben und dann im Glauben zu leben, diese verschiedenen Existenzweisen sind sprachlich nur mit Mühe zu differenzieren. Der Vorzug dieses Ein-Wort-Glaubens besteht darin, dass sogar in den säkularen Glaubensanstrengungen, wie sie sich im Vertrauen finden, noch die religiöse Dimension des Glaubens im Sinne eines Bekenntnisses mitschwingt.
Schaut man hingegen dorthin, woran im believe geglaubt wird, so werden die Unterschiede, die im Ein-Wort-Glauben aufgehoben scheinen, gewaltig. An einen Gott zu glauben, ist ein kategorisch anderes Für-wahr-Gehaltenes als an sich selbst oder den wissenschaftlichen Fortschritt zu glauben. Und noch schwieriger wird es, wenn man bedenkt, dass das Für-wahr-Gehaltene-Göttliche des believe nicht zu allen Zeiten das gleiche meint. Der Umbau des heidnischen Glaubens in der Antike zum christlichen Glauben war gewaltig. Der vor-christliche Gläubige empfand sich als Teil des Kosmos, der von zahlreichen Gottheiten beseelt war. Seele und Götterhimmel standen miteinander in Resonanz. Der Monotheismus zerbrach dieses Einheitsgefühl und ersetzte es im christlichen Glauben durch einen Gott, der seinen Sohn für die menschliche Schuld geopfert hat. Aus dem erstrebten Gleichklang von Seele und Kosmos wurde ein komplexes Verhältnis zwischen dem einen Gott und jedem einzelnen Menschen.
Das Geheimnis des believe besteht darin, dass das Vertrauen-Können sich auf eine transzendente Dimension hin erstreckt. Schaut man mit ungläubigen Augen auf das believe, so wird das darin geglaubte Göttliche zu einem Produkt, das das menschliche Vertrauen (faith) selbst hergestellt hat. Schaut man hingegen mit gläubigen Augen darauf, so strahlt das Göttliche so stark auf den Gläubigen zurück, dass sich die Frage, ob es Gott geben kann, nicht stellt. Nach dreihundert Jahren, in denen ein Leben ohne transzendenten Glauben geübt werden sollte, erscheint aber auch diese Rückwirkung des Göttlichen nicht mehr anders denn als eine menschliche Projektion. Der Glaube wird zu einer raffinierten Art der Selbstüberlistung. Man glaubt an etwas, von dem man vergessen will, dass man es selbst herbeiphantasiert hat.
Die Folgen der Säkularisation sind allgegenwärtig. Eine Kraft, die im Monotheismus gebündelt und in der zugehörigen Konfession geformt worden war, ist zu einer diffusen Energie geworden, die in allen Lebensbereichen vorhanden und unsichtbar zugleich ist. Diese säkularisierte Existenzweise des Glaubens ist das Kennzeichen aufgeklärter Gesellschaften. Sie betrifft nicht nur die Glaubensinhalte, sondern ebenso sehr die Glaubensfähigkeit.
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Im philosophischen Denken finden sich zwei Argumentationen, die typisch für die säkulare Haltung zum Glauben sind. Auf der einen Seite wird die Unverfügbarkeit des Geglaubten zur Prüfung des Wissens gemacht, und auf der anderen Seite soll die Grenze der Vernunft zur Begründung des Glaubens werden.
Die Formel für die Prüfungen der Unverfügbarkeit lautet: Credo quia absurdum. Ich glaube, weil es absurd ist. Der Kreuzestod und die Wiederauferstehung widersetzen sich dem menschlichen Denken. So wird die Anerkennung von Tod und Wiederauferstehung zu einer Prüfung des Hochmuts. Nur wer seine Rationalität in diesem Punkt zu überwinden versteht, der findet zum Glauben. Ein solcher Glaube verwischt aber den Unterschied zwischen der Demut und der Demütigung. Wenn der Glaube nur durch eine Demütigung des rationalen Denkens erfahren werden kann, so zielt seine Tendenz zwar in die göttliche Richtung, doch ist sein Mittel folgenreich für das Leben des Gläubigen. Denn was soll aus dieser grundlegenden Demütigung folgen? Eine Genügsamkeit allem Gegenüber, was den Verstand zu übersteigen scheint? Und wie soll die Grenze zwischen dem Verstehbaren und dem Nichtverstehbaren gezogen werden?
Die zweite säkulare Auflösung des Glaubensparadoxes ist ähnlich folgenreich. Hier wird die Grenze des Verstehens zum Indiz des Glaubens. Auch diese Bewegung geht Schritte in die Richtung des christlichen Glaubens, doch weicht ihr Weg ebenfalls in einem zentralen Punkt davon ab. Die Erinnerung an die Grenzen der Vernunft gehört zum Wesen der Aufklärung wie des Glaubens. Doch je nachdem, von welcher Seite diese Grenze bestimmt wird, nimmt sie einen anderen Verlauf und hat eine andere Bedeutung. Der Glaube zieht die Grenze aufgrund seiner Erfahrung des Göttlichen. Sie ist lebendige Achtung vor der Schöpfung. Der Gläubige steht auf der Seite der Grenze, die seinem Geist verständlich ist, doch tastet seine Seele auf die andere, unverfügbare Seite und erhofft sich von dort eine Berührung.
Die Rationalität steht ebenfalls auf der Seite der Vernunft, schaut aber in die entgegengesetzte Richtung. Sie zieht die Grenze entlang ihres Wissens und steht dann mit dem Rücken zur Grenze der Transzendenz. Von dort aus richtet sich ihre ganze Aufmerksamkeit auf das, was sie wissen kann. Hinter ihrem Rücken, dort wo das Nichtverstandene beginnt, soll Gott wohnen. Seine vermutete Anwesenheit ist keine Frage, die ins Offene zielt, sondern die beruhigende Versicherung, dass auch hinter dem Rücken der Rationalität noch alles in Ordnung ist. Der Glaube wird zu einer Funktion der Rationalität, die ihre Widerspruchsfreiheit nur dadurch sicherstellen kann, dass sie die Transzendenz in einen von Vernunft umhegten Bereich verwandelt. Das Göttliche wird zu einer psychischen Funktion, die dem weltlichen Ordnungsbedürfnis dient. Wird Gott als Prothese für die Defekte des menschlichen Geistes gedacht, ist es wiederum naheliegend, Gott als Projektion für die unerlösten Wünsche und unlösbaren Fragen (Kant und Feuerbach), als Manipulationsmittel der Macht (Marx), als Symptom einer Neurose (Freud) oder als sterbliche Idee (Nietzsche) zu erklären.
In beiden Fällen – der Absurdität und der rationalen Unverfügbarkeit – schafft das säkulare Denken ein Bild des Glaubens, das seinem Nichtglauben entspricht. Im Fall der Absurdität wird der Glaube als eine selbstbewusste Leistung in der Unterwerfung vorgestellt, und im Fall der Transzendenz, die als vernünftige Erklärung für das Unerklärliche dient, wird der Glaube zu einem vorläufigen Sachwalter der Rationalität, der so lange geduldet wird, bis die Wissenschaft auch diese Rätsel gelöst haben wird. Beide Antworten zeigen, wie der säkulare Geist den Glauben zu einer Funktion innerhalb der weltlichen Vernunft gemacht hat.
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Die Unterscheidung in »Vertrauen« – als der psychologischen Seite des Glaubens – und »Religion« – als der Ausformulierung in Erzählungen, Ritualen und Sakramenten – war lange hilfreich. Doch im dritten Jahrhundert der Säkularisation ist diese Unterscheidung oft nur noch ungenau zu treffen. Der Glauben an sich selbst und der Glauben an Gott sind in säkularen Seelen zur wundersamen Gestalt des Individualismus verschmolzen, der in einem endlosen Gespräch über Gott und die Welt verfangen ist. In der unbeantwortbaren Frage, ob es einen Gott gebe oder alles doch nur eine von Naturgesetzen organisierte Materie sei, entfacht sich das innere Zerwürfnis immer wieder neu.
Ich halte diese Diskussion für erschöpft. Es stehen sich zwei Haltungen gegenüber, die beide für sich gute Argumente anführen können. Doch keines der Argumente reicht für den letztgültigen Beweis von Existenz oder Nichtexistenz Gottes. Die Atheisten können mit den Naturgesetzen vieles erklären, aber den Ursprung des Universums und die Existenzweise der subatomaren Materie müssen sie bis heute als Geheimnis respektieren. Ebenso entzieht sich Gott, da er allen sinnlichen Wahrnehmungen und allen menschlichen Gedanken gegenüber transzendent ist, der Beweisbarkeit.[13] Die Atheismus-Debatte ist bis zur Entdeckung neuer Beweise in den Naturwissenschaften oder bis zum Jüngsten Gericht vorläufig beendet.[14] Sie immer wieder zu führen verfehlt die Bedeutung der Glaubensreste in unserer Zeit. Die entscheidende Frage ist nicht, ob es Gott gibt oder nicht, sondern es hat um die unverstandenen Gestalten der vielen seelischen Regungen zu gehen, in denen die Sehnsucht nach der absoluten Gewissheit mit der Skepsis der rationalen Vernunft verschlungen ist.
Offenbar wußte Gott nicht mehr, was er mit dieser alten Welt anfangen sollte. Er wollte etwas Neues, und um damit zu beginnen, war ein Napoleon nötig.
Leon Bloy[15]
Napoleon war nicht nur der glücklose Eroberer Ägyptens, wo er die Unterwerfung der muslimischen Welt unter ein säkulares Europa einleitete, die bis heute ihre Nachwehen hat. Und seine Beutezüge entflammten nicht nur eine christliche Begeisterung für die exotischen Kunstschätze der Pharaonen, in deren Folge die Hieroglyphen entziffert und der Orient zum Sehnsuchtsort überspannter Europäer wurde. Sondern in Napoleon kristallisiert sich auch der Wendepunkt der christlichen Säkularisation, nach dem es kein Zurück in den Glauben des Mittelalters mehr geben konnte.
Hegel erfasste in seinem berühmten Satz »was nicht mehr begriffen werden kann ist nicht mehr«[16] die Notwendigkeit des nahenden Endes des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation. Die neue Macht Napoleons ließ 1806 das christliche Alte Reich aus der europäischen Ordnung verschwinden. Hegels Satz weist auf die zwei Dimensionen hin, die jedes politische Geschehen hat. Eine Ordnung besteht nicht nur aus Steinen und Verträgen, sondern sie braucht auch eine Legitimation in den Seelen. Wenn niemand mehr daran glaubt, können weder Waffen noch Appelle den Zusammenbruch aufhalten. Napoleon war für Hegel ein welthistorisches Individuum, da er vollzog, was allgemein bereits gefühlt wurde. Das Alte Reich, das seit seiner Gründung im Jahre 800 die christliche Nachfolge des Römischen Reiches beanspruchte, war nicht nur militärisch den napoleonischen Armeen unterlegen, es war auch zu einer Hülle ohne Inhalt geworden.
Das Ende des Heiligen Römischen Reiches steht symbolisch für den Beginn des Zeitalters der Säkularisation. Als juristischer Begriff meinte »Säkularisation« die Enteignung von kirchlichem Besitz und seine Überführung in weltliche Belange. Aus Klöstern wurden Internate, Gefängnisse oder Krankenhäuser, und die kirchlichen Liegenschaften wurden Fürsten oder staatlichen Verwaltungen überstellt. Im Reichsdeputationshauptschluss, dem letzten Rechtsakt des Alten Reiches, wurde bestimmt, dass die Fürsten für ihre linksrheinischen Verluste an Frankreich durch Kirchenbesitz entschädigt werden sollten. Da das Heilige Römische Reich sowohl die weltliche wie die kirchliche Macht vorstellte, konnte es in einem letzten Willen vor seinem Ableben seine Fürsten mit dem Eigentum der Kirche entschädigen. Als dieses vollzogen war, löste sich das tausend Jahre währende Reich mit einer Unterschrift des letzten Kaisers Franz II. selbst auf.
Die geopolitische Revolution führte nicht nur zur Neuordnung Europas, sie machte auch den mühsamen Weg zu den säkularen Gesellschaften frei. Toleranz zwischen den beiden Konfessionen des Christentums und eine Emanzipation individuellen und staatlichen Handelns von kirchlichen Obrigkeiten gelten seitdem als Treiber der Modernisierung. Die Auswirkungen der juristischen Seite der Säkularisation sind bis in unsere Gegenwart im deutschen Finanzsystem spürbar. Als Kompensation für die verlorenen Besitztümer erhalten die Kirchen bis heute Staatsleistungen, die als nicht unbeträchtliche Zahlungen zusätzlich zu den Einnahmen aus der Kirchensteuer fließen. Doch die kulturellen und seelischen Folgen der Säkularisation sind ungleich komplexer und weitreichender.
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Schaut man auf die Seite der Umverteilung kirchlichen Besitzes, ist der Unterton des Verfalls, der im Wort von der Säkularisation mitschwingt, von der realen Eigentumsverteilung nicht ausreichend gedeckt. Kirchensteuer und Staatsleistungen sichern bis heute den Reichtum der christlichen Kirchen in Deutschland. Und es erscheint nicht unwahrscheinlich, dass die inzwischen zweihundert Jahre währenden Zahlungen den enteigneten Besitz vielfach ersetzt haben. Betrachtet man die Enteignung der Kirchengüter hingegen unter Aspekten der christlichen Ethik, so erscheint die Säkularisation sogar als Ausweg aus einem jahrhundertelangen Irrweg. Der Verzicht auf weltlichen Reichtum gehört zu den Kernforderungen der jesuanischen Botschaft. Seine Aussage, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe als ein Reicher in den Himmel, predigt Verzicht.
Der Reichtum und die weltliche Macht vor allem der katholischen Kirche stehen auch innerreligiös unter dauerndem Rechtfertigungsdruck. Die Bettelmönche der Franziskaner und andere Bußprediger, die zum Ende des Mittelalters eine Abkehr von den Sünden des Reichtums forderten, waren schon lange vor dem Zeitalter der Säkularisation laute Gegenstimmen zur Amtskirche. Doch entgegen allem religiösen Protest mehrte und verteidigte die Kirche ihren Besitz über die Jahrhunderte. Denn auch für die Bewahrung des weltlichen Reichtums konnte man theologische Gründe anführen.
Das Christentum ist keine Askese-Religion, die allein im Jenseits eine Erlösung der Seelen verspricht. Das irdische Leben gehört ebenso zum göttlichen Heilsplan. Der Gottessohn starb als Mensch unter Qualen am Kreuz und konnte als Gott wiederauferstehen. Diese zwei Seinsweisen des Erlösers bilden das Fundament des christlichen Glaubens. Seit den urchristlichen Gemeinden gehört die Wohltätigkeit für die Armen zum Kern christlicher Nächstenliebe. So gründeten sich die Kirchen nicht nur als Ort der heiligen Messe, sondern die Kirche entstand als Struktur einer Verwaltung von Spenden und ihrer Verteilung an die Gemeinde. Kirche bedeutet im christlichen Glauben immer das Haus aus Stein und die Ordnung der Seelen in der Institution der Kirche. In der doppelten Aufgabe, den Schatz im Himmel mehren und die Not auf Erden lindern zu wollen, entwickelte sich das Geflecht von Reichtum und politischer Macht, das über tausend Jahre wachsen konnte und erst in der militärischen Neuordnung Europas zerschlagen wurde.