Bernsteinküsse schmecken salzig - Astrid Zingler - E-Book
SONDERANGEBOT

Bernsteinküsse schmecken salzig E-Book

Astrid Zingler

0,0
3,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Sandra glaubt es kaum: Sie erbt eine alte Villa auf Usedom. Noch dazu von einer Großtante, die sie nicht einmal kannte. Fasziniert macht sie sich auf den Weg zur Ostsee, um herauszufinden, was es mit dieser Villa auf sich hat. Kaum angekommen, fällt ihr buchstäblich der smarte Leonard vor die Füße, Besitzer des schönsten Hotels im Ort. Sein Charme und Einfühlungsvermögen lassen ihr Herz schnell dahinschmelzen. Doch als ihre Gefühle für Leonard immer intensiver werden, findet sie heraus, dass ihre beiden Familien viel enger miteinander verbunden sind, als es gut für sie ist. Anscheinend haben die Männer seiner Familie schon immer versucht, die Villa in ihren Besitz zu bringen. Mehr als einmal haben sie dabei ihren Charme und ihr gutes Aussehen eingesetzt, um die Besitzerinnen zum Verkauf zu verführen. Hat auch Leonard nichts anderes im Sinn, als auf ihre Kosten sein Hotelimperium zu vergrößern?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
Ende

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ein Ostsee-Roman

 

 

Astrid Zingler

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

© 2022 Astrid Zingler

Layout und Cover: Astrid Zingler

Fotos: canva.com

 

Kontakt:

Astrid Zingler

c/o Werneburg Internet Marketing

und Publikations-Service

Philipp-Kühner-Straße 2

99817 Eisenach

 

 

Sämtliche, in diesem Roman vorkommende Charaktere sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen wären gegebenenfalls rein zufällig.

Eine Vervielfältigung des Inhaltes dieses Buches, auch auszugsweise, ist nicht gestattet.

 

 

 

 

 

Manchmal werden Märchen wahr

-

vor allem auf der Sonneninsel Usedom

 

 

 

 

 

 

 

 

1

 

Mit den Fingerspitzen fuhr Sandra über die Oberfläche der Leiste. Sie war perfekt, keine einzige Unebenheit spürbar. Stolz auf ihre Arbeit bestrich sie die Kanten mit dem Leim, den sie nach altem Rezept angerührt hatte und fixierte die Leiste an der entsprechenden Stelle. Wenn der Leim getrocknet war, würde sie das Holz grundieren und anschließend farblich so passend lasieren, dass für beinahe niemanden zu erkennen sein würde, dass hier überhaupt restauriert worden war.

Wie auf das Stichwort spürte sie eine Bewegung hinter sich. »Das sieht ja schon gut aus«, lobte Jan. Er war der Inhaber und Namensgeber von Kriebels Antik-Paradies. Für ihn arbeitete Sandra seit über fünf Jahren als festangestellte Restauratorin. In letzter Zeit herrschte allerdings eine spürbare Flaute. Vermutlich legten die Leute in wirtschaftlich komplizierten Zeiten weniger Wert auf die Restaurierung alter Erbstücke als früher.

Alte Kostbarkeiten zu erhalten, war für Sandra ein Lebenselixier. Nach ihrer Ausbildung als Tischlerin in demselben Betrieb, in dem auch ihr Vater viele Jahre gearbeitet hatte, war sie auf die Idee gekommen, sich als Restauratorin zu spezialisieren. Schon immer hatte sie ein Auge für Details und fachgerechte Arbeit, auch im Kleinen gehabt. Hier, im Antik-Paradies konnte sie sich ausleben und bisher war es noch nicht einen Tag langweilig gewesen. Zumindest bis vor ein paar Monaten. Denn seit die Geschäfte für Jan schlechter liefen, hatte auch sie weniger zu tun und ließ sich bei den einzelnen Aufträgen mehr Zeit, als schließlich auf der Rechnung für den Kunden angegeben wurde. Es hatte keinen Sinn, sich zu beeilen, wenn es den Rest des Tages Leerlauf geben würde.

»Lasierst du den Rahmen heute Nachmittag noch?« Jan war neben sie getreten und fuhr nun ebenfalls prüfend mit den Fingerspitzen über ihre Arbeit.

»Ja, in zwei Stunden fange ich damit an. In der Zwischenzeit kümmere ich mich noch um das Polster des Louis-Quinze-Stuhls.«

Sie deutete mit dem Kopf nach hinten, in die Ecke der Werkstatt, wo der ehemals hübsche Stuhl mit den geschwungenen Armlehnen darauf wartete, dass man ihm neues Leben einhauchte. Unterdessen nahm sie deutlich den leichten Sandelholzgeruch wahr, der ihren Chef immer zu umgeben schien.

Jan roch nicht nur gut, er sah auch gut aus, mit seinem kurzen, dunkelblonden Haar und den schalkhaft blitzenden braunen Augen. Schon beim Vorstellungsgespräch hatte Sandra sich ein wenig in den Händler verguckt. Aber er war verheiratet, glücklich obendrein, und Sandra dachte nicht im Traum daran, sich in eine intakte Beziehung zu drängen. Außerdem hatte sie nach einer herben Enttäuschung vor knapp drei Jahren die Nase vom anderen Geschlecht noch immer gestrichen voll. Ihr Ex war mit ihrer besten Freundin fremdgegangen.

Schlimmer hatte es nicht kommen können, denn durch Manuels Seitensprung hatte sie nicht nur den Partner, sondern auch noch die Freundin dazu verloren. Enttäuscht hatte Sandra sich in ihre Arbeit vergraben und bisher nur wenig Anlass gesehen, ihre Zeit außerhalb der Werkstatt zu verbringen. Das Schleifpapier und die Sägen, Feilen und Zangen waren ihre Gesellschafter geworden und wenn zwischendurch Jan hereinschaute und ihr zuzwinkerte oder bei einer komplizierten Arbeit zur Hand ging, dann reichte das vollkommen aus, um ihren Tag perfekt zu machen. Das winzige Kribbeln, das sein Erscheinen jedes Mal in ihrem Unterleib verursachte, schaffte sie gekonnt zu ignorieren.

»Ich fahre gleich noch zu einem Kunden«, kündigte er nun an, »achtest du bitte auf die Türglocke?«

»Klar.« Es bestand wenig Gefahr, dass sich die Kunden während seiner Abwesenheit gegenseitig über den Haufen rennen würden. Früher waren die Antiquitätenläden in den Seitenstraßen des Ku‘damms ein Besuchermagnet gewesen, doch heute ließen die Touristenströme das alte Zentrum Berlins meist links liegen und vergnügten sich lieber in Mitte oder Kreuzberg.

»Falls ich nicht rechtzeitig zurück bin, schließ einfach um sechs ab, ja?«

Wieder nickte Sandra und fragte ihn, wohin er denn müsse. Sie war meistens recht wortkarg, doch gegenüber ihrem Chef gab sie sich etwas aufgeschlossener.

»Raus nach Belzig. Jemand hat mir einen kompletten Satz Esszimmerstühle von den De Coene Freres angeboten.«

Okay, das war eine ganze Ecke und wenn der Feierabendverkehr auf dem Berliner Ring dicht war, dann konnte es tatsächlich spät werden, bis Jan zurückkehrte. Aber das war kein Problem: Er vertraute ihr und hatte ihr bald nach dem Ende ihrer Probezeit die Schlüssel für den Laden und die Werkstatt ausgehändigt. Für sie hatte das den Vorteil, dass sie auch am Wochenende herkommen konnte, wenn ihr danach war und er hatte in ihr eine fantastische Mitarbeiterin gefunden, die selbst in ihrer Freizeit fleißig war.

»Dann viel Erfolg.« Diese Art Deco-Stühle waren gerade sehr angesagt in ihrem vorindustriellen Design und wenn sich draußen auf dem Land tatsächlich ein kompletter Satz erhalten hatte, dann war er auf jeden Fall die knappe Stunde Fahrt wert.

Jan legte ihr kurz die Hand auf die Schulter, ehe er sich mit einem knappen Gruß verabschiedete. Schon hörte sie ihn vorne im Laden seine Schlüssel heraussuchen, eine Tür schlug zu und sie war alleine.

Wie so oft in ihrem Leben.

 

 

 

 

 

2

 

Um fünf Minuten nach sechs verließ sie die Werkstatt durch die Hintertür zum Innenhof. Nur ein Kunde war gekommen, der sich angeblich für die feuervergoldeten französischen Kaminuhren im Schaufenster interessiert hatte. Letztendlich waren sie ihm aber wohl zu teuer gewesen. Inzwischen hatte Sandra die Gitter heruntergelassen, alles verrammelt und verriegelt und machte sich auf den Weg nach Hause.

Auf dem Heimweg fuhr sie noch zum Supermarkt, um ein paar Einkäufe zu erledigen. Als Abendessen würde es wie so oft eine Tiefkühlpizza geben, die sie mit etwas frischem Rucola und einigen Tomatenscheiben aufpeppen würde. Beladen mit einer großen Tragetasche in der einen und einem Beutel Äpfel in der anderen Hand, betrat sie den Flur des Mietshauses, in dem sie lebte. Ihre Wohnung lag im dritten Stock und hatte einen Balkon mit Blick auf den Hinterhof. Nichts Tolles, aber immerhin war die Lage ganz gut. Vergleichbare Wohnungen kosteten gerne mal das Doppelte und sie hatte Glück, gleich nach der Ausbildung über die Wohnungsbaugenossenschaft diese zwei Zimmer in Steglitz überhaupt gefunden zu haben.

Im Briefkasten steckte die übliche Werbungszeitung, die ständig ungefragt in den Schlitz gequetscht wurde, auch wenn sie dick und fett einen Aufkleber mit dem Hinweis Keine Werbung darüber geklebt hatte. Missmutig zog sie sie heraus und entdeckte dabei sogar noch echte Post im Kasten. Sie schloss auf und fischte zwei Briefe heraus. Einer war von einem Reiseveranstalter, bei dem sie vor Jahren einen Urlaub in Griechenland gebucht hatte, der andere trug von außen keinen erkennbaren Absender. Bestimmt war es nur wieder eine Einladung zu einem Gewinnspiel.

Doch der Umschlag mit dem bunten Logo des Reisebüros ließ sie zumindest von einem Urlaub unter Palmen träumen, als sie schwer bepackt die Treppen hochstieg. Zweiundsiebzig Stufen waren es bis nach oben und mit jeder schienen ihre Einkäufe schwerer zu werden. Doch sie war daran gewöhnt und betrachtete das als ihr tägliches Mini-Workout.

Griechenland, das wäre jetzt etwas! Zwar lagen ihre wahren Traumziele deutlich weiter weg, aber mit dem eher schmalen Lohn, den Jan ihr zahlte, würde sie wohl noch lange für vier Wochen Auszeit in Kanada oder Südafrika sparen müssen.

In ihrer Wohnung verstaute sie erst ihre Einkäufe und goss sich ein Glas Fassbrause ein, ehe sie sich wieder an den zweiten Umschlag erinnerte. Die Pizza war aufgepeppt und bereit, um in den Ofen geschoben zu werden. Sandra nutzte die Zeit, um nachzusehen, was sich in dem anderen Umschlag verbarg. Bei genauerem Hinsehen konnte sie nun auch den Absender erkennen: Eine Rechtsanwaltskanzlei in Ahlbeck. Irgendwoher kam ihr der Name bekannt vor. Richtig, das war doch einer der berühmten Badeorte auf Usedom. Doch was um alles in der Welt wollte ein Rechtsanwalt aus einem Ort auf dieser Ostseeinsel von ihr? Sie war noch nie auf Usedom gewesen und hatte auch nicht vor, das so bald zu ändern.

Verwundert riss sie den Umschlag auf und entnahm ihm einen nur wenige Zeilen langen Brief.

 

Sehr geehrte Frau Hornig,

ich bin mit einer Nachlassangelegenheit betraut worden und schreibe Sie in dieser Sache an. Meine Mandantin, Frau Viktoria Rebentrost, ist am 27. März verstorben und hat testamentarisch verfügt, dass Sie in den Genuss ihrer beweglichen und unbeweglichen Güter kommen.

 

Es folgte eine komplizierte Formulierung in reinem Fachchinesisch, der Sandra nur so viel entnehmen konnte, dass sie sich so schnell wie möglich bei der Kanzlei melden sollte. Dort würde sie nähere Informationen erhalten. Sie sollte einen Termin vereinbaren, damit sie die Werte, um die es hier anscheinend ging, begutachten könnte.

Ganze drei Mal musste Sandra das Schreiben lesen und selbst dann hatte sie immer noch keine Ahnung, warum ausgerechnet sie diesen Brief erhalten hatte. Nie im Leben hatte sie von einer Viktoria Rebentrost auf Usedom gehört. Ihre Eltern stammten aus Berlin und ihre Großeltern, soweit sie wusste, auch. Die Familie ihres Vaters war zwar nach Kriegsende aus Schlesien vertrieben worden, aber seitdem hatten sie immer in Berlin gelebt.

Ratlos ließ sie das Schreiben auf den Küchentisch sinken und griff zum Telefonhörer. Vielleicht konnte ihr Vater Licht in das Dunkel bringen. Es wäre natürlich zu schön, wenn aus dem Nichts eine bisher unbekannte Erbtante auftauchen würde, die all ihre finanziellen Sorgen mit einem Mal ausradierte. Aber so etwas geschah höchstens in Filmen. Außerdem wäre mit Sicherheit ihr Vater vor ihr erbberechtigt und nicht ausgerechnet sie. Das Ganze war entweder ein plumper Betrugsversuch oder ein Irrtum. Vermutlich würde man sie auffordern, erst einmal utopische Gebühren zu entrichten, damit man ihr das angebliche Erbe auszahlen könnte. Sie hatte schon öfters von dieser Masche gehört. Das Geld wäre weg und weder den Anwalt noch die Erbschaft gab es wirklich.

»Hallo, Papa«, begrüßte sie ihren Vater, nachdem er sich gemeldet hatte, »wie geht es euch?«

»Gut, danke der Nachfrage.« Seine Stimme hörte sich, wie immer, ein wenig rau an. Er hatte früher viel geraucht und die Stimmbänder schienen ihm das noch heute übelzunehmen. »Und dir?«

»Alles okay. Sag mal, Papa, kennst du eine Viktoria Rebentrost?« Es war nicht ihre Art, lange um den heißen Brei herumzureden.

Lange Zeit kam nichts von der anderen Seite der Leitung. Ihr Vater schien nachzudenken. »Nein«, erwiderte er schließlich zögernd, »nicht, dass ich wüsste.«

»Merkwürdig. Weißt du, ich habe heute einen total verrückten Brief erhalten. Von einem Anwalt. Hast du einen Moment Zeit? Dann lese ich ihn dir vor.«

Ihr Vater brummte etwas Zustimmendes und Sandra las ihm den Brief langsam vor. »Verstehst du das? Ich meine, wie kommen die auf mich? Zuerst einmal wärst du ja erbberechtigt, oder? Das ist bestimmt ein Schwindel.«

»Nicht unbedingt.« Die Stimme ihres Vaters klang nun brüchig und er räusperte sich. »Also, es könnte sein-«

»Ja? Was könnte sein?«

Anscheinend hatte ihr Vater eine Idee, was es mit dieser ominösen Erbschaft auf sich haben könnte.

»Am besten besprechen wir das hier in Ruhe. Hast du Lust vorbeizukommen?«

»Ja, klar. Aber warum kannst du mir das nicht am Telefon erzählen?«

»Weil es zu lange dauern würde.«

Auch ihr Vater war kein Mann vieler Worte und sie wusste aus Erfahrung, dass sie nichts aus ihm herausbekommen würde, solange er nicht bereit war, von sich aus etwas preiszugeben.

»Ist okay. Ich habe gerade eine Pizza im Ofen. Ich esse sie schnell, dusche noch und dann mache ich mich auf den Weg.«

»Aber bring den Brief mit!«

Nun klang ihr Vater regelrecht aufgeregt und Sandra legte automatisch die Hand auf das amtlich klingende Schreiben, das anscheinend tatsächlich ernstgemeint war. »Mach ich. Bis gleich.«

 

 

 

 

 

3

 

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Sandra einen Parkplatz gefunden hatte. Ihre Eltern wohnten in einer engen Straße, in der es höchstens zweimal im Jahr einen Parkplatz direkt vor der Tür gab.

Nach einem längeren Fußmarsch vom ehemaligen Wasserwerk bis zum Wohnhaus ihrer Kindheit und Jugend klingelte sie an der Haustür. Ohne nachzufragen, betätigte jemand sofort den Türöffner und Sandra drückte die Tür auf. Es roch vertraut, nach Bohnerwachs und kaltem Eintopf. Wie früher eben. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, eilte sie die Treppen bis in den zweiten Stock hoch. Ihr Vater erwartete sie schon in der offenen Wohnungstür.

»Da bist du ja!« Flüchtig drückte er sie an sich und nahm ihr die Jacke ab. Draußen war es heute frisch und sie hatte sich deshalb für ihre Jeansjacke entschieden. Den kleinen Rucksack ließ sie unter die Garderobe fallen und streifte ihre Sneakers ab. Als sie aufsah, kam gerade Miri aus der Küche.

»Hallo«, begrüße sie ihre Stiefmutter lächelnd. »Schön, dich zu sehen.«

»Dito.« Die Zeiten, als sie ihre Stiefmutter regelrecht bekämpft hatte, lagen lange zurück, aber sie hatten ihre Spuren hinterlassen. Bei beiden.

»Thomas hat mir erzählt, dass du einen mysteriösen Brief bekommen hast.«

»Genau.« Mit wenigen Handgriffen öffnete sie ihren Rucksack und fischte das sorgsam zusammengefaltete Papier heraus. »Hier, Papa.« Sie reichte ihn ihrem Vater, vielleicht einfach, weil er die älteren Rechte auf sie hatte.

Ihr Vater nahm das Schreiben, überflog die Zeilen und las dann stumm den Namen der Erblasserin vor. Viktoria Rebentrost.

»Also, sagt dir der Name nun etwas oder nicht?«

Fordernd hob Sandra ihr Kinn und betrachtete ihren Vater interessiert.

»Komm doch erstmal rein, Kleine.«

Ihr Vater nannte sie immer noch so, auch wenn sie inzwischen siebenundzwanzig war. Für ihn würde sie wohl immer das kleine Mädchen mit den hellbraunen Zöpfen sein, dass er fröhlich durch die Luft gewirbelt hatte, in einer Zeit, bevor das Glück aus ihrem Leben verschwunden war.

»Wo sind Lea und Max?« Neugierig blickte Sandra im Vorbeigehen auf die verschlossenen Türen der Zimmer ihrer beiden Halbgeschwister.

»Max hat sich mit seinem Notebook eingeschlossen. Er spielt mit einem Kumpel online«, erklärte Miri mit einem nachsichtigen Augenrollen, »und Lea ist bei einer Freundin. Sie übernachtet dort.«

»Unglaublich, wie groß die beiden schon sind.« Sandra kam es so vor, als wären Lea und Max gerade erst eingeschult worden, doch inzwischen waren sie achtzehn und sechzehn. Ein Alter, in dem sie selbst schon ihre Ausbildung begonnen hatte. So schnell wie möglich hatte sie damals ihr Zuhause verlassen wollen. Doch das war eine andere Geschichte.

»Ja, die Zeit vergeht.« Miri deutete einladend auf das hellgraue Sofa, das sie und Papa sich vor einigen Monaten gekauft hatten. »Setz dich doch. Möchtest du etwas trinken oder essen?«

»Nein, vielen Dank. Ich habe gerade eine ganze Pizza verschlungen.«

Ihr Blick fiel auf einen alten Schuhkarton, der mitten auf dem ansonsten ordentlich aufgeräumten Wohnzimmertisch stand. Der Deckel schloss nicht ganz und so konnte sie erkennen, dass er voller Papiere und Fotos war. Schwerfällig ließ ihr Vater sich neben ihr in die Polster sinken. Man konnte ihm ansehen, dass es ihm nicht leichtfiel, das zu sagen, was er nun vorhatte.

»Kindchen, ich dachte eigentlich, dass das alles nie mehr von Belang wäre, nachdem deine Mutter - nun, nachdem sie uns verlassen hat.«

»Sie hat uns nicht verlassen, Papa. Sie ist gestorben.«

Immer wieder formulierte er diese Tatsache so, als ob ihre Mutter eine Wahl gehabt hätte. Als ob sie aus freiem Willen von ihnen gegangen wäre. Das wäre sie aber niemals. Um nichts in der Welt hätte sie freiwillig ihre kaum siebenjährige Tochter im Stich gelassen.

Nein, ihre Mutter hatte in dieser schrecklichen Nacht von einer Sekunde auf die andere eine Hirnblutung erlitten, ein Aneurysma, wie es der Arzt so steril ausgedrückt hatte. Der Notarzt, den Papa gerufen hatte, hatte nichts mehr für sie tun können. Und so hatten Papa und sie hilflos vor dem Krankenhausbett gestanden, in dem ihre Mutter noch in derselben Nacht gestorben war.

»Sie wurde uns entrissen«, fügte sie hinzu. Wie immer, wenn sie an die tiefschwarzen Tage ihres Lebens dachte, die sich an diese Nacht angeschlossen hatten, war sie den Tränen nahe. Manche Wunden heilen eben nie und den Tod der eigenen Mutter als Kind miterleben zu müssen, ist an Dramatik kaum zu übertreffen.

Viel zu früh für ihren Geschmack hatte Papa dann Miriam kennengelernt. Eine junge, lebenslustige Frau, die ihm selbst das Lachen zurückbrachte. Doch Sandra hatte sie gehasst und alles dafür getan, damit sie nicht den Platz ihrer Mutter einnahm, einen Platz, der ihr nicht zustand.

Aber niemand hatte es verhindern können, dass Papa Miriam nur zwei Jahre nach Mamas Tod heiratete und sie ihm noch im selben Jahr eine Tochter schenkte. Auch das Baby hatte Sandra gehasst, so wie sie seit der Nacht damals ihr ganzes Leben gehasst hatte. Miriam war so jung gewesen und von nun an vollauf mit dem Baby beschäftigt, das Tag und Nacht schrie und ihre Aufmerksamkeit einforderte. Zu allem Überfluss folgte knapp zwei Jahre später ein weiteres Kind, so, als wäre ihr Vater, mit damals über Fünfzig, nicht schon längst zu alt, um Vater zu werden. Aber er blühte auf durch diese fröhlichen Kinder in seiner Wohnung, im gleichen Maße wie Sandra immer wütender und verzweifelter wurde.

Doch das alles war inzwischen lange her. Miriam und sie hatten gelernt, sich zu akzeptieren und eine Basis gefunden, miteinander auszukommen. Sie wurden Freundinnen. Als Mutterersatz hatte Sandra sie nie akzeptieren können und wollen.

Nun setzte Miriam sich auf das kürzere Ende des Sofas und blickte selbst gespannt ihren Mann an, der sichtlich versuchte, seine Gedanken zu ordnen.

»Sandra, ich weiß, wie sehr du deine Mutter geliebt hast. Auch ich habe sie geliebt, mehr, als du dir vorstellen kannst.«

Sandra blickte unwillkürlich zu Miri hinüber, die jedoch mit keiner Miene verriet, ob dieses Geständnis sie verletzte.

»Sie fehlt mir noch immer, jeden einzelnen Tag meines Lebens, auch wenn ich darüber natürlich nicht spreche. Ich habe mich bemüht, sie mehr und mehr aus unserem Leben auszublenden, um nicht täglich an sie erinnert zu werden. Was vergangen ist, ist vergangen. Deshalb habe ich dir auch nie erzählt, dass Opa Kurt nicht dein leiblicher Opa war.«

Papa machte eine kleine Pause, während der sich ihre Blicke trafen. »Aber du weißt ja, dass Mama nicht bei ihrer Mutter aufgewachsen ist, sondern bei ihren Großeltern.«

Sandra nickte. »Weil Oma arbeiten musste und sich nicht um sie kümmern konnte.«

»Ganz so war es nicht.« Papa bewegte seinen Kopf nachdenklich hin und her, als kämpfe er mit sich.

»Wie war es denn dann?«

Sandra hatte noch immer keine Ahnung, wie diese Eröffnung mit dem Schreiben, das nun vor ihnen auf dem Tisch, neben dem Schuhkarton, lag, zusammenhing.

»Oma Marlene hatte ein ziemlich bewegtes Leben, bevor sie schließlich Kurt kennenlernte. Nach dem Krieg hat sie ziemlich schnell einen jungen Mann geheiratet, den sie kaum kannte. Sie überwarf sich deswegen mit ihren Eltern. Die Ehe hielt nicht lange, Kinder hatten sie keine. Oma war gezwungen, sich fortan alleine durchzuschlagen. Als geschiedene Frau hatte sie in den Fünfzigern einen schweren Stand. Sie lebte bei Freundinnen und Freunden und verdiente das, was sie zum Leben brauchte, mit Gelegenheitsjobs. Zeitweise soll sie sogar in zwielichtigen Bars gearbeitet haben.«

»Ach herrje.« Sandra staunte über diese neuen Seiten ihrer Oma. Sie hatte zwar schon als Kind mitbekommen, dass Oma Marlene anders war als die Mutter ihres Vaters, aber als sie schließlich gestorben war, hatte man ihr nicht verraten, dass ihr Tod Folge einer schweren Alkoholerkrankung war. Das waren Dinge, die ein damals zehnjähriges Mädchen nicht zu interessieren hatten. Dass Oma allerdings nicht nur gerne trank, sondern auch sonst ein bewegtes Leben gehabt zu haben schien, hörte sie nun zum ersten Mal. Allerdings verstand sie noch immer nicht, wann denn Viktoria Rebentrost ins Spiel kam.

»Und wie hängt das nun alles mit dem Brief zusammen?« Sie deutete ungeduldig auf den Tisch. »Es klingt für mich jetzt nicht unbedingt so, als ob Oma Kontakt zu jemandem gehabt hätte, der so reich war, dass es etwas von ihm zu erben gäbe.«

»Nein, eigentlich nicht«, gab Papa zu. »Sie hat während der Jahre nach ihrer Scheidung anscheinend etliche wechselnde Männerbekanntschaften gehabt und schließlich jemanden kennengelernt, von dem sie schwanger wurde.« Papa griff nach dem Karton auf dem Tisch und schnippte den Deckel herunter. Zielstrebig zog er ein ziemlich zerknittertes Schwarz-Weiß-Foto heraus, das ganz oben lag. »Das ist Viktor Rebentrost. Dein echter Großvater. Er steht als ihr Vater in der Geburtsurkunde deiner Mutter.«

Zögernd griff Sandra nach dem Foto, das ihr Vater ihr reichte. Es zeigte einen recht gutaussehenden Mann mit vollem dunklem Haar, nach der Mode der Fünfzigerjahre geschnitten. Helle Augen blickten sie verschmitzt an und Sandra meinte, sofort zu erkennen, was ihre Großmutter an ihm gefunden hatte: Er strahlte die pure Lebensfreude und eine unbändige Energie aus. Gepaart mit dem guten Aussehen und der aufrechten Haltung würde er auch heute noch Eindruck auf die Frauen machen.

»Aber Moment mal: Du sagtest Viktor Rebentrost. Das Schreiben bezieht sich aber auf eine Viktoria. Eine Frau.«

»Ich weiß. Diesen Zusammenhang habe ich auch noch nicht ganz begriffen.«

»Meinst du, der Anwalt hat sich verschrieben? Das glaube ich eigentlich kaum.«

Papa schüttelte den Kopf. »Davon gehe ich auch nicht aus. Solche Leute sind im Allgemeinen sehr genau. Aber wie du siehst, hat Mama diesen ganzen Karton voller alter Erinnerungen und Bilder, den sie immer aufbewahrt hat. Ich habe ihn nie weggeworfen, vermutlich aus sentimentalen Gründen. Vielleicht findet sich darin des Rätsels Lösung.«

»Puh, das ist aber eine Menge Papierkram.«

Mit den Fingerspitzen blätterte Sandra durch alte Fotos, geknickte Briefe, geöffnete Umschläge und sonstige Reliquien einer Frau, die nun schon zwanzig Jahre tot war. Warum hatte Papa ihr diesen Schatz niemals gezeigt? Er wusste doch, wie sehr sie sich für alte Dinge interessierte? Außerdem hatte sie doch ein Recht auf diese Unterlagen.

»Er gehört nun dir. Anscheinend hat er jetzt seine Bestimmung gefunden.« Nachdrücklich schob Papa den Karton ein Stück zu ihr herüber. »Nimm dir die Sachen mit und sieh sie durch. Mama hat ja gerne alles aufgehoben, aber bestimmt ist auch das eine oder andere darunter, das interessant sein könnte. Ich selbst weiß nichts über diesen Rebentrost. Er kam aus dem Nichts und ist nach der Geburt deiner Mutter anscheinend auch wieder im Nichts verschwunden.«

»Mama ist ja bei den Urgroßeltern aufgewachsen«, stellte Sandra nachdenklich fest, während sie ein Bild herausfischte, das ihre Mutter als kleines Mädchen mit blonden Zöpfen zeigte, links und rechts umrahmt von ihren Großeltern. Keiner der drei wirkte besonders glücklich. Oma Marlene fehlte auf dem Bild.

»Richtig. Marlene hatte keine Lust, sich in ihrer Freiheit durch ein Kind einschränken zu lassen. Und sie hat sich vermutlich bessere Chancen ausgerechnet, wenn sie nicht gleich jedem auf die Nase band, dass sie geschieden war und darüber hinaus ein uneheliches Kind hatte.«

»In der damaligen Zeit sicher eine Katastrophe.«

»Allerdings.« Papa lachte humorlos auf. »Man hat es deine Mutter immer wieder spüren lassen, dass sie nicht erwünscht war. Ein uneheliches Kind passte nicht in die heile Welt nach dem Krieg, als alles wieder perfekt und sauber sein sollte. Fritz und Emma haben ihr das gegeben, was sie brauchte: Ein Dach über dem Kopf, Essen und Kleidung, aber sie hatten nie erwartet, in ihrem Alter noch einmal ein Kind im Haus zu haben. Es war eine Notlösung und deine Mutter ihre gesamte Kindheit lang das fünfte Rad am Wagen.«

Sandra hatte ihre Urgroßeltern nicht mehr kennengelernt, denn sie waren lange vor ihrer Geburt verstorben. Aber sie konnte nachvollziehen, dass die beiden nicht begeistert davon gewesen waren, das uneheliche Kind ihrer Tochter großzuziehen. Noch dazu in einem Alter, als sie selbst in Rente gingen und viel zu alt waren, um sich auf angemessene Weise um das Enkelkind zu kümmern.

»Marlene kam höchstens ab und zu als Besucherin, weil sie sich dazu verpflichtet fühlte. Es war Kurt, der Mama hin und wieder zwei Mark zusteckte oder etwas Süßes kaufte.«

Nachdenklich kratzte Papa sich am Kinn, wo sich Ansätze von grauen Bartstoppeln zeigten. »Er war ein Lieber, auch wenn er genauso viel trank wie Marlene.«

Papa schwieg und starrte betrübt auf das Kinderfoto seiner Frau, das Sandra noch immer in der Hand hielt. Schließlich straffte er seine Schultern.

»Aber das sind alles längst vergangene Geschichten. Nicht mehr zu ändern. Worum es dir jetzt geht, ist dieser ominöse Brief.« Er griff sich das Schreiben der Anwaltskanzlei. »Viktoria Rebentrost. Das könnte die Mutter dieses Viktor sein.« Er schien in Gedanken nachzurechnen. »Doch das ist natürlich Quatsch. Wenn wir davon ausgehen, dass Viktor zehn Jahre älter als Oma war und Viktoria seine Mutter, dann-«

»Wäre sie einhundertzwanzig geworden. Sehr unwahrscheinlich.«

»Vielleicht war sie seine Schwester?«

Zum ersten Mal meldete sich Miriam zu Wort. Bisher hatte sie schweigend das Gespräch verfolgt. Schließlich hatte sie selbst keine der angesprochenen Personen kennengelernt und konnte wenig dazu beitragen.

»Es kommt ja vor, dass Eltern ihren Kindern ähnliche Namen geben. Julius und Julia, Max und Maxi.«

»Das kann natürlich sein. Und diese Schwester lebte auf der Insel Usedom.«

»Und warum trug sie den Namen Rebentrost? Sie wird ja sicher irgendwann geheiratet haben? Und warum hatte sie etwas zu vererben, während ihr Bruder, wenn wir diesen Gedanken mal weiterspinnen, ein wahres Lotterleben führte?«

Sandra fand das nicht schlüssig. »Denn wenn sie nicht geheiratet hat, dann würde es ja bedeuten, dass ihr Reichtum durch ein Erbe zustande gekommen ist, von dem dann letztendlich auch ihr Bruder profitiert hätte.«

»Vielleicht war Viktor ja ebenfalls reich und hat es Oma nur verschwiegen?«

Miri ging regelrecht in den wilden Fantastereien auf, das konnte Sandra ihr ansehen. Papa war es, der den Spekulationen schließlich ein Ende machte.

»Kinder! Nun glaubt doch nicht, dass es dort auf Usedom ein Vermögen zu holen gibt! Nur weil ein Anwalt schreibt, dass es um eine Erbsache geht, heißt das doch nicht gleichzeitig, dass es eine Menge Geld sein muss! Vielleicht hat dir die gute Viktoria Rebentrost einen Berg Schulden vermacht und nun suchen sie einen Dummen, der diesen Berg übernimmt!«

Daran hatte Sandra noch gar nicht gedacht. Aber natürlich hatte Papa recht. Niemand sagte ihr, dass es wirklich um ein Erbe im positiven Sinn des Wortes ging. Sie seufzte tief. »Dann gibt es wohl nur einen Weg, das herauszufinden: Ich werde mich durch diesen Berg von Papier wühlen und dann nach Usedom fahren, um mir das, was mich dort erwartet, mit eigenen Augen anzusehen.«

»So etwas liegt dir ja«, stellte Papa lächelnd fest und legte einen Arm um seine Tochter, »in alten Dingen herumwühlen.«

»Ja, aber meistens geht es dabei um materielle Dinge, um Gegenstände, die noch zu reparieren sind. Hier jedoch sind es Bilder und Briefe von Menschen, die ich nicht kenne, von denen ich keine Ahnung habe, wer sie waren und worum es geht.«

»Du machst das schon. Aber ich befürchte, dass ich dir keine große Hilfe sein kann. Das ist alles schon so lange her. Emma und deine Mutter haben mir manches erzählt, aber du weißt ja, wie das ist: Man hört nicht richtig zu, wenn die alten Kamellen hervorgeholt werden. Was für mich zählte, war, dass deine Mutter zu einer wunderbaren jungen Frau herangewachsen war und dafür musste ich Emma und Fritz dankbar sein. Sie waren herzengute, einfache Menschen, die ihr Bestes gegeben haben, um einen der vielen Fehler ihrer chaotischen Tochter auszubügeln. Aus Marlene war ja nie etwas herauszukriegen.«

»Ich weiß. Trotzdem ist mir deshalb vollkommen schleierhaft, wie es etwas zu erben geben soll, wo doch sämtliche Personen in ihrem Bekanntenkreis ähnlich gestrickt gewesen zu sein scheinen.«

»Vielleicht kannst du ja Licht ins Dunkel bringen«, riet Papa. »Nimm den Karton einfach mit. Schau nach, was du davon gebrauchen kannst und dann ruf einfach diesen Anwalt an. Vielleicht kann er dir ja schon am Telefon etwas mehr sagen und du musst nicht extra nach Ahlbeck fahren. Obwohl: Dort oben ist es verdammt schön. Wir sollten auch mal wieder Urlaub an der Ostsee machen, Schatz!«

Miri verzog das Gesicht. Sie war mehr der Typ für Cluburlaub unter Palmen und buchte regelmäßig Pauschalreisen für die vier auf Mallorca oder Gran Canaria. Auf die Idee, drei Stunden entfernt von zu Hause an der Ostsee Urlaub zu machen und vielleicht Regen ertragen zu müssen, kam sie nie. Dabei sollte Usedom doch die sonnenreichste Insel Deutschlands sein. Das hatte Sandra zumindest mal in einem Werbeslogan gelesen. Selbst war sie noch nie dort gewesen. Auch sie hatte es immer mehr in die Ferne gezogen. Allerdings bevorzugte sie es, die Länder auf eigene Faust zu erkunden. Organisiertes Urlaubsvergnügen war nichts für sie.

»Du weiß doch, dass ich garantiert schönes Wetter brauche, wenn ich verreise«, rügte Miriam ihren Mann. Der gab sich, wie meistens, schnell geschlagen.

»War ja auch nur so eine Idee. Wer weiß, vielleicht gehört Sandra ja bald ein Traumhaus direkt an der berühmten Seebrücke von Ahlbeck!«

»Klar, Papa. Und im Himmel ist Jahrmarkt.«

Entschlossen schnappte sie sich den Karton, legte die beiden Fotos wieder obenauf und verschloss ihn, so gut es ging, mit dem Deckel. Zumindest würde ihr heute Abend nicht langweilig sein.

 

 

 

 

 

4

 

Als Sandra gegen halb eins endlich ins Bett ging, sah es in ihrem Wohnzimmer aus, als ob eine Bombe eingeschlagen hätte. Rund um den Esstisch hatte sie sämtliche Unterlagen aus dem Schuhkarton verteilt. Doch obwohl sie sich die größte Mühe gegeben hatte, war es ihr nicht gelungen, herauszufinden, wer denn nun die geheimnisvolle Viktoria Rebentrost gewesen war.

Auf sämtlichen Fotos hatte sie die handschriftlichen Bleistiftvermerke zu entziffern versucht, mit denen jemand vor langer Zeit akribisch die Namen und Daten notiert hatte. Der Name Viktoria war niemals darunter gewesen. Dafür hatte sie nun immerhin drei Fotos ihres unbekannten Großvaters. Eines davon zeigte ihn sogar mit seiner hübschen, jungen Freundin Marlene im Arm, die zum ersten Mal wirklich glücklich aussah. Auf allen anderen Fotos hatte sie auf Sandra eher den Eindruck gemacht, als wäre sie gezwungen worden, sich fotografieren zu lassen. Dabei war ihre Großmutter eine ausnehmend hübsche junge Frau gewesen. Kein Wunder, dass sie mit ihren dunklen Haaren und den grünen Augen das Interesse so vieler Männer geweckt hatte. In einem anderen, besseren Leben hätte sie vielleicht sogar beim Film Karriere machen oder anderweitig ihr Glück finden können.

All diese Aufnahmen schienen allerdings nicht an der Ostsee entstanden zu sein. Zumindest waren niemals das Meer oder Dünen im Hintergrund zu sehen. Es handelte sich durchweg um Personenaufnahmen ohne viel Drumherum. Die späteren Farbfotos zeigten Oma Marlene und ihren Mann Kurt vor beeindruckenden Bergpanoramen in Bayern und auf Wandertour im Harz.

Immerhin hatte Sandra unter den Bildern auch einige Fotos des jung verstorbenen Bruders ihrer Oma gefunden, über den sie bisher überhaupt nichts gewusst hatte. Er war ebenfalls sehr gutaussehend gewesen und der Gedanke, dass jemand wie er mit nur zwanzig Jahren aus dem Leben gerissen worden war, erschreckte sie. Anscheinend zog sich der relativ frühe Tod wie ein roter Faden durch die Familiengeschichte. Wie erschreckend! Würde sie selbst am Ende dasselbe Schicksal ereilen?

Betroffen von dieser Erkenntnis hatte sie beschlossen, die ganzen Erinnerungsstücke zur Seite zu legen und ins Bett zu gehen. Es war zwar spannend, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen, aber letztendlich blieben ihr die Menschen und Schicksale hinter den Bildern fremd. Sie konnte niemanden mehr fragen und so würde das Meiste im Dunkel der Vergangenheit bleiben.

Am nächsten Morgen fuhr sie wie gewohnt zur Arbeit und nutzte ihre Frühstückspause um halb zehn dafür, bei der Anwaltskanzlei in Ahlbeck anzurufen. Eine Sekretärin meldete sich in geschäftigem Tonfall und stellte sie auf ihre Bitte hin zu Herrn Brodersen durch, dem Verfasser des Briefes.

»Guten Morgen, Frau Hornig«, begrüßte er sie freundlich, »wie schön, dass Sie sich melden.«

»Ich habe Ihr Schreiben in Sachen Viktoria Rebentrost erhalten und noch einige Fragen dazu.«

»Natürlich. Ich will sie Ihnen gerne beantworten, sofern es in meiner Macht steht.«

Der Stimme nach war er ein älterer Mann, vermutlich längst ergraut und hatte in seiner Karriere schon unzählige derartige Fälle gehabt. Er dehnte die Worte auf eine Weise, die erkennen ließ, dass er ein norddeutscher Küstenbewohner war, obwohl er sich hörbar bemühte, hochdeutsch zu sprechen.

»Als Erstes würde ich gerne wissen, wie Sie ausgerechnet auf mich kommen und in welcher Beziehung ich zu Frau Rebentrost stehe. Ich kenne sie nämlich überhaupt nicht. Als ich gestern mit meinem Vater gesprochen habe, hat er mir zwar bereits offenbart, dass der Vater meiner Mutter diesen Namen hatte, doch wir kennen niemanden aus der Familie.«

»Nun«, begann Herr Brodersen ruhig, »das ist auch nicht nötig. Dem Grunde nach gilt einfach die gesetzliche Erbfolge und da Sie die nächste Angehörige meiner Klientin sind, kommen Sie dafür in Betracht. Es hat einige Zeit gedauert, bis wir Sie ausfindig machen konnten, denn, wie Sie vermutlich wissen, waren Ihre Großmutter und Herr Rebentrost nicht verheiratet. Doch er ist immerhin als Vater des Kindes in der Geburtsurkunde eingetragen worden. Somit konnten wir Ihre Mutter ermitteln und nachdem wir feststellen mussten, dass sie nicht mehr am Leben ist, sind Sie diejenige, die erbberechtigt ist, sofern Sie das Erbe annehmen.«

Sandra holte tief Luft. Um keinen Preis wollte sie begehrlich klingen oder auch nur zu neugierig. Doch trotzdem musste sie die Frage einfach stellen, die ihr unter den Nägeln brannte.

»Um was handelt es sich denn überhaupt? Nicht, dass ich am Ende einen Haufen Schulden erbe und nichtsahnend etwas unterschreibe.«

»Frau Hornig, darüber müssen Sie sich keine Gedanken machen. Wenn Sie hierherkommen, können Sie das Objekt natürlich selbst in Augenschein nehmen, ehe Sie sich für irgendetwas entscheiden. Es steht Ihnen selbstverständlich frei, das Erbe auszuschlagen, aber ich versichere Ihnen, dass meine Mandantin, nachdem wir Sie endlich ausfindig gemacht haben, den unbedingten Wunsch geäußert hat, Ihnen die Villa zu vermachen.«

»Die Villa?« Das klang zumindest nicht nach Bergen von Schulden. Egal wie alt diese Villa auch sein würde, von der der Anwalt sprach: Zumindest den Grundstückswert würde sie auf einer so begehrten Urlaubsinsel wie Usedom bestimmt bekommen, wenn sie das Objekt verkaufte. Ihr Herz klopfte bei der Vorstellung, dass sie anscheinend das unfassbare Glück hatte, tatsächlich eine ihr vollkommen unbekannte Erbtante gehabt zu haben, die ihr eine Villa vermachte!

Hinter ihr klappte eine Tür und sie spürte einen Luftzug. Mit dem Telefon in der Hand drehte sie sich zu Jan um, der in der Tür stand.

Inzwischen sprach Herr Brodersen weiter. »Es handelt sich um eine Villa in zweiter Reihe. Sie wurde 1897 erbaut und Frau Rebentrost hat sie bis zu ihrem Tod bewohnt. Im Inneren ist alles noch so, wie sie es hinterlassen hat. Der Wert des Hauses bemisst sich auf schätzungsweise eineinhalb Millionen Euro.«

»Eineinhalb Millionen Euro?«

Fassungslos wiederholte Sandra die Worte und erwiderte Jans fragenden Blick. Ihr Chef konnte natürlich nicht ahnen, worum es in dem Gespräch ging.

»Es ist nur deshalb so wenig, weil - nun, es sind gewisse Modernisierungsmaßnahmen erforderlich, da Frau Rebentrost in den letzten Jahrzehnten nicht viel investiert hat. Sie war eine alte Dame, kinderlos und ohne Unterstützung. Anderenfalls wäre der Wert ein Vielfaches. Aber nageln Sie mich nicht fest, ich bin kein Immobilienmakler. Doch vergleichbare Objekte gibt es auf der ganzen Insel inzwischen so gut wie nicht mehr. Alles ist inzwischen top-saniert. Vor allem wenn es sich in beinahe direkter Strandlage befindet.«

Die Worte schwirrten in Sandras Kopf herum. Diese Frau hatte ihr eine Villa vererbt! Ein garantiert wunderschönes Haus! Sie erinnerte sich an Fernsehberichte von Usedom, die Beispiele der imposanten Bäderarchitektur vergangener Zeiten gezeigt hatten. Und so etwas sollte nun ihr gehören!

»Ich bin gerade etwas überfordert«, gab sie freimütig zu. »Immerhin kannte ich die Dame gar nicht.«

»Viktoria Rebentrost war die Zwillingsschwester ihres Großvaters. Sie hat zeitlebens nicht geheiratet und keine eigenen Kinder. Aus diesem Grund beauftragte sie unsere Kanzlei vor geraumer Zeit, eventuelle Erben ihres Bruders ausfindig zu machen, den sie seit den Vierzigerjahren nicht mehr gesehen hatte. Sie haben sich wohl im Krieg aus den Augen verloren. Dann kam die deutsch-deutsche Teilung und aufgrund ihres Alters und anderer Gründe hat sie nach der Wiedervereinigung nicht sofort nach ihm gesucht. Es wäre damals vielleicht auch gar nicht so leicht gewesen, ihn zu finden. Herr Rebentrost hat seine letzten Lebensjahrzehnte nämlich in den Vereinigten Staaten verbracht, wie wir herausgefunden haben.«

»In den Vereinigten Staaten?«

Sandra kam sich allmählich vor wie ein Papagei, der alles, was der Jurist von sich gab, stumpf wiederholte. Hatte sie eben noch gestanden, sank sie nun auf einen Stuhl. »Mein Großvater lebte in den USA?«

»Allerdings. Dort hat er sich eine Weile in Oklahoma aufgehalten. Für das Jahr 1976 gibt es einen Sterbeeintrag im Zivilregister des Staates. Falls es Sie interessiert, kopiere ich Ihnen gerne die Unterlagen.«

»Ja, bitte.«

»Wollen wir gleich einen Termin festhalten, an dem Sie mich aufsuchen?«

Sie hörte ihn auf seiner Tastatur herumtippen und stieß nervös die aufgestaute Luft aus ihren Lungen. Sie bat den Anwalt kurz um Geduld und schilderte dem überraschten Jan in wenigen Worten das eben Gehörte. Er nickte sofort.

»Nimm dir frei. Natürlich! Du hast ohnehin noch Urlaub und hier ist doch nichts los. Fahr hoch und kläre das alles. Aber, dass du mir wiederkommst! So eine gute Restauratorin wie dich finde ich garantiert kein zweites Mal!«

Sandra lachte verlegen auf und vereinbarte mit Herrn Brodersen, dass sie ihn gleich am Montagnachmittag in Ahlbeck aufsuchen würde.

»Wunderbar. Dann trage ich Sie für fünfzehn Uhr ein. Ich selbst bin in der nächsten Woche allerdings nicht vor Ort. Aber mein Kollege, Herr Steffens, wird sich Ihrer annehmen und mit Ihnen nach Seewalde fahren.«

Der Name des Ortes, in dem sich die Villa befand, war bisher noch gar nicht gefallen. Schnell notierte Sandra ihn auf einem Stück Papier.

»Haben sie auch die Adresse des Hauses für mich? Dann könnte ich auf Google Earth schon einmal nachsehen.«

Papier raschelte, bevor die Antwort kam: »Dünenstraße 14.«

»Okay, vielen Dank. Dann sehe ich Herrn Steffens also am Montag.«

»Korrekt. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, Frau Hornig und ein schönes Wochenende.«

Immer noch vollkommen benommen verabschiedete sich Sandra ebenfalls und starrte dann Jan sekundenlang mit dem Telefon in der Hand an. »Ist das nicht unglaublich? Ich kann es überhaupt nicht fassen!«

Jan schüttelte den Kopf. »Aber wenn ich es jemandem gönne, dann dir, Sandra. Du bist immer so fleißig und bescheiden. Ich wünsche dir, dass das Ganze keine Seifenblase ist, die bei der ersten Berührung zerplatzt.«

»Das hoffe ich allerdings auch. Bist du mir böse, wenn ich jetzt erstmal schaue, wo das Haus ist? Ich bin total kribbelig.«

»Nein, kein Problem. Es drängt nichts. Leider.«

Sie wusste, wie sehr es Jan mitnahm, dass sein Geschäft seit einer Weile nicht gut lief. Immerhin hatte er zwei Kinder zu versorgen und war auf die regelmäßigen Einnahmen angewiesen.

Sie öffnete die Satellitenansicht von Google Maps und gab die Adresse ein. Nach einigen Sekunden konnte sie auf ein etwas unscharf abgebildetes, quadratisches Haus mit einem Nebengebäude zoomen, das tatsächlich nur einen Steinwurf vom Strand entfernt lag.

Mit einem Mal wurde Sandra von einer kribbelnden Vorfreude erfasst. Dieses Haus, das sie dort erkennen konnte, sollte ihr gehören! Es war wie ein Hauptgewinn: Der erste Preis in der Lotterie des Lebens, die bisher ziemlich viele Nieten bereitgehalten hatte.

Wortlos hielt sie Jan das Smartphone hin, damit auch er das Foto in Augenschein nehmen konnte. Anerkennend schnalzte er mit der Zunge. »Das sieht aber verdammt gut aus. Also, wenn du es nicht willst: Ich nehme es gerne. Wusstest du, dass ich früher mit meinen Eltern immer auf Usedom Urlaub gemacht habe?«

»Nein.«

»Das war wohl ein Relikt aus DDR-Zeiten. Während andere plötzlich nur noch nach Mallorca oder in die Türkei wollten, sind meine Eltern beim Alten geblieben und haben Strandurlaub auf dem Campingplatz gemacht. Trassenheide hieß der Ort, wenn ich mich recht erinnere. Darf ich?«

Fragend blickte er sie an, den Daumen schon über dem Display. Sandra nickte. »Klar.«

Er verschob das Satellitenbild, veränderte die Schärfe und hielt ihr das Gerät dann wieder hin. »Hier ist es. Direkt der Nachbarort. Idylle pur, wenn man den Trubel von Seewalde leid ist.«

»Ein bisschen Trubel finde ich aber ganz nett. Schließlich bin ich Berlinerin.«

»Anscheinend bist du aber auch zu einem gewissen Prozentsatz Usedomerin«, neckte Jan sie. »Bestimmt hast du da oben massig Verwandte, von denen du noch gar nichts ahnst.«

Sandra schüttelte nachdenklich den Kopf. »Es scheint eine ganze Menge Dinge zu geben, von denen ich bisher nichts geahnt habe.«

 

 

 

 

 

5

 

Beinahe das gesamte Wochenende hatte Sandra mit dem Durchsuchen der Unterlagen ihrer Mutter verbracht. Sie hatte so gut wie nichts gefunden, das mit ihrem Großvater zusammenzuhängen schien. Lediglich auf drei Bildern hatte sie Marlene mit einem anderen Mann als Kurt entdeckt. Ob sie Viktor Rebentrost zeigten oder ihren ersten Ehemann, wusste sie nicht. Leider waren die Fotos auf der Rückseite nicht beschriftet.

Diese Bilder wollte sie mitnehmen auf die Fahrt in die Heimat eines unbekannten Teils ihrer Familie. Außerdem hatte sie sich von ihrem Vater die Geburtsurkunde ihrer Mutter und die Heiratsurkunde besorgt. Zusammen mit ihrem Ausweis waren das die Dokumente, die sie in der Anwaltskanzlei vorlegen musste.

Sandra war wesentlich früher losgefahren als nötig, denn sie hatte beschlossen, sich die Villa erst einmal alleine anzusehen, ehe sie zusammen mit dem Anwalt hinfuhr. Es erschien ihr sinnvoll, sich unbeeinflusst von seiner Meinung ein eigenes Bild zu machen. Außerdem reizte sie der Gedanke, einen Spaziergang am Strand zu machen, vielleicht die Füße ins noch frühsommerlich kühle Wasser zu halten und so ihren Aufenthalt zu beginnen.

Um zehn Uhr morgens hatte sie bereits die Autobahnabfahrt erreicht, von der aus es, laut ihrem Navi, nur noch eine halbe Stunde Fahrt war. Sie hatte das Gefühl, die frische Seeluft schon erschnuppern zu können und merkte erst jetzt, wie sehr ihr ein richtiger Urlaub gefehlt hatte. Das letzte Mal war sie vor drei Jahren verreist, in dem Sommer, bevor sie hatte feststellen müssen, dass Manuel etwas mit Maya hatte und das Ganze schon länger hinter ihrem Rücken lief.

Alleine hatte sie nicht verreisen wollen und mit ihren Eltern und den Kids gemeinsam fahren war auch nicht ihr Ding. So hatte sie manchmal sogar auf ihren Urlaub verzichtet und stattdessen weitergearbeitet, einfach, weil der Job ihr so viel Spaß machte.

Doch nun spürte sie, dass eine Auszeit dringend nötig war. Mit jedem Kilometer, den sie zurücklegte, stieg ihre Spannung. Würde sich das erhoffte Traumhaus als Bruchbude entpuppen? Eigentlich musste sie davon ausgehen. Die Millionen hatte der Anwalt vermutlich nur in den Raum geworfen, um sie erst einmal anzulocken. Aber trotzdem faszinierte sie die Vorstellung, in weniger als einer Stunde einen vorsichtigen Blick auf das Haus zu werfen, das ihr gehören könnte.

Sie reiste mit unzähligen Warnungen ihres Vaters im Gepäck, der nicht müde geworden war, ihr einzutrichtern, dass sie bloß nicht unüberlegt etwas unterschreiben sollte. Sie wusste, dass er es nur gut meinte, denn vor einigen Jahren war er bei seiner Hausbank mit einem katastrophalen Aktienfond reingefallen und hatte einen Batzen Geld verloren. In finanziellen Dingen vertraute er niemandem mehr.

Nein, sie würde sich das doppelt und dreifach überlegen, denn ihr war durchaus klar, dass so ein Haus auch Folgekosten barg, die sie im ersten Augenblick vermutlich noch gar nicht überblicken konnte. Ihr Vater hatte angeboten, mitzukommen, aber das hatte sie nicht gewollt. Sie würde ihm Fotos per Handy schicken, damit er einen Eindruck bekam. Aber wenn er mitgekommen wäre, hätte sie sich immer als Tochter gefühlt und zu sehr auf seine Meinung verlassen. Sie wollte eigenständig entscheiden können. Immerhin ging es um ihr Leben und ihre Zukunft.

Exakt die versprochene halbe Stunde, nachdem sie die Autobahn verlassen hatte, stand sie in Wolgast im Stau und reihte sich in eine schier endlose Reihe von Fahrzeugen mit auswärtigen Kennzeichen ein, die offenbar alle auf die Insel wollten. Obwohl noch lange keine Ferien in Sicht waren, zog Usedom auch jetzt im Mai anscheinend schon etliche Urlauber an. Wie überall war es sicher auch hier Anfang Juni wesentlich entspannter als zur Hochsaison, wenn jeder Meter Strand belegt war.

Stoßstange an Stoßstange schob sich die Blechkarawane gemächlich weiter. Sandra hatte Zeit, die niedrigen Häuser rechts und links der Bundesstraße zu betrachten, die zum großen Teil schon bessere Zeiten gesehen hatten. In der Ferne erspähte sie einen imposanten Kirchturm aus Backstein und die Umrisse einer gewaltigen Halle. Daneben standen hohe Kräne. Das musste die Werft sein, in der vor der Wende tausende Menschen gearbeitet hatten, während heute nur noch eine Handvoll Arbeiter den Betrieb aufrecht erhielt. Sie hatte im Internet etwas darüber gelesen, als sie nach Informationen über Usedom gesucht hatte.

Allmählich wurde die Straße schmaler. Einige Geschäfte zogen Sandras Blick an und dann, nach einer engen S-Kurve unter alten Bäumen und neben uralten Mauern, tauchte plötzlich die Peenebrücke vor ihr auf: Ein gewaltiges, modernes Bauwerk, das den kleinen Hafen daneben wie Spielzeug wirken ließ. Der Eindruck war überwältigend, denn nun kam alles auf einmal in den Blick: Historische Hafengebäude, die blau gestrichenen, gewaltigen Brückenteile, das in der Sonne glitzernde Wasser des Peenestroms, auf dem unzählige kleine Segler ihre Bahnen zogen und die größeren Schiffe, die rechts von ihr in einem Hafenbecken ankerten.

Sandra hatte Mühe, sich auf den Verkehr zu konzentrieren, denn das alles zog ihren Blick magisch an. Sie rumpelte über die Nahtstelle, an der sich die Brücke gegen Mittag wieder öffnen würde, um die Schiffe passieren zu lassen und dann war sie da: Ein farbenfrohes Schild zeigte den Reisenden an, dass sie nun auf der Insel Usedom waren.

Der erste Eindruck war nicht sonderlich beeindruckend. Unauffällige Einfamilienhäuser reihten sich aneinander. Teilweise verblichene Schilder wiesen auf Werkstätten, Pensionen oder Sehenswürdigkeiten hin. Die Landschaft unterschied sich wenig von der, durch die sie auch eben schon auf dem Festland gefahren war. Doch dann folgten weite Wiesen voller Mohnblumen und blühender Wildkräuter. Einige Kilometer weiter führte die Straße durch einen Wald. Manchmal konnte sie links hinter den hohen Kiefern einen Fetzen Blau durchblitzen sehen. Dort lag die Ostsee, Traumziel Tausender Urlauber. Und schließlich war sie da: Als sie das Ortsschild von Seewalde passiert hatte, folgte sie akribisch den Anweisungen ihres Navis. Mit jedem Meter, den sie auf der Hauptstraße tiefer in den Ort vordrang, pulsierte das Leben stärker. Waren es anfangs nur wenige Menschen, die ihr auf den Gehwegen rechts und links der Straße begegneten, so wurden es nach einem kleinen Kreisverkehr immer mehr. Sie trugen schwere Taschen voller Badesachen, aufblasbare Wasserspielzeuge und zusammengefaltete Strandmuscheln. Und je bunter das Leben auf der Straße wurde, desto mehr erfasste auch Sandra diese Erregung, die Vorfreude, die sie eigentlich mit der Kindheit zurückgelassen zu haben glaubte.

Gleich würde sie das Meer sehen, denn sie hielt mit dem Auto direkt darauf zu. Ihr Navi zeigte die endlose blaue Fläche schon an. Noch fünfhundert Meter, noch dreihundert Meter. Nun bog sie vorsichtig links ab, gezwungen, den Blick auf die Menschen zu richten, die kreuz und quer, ohne sich umzusehen, auf die autofreie Strandpromenade zuströmten.

Sie fand eine Lücke zwischen den Fußgängern und bog in die Dünenstraße ein. Hotel reihte sich an Hotel. Und als ihr Navi verkündete, dass sie ihr Ziel erreicht habe, sah sie sie plötzlich: Die Villa! Ein Stück zurückgesetzt von der Straße, halb verborgen unter hohen Bäumen, stand ein graues Gebäude. Sechs hohe, von Säulen umrahmte Fenster blickten auf die Straße hinaus und unter dem flachen Giebel prangten die stolzen Buchstaben Villa Viktoria.

Sandra machte den sinnlosen Versuch, den Golf rechts in eine Lücke zu rangieren, doch hier standen die Autos dicht an dicht. Einfach in der Toreinfahrt zu parken, traute sie sich nicht. Also hatte sie keine andere Wahl, als an dem Haus vorüberzufahren und ein Stück weiter nach links abzubiegen. Die Straße sah vielversprechend aus, auch wenn sie recht steil bergauf ging. Sandra staunte, dass es hier, direkt an der Küste, solch eine Steigung gab. Anscheinend trauten sich nicht viele in die, darüber hinaus noch schmale Straße, denn sie fand tatsächlich einen Parkplatz, gegenüber des kleinen, modernen Rathauses.

Als sie ausstieg sog sie tief die klare Meeresluft in ihre Lungen. Irgendwie hatte sie sofort das Gefühl, genau am richtigen Ort zu sein. Der Trubel der Strandstraße reichte nicht bis hierher. Es fühlte sich an, als befände sie sich an einem vollkommen anderen Ort. Trotzdem musste sie nur um eine Ecke biegen und schon stand sie vor dem alten schmiedeeisernen Zaun, der das Grundstück umgab. Kurz erwog sie, an der Pforte zu probieren, ob sie vielleicht offen war, verwarf den Gedanken dann aber wieder. Noch gehörte ihr das Haus nicht. Zu klingeln brauchte sie auch nicht, es hatte sich nicht so angehört, als ob jemand hier wohnte. Außer Viktoria Rebentrost schien dort niemand gelebt zu haben, denn sie sah kein Auto auf der Auffahrt, keine Bewegung hinter den Fenstern.

Die Lage der Villa war allerdings bemerkenswert. Rechts und links von ihr standen gewaltige Hotelbauten. Das Gebäude zu ihrer Linken mutete beinahe wie ein Schloss an mit seinen schneeweißen Mauern, den silbernen Balkongittern und dem Turm auf dem Dach. Rechts von der Villa befand sich ein weiteres Hotel im Stil der Bäder-Architektur, allerdings weniger prachtvoll.

Neben diesen Prachtbauten wirkte die Villa beinahe winzig, obwohl sie aus jedem normalen Wohngebiet hervorgestochen wäre. Die sechs Fenster krönten eine Veranda, während der Eingang zum Haus links daneben lag und über einige Stufen zu erreichen war.

Der Rasen vor dem Haus wirkte recht gepflegt und der Weg zum Haus war mit alten Steinplatten gepflastert. Doch die großen Kiefern hingen bedrohlich über das Dach und auch die Büsche müssten dringend gestutzt werden. Ansonsten war der Garten eher anspruchslos gehalten.

Würde so ein Haus zu ihr passen?

---ENDE DER LESEPROBE---