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Wutbürger und ihre empörten Schwestern bestimmen den Alltag. Desintegrierte fühlen sich beleidigt, Aktivistinnen sind entsetzt über die Langsamkeit der demokratischen Prozesse, und in den sozialen Netzwerken toben die Erregungsvirtuosen. Je stärker die Zersplitterung der Gesellschaft voranschreitet, desto mehr Gruppen und Individuen kämpfen um die knappe Ressource Anerkennung. In der Spätmoderne ist die Politik der Kränkung beherrschend geworden. Wut ist eine allen Menschen vertraute Emotion und ihre individuelle und gesellschaftliche Einhegung ein mühsamer Lernprozess. Ist die Wut grenzenlos, droht der gesellschaftliche Kollaps. Erlahmt sie, droht Stillstand. Bernd Stegemann zeigt in seinem brillanten Essay, wie eine Wutkultur die Balance zwischen Produktivität und Negativität finden muss, damit wir in den Stürmen des 21. Jahrhunderts nicht untergehen.
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Seitenzahl: 85
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Bernd Stegemann
Einleitung
Die profane Wut und der heilige Zorn
Wut, das doppelschneidige Schwert
Die Wut der Täter
Achtung, Verachtung und Anerkennung
Klasse versus Identität
Rechte Identitätspolitik
Postnationale Wut
Die Wut der Opfer
Wütende zuerst
Die neuen Pietisten
Woke Wut
Wutkultur, die wütend macht
Anmerkungen
Biografie
Impressum
Wer kennt sie nicht, die alltäglichen kleinen Explosionen der profanen Wut? In der langen Kassenschlange verliert plötzlich jemand die Nerven. Zornig ruft er etwas Richtung Kasse und verlässt schimpfend das Geschäft. Seine Einkäufe bleiben zurück, und ich frage mich, wie wütend er erst zu Hause sein wird, wenn ihm die Lebensmittel fehlen. So beruhige ich mich selbst mit dem eingeübten Mantra, dass die kleine Genugtuung durch die öffentlich zur Schau gestellte Wut ein zu geringer Gewinn ist gegenüber dem Schaden, ohne Einkäufe zurückzulaufen. Schwieriger wird dieses Mantra, wenn noch das Gefühl der Ohnmacht hinzukommt, etwa wenn ich in einer Telefonwarteschleife hänge oder in einem Zug sitze, der sich von Station zu Station immer mehr verspätet. Aber auch hier gilt, wer das Warten nicht erträgt und aussteigt, wird auf Auskunft oder Ankunft verzichten müssen. So durchläuft der durchschnittliche Bewohner der modernen Welt regelmäßig das älteste aller menschlichen Emotionsmuster: Er wird wütend.
Die profane Wut ist die kleine Schwester des heiligen Zorns. Der normale Bürger wird wütend. Helden dagegen ergreift der Zorn. Der Zorn des Achill, der in der „Ilias“ geschildert wird, entzündet sich an der Kränkung durch Odysseus. Und sein Zorn treibt ihn zu den Heldentaten, an deren Ende seine Selbstzerstörung steht. Dass der Zorn zu den edlen Teilen des Seelenlebens gehören soll, geht auf Platon zurück. Er unterscheidet zwischen dem erkennenden Teil, dem begehrenden Teil und eben dem zornigen Teil der Seele. Der Thymos, wie er auf Altgriechisch heißt, ist für das Streben nach Anerkennung verantwortlich. Wer sich in seinem Wert als Mensch verletzt fühlt, in dem erwacht der Thymos. Und wer die Werte seiner Gemeinschaft bedroht sieht, in dem soll der Thymos erwachen, um in ihrem Namen in den Kampf zu ziehen. Schon hier zeigt sich die Doppelgesichtigkeit des Zorns. Er ist eine fundamentale Energiequelle, durch die der Mensch seinen Selbstwert verteidigt. Und genau diese Energie kann die Ursache von Zerstörungen werden, die weit über den eigentlichen Anlass hinausreichen. Im Zorn kann der Mensch nicht nur über sich selbst hinauswachsen, sondern auch blind und maßlos werden. Es braucht den Thymos, um Gefahren vom Menschen und seiner Gemeinschaft abzuwehren, und zugleich muss der Thymos eingehegt werden, damit er nicht den Menschen selbst oder seine Gemeinschaft zerstört. So entstehen seit der Antike immer neue Zornkulturen, die das Feuer des Thymos zugleich anheizen und eindämmen sollen.
Die bis heute prägnanteste Beschreibung für die psychologischen Ursachen des Zorns hat Aristoteles gegeben: Zornig wird, wer Mangel leidet und dessen Mangel man Geringschätzung entgegenbringt.1 Es wird als kränkend empfunden, wenn das eigene Leiden nicht gesehen wird. Die Ursache des Zorns liegt also in einem Mangel an Anerkennung. Seinen Ausdruck kann er in verschiedenen Varianten finden. In der antiken Heldenerzählung wird der Thymos als eine Öffnung der Seele für das Göttliche begriffen. Der Zornige durchläuft eine Verwandlung, die ihn über ein menschliches Maß hinausführt. Im Zorn des Achill bricht eine Kraft hervor, die je nach Interpretation entweder seine tierische Seite hervortreten lässt oder das spezifisch Übermenschliche bedeutet: Achill, das Vieh, oder Achill, der göttergleiche Held.
Die Verwandlung des zornigen Menschen verläuft seitdem in unterschiedlichen Bahnen. Sie kann bewusst herbeigeführt werden oder sie ist eine Passion, die erlitten wird und gegen die der Mensch machtlos ist. Je nach Tradition wird der Zorn zu einer außermenschlichen Macht, die den Menschen überfällt und in ein blindwütiges Rasen versetzt. Oder der Zorn ist ein Zustand, den es planmäßig herbeizuführen gilt, um die gestörte soziale Ordnung wiederherzustellen. Die Doppelgesichtigkeit des Zorns besteht also darin, dass der Zorn über den Menschen verfügt, weil er das Göttliche oder Tierische in ihm hervorbringt, und der Mensch über den Zorn verfügt, da er diese maßlose Energie absichtlich provozieren kann. So zeigt der Zorn, dass der Mensch einen Zugang zur Transzendenz hat und zugleich nicht hat, weil er bewusst hergestellt werden kann.
In der Aufwallung des Zorns vollzieht sich die Bewegung zwischen der göttlichen und der menschlichen Seite oft als zeitliche Abfolge. Wenn ein bestimmter Punkt überschritten ist, übernimmt der selbst erzeugte Zorn die Herrschaft über den Menschen und kann von ihm nicht mehr beeinflusst werden. Der Mensch hat sich nun durch seinen Zorn selbst verzaubert. Er ist blind vor Zorn. Dieser Umschlag hat in den postmodernen Wutkulturen unserer Zeit eine wichtige Funktion bekommen. Inmitten der Haltlosigkeit des Relativismus wird die Selbstverzauberung des Wütenden als neues Fundament anerkannt. Aus der kleinen Wut wird der heilige Zorn, aus dem Wütenden in der Kassenschlange wird ein Rebell gegen das verrottete System, und aus der Ohnmacht in der Komplexität der Widersprüche wird der klare Blick des Thymos, der die Welt in Freunde und Feinde scheidet.
Die antike Thymos-Philosophie begründete eine Hierarchie zwischen dem edlen Zorn und der alltäglichen Wut. Der Zorn braucht die großen Fragen der Anerkennung, um zu erwachen, die kleinen Provokationen ignoriert er. Die Wut hingegen steht als permanente Drohung hinter jeder kleinen Verzögerung, die der Alltag in der Moderne bereithält. Etwas funktioniert nicht, der Lebensfluss wird gehemmt, die kostbare Zeit verrinnt, und das gehetzte, nervöse Subjekt wird wütend. Die Wut lauert an jeder Straßenecke, wo das chaotische Leben eine Blockade errichtet hat. Sei es nur die Ampel, die zu früh auf Rot springt, oder sei es der Knopf, der von der Jacke fällt, die endliche Lebenszeit erfährt unentwegt empfindliche Stöße, in denen die Brüchigkeit der Existenz aufscheint.2
In der Moderne wird der Wechsel von beschleunigtem Leben und störenden Blockaden zur alltäglichen Erfahrung. Wir leben häufig in der Spannung zwischen einem andauernden Alarm und einer gleichzeitigen Hemmung unseres Lebensflusses. Man muss schnell zur Arbeit, wartet jedoch eine Ewigkeit auf den Zug, die grüne Ampel oder die immer zu langsamen Verkehrsteilnehmer. Alle Hemmnisse werden als Kränkung der eigenen Existenz verstanden, aus der die Wut über die Missachtung der eigenen Bedürfnisse entsteht.
Doch die menschliche Psyche hält noch ein weiteres unendliches Reservoir von Wutanlässen bereit: Wer zusehen muss, wie eine Gruppe gewalttätiger Männer einen wehrlosen Menschen überfällt, wird eine wachsende Wut in sich spüren. Die Wut, die sich einstellt, wenn ein ungerechtes Geschehen beobachtet wird, ist allgegenwärtig und machtvoll. Schon kleine Kinder haben ein feines Sensorium für Ungerechtigkeiten, auf die sie mit Wut reagieren. Die Fähigkeit, fremdes Leid fühlen zu können, gehört zum Fundament des sozialen Wesens „Mensch“. Die Beobachtungswut ist so tief verwurzelt, dass sie sogar dann entsteht, wenn man weiß, dass man nur einem fiktionalen Geschehen beiwohnt. Theater, Roman und Film beziehen einen großen Teil ihrer Faszination aus der Zuschauerwut über ungerechte Handlungen.
Der Zeitgenosse erlebt also eine Inflation von alltäglichen Wutprovokationen und führt sich als Zuschauer noch regelmäßige Dosen von wutstiftenden Ereignissen zu. Der heilige Zorn und die profane Wut gehen dabei oft eine gefährliche Mischung ein, die zum Kennzeichen von Massengesellschaften geworden ist.
Jede Wutkultur steht vor der dialektischen Herausforderung, dass die Wut zu den elementaren menschlichen Energien gehört und dass sie zugleich die größte Gefahr für das Miteinander bedeutet. Ohne die Wut wäre kein soziales Leben möglich, zugleich ist sie die Hauptursache für gewalttätige Konflikte. Das nervöse Leben in modernen Gesellschaften verschärft dieses Problem, da die permanente Überforderung aufgrund der Geschwindigkeit und Vielfalt der Lebensvollzüge zu einer viel größeren Reizbarkeit führt. Die Selbstregulierung der Wut, die jeder einzelne Mensch alltäglich leisten muss, gehört zu den größten Herausforderungen unserer Zeit. Zugleich gehört die massenhaft vorgetragene Wut zu den wirkungsvollsten Aufmerksamkeitsquellen, über die eine Gesellschaft verfügt.
Wer diese Wut anzustacheln versteht, erfährt Aufmerksamkeit. Und wer diese Wut zu lenken weiß, bekommt Macht über die Menschen. Wut wird zu einem Wert, der bewirtschaftet wird. Die alltäglichen Wutereignisse bilden ein unerschöpfliches Reservoir, aus dem sich die strategischen Wutmanager bedienen können. Das antike Wechselspiel des göttlichen Zorns, das zwischen tragischer Zerstörung und gelungener Selbstregierung verläuft, wird in der alltäglichen Wut zu einer inflationären Energie. Die wütenden Massen sind die Naturgewalt der Moderne. Sie anstacheln und in Marsch setzen zu können ist die Macht der populistischen Politik.
Die Überlebensfähigkeit einer Zivilisation hängt davon ab, ob ihre wuthemmende Kultur mit den Anlässen der Wut einen Ausgleich findet. Schränkt sie die Wut zu sehr ein, so ersticken die Menschen an den Zwängen und die gesellschaftliche Entwicklung stagniert. Dieses Schicksal haben die sozialistischen Staaten des Ostblocks erlitten. Die staatlichen Institutionen sind wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen, weil es zu wenige gab, die mit Überzeugung und Leidenschaft für sie eintreten wollten. Auf der anderen Seite des Spektrums stehen die Gesellschaften, in denen es ein Übermaß an wütenden Massen gibt. Hier reicht manchmal eine einzelne individuelle Empörung, um einen allgemeinen Aufstand loszutreten. Die Selbstverbrennung des Markthändlers in Tunesien, der die Schikanen der korrupten Polizei nicht länger ertragen konnte, löste den Arabischen Frühling aus.
Die Balance zu finden zwischen einer gelähmten Gesellschaft und einer Welt in permanentem Aufruhr ist die Aufgabe der Wutkultur. In jeder Epoche ist sie dabei vor gänzlich neue Herausforderungen gestellt. Die Kränkbarkeit des Menschen bleibt gleich, doch die Ursachen seiner Kränkungen und die Mittel, mit denen sie vergrößert oder eingehegt werden können, unterscheiden sich voneinander. Die Moderne hat in den befriedeten Gesellschaften Mitteleuropas und der USA eine komplizierte Variante der Wutkultur erschaffen. Deren Betrachtung lohnt, weil sich die Anzeichen mehren, dass die Balance empfindlich gestört sein könnte.
Die Wut, die keinen Weg in die Welt findet, vergiftet den Menschen. Aus diesem Gift entsteht das Ressentiment. Das Leben hält für jeden von uns zahlreiche Kränkungen bereit und setzt dem Wollen permanent Widerstände entgegen. Es bietet unzählige Anlässe, wütend zu sein, und ebenso viele Blockaden, warum diese Wut nicht geäußert werden kann. Die Angestellte, die jeden Arbeitstag einen Chef erdulden muss, der seinen Launen freien Lauf lässt, weil er sich so besser fühlt, muss einen Weg finden, diese Übergriffe wegzustecken. Ihre Wut nimmt sie in den allermeisten Fällen mit nach Hause, wo sie dann versuchen muss, nicht sich selbst oder ihre Familie damit zu vergiften. Ihre Rachefantasien, geplanten Kündigungen oder Streitereien sind die Symptome ihrer Selbstvergiftung.