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"Ich gewinne jeden Krieg!" Mit diesen Worten droht Bertha Schmidt ihrem Schwiegersohn. Sie macht ihr Versprechen wahr: "Was meinst du, wie schnell wir dich wieder los sind!" Eine Geschichte nach wahrer Begebenheit! Dieses Buch ist eine Überarbeitung des Debütromans "Ich gewinne jeden Krieg!" von Michael C. Sedan. Der Zusatz "Bertha prahl:" soll die Härte aus dem Titel nehmen, aus dem Zitat der Bertha Schmidt. Sie hat diesen grausamen Familienkrieg begonnen. Sie alleine!
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Seitenzahl: 526
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Buchbeschreibung:
"Ich gewinne jeden Krieg!" Mit diesen Worten drohte Bertha Schmidt ihrem Schwiegersohn. Sie macht ihr Versprechen wahr: "Was meinst du, wie schnell wir dich wieder los sind!"
Eine Geschichte nach wahrer Begebenheit!
Dieses Buch ist eine Überarbeitung des Debütromans "Ich gewinne jeden Krieg!" von Michael C. Sedan.
Der Zusatz "Bertha prahl:" soll die Härte aus dem Titel nehmen, aus dem Zitat der Bertha Schmidt. Sie hat diesen grausamen Familienkrieg begonnen. Sie alleine!
Über den Autor:
Michael C. Sedan schreibt seit 2020 Geschichten nach wahrer Begebenheit. Die Schwerpunkte seiner Arbeit sind bewegende, tiefgreifende Schicksalsschläge von Familien in Deutschland.
Michael C. Sedan ist verheiratet und lebt mit seinen drei Kindern in der Nähe von Kassel.
Mit seiner Schriftstellung lässt er besondere Ereignisse nach wahrer Begebenheit mit viel Liebe zum Detail wiedererwachen und lässt sie unvergessbar werden.
Besonders die latenten, kaum sichtbaren Spuren des Lebens verfolgt er zurück bis zu deren Wurzeln.
Kapitel 1 Caro
Kapitel 2 Generation of the Future!
Kapitel 3 Frauen und Alkohol
Kapitel 4 Traumzeiten!
Kapitel 5 Die 2. Generation
Kapitel 6 Schwarz weiß rot
Kapitel 7 Die 3. Generation
Kapitel 8 Die erste Betriebslüge
Kapitel 9 Wir sind glücklich!
Kapitel 10 Das ist deine Firma!
Kapitel 11 Die erste Thera - Olympiade
Kapitel 12 Ehrenmänner!
Kapitel 13 Traumhaus & Abenteuer
Kapitel 14 Das Leben in der Mittelgeneration
Kapitel 15 Schützenfest
Kapitel 15 Vorwärts Kameraden! Wir müssen zurück.
Kapitel 16 Bertha’s Brot
Kapitel 17 »...was meinst du, wie schnell wir dich wieder los sind ...«
Kapitel 18 Tsychoterror
Kapitel 19 »Uns geht es gut!«
Kapitel 20 Stürmische Zeiten
Kapitel 21 Das schallende Lachen
Kapitel 22 Die mahnende Christel
Kapitel 23 Krieg?
Kapitel 24 Schön war die Zeit!
Kapitel 25 Verdammt schnell!
Kapitel 26 Unser Leben sei ein Fest!
Kapitel 27 Mobilmachung
Kapitel 28 So lange sie bei mir ist!
Kapitel 29 Der Totale Tsychoterror
Kapitel 30 Das Attentat vom 17. Juni
Schon von Weitem strahlten ihre langen, blonden Haare. Ihre schlanken Beine steckten in einer schwarzen, hautengen Jeans. Ihr Blick war unnachahmlich frech. In einer kurzen, beigen Daunenjacke drehte sie an einem Lippenpflegeständer. Pflegestifte für Kinder, für Skifahrer, für Girls – ich glaube, für Senioren war auch einer dabei. »Welcher ist denn der Beste?«, fragte ich sie und bewegte den Ständer in die andere Richtung. Ihre himmelblauen Augen schauten mich zum ersten Mal an. Ich war wie gelähmt. Ein unschuldiger Wimpernschlag erwiderte meinen Blick. Sie lächelte kurz und ging weiter. Warum hatte ich ihr auch nur so eine bescheuerte Frage gestellt? Verlegen blätterte ich in dem Flyer, der oben auf dem Ständer mit »Gewinnen Sie eine Reise nach Sylt!« lockte. Darin stand: »Im Namen des Millennium-Lippengirls sagen wir Danke für die Treue ...«
Ich legte ihn wieder an seinen Platz und stellte mich an der Kasse gleich hinter sie in die Schlange. ›Sprich sie nochmal an!‹, sagte mir mein Unterbewusstsein, aber ich fand keine passenden Worte. Die Ware auf meinem Arm verteilte ich bewusst hastig auf dem Kassenband. Sie bemerkte mich, wandte sich mir aber nicht zu.
Wer ist dieses Mädel? Wo wohnt sie? Nachdem sie bezahlt hatte, sah ich, wie sie auf dem Parkplatz in einen schwarzen Jeep Wrangler einstieg.
Dieses Mädchen ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Sie fuhr einen Geländewagen und sah verdammt gut aus. Sonst wusste ich nichts von ihr. Jedes Wochenende versuchte ich, ihr wieder über den Weg zu laufen: Am Lippenpflegeständer, an der Fleischtheke oder auf einer der zahlreichen Wochenendpartys, auf denen ich sie schon habe tanzen sehen.
Ich fuhr mit meinen Freunden auf den Parkplatz der Stadthalle. Es war Beach-Party. In der zweiten Reihe stand hinten links ein schwarzer Jeep. Ich konnte es kaum erwarten, die weiblichen Gäste nach ihr abzusuchen. Aber die Frau vom Lippenpflege- ständer konnte ich nirgends entdecken. Auf einen Bierdeckel schrieb ich meine Handynummer mit dem Vermerk »Möchte dich gern kennenlernen!« Ich war einer der Ersten, welche ein Handy besaßen und so klemmte ich diese Botschaft hinter den Scheibenwischer des Jeeps mit dem Kennzeichen OSK A 110. Tagelang klingelte das Handy nicht – so sehr ich auch auf das Display starrte.
An einem Samstagnachmittag ging ich durch die Bahnhofstraße, in zerrissener Bluejeans, mit einem weißen T-Shirt, darüber meine schwarze Motorrad-Lederjacke. Es war meine Lieblingsjacke. Ein junges Mädel sprach mich an: »Wo bekommt man so eine Jacke?«
»Im Geschäft!«, gab ich frech zurück. Das hübsche Mädel und ihre Freundin kicherten. Sie gingen weiter. Technobässe lösten das Lachen der beiden ab und ein offenes Cabrio fuhr an mir vorbei. Und da saß sie! Cool, mit Sonnenbrille, hockte sie hinten auf der Rückenlehne in der Mitte. Ihr Bauchnabel-Piercing glitzerte im Sonnenlicht. Es strahlte hell hervor. Ihr weißes, bauchfreies Top und der braungebrannte, trainierte Body schossen mit Partyklängen und gut gelaunten Mitfahrern an mir vorbei. Meine Augen verfolgten die wehenden langen, blonden Haare. Nach ein paar Sekunden war alles wieder ruhig, ihre Haare und die fünf Party-People waren an der Ampel rechts abgebogen.
»Das war’s dann wohl!«, murmelte ich enttäuscht vor mich hin. ›Drei coole, gestylte Typen rasen mit zwei Super-Puppen durch die Stadt und was machte ich?!‹ Meine Laune war am Boden, meine Hoffnung gestorben.
Die Bässe waren wieder zu hören. Die Ampel der Straße, in der ich mich befand, stand auf Grün. Wenn sie umspringt, wird die Querstraße grün bekommen. Dann fahren sie vielleicht noch einmal durch diese Straße. »Lass dich nicht hängen!«, versuchte ich, mich zu motivieren.
Nach ein paar Schritten sah ich, wie das schneeweiße Cabrio wieder in meine Richtung fuhr. Ich stellte mich zwischen die parkenden Autos an den Straßenrand und tat, als wolle ich die Straße überqueren.
Kein Blick! Keine noch so kleine Reaktion wurde mir gegönnt. Nicht mal einer der drei Kerle schaute mich an. Sie lachten, alberten herum und rauschten an mir vorbei. Ich kannte die Typen. Sie waren immer in ihrer Nähe, auf Partys, im Cabrio - und wer weiß wo sonst noch. Der Schwarzhaarige war bestimmt ihr Freund. ›Die wird mich nie anrufen‹, gestand ich mir frustriert ein.
Zurück auf meinem schmalen Single-Bett in meiner bescheidenen Zweizimmerwohnung ging mir das Bauchfrei-Girl wieder durch den Kopf. Mit dem Schwarzhaarigen und dem Langen hatte ich sie schon öfters gesehen. ›Vielleicht sind sie nur befreundet‹, versuchte ich, mir einzureden. ›Die haben noch nie geknutscht und Händchenhalten habe ich die beiden auch noch nie gesehen.‹
Plötzlich fiel es mir wieder ein. Mein Körper sprang vor Freude aus dem Bett. Der Lange hatte Karneval mit einer anderen geknutscht. Und die saß mit im Wagen. Die saß auf dem Beifahrersitz. Und der Lange saß hinter ihr. Zwar neben der Blonden, aber hinter der, die er geküsst hatte. Mein Herz hämmerte aufgeregt in meiner Brust und meine Gefühle fuhren Achterbahn! Was machte dieses Mädel bloß mit mir?
Eigentlich war Sarah Schlüter seit Monaten meine Nummer Eins gewesen. Ein supersüßes Mädel vom Gestüt Hof Martin. Der Gutshof war drei Orte von meinem Heimatort entfernt. Ich hatte ihr zwei Mal geschrieben, sie einmal besucht und ihr einmal einen keinen Plüsch-Esel geschenkt. So richtig überspringen wollte der Funke allerdings nicht. Sie zögerte. Ich zögerte. Und seit der Begegnung mit dem Mädchen am Lippenstiftständer war alles anders! Sarah lag nur noch auf Platz zwei.
Das Wochenende stand wieder vor der Tür und das bedeutete: Party-Alarm! Und yes, da war sie wieder! Ich erblickte sie durch die Menschenmenge. Die Stimmung auf der Party kam immer mehr in Fahrt und »mein Girl« bewegte sich im kurzen, glitzernden Kleidchen leicht und grazil zur Musik. Die vielen Metallic-Plättchen an dem Stoff reflektierten die bunten Scheinwerfer. Die knallige orange Farbe des knappen Kleidungsstücks betonte ihre sportlichen Kurven. Die langen Haare waren zu zwei Zöpfen geflochten. Sie war gut gelaunt. Der sichtbare Teil ihres trainierten Bodys – die Arme, der Rücken und die langen Beine – waren schön gebräunt und schimmerten wie Gold in dem hellen Partylicht. Sie trug graue, hohe Stiefeletten, welche ebenfalls übersät von den funkelnden Metallplättchen waren. Ein Typ ging auf sie zu und ich schaltete sofort in den Angriffs-Modus um. Offensives Handeln war jetzt gefragt. Drauf los, egal wie! In dem Moment kam Regina auf mich zu. Regina war vor Jahren mit mir in der gleichen Tanzschule gewesen. Selbstbewusst kam sie Schritt für Schritt näher und kam schließlich mit einem Weizenbier in der rechten Hand vor mir zum Stehen. »Du möchtest doch an der Fachschule für Sozialpädagogik in Oberstdorf studieren, oder? In der Heimatstadt des Vaters von der ganz alten Schneiderin! Die ganz alte Schneiderin ist meine Oma, wusstest du das?«
Die besagte Schneiderin war über 100 Jahre alt und hatte alle vier Söhne überlebt. Meine Familie hieß zwar auch Schneider. Wir waren aber nicht mit der alten Dame verwandt. Meine Vorfahren waren seit Jahrhunderten Oberstaufenwälder. Doch was interessierte mich jetzt diese Alte? Ich interessiere mich für die blutjunge, bildhübsche Maus!
Regina wartete auf eine Antwort. Sie stand vor mir und schaute mir in die Augen. Ich blickte in ihre Augen, dann auf das Weizenbier. Dann schaute ich sie wieder an. Im Anschluss machte ich, was ich noch nie gemacht hatte. Ich ging an ihr vorbei. ›Mädchen, ich habe jetzt einfach keine Zeit für deine Oma.‹ Ohne ihr eine Antwort zu geben, und ohne ein weiteres Wort ging ich an ihr vorbei und ließ sie stehen.
Langsam steuerte mein Körper auf meinen Schwarm zu. Was sollte ich ihr sagen? Mein Herz raste. ›Studieren? Ich werde mein Anerkennungsjahr in der Hauptstadt von Bayern machen. Der Heimatort vom Vater ihrer Oma – was für eine blöde Anmache!‹
Nach ein paar Schritten stand ich direkt vor »meinem Girl«. Sie unterhielt sich mit jemandem. Die beiden standen ein paar Meter auseinander und es schien, als wolle der Typ weitergehen. »Was habt ihr für ein Kennzeichen?«, fragte ich plötzlich in die Runde. Die Partymaus nahm meine Worte und meinen Körper nicht wahr. ›Wie blöd ist denn die Anmache? Oh Gott, wie peinlich! Da plappere ich einfach dazwischen. So wird das nie was!‹ Verlegen zogen meine Blicke umher. Regina stand an der gleichen Stelle mit ihremWeizen in der Hand. ›Na, hätte ich besser auch mal eins genommen!‹
Der sportliche Typ ging endlich weiter und meine Nummer Eins steuerte die Cocktailbar an. Sie kam dicht an mir vorbei. »Du hast doch das Nummernschild OSK – A 110, oder?«
»Was? Wie?«, fragte sie verdutzt.
›Lauf weg! Wie kannst du nur so einen Mist fragen!‹ Am liebsten wäre ich vor Scham im Boden versunken. Wie ferngesteuert öffnete sich mein Mund erneut: »Du hast doch OSK – A 110 als Kennzeichen, oder?«
»Nein wir haben OSK – X 678.«, antwortete sie und fing einen kurzen Moment später laut an zu lachen.
»Was hast du?«, fragte ich leicht rot anlaufend. »Ich habe einen Lachflash!« Was für eine süße Maus! Wie sie das sagte! Jedes Wort von ihr ließ mein Herz höher schlagen. »Und warum?« Sie lachte weiter. »Weil es zufällig genau den gleichen Geländewagen im Oberstaufenwaldkreis gibt?«, fragte ich dunkelrot anlaufend. ›Hättest du nicht mit diesem dämlichen Nummernschild angefangen. Die ganze Nummerngeschichte ist eine dumme Nummer. So eine Stelze steht doch nicht auf solche blöden Nummernschilder-Nummern.‹
Regina schaute uns zu. ›Hoffentlich kommt die jetzt nicht. Warum lacht die sich denn so schrott? Oh Mann! Das läuft sowas von schief hier!‹
»Nein, deshalb nicht! Oder doch, deshalb auch! Aber wer lässt sich ans Nummernschild Oskar schreiben?« Sie lachte nochmals laut auf.
OSK-A, »Oska«, Oskar! Wir lachten zusammen über dieses witzige Wortspielchen. Sie strahlte mich an. Dann ging sie.
Ihren Namen wusste ich immer noch nicht. Tobias, der mich und meinen Flirtversuch gesehen hatte und sich zu mir gesellte, kannte sie. »Die war in meiner Klasse. Sie heißt Caroline Schmidt.«
»Weiß du auch, wo die wohnt?«
»Die Adresse und Telefonnummer stehen in der Schülerzeitung.«
»Schmidt!«, ertönte eine freundliche Frauenstimme am anderen Hörer. »Ja, hier ist Michael Schneider. Ich möchte gern die Caroline sprechen.«
»Ja, einen Moment bitte. Caroline? Caroline! Telefon!« Es dauerte eine Weile. »Ja?« Klang es am anderen Ende ganz zart, schüchtern und leise. »Hallo! Hier ist Michael. Kennst du mich noch?«
»Welcher Michael?« Wie enttäuschend das klang. Ich versuchte, als gut gelaunter Typ rüber zu kommen. »Der mit dem Nummernschild, der Oskar!« Leise und nüchtern kam zurück: »Ach der.«
»Und wie geht es dir?«
»Geht so.«
»Bist du nächste Woche auf der Strand-Party?«
»Weiß nicht.«
»Caroline!« Ertönte es im Hintergrund.
»Ich muss auflegen.«
»Dann mach’s mal gut!«
»Okay! Tschau!«
Ein paar Tage später rief ich sie noch einmal an.
»... wie geht’s dir?«
»Geht so!«
»Sollen wir uns mal treffen?«
»Ich weiß nicht ...«
Wir saßen vor dem Konferenzraum der Schule für Sozialpädagogik. Meine Ausbildung zum Erzieher ging Ende. Es war eine Umschulung. Es war meine zweite Ausbildung. Eigentlich wollte ich Baudenkmalpfleger werden. Aber bereits während meiner Ausbildung zum Maler hatte ich massive Hautprobleme. Die Lösungsmittel und der Staub auf der Baustelle setzten meiner trockenen Haut immer wieder zu. Optisch wirkte meine Hautfarbe immer angenehm gebräunt. Gefühlt hatte ich drei Jahre einen Dauersonnenbrand. Bereits Ende des ersten Lehrjahres machten sich diese Symptome bemerkbar. Ich wollte die Ausbildung schon abbrechen, aber mein Vater gab mir vor, dass ich die Ausbildung unbedingt zu Ende machen müsse. Dafür bin ich ihm sehr dankbar.
Das Arbeitsamt bewilligte zügig eine Umschulungsmaßnahme. Nach einer umfangreichen Eignungsprüfung empfahl man mir eine Umschulung zum Bürokaufmann. Den ganzen Tag im Büro sitzen sagte mir nicht zu. Ich wollte mit Menschen arbeiten. Da ich in meinem Heimatort viele Jahre die Jugendgruppe geleitet hatte, entschied ich mich für eine Umschulung zum staatlich geprüften Erzieher.
Zum Ende der Ausbildung standen die Abschlussgespräche mit dem leitenden Dozenten Herrn Jeschke an. Mit meinen beiden Kollegen, Hubertus und Frank saß ich im langen Flur. Wir drei kamen alle aus dem Oberstaufenwald. Man nannte uns das Oberstaufenwälder-Dreigestirn.
»Ich glaub’ der Schneider ist verliebt!«, schmunzelte Hubertus. »Wie kommst du denn darauf?«, fragte ich ihn.
»Nur so! Irgendwie hab’ ich das im Gefühl. Du bist so anders.«
»Da ist jemand. Wir haben uns auf einer Party kennengelernt. Ich habe sie ein paar Mal angerufen. Aber sie antwortet immer nur »meinst’e?« oder »ich weiß nicht«.
Hubertus unterbrach mich: »Dann musst du die mal zu einem Candle-Light-Dinner einladen. Dann schmilzt jede Frau dahin!« Er lachte. Wir lachten. Wenn Hubertus lachte, lachten alle.
»Herr Schneider, bitte!« Herr Jeschke lugte aus der Tür. »So! Nun ist ihre Zeit hier am Rhein bald zu Ende. Ihre Noten können sich sehen lassen. Wir kennen uns nun über zwei Jahre. Die Abschlussgespräche haben immer einen besonderen Hintergrund. Neben den Empfehlungen für die zukünftige Berufslaufbahn haben wir als begleitende Lehrkräfte eine zusätzliche Aufgabe: Wir schauen nach Talenten ...«
Was hatte der denn vor?
»Wir dürfen jedes Jahr aus einem Jahrgang zwei Stipendien vom Land vergeben. Herr Schneider, ich würde sie gerne vorschlagen. Sie haben die Gabe, Menschen zu beobachten und deren Handeln sachlich und fachlich einzuordnen. Das können nur sehr wenige Menschen. Könnten sie sich vorstellen, ein psychologisches oder ein pädagogisches Studium anzutreten?«
Das kam überraschend! »Ich war jetzt zehn Jahre in der Schule und fünf Jahre in der Ausbildung. Ich möchte jetzt endlich praktisch arbeiten.«
»Sie können ja nach dem Studium praktisch arbeiten.«
»Ich meine immer, zu viel Theorie ist nicht gut für die Psyche. Die Theorie sollte man besser dem lieben Gott überlassen.«
»Wie meinen sie das?«
»Na ja, die ganzen Psychologen und Psychiater haben ja irgendwie alle Einen am Helm.« Er grinste mich an.
Lag es an Caroline Schmidt, dass ich wieder in meine Heimat wollte oder hatte ich tatsächlich die Nase voll vom Lernen?
›Das ist nun schon das zweite Mal, dass dir ein Stipendium angeboten wurde.‹
»Sie können es sich ja noch mal überlegen. Ich fand die Zeit auf jeden Fall sehr schön mit ihnen. Ich habe es ihnen ja schon öfters gesagt: Sie waren eine Bereicherung für meinen Unterricht. Verzeihen sie noch einmal, dass ich immer ihre Beobachtungen vorgelesen habe. Die waren wirklich brillant! Darf ich die in anderen Studiengängen auch mal vorlesen?«
»Kein Problem, Herr Jeschke, das können sie gerne machen. In meinem Kopf hat sich der Leitspruch ihrer Schule eingeprägt: Gehen sie erstmal davon aus, dass es sich um ein gesundes Kind handelt.«
»Das freut mich. Möge dieser Grundsatz ihr Leben und ihre Berufslaufbahn begleiten. Unser Wertedenken scheint in Gefahr zu geraten. Da brauchen wir gute Menschen.«
Er stand auf. Wir reichten uns die Hände. »Alles Gute für ihre Zukunft!«
»Vielen Dank! Ihnen ebenfalls alles Gute!« Später erfuhr Hubertus, dass Herr Jeschke Professor, Doktor, Doktor war. ›Mmh! Deswegen hatte er bei meiner frechen Antwort mit dem Helm gegrinst.‹
Gut gelaunt fuhr ich mit der KVB zu meiner Wohnung. ›Einmal versuche ich es noch. Wenn sie dann immer noch so träge ist, gebe ich auf. Dann wird sie wohl nichts von dir wollen.‹
»Hallo Caroline, wie geht es dir?«
»Ganz gut.«
»Darf ich dich mal besuchen kommen?«
»Geht nicht, bin in Tüddern.«
»... und des Sohnes vom Adenauer! ...«, schrie draußen ein Mann. Ich schloss das Fenster.
»Wo ist denn Tüddern?«
»An der holländischen Grenze.«
»Ah, okay! Sehen wir uns am Wochenende?«
»Vielleicht«
Beim Packen der ersten Kartons für den Auszug ging mir diese Caroline nicht aus dem Kopf. ›»Vielleicht« heißt nicht »ja«, aber auch nicht »nein«. In diesem »vielleicht« ist jede Menge Hoffnung. Sie hätte schließlich auch nein sagen können. Sie hätte ja auch sagen können: »Ich mag dich nicht« oder: »Du bist nicht mein Typ!« Hat sie aber nicht.‹
Das Handy klingelte. Ich rannte zum Küchentisch und schaute erwartungsvoll auf das Display: »Private Nummer«. ›Lass es schellen. Lass sie zappeln, nicht sofort drangehen.‹ Nach fünf mal schellen verstummte es wieder. »Mist! Wärst du doch drangegangen! Oh Mann!« Mit voller Wucht klatschte ich das Fachbuch für Entwicklungspsychologie auf den Fußboden.
Es schellte noch einmal. »Ja!«
»Ach, da habe ich ja doch die richtige Nummer von dir. Ich wusste es nicht mehr genau, ob es deine oder die von Matthias war. Der hat ja jetzt auch so ein modernes Dingen. Kommst du Freitag nach Hause?«
»Ja, Mutti!«
Wie gerne hört man die Stimme seiner Mutter! Die Stimme der eventuellen Mutter meiner eventuellen Kinder wäre mir lieber gewesen! Vor mich hin grinsend packten meine Hände weiter Bücher in die Kartons.
Zuhause angekommen eilte ich direkt zum Telefon und hörte den Anrufbeantworter ab. »Keine neuen Nachrichten!« Woher sollte sie meine Festnetznummer haben? ›Komm! Noch einen letzten Versuch.‹ Es war 16 Uhr. »Was machst du heute Nachmittag?«
»Wir fahren noch in die Zeil, Schuhe kaufen.«
»Na dann! Vielleicht sehen wir uns ja am Wochenende. Viel Spaß beim Einkaufen.« Ich legte auf. Einkaufen! In Deutschlands beliebtester Einkaufsstraße? Um die Uhrzeit? ›Vergeß sie einfach.‹ Mann, war ich geladen!
Es war die letzten Tage am Rhein. Die Umzugskartons standen gepackt im Zimmer. Nach Schulschluss ging ich zur Pforte und schaute auf die Postliste. Mein Name stand drauf. Endlich bekam ich mal wieder einen Brief. Es war eine erfreuliche Nachricht. Es war die Zusage der Schule für Sozialpädagogik in Bayern für die Zeit während meines Anerkennungsjahres.
Gut gelaunt ging ich rüber zum Internat mit dem Brief in der Hand und Caroline Schmidt im Kopf. Um diese Frau war ich bereit zu kämpfen. Diese langweilige Frau am Hörer war nicht die flippige Maus von den Partys. Wieder ertönte eine sympathische Stimme, aber einsilbig bis uninteressiert klingend:
»Ich weiß nicht.«
»Meinst du?«
»Mal schau’n.«
»Vielleicht!«
Das war nicht das attraktive Maderl mit dem frechen Blick. ›Vielleicht telefoniert sie nicht gern‹ Sie einmal ohne Telefon, ohne Party-Stimmung zu treffen, war mein Plan für ein klares Nein oder Ja. Ich rief sie ein allerallerletztes Mal an. Die schwierigste Hürde musste genommen werden, vor der die meisten Singles verweilen: eine nette, direkte, persönliche Einladung zu einem Date. Ich atmete einmal tief durch, wechselte nervös zwischen Zimmer und Bad. Ich strich verlegen mit dem Zeigefinger entlang der Schreibtischkante. Meine Fingerspitze schlenderte über die Drahtspirale des Tischkalenders. »Darf ich dich zu einem Eis einladen?« Meine Augenlider fuhren runter, mein Puls schoss in die Höhe. Meine Ohren vernahmen ein leises und zartes: »Meinst’e?« Als überzeugter Optimist stufte ich diese schwächste Art einer Zusage als ein klares »Ja, ich will!« ein.
Ein Date! Ich stand auf einem Stein. Ein majestätisch wirkender Treppenstein aus Grauwacke. ›Sieht ein bisschen wie ein Grabstein aus.‹ Ich zog an der Glocke neben der Tür. Ich stand vor ihrer Tür. Nein! Vor der Haustür ihrer Eltern, nervös und verliebt. Es war ein warmer Hochsommertag.
Ein älterer Herr schaute über die Hecke. »Ich glaube, die sind nicht da.«, rief er zu mir rüber. »Aber da ist ein Föhn zu hören.«, gab ich zurück. ›Was quatscht der mich denn jetzt an?‹ Mein verliebtes Herz schlug schnell. Wir waren zu unserem ersten Date verabredet. Endlich hatte es mit einer Verabredung geklappt.
Zitternd zog meine Hand ein zweites Mal den edlen Glockenstrick. ›Was sage ich denn gleich?‹ Nervös tappten meine Schuhe auf dem Stein. ›Nun mach doch mal einer auf!‹ Sekunden schienen mir wie Ewigkeiten. »Mein Treppenstein, der ist so fein, der lässt keine bösen Leute rein.« Meine Phantasie ging mit mir durch! ›Vielleicht hat die überhaupt kein Bock auf dich.‹, schoss es mir durch den Kopf. Die Angst davor, einfach stehen gelassen zu werden, stieg. Die Verlegenheit war kaum auszuhalten. Ich wollte in der Erde versinken. Sollte dieser Treppenstein tatsächlich mein Grabstein werden?
Das Fenster über der Tür öffnete sich. Caroline schaute zu mir herunter. »Ich bin sofort unten.« Ihre langen, strohblonden Haare wehten im Wind. Ich nahm ihren bezaubernden Duft wahr. ›Ist das eine süße Maus!‹
Die edle Eichentür ging auf. Wir waren beide verlegen. Keine Umarmung, keine Berührung! »Mmh, kannst du die Schuhe ausziehen? Du sollst erstmal reinkommen.«
»Na klar, mache ich.«
»Wow! Was ist das?« Mein erster Fuß schwebte über die Türschwelle und traute sich gar nicht, auf diesem edlen Boden aufzutreten. Zuerst mein Fuß, dann spiegelte sich mein ganzer Körper in dem hochpolierten, schwarzen Marmor. Wir schritten durch den zwei Geschosse hohen Eingangsbereich. Eine imposante Holztreppe schlängelte sich rechts an der Wand entlang und endete im Obergeschoss mit einer großzügigen Empore. Die massiven Geländepfeiler waren mit aufwendiger Schnitzkunst verziert, die senkrechten Stäbe passend hierzu gedrechselt. Ein prunkvoll gestalteter Geländerlauf krönte dieses Meisterwerk der Schreinerkunst. Unter der Treppe war eine Nische. Auf einem Marmorsockel stand eine Kinderwiege aus scheinbar uraltem Eichenholz. Auf einem weißen, buntbestickten Tuch saßen drei Püppchen, zwei mit langend, eine mit kurzen, stoppeligen Haaren. Auf jeder der Püppchen schien ein kleiner, in den rustikalen Landhausputz eingelassener Strahler. An der Wand hinter der Wiege hingen schwarzweiße Bilder aus längst vergangenen Tagen. Das Größte, über der Wiege hängend, zeigte zwei junge Frauen bei der Handarbeit.
Durch eine zweiflügelige Eichentür betraten wir das Wohnzimmer. Es strahlte eine herzliche Gemütlichkeit aus. Die vier großen Rundbogenfenster an der Südseite ließen viel Licht in den Raum. Auf den schwarzen Fensterbänken standen rote Töpfe aus Ton. In diesen waren verschiedene Blumen: hohe, kleine, immergrüne und blühende. Es war schön anzusehen. Der ganze Raum war geschmackvoll eingerichtet. Er lud ein zum Verweilen, zum Entspannen. Die längste Raumseite bestand nur aus Büchern. In einem massiven Regal aus gebeiztem Eichenholz standen unzählige Werke, meist Romane, aber auch Fachliteratur verschiedenster Gattungen.
Am Ende des Bücherregales war eine kleine Leseecke eingerichtet. Eine stilvolle Leselampe aus Edelstahl stand neben einem kleinen Tischchen und einem modern gestalteten, dunkelroten Ohrensessel. In diesem saß Carolines Mutter. Eine attraktive Frau im besten Alter. Sie sah deutlich jünger aus. Die Augen waren mit einem dunkelblauen Lidschatten aufgehübscht. Im schwarzen, sportlichen Kostüm kam sie ein paar Schritte auf mich zu und reichte mir die Hand: »Schmidt!« Mit einem festen Händedruck begrüßten wir uns: »Guten Tag, Frau Schmidt! Ich freue mich, sie kennen zu lernen!« Sie schaute mir prüfend in die Augen, musterte meinen Körper samt Kleidung und lächelte freundlich. »... endlich bringt unsere Caroline mal einen Freund mit nach Hause! Da hab’ ich ja schon lange drauf gewartet. Unsere Caroline kann sich schon sehen lassen!« Sie musterte mich ein zweites Mal aus der Ferne. »Du hattest doch vor ein paar Tagen schon angerufen.« Sie schaute strahlend ihre Tochter an. »Habt ihr euch denn schon mal getroffen?«
»Mama! Du nervst!«
Frau Schmidt lachte. »Warum? Trefft euch doch. Geht mal ins Kino oder ins Schwimmbad.«
Ihre Mutter fand ich vom ersten Augenblick an sympathisch. Sie hatte etwas Liebes, etwas Fürsorgliches! Frau Schmidt ging zum Fenster und schaute in den Garten. Die glatten, langen, brünetten Haare waren zu einem Dutt hochgesteckt. Ein Moment der Stille füllte den Raum. ›Für Anfang fünfzig sieht die aber noch verdammt gut aus!‹ Mir kam der saloppe Satz unseres Berufsschullehrers in den Kopf. »Jungs, wenn ihr auf die Jagd geht, schaut euch die Schwiegermütter an. So sehen in 20 Jahren eure Frauen aus.«
An dem sonnigen Frühlingstag fuhren Caroline und ich nach Lehnstadt in die Eisdiele. Zum draußen sitzen war es noch zu kalt. Wir setzten uns rein. Wir waren beide sehr ruhig. Die Eiskarten halfen, die Stille zu begründen. Obwohl ich die Eiskarte kannte und genau wusste, wo mein Lieblingseis abgebildet war, studierte ich sie gründlich und suchte passende Worte für ein Gespräch nach der Auswahl der kühlen Speisen.
»Was darf’s denn sein?« Mit einem höflichen Handwink schaute ich zu Caroline. »Ich nehme das Spagetti-Eis mit Waldfrüchten.«
»Ich hätte gern auch ein Spagetti-Eis mit Waldfrüchten!«
Caroline lächelte mich mit einem unbeschreiblichen Blick an. Das Spagetti-Eis war bestellt. Das Schweige-Eis war gebrochen.
»Das schmeckt hier einfach am besten!«
»Ja! Die Waldfrüchte sind genial!«
»Zuhause habe ich mal eine Soße für ein Vanille-Eis mit selbst gesuchten Früchten aus demWald gemacht.«
»Ich bin auch gerne im Wald. Ich habe dort früher oft mit meiner Freundin gespielt.«
»Wir haben uns auch oft Hütten gebaut.«
Es war ein schöner Nachmittag.
Zu Ostern im Jahre 2000 fuhren wir mit ihrer jüngsten Schwester Marion und ihrer Cousine zum Schwimmen. Die Zwei merkten, dass es zwischen uns funkte. Sie kicherten öfters auf dem Hinweg auf der Rückbank. Im Schwimmbad hatten wir Zeit für einander. Die beiden Kleinen beschäftigten sich selbst. Wir turtelten rum, wie es sich für ein angehendes Liebespaar gehört. Wir umarmten uns. Wir gaben uns erste zärtliche Küsse. Wir schwammen wieder in das Hauptbecken, um die Kleinen im Auge zu haben. Ihr sportlicher Körper war ungemein schön anzusehen. Sie schwamm vor mir her. Jeder Schwimmzug wurde genossen. Die trainierten Arme, die geformten Rückenkonturen, das konnte sich sehen lassen! Von weiten konnten wir die beiden Mädels beobachten. Caro drehte sich um und hielt sich am Beckenrand fest. Wie schön sie war! Die nassen Haare, der freche Blick, das hübsche, unschuldige Gesicht! Ich genoss jede Sekunde.
Nach einer Weile fragte ich sie: »Was macht dein Vater beruflich?« Caroline druckste verlegen rum. ›Shit, da habe ich wohl das falsche Thema angerissen – nicht das der arbeitslos ist‹. »Wenn er in der Baubranche tätig ist, kenne ich ihn vielleicht.« »Mein Vater, der ... wir haben eine eigene Firma.«
Es war ihr fast peinlich, das zu erzählen. Sie war bescheiden und zurückhaltend. Diese Mischung aus liebem Mädchen und aktiver Frau gefiel mir. Und sie war eine Powerfrau! Ich hatte mich nicht getäuscht. Ihre Schüchternheit war seit dem »Mama! Du nervst!« wie weggehext. Sie war meine Traumfrau!
Unsere Zeit begann! Jede freie Minute verbrachten wir zwei gemeinsam. Wir tanzten ab. Wir feierten ab, unbeschwert und frei.
»Zeig mal deinen Ausweis.«
»Nicht schon wieder!«
»Warte ich hole ihn.« Öfters rannte ich zurück zum Auto und holte Carolines Ausweis. Sie trug nie etwas bei sich, wenn sie auf Party ging. Eine Handtasche fand sie uncool. Mit den langen glatten Haaren und der sehr schlanken Figur sah sie deutlich jünger aus. Sie war 21. Ihr Alter mussten wir den Securities am Eingang des Öfteren mit dem Vorzeigen des Persos beweisen.
»Heute Nacht schläfst du bei mir!«, flüsterte ich ihr auf der Tanzfläche ins Ohr. »Meinst’e?« ›Einfach machen! Überhör ihre Skepsis.‹ Gegen drei Uhr fielen wir ins Bett. Gegen fünf fiel ich wieder aus dem Bett. ›Ah! Sie hat vergessen, ihren Wecker auszustellen.‹ Mein Arm legte sich wieder um ihren Bauch. Nach fünf Minuten dröhnte das Teil erneut. »Oh Mann, kannst du das Mistdingen mal ausstellen?«
»Ich muss los!«, sagte sie. »Wohin musst du denn?«
»Nach Hause!«
»Wir haben Samstag!«
»Ja, aber ich darf nicht bei dir schlafen.«
»Sagt wer?«
»Mama!«
Um 11 schellte mein Telefon. »Hi! Na?«, sagte sie sanft. »Hallo! Bist gut nach Hause gekommen?«
»Ja, bin ich. Ich komme gleich wieder zu dir. Mama ist ausgeflippt, weil ich die Wäsche nicht gebügelt habe. Das muss ich erst machen. Aber dann komme ich wieder zu dir.«
›Die wird aber sehr streng erzogen!‹ Caroline war weit über 18! Aber irgendwie gefiel mir das. Es hatte Stil. Es war ein Zeichen sehr guter Erziehung, eines guten Elternhauses.
Die erste neu erlernte Nachspeise, welche mir die angehende Köchin eines Sonntags präsentierte, war ein warmer Apfelstrudel mit Mandeln. Wir saßen in der Luxusküche. Es duftete nach Kaffee, frischem Strudel und einer ganz leichten Note Knoblauch. Die verweilte wohl noch vom Mittagstisch im Raum. Die Tafel wurde adrett zusammengestellt und die meisterlich erstellte Süßspeise fand seinen Platz auf dem Tisch neben der frisch geschlagenen Sahne. Wir aßen und tranken. Beim ersten Biss dachte ich: ›Der Strudel schmeckt leicht nach Knoblauch.‹ Ich aß weiter, ohne mir etwas anmerken zu lassen. ›Das bildest du dir nur ein! Das hat man schon mal - Geschmacksnervenfieber!‹
Oder vielleicht lag es daran, dass ich verliebt war? Auf der Fahrt zum Bahnhof stellte sich dann heraus, dass noch mehr Menschen verliebt waren. »Hat dir der Pfälzer Apfelstrudel denn geschmeckt?«, fragte Caroline. Irritiert, weil die Frage erst im Auto kam, antwortete ich: »Doch, war gut!« Ich überlegte kurz. »Na ja, war nicht ganz so gut!« Ich konnte mir ein breites Grinsen nicht verkneifen. »Ich hatte erst gedacht, dass im Strudel Knoblauch ist!« Wir beide lachten. »Wieso?«, fragte sie kichernd. »Als ich zum ersten Mal reinbiss, hatte ich so einen Nachgeschmack von Knoblauch.«.
»Ja – ich war ein bisschen verwirrt. «
Da war es – diese unverstellte, aber dennoch freche Art die ich an dieser Frau so liebte – einfach unbeschreiblich: »Ich war verwirrt!« Sie hatte tatsächlich Knoblauchgewürz in den Apfelstrudel gestreut. Die Gewürzdose Knoblauch hatte die gleiche Farbe wie die Gewürzdose Zimt. „Ich war verwirrt!“
Am zweiten Wochenende im Juni war Schützenfest im Dorf, in dem Caroline wohnte. In der Stadthalle war Techno-Party. Frau Schmidt bot mir an, in ihrem Hause zu übernachten, »Ich habe das Gästebett frisch bezogen und frische Handtücher habe ich auch ins Gästebad gelegt.« Caro und ich schauten uns verschmitzt an. Wir standen am Fenster in der noblen Küche des Hauses. Mit dem hochmodernen Kaffee-Automaten zauberte Caros Mutter jedem von uns ein warmes Getränk nach Wunsch. In hohen Schuhen und einem dunkelblauen Kleid werkelte die attraktive Dame geschickt mit ihren gepflegten Fingern. Ihr Haar war hochgesteckt, die Lippen zierte ein dunkelroter Lippenstift.
»Der Michael schläft aber auf meinem Zimmer.« Energisch gab Frau Schmidt zurück: »Das macht der natürlich nicht! Der
schläft im Gästezimmer. Untersteht euch! Was sagst du denn dazu, Michael?«
»Ich bin bei ihnen zu Gast, Frau Schmidt ...« Ehe ich weiterreden konnte, packte mich Caro bei der Hand. Sie zog mich hinter sich her. Wir gingen in das Gästezimmer. Im Handumdrehen formte sie die Couch zu einem Doppelbett. Anschließend holte sie ihre Bettdecke. »Wir schlafen zusammen im Gästezimmer.« Caroline grinste mich frech an. »Aber erstmal machen wir Party.« Sie gab mir einen Kuss auf die Wange.
Hierzu hatten wir uns entsprechend gekleidet und gestylt. Umso mehr wunderte es mich, dass Caroline unbedingt erst auf ein Schützenfest wollte. In der Schützenhalle herrschte eine ausgelassene Stimmung. Meine Partymaus stolzierte in hohen Schuhen vor mir her. Die vielen Blicke auf meine schicke Lady machten mich stolz. »Das ist meine Caro!« Die Plateauschuhe gingen auf einen attraktiven Mann zu. Er trug einen grauen Anzug. Dieser Herr hatte eine besondere Ausstrahlung. Der Blick, die breiten Schultern, der ganze Auftritt hatte was. Selbst der strenge Seitenscheitel seiner pechschwarzen Haare wirkte eher attraktiv statt spießig, ebenso die grauen Ansätze an den Seiten. Was hat die Frau vor? Neben dem Herrn kam ich mir vor wie ein Schuljunge. ›Wie soll ich denn mit dem mithalten?‹ Caroline schaute ihn an. Caroline schaute mich an, mit dem gleichen strahlenden Blick. ›Die wird doch wohl nicht!‹
»Heute hamse alle Spaß!« Er lachte laut auf. Wir drei lachten zusammen. Der Satz wird uns viele Jahre begleiten. Wir setzten ihn als Insider ein, wenn wir oder wir mit anderen Spaß hatten. Und wir hatten oft Spaß! Viele schöne Jahre lang!
Er lächelte mir freundlich zu. »Ich bin der Ludwig, der Papa von der Caroline. Ich habe schon viel von dir gehört.« Herr Schmidt reichte mir die Hand. Meine Caro beobachtete den kräftigen Handschlag. Sie strahlte vor Glück!
In der Stadthalle bebten unsere Körper. Im Viervierteltakt schwebten wir durch die Halle. Caro bewegte sich sexy zu den Bässen und elektronischen Klängen. Das bunte Lichtspiel verzauberte sie zu einer Techno-Queen. Das war ihre Welt! Der DJ verfeinerte seinen Mix nach Caros Bewegungen. Drei Scheinwerfer brachten sie für eine Zeit in den Mittelpunkt der Partygemeinde. Ihre Verehrer fuhren zur Höchstformen auf. Manche hüpften unsanft. Auf einen Typ wurde ich neidisch. Der hatte es drauf. Doch die Dance-Queen hatte nur Augen für mich, auch wenn ich mich einige Meter von ihr wegbewegte. Dies bleib nicht unbemerkt. Eine weitere, sich wenig bewegende Clique stellte sich in unsere »elektrisierte Blicktrasse«. Caro checkte ihre braungebrannten Bodys in edlen Marken-Outfits von Kopf bis Fuß. Dadurch wurden sie noch cooler, noch steifer. Der Eine setzte sich eine Sonnenbrille auf. Er streifte sich mit der Hand durch das nasse, angeklatschte Haar. Langsam bewegte sie sich rhythmisch auf die steifen Dreamboys zu. Ihre himmelblauen »Scheinwerfer« schwenkten von einem zum anderen. Sie wurden verlegen. Ich stimmte mich auf Caros Rhythmus ein. Ich schloss die Augen. Ich legte meine Hände in die Luft. Der DJ war Weltklasse! Die Halle bebte! Dicht hinter mir tanzte ein Body. Eine Hand legte sich auf meine Schulter, die andere an meine Hüfte. Ein heißer Atem hauchte mir ins Ohr: »Hey! Was bis du denn für ein cooler Typ?« Wir lachten. Wir tanzten. Wir feierten. Wir feierten die ganze Nacht.
»Die nehmen immer die großen Tassen!« Am anderen Morgen deckte Ludwig den Frühstückstisch. Für den Kaffee stellte er für jeden einen Pott neben den Teller. Ludwig Schmidt suchte nach Löffelchen. Sein sonst streng geformtes Haar lag noch kreuz und quer. Caro saß auf der Bank. Das war ihr Lieblingsstart in den Tag: im Jogger auf der Küchenbank am Fenster sitzen. Sie sprang auf und nahm fünf kleine Löffel aus der Schublade neben der Spülmaschine. Diese legte sie auf den Tisch. Ihr Vater verteilte sie in die Kaffeepötte.
Die Küchentür öffnete sich. »Was soll das denn? Wer hat denn die großen Becher aufgedeckt? Also wirklich! So etwas kann ich ja nicht haben. Das Auge isst mit. Ein Tisch muss ordentlich gedeckt sein, da lege ich großen Wert drauf!« Frau Schmidt war nicht auf dem Schützenfest gewesen. Sie hatte ihren Mann um Nulluhrdreißig abgeholt. Frisch gestylt, im schicken Business-Kostüm wurde der rustikale Frühstückstisch im Nu in eine feine Tafel verwandelt.
Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Sie machte es genau wie Josi. Diese Leidenschaft zum Detail, diese Ordnung, dieser Hang zu guter Manier gefiel mir, vereinte die beiden. War dies eine Seelenwanderung zwischen den beiden? Eine Fügung meines Schicksals durch eine Übermacht? Hat hier unsere Burga ihre Hand im Spiel? »Ich passe auf dich auf, wenn ich im Himmel bin!«, sagte sie immer zu mir. Der Satz gefiel Josi aus Görlitz: »Mit dem lieben Gott, im Namen der Gottesmutter und des Heiligen Geistes.« Meine Oma Burga war sehr gläubig gewesen. Meine Oma sprach manchmal etwas seltsam. Sie erlebte noch die Kaiserzeit.
Diese liebliche Tischordnung war bei allen drei Frauen gleich: bei meiner Oma, bei Frau Schmidt, bei meiner Lieblingstante in Görlitz.
Das Wochenende drauf war Oldie-Night in Schützenhalle Niederdorla, eine der angesagtesten Partys im Oberstaufenwald. Karten im Vorverkauf konnten wir nicht mehr ergattern. Unsere Clique steckte in der langen Warteschlange vor dem Eingang fest. Wir suchten nach anderen Möglichkeiten in die Halle zu kommen. Caro war schon mit Tobias ein paar Reihen weiter vorne. Markus kam auf mich zu und sagte heimlich: »Wir haben einen Schleichweg gefunden. Ein Bekannter von mir arbeitet in der Cocktailbar. Da gibt es eine kleine Nebeneingangstür. Wir sollen es aber keinem sagen.«
Fünf Minuten später standen wir in der Halle. Wo war Caro? »So voll ist es doch noch gar nicht hier. Warum lassen die denn nicht mehr Leute rein?«, fragte Markus. »Vielleicht lassen die erst die durch mit den Karten aus dem Vorverkauf. Na ja, wir sind ja drin.«, gab ich zur Antwort.
Endlich kam meine Caro. In hohen schwarzen Stiefeln kam sie strahlend und Händchen haltend mit Tobias auf uns zu. Tobias grinste: »Das ist jetzt meine Freundin. Das ist jetzt meine Freundin!« Sie entkoppelte sich, kam freudestrahlend auf mich zu und gab mir einen Kuss.
Der Schwarzhaarige und der Lange aus dem weißen Cabrio hatten es auch geschafft, in die Halle zu kommen. Sie kamen zu uns. Der Schwarzhaarige umarmte Caro und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Noch die Hände an ihren Schultern, unterhielten sie sich kurz. Dann kam er zum mir, schaute mir in die Augen, schaute an mir herunter, griff mit Daumen und Zeigefinger an meine Brustwarze und drehte sie bis zur Schmerzgrenze. »Du hast es also geschafft. Ich bin Mirek. Ich kenne Caro schon sehr lange. Wir haben keine Party ausgelassen.«
»Ich bin Michael ...«
»Das ist Georg.«, stellte Caro mir den Langen vor, der bisher gar nichts gesagt hatte. Der mich ab und an von der Seite heimlich anschaute.
»... euch sieht man auf jeder Party. Und im Sommer hatte ich euch öfters im Cabrio in der Stadt gesehen.«
»Das habe ich mir vor ein paar Monaten gekauft. Mit dem waren wir auf Norderney gewesen.«, schwärmte Mirek, ohne einen Blick von Caro zu lassen. »Das war total cool!«, gab Caro direkt dazu. Wir unterhielten uns noch kurz. Dann nahm mich Caro an die Hand: »Komm, wir gehen mal rum.«
Spät in der Nacht fuhren wir wieder nach Hause. »Heute Nacht schläfst du aber bei mir!«
»Meinst’e?«
»Meinst’e ich! Caro du bist 21 Jahre alt. Keiner kann dir vorschreiben, wo oder wie lange du schlafen sollst.«
»Eigentlich hast du ja recht.«
Am anderen Morgen zauberte ich uns ein Schlemmerfrühstück in meiner Wohnung im Erdgeschoss meines Elternhauses, in der früher meine Oma lebte. Gegen halb zehn fuhr ich zum Bäcker und holte beim besten Metzger der Stadt frischen Aufschnitt. Samstags war immer Markt auf dem Rathausplatz. Hier kaufte ich biologisch angebaute Tomaten. Auf dem Rückweg kamen mir die Worte des Gastwirtes Willi in den Sinn: »Wenn man wie de’ Michel kein Alkohol trinkt, dann hat man auch keine Ramm-Allüren. Nachdurst, Kopfschmerzen, Drömeligkeit – das hat man dann alles nicht. Ne! Das ist so!«
Aus dem Garten meiner Eltern pflückte ich tiefrote Erdbeeren. Diese verarbeitete mein Cocktailmixer zu einem leckeren Erdbeermilchshake.
Ich setzte Kaffee auf. An der Wand hing noch der Filterhalter meiner Oma. Meine Kaffeeecke war an der gleichen Stelle wie bei meiner Oma auf dem alten Linde-Kühlschrank. In der Zeit, als die Wohnung vermietet war, verschenkte meine Mutter den Kühlschrank an ihre Freundin, welche eine Pension betrieb. Er war ein Stromfresser. Die Tür des Eisfaches fehlte schon zu Lebzeiten meiner Oma. Ich holte mir diesen Kult-Kühlschrank wieder. Die Freundin meiner Mutter half mir bei den Treppenstufen ihres Kellers. »Eure Oma war auch dein ein und alles!«
In dem besagten Schrank stand das Sahnekännecken, was ich ihr meistens noch beim Abendbrot oder Frühstück holen musste: »Michel, hol mir doch bitte noch das Sahnekännecken. Herr nei! Irgendwas vergesse ich aber auch immer!« Sie lachte auch gern mal über sich selber!
Ich deckte den Frühstückstisch. Der Holztisch und die beiden Stühle waren auch noch von Oma. Eigentlich war die Küche noch exakt so wie bei ihr damals. Die Mieter vor mir hatten eine Eckbank aufgestellt. Diese hatte ich wieder zurückgebaut, indem ich eine Seite abschraubte. Eine kleine Bank stand an der Wand, an welcher früher Omas Sessel stand.
Das rot, grau, blau gesprenkelte Porzellan wurde akkurat auf dem Holztisch angeordnet. Die Teller 2 Zentimeter von der Tischkante entfernt. Ein Messer lag jeweils auf den Tellern, ein Kaffeelöffelchen auf jeder Untertasse. Alle Frühstücksgaben waren nett auf Tellerchen oder Gläschen hergerichtet. Nur die Kaffeesahne war in der Dose. Das Sahnekännchen meiner Oma gab es nicht mehr. Es war ein Geschenk ihrer Tochter zu Weihnachten gewesen. Bevor sie das Kaffeekänneken bekam, stellte sie die Dose auch immer auf den Tisch. Es musste Sahne der Marke Glücksklee sein. Das war ganz wichtig! Wehe meine Mutter brachte beim wöchentlichen Großeinkauf eine andere Sorte mit.
Die Mitte des Tisches war mit dunkelroten Rosenblättern locker ausgelegt. Das Teelicht im Stövchen flackerte beruhigend vor sich hin. Es duftete nach frischen Brötchen, Erdbeeren und Kaffee. Die letzten Siedeverzüge verpufften aus der Maschine. Die ersten Sonnenstrahlen fielen durch den Buchenwald über dem Dorf auf den Tisch. Ein Frühlingslicht, ein besonderes Licht! Es war ein besonderer Tag! »Oh, stop! Der O-Saft!« Zu jedem guten Frühstück gehört ein Glas Orangensaft. Schnell wurden noch Gläser und eine gekühlte Flasche Saft hinzugestellt.
Der gemütliche Kaffeeduft musste wohl die Partymaus in die Küche gelockt haben.
»Oh! Das sieht aber schön aus!«
»Danke! Nehmen sie Platz an der Tafel.«, scherzte ich. Caro machte es sich auf der Bank bequem. Ich schenkte ihr eine Tasse Kaffee ein. »Der Schwarzhaarige hat dich ja gestern Abend ganz schön angehimmelt.«
»Das macht der schon ziemlich lange. Aber das wäre nie etwas geworden. Der arbeitet bei uns in der Firma. Für mich sind wir gute Freunde, mehr nicht.«
Wir quatschten, wir lachten, wir schlemmerten gemütlich vor uns hin. Wir erzählten uns über unsere Familien und stellten fest, dass wir sehr ähnlich aufwuchsen. Unsere Omas wohnten beide mit im Haus, im Erdgeschoss. Beide waren für uns besondere Menschen, zu denen wir gerne hingingen. »Wir saßen im Sommer immer in der Hollywood-Schaukel bei unserer Oma. Wenn Roland und Christian da waren, haben wir öfters so fest geschaukelt, dass wir vor die Wand knallten und der Putz ein bisschen abrieselte. Da hat Oma immer geschimpft.«
»Unsere kam immer hoch, wenn wir auf den Sofas herumhüpften. Onkel Thomas fand das immer lustig. Der sagte: »Man hörte nur die Tritte auf dem Boden. Wenn ihr auf den Sofas wart, war es wieder leise.« Thomas und Josi musst du unbedingt kennenlernen. Da fahren wir mal hin. Bei denen bin ich mindestens einmal im Jahr. Samstags frühstücken wir auch immer stundenlang und dann geht es in die Stadt zum Shoppen.«
»Cool! Das können wir gern mal machen.« Caro nahm die letzte Erdbeere.
»Das war das beste Frühstück, das ich je hatte!«
Sie saß auf der Bank, genau an der Stelle, wo meine geliebte Oma gesessen, wo sie den Staufenkurier gelesen hatte.
Unser Brunch ging bis halb zwei. Caro fuhr wieder nach Münchhausen. Ich setzte mich noch einmal an den Tisch, auf die Bank, wo Caro saß, wo damals der grüne Sessel gestanden, in dem meine Großmutter jeden Mittag im Sitzen ihr kleines Mittagsschläfchen hielt. Öfters musste sie mich bitten, nach oben zu gehen. »Ich muss erstmal ein bisschen ruhen. Geh mal hoch, gleich zur Kaffeezeit kommst du wieder runter.«
Ich schaute noch einmal auf den Filterhalter aus Holz. Der Linde-Kühlschrank darunter war gefüllt mit Erinnerungen aus der guten alten Zeit. Unzählige schöne Stunden verbrachte ich in dieser gemütlichen Oma-Küche. Sie war zusammengestückelt, wie alle Oma-Küchen aus meiner Kindheit – schlicht, zeitlos, austauschbar. Neben dem 25 Jahre alten Kühlschrank stand das Spülbecken mit Abtropffläche, darunter die Geschirrschublade mit silberner, waagerechter Griffleiste. Unter der Spüle lagerten die »bunten Töpfe«. Meine Mutter besaß ein »langweiliges« Edelstahl-Topfset. Meine Oma hatte »bunte Töpfe«. So nannten wir Enkelkinder diese. Jeder Topf war anders. Sie waren schwarz, weiß, bemalt. Sie waren schwer, sie waren unverwüstlich. Sie hatten blaue, weiße oder rote Deckel.
Daneben stand der Elektroherd mit vier Platten – das modernste und neuste Stück der Zeile. Meine Oma hatte ihn nur noch ein paar Jahre benutzt. Sie hatte immer die Drehknöpfe verwechselt. »Michael, du musst mir das Mal auf einen Zettel schreiben. Hol mal die Bleifeder aus der guten Stube.« Am Tag drauf: »Guck dir noch mal deinen Zettel an!« Ich schaute. »Ist doch alles richtig!«
»Und hinten links?«
»Ja, das ist doch die Platte. Dreh mal an dem Schalter!«
»Michael! Links schreibt man mit ka, nicht mit ge. Das heißt nicht lings.« Sie wiederholte den Satz mehrmals und zog das g in die Länge. Dabei zog sie den Unterkiefer seitlich runter und sackte leicht zusammen. Wir amüsierten uns, wir lachten ausgelassen. Niemals wieder hatte ich links mit ge geschrieben.
Zuletzt kam der Nähschrank. In dem Nähkorb, welchen ihre Tochter, Tante Josi, ihr zu Weihnachten schenkte, lag immer die lange silberne Schere. Mit der wollte sie mir mal mein Hühnerauge abschneiden! Sie hatte die Schere schon angesetzt. Ich zog den Fuß aber rechtzeitig weg!
Der Nähschrank war ähnlich aufgebaut wie der Schrank unter der Spüle. Die Silberleiste war anders, der nach hinten versetzte graue Streifen dunkler. In der Schublade lagen der jahrzehntealte, Kochlöffel aus Holz, der unten schwarz war und andere Küchengeräte. Keiner konnte so gut Milchsuppe kochen wie meine Oma.
Die Oberschränke waren ebenfalls zeitlos weiß gehalten mit silbernen Griffleisten an den unteren Kanten. Im ersten Schrank, über dem Kühlschrank stand Agiolax. Das Mittelchen für die Darmpflege fehlte in keinem Ü-60 Schrank. Im Doppelschrank daneben standen die zwei Tassen, aus denen jedes der sieben Enkelkinder getrunken hatte: Eine weiße Emaille-Tasse mit der schwarz abgesetzten Beule am unteren Rand und das berühmte, verblaste gelbe »Minsken-Täsken«. Das »Minsken«, die Katze, war kaum noch zu erkennen. Eigentlich war nur noch ihr »Schatten« sichtbar. Im letzten Schrank waren die Backzutaten, die Süßigkeiten und Omas dickes, schwarze Portemonnaie.
Omas sind großzügig und lassen alles durch. Unsere Oma war da etwas anders. Wenn uns mal der süße Zahn auf dem Spielplatz drückte, gingen wir auf dem direkten Weg durch den Zaun zu ihr. Bei gutem Wetter saß sie auf der Bank vor ihrer Haustür. Wir bekamen natürlich auch immer etwas. Aber keine ganze Tüte: »Nimm zwei! Steht extra drauf!«
Ich verweilte in der Vergangenheit. Der alte Linde-Kühlschrank sprang an. Er summte vor sich hin. Ein vertrautes Geräusch aus längst vergangenen Tagen, aus einer schönen Kinderzeit!
Nachmittags bekam ich einen Anruf: »Ich kann heute Abend nicht zu dir kommen. Morgen kommt Mamas Freundin. Ich muss ihr eine Torte backen. Das ist ihr eben eingefallen. Eigentlich wollte sie einen beim Konditor kaufen. Aber nein – jetzt muss ich ihr eine backen. Das ist ziemlich viel Arbeit. Ich kann ja morgen Mittag mal zu dir fahren.«
Caro betrat zum ersten Mal die hochmoderne Penthouse-Wohnung von Thomas und Josephine in Görlitz. Meine Tante reichte ihr die Hand: »Hallo Caroline, ich bin die Josi. Schön, dich kennenzulernen. Michael hat am Telefon schon viel von dir erzählt. Oben habe ich gedeckt. Geht schon mal auf die Dachterrasse. Der Michael kennt sich hier bestens aus. Fühl dich wie daheim.«
Von der Dachterrasse hatte man einen sagenhaften Blick auf die Altstadt. Der mächtige weiße Frauenturm ragte aus den alten Gemäuern heraus. »Da gehen wir Sonntagmorgen hin.« Josi schmunzelte: »Caroline, da müssen alle mit hin. Alle Damen, die Michael mitgebracht hatte, mussten da mit hin. Das ist Pflichtprogramm. Weiß du noch Klara?«
»Oh ja!«
»Die hat gestreikt. Der war es zu weit. Die hat sich einfach an die Neiße gesetzt und gewartet, bis Michael wieder zurückkam.«
»Außer Maria! Die ist mit dir immer da hingegangen.«
»Ja stimmt! Die war nicht kleinzukriegen, auch beim Shoppen nicht. Mit der war ich am liebsten hier.« Klara und Maria waren meine Cousinen. »Sonntags Morgen geht es immer zum Dicken. So nennen die Görlitzer den Turm.«
»Okay.«
»Ist was Anderes wie der Oberstaufenwald, Caro, oder?«
»Oh ja!«
Der rechteckige Teakholztisch war liebevoll gedeckt. »Von dem Dicken aus hat man eine wunderbare Aussicht auf die Altstadt und das Neißetal. Michael ist da schon als kleiner Junge gern hochgegangen. »Von da kann man in alle Himmelsrichtungen gleichzeitig sehen«, hat er als Kind gesagt. Man sieht von da oben die vier Türme der Altstadt. Ich hab’ ihn dann gefragt, wie man die Himmelsrichtungen erkennen könne. Er sagte dann: »Na an den zwei Türmen, die zusammenstehen. Da ist doch die Mitte. Die Mitte ist immer richtig.« Wir lachten. »In Schmeltrin gibt es vier Frauentürme. In die kamen im Mittelalter alle emanzipierten Frauen.«
»Die Josi war auch schon öfters im Frauenturm!«, hörte man Thomas mit verstellter Stimme aus der Küche rufen. »Pass auf, dass du nicht gleich in einen Turm kommst!«, fauchte Josi frech zurück. »Wo bleibst du? Wir warten schon auf dich.« Mit der Stimme von Pumuckl ertönte es zurück: »Oh, die hoch eminente Josi wird gleich wieder ihr Klagelied im Frauenturm erklingen lassen.« Wir lachten aus vollem Herzen. »Bist du blöd.«, scherzte Josi.
Er kam auf die Terrasse, ging auf Caro zu. »Ah, da ist er ja!«, rief ich freudig. Caro stand auf. »Hallo, ich bin der Thomas. Hab’ schon viel von dir gehört.«
»Caroline«, Caro lächelte etwas schüchtern. Beim Händeschütteln zuckten seine Oberarmmuskeln. Die einbalsamierte Haut glänzte in der Sonne. Im ärmellosen Shirt und knapper schwarzer Shorts kam sein braungebrannter, durchtrainierter Körper zur Geltung. Josi beobachtete ihren Mann. Ihr attraktiver Gemahl und eine hübsche blonde junge Frau reichten sich die Hände. Josefine und Thomas achteten sehr auf ihre Figuren. Sie ernährten sich gesund, aßen viel Obst und Gemüse. Samstagnachmittag gab es einen frischgebackenen Kuchen. Das war die große Ausnahme.
Josi verteilte die Kuchenstücke auf die Teller. »Das brauch ich einfach. Wir schaffen beide in der Woche und dann will ich es mir am Wochenende auch mal gut gehen lassen.« Diese Angewohnheit des Kaffeetrinkens am Samstagnachmittag kannte sie aus ihrem Elternhaus. Ihre Mutter, meine Oma, legte da sehr großen Wert drauf. »Bei uns zuhause gab es jeden Sonntag einen Kuchen, selbst nach dem Krieg. Meine Mutter konnte aus einem Eimer Kartoffelschalen ein Dreigänge-Menü zaubern. Sonntags haben wir keine Zeit, da sind wir im Studio. Wir wollen fit bleiben.«
Thomas erzählte mit glänzenden Augen: »Weiß du noch, Michael, als du mit der Oma Walburga eine Woche bei uns warst?«
»Ja, da kann ich mich noch sehr gut dran erinnern. Beilken Ida war auch mit uns gefahren. Die saß im grünen Mercedes von meinem Vater hinten zwischen Oma und mir. Sie hat ihre Enkelin in Görlitz besucht.«
»Ach stimmt! Die war ja auch mal mit.«, freute sich Josi.
»Und der Michael hatte ein Wettrennen mit meinen Modellautos auf unseren Treppen gemacht, vom Keller bis hoch in das Dachgeschoss. Er nahm sich zehn Stück und würfelte für jedes Auto. Aber der alte Laster war immer als erstes oben.« Thomas zwinkerte mich lachend an. Wir alle lachten. »Das weiß du noch?«
»Einmal war Oma alleine hier bei euch. Da konnte ich es kaum erwarten, dass sie wieder zurück nach Oberhof kam. Ich stand unten bei Raulfs an der Kreuzung und wartete auf euch. Das dauertet und dauerte. Zum Zeitvertreib schrieb ich mit Kieselsteinen »Oma« auf die Straße.«
Schöne Kindheitserinnerungen kamen auf dein Tisch.
Ich schaute zu Josi: »Einmal haben wir zwei meinen Geburtstag gefeiert. Wir waren im Spielzeugladen in Zemburg und ich durfte mir ein kleines Modellhaus aussuchen. Danach haben wir bei Königs in Neukirchen einen heißen Kakao getrunken. Das war mein schönster Geburtstag.« Thomas ergänzte: »Das erste Modellhaus hast du von uns auf Weihnachten bekommen. Weiß du noch? Das war eine kleine Kapelle mit bunten Fenstern.«
»Ja, die haben wir auf eine Lampe vom Weihnachtsbaum gestellt.«
»Du warst so begeistert, wie schön die Fenster geleuchtet hatten.«
Wir erzählten.
»... wie war das noch mal mit dem »der Vati macht es mit der Kati?««, fragte Josi mich, schon leicht grinsend. Mit großen Augen schaute mich Caro an. »Vati mit Kati und Mammi mit Manni« Josi und Thomas amüsierten sich. »Das mit Kati und Manni scheint wohl die neue Seuche zu werden. Für Kinder sind Vater und Mutter nach wie vor am besten. Und das wird auch immer so bleiben!« Ich kam in Fahrt: »Die Vogelkinder in den Hecken sind besser geschützt als unsere Kinder in Deutschland! Bei den Vögeln ist das klar. Die brauchen Ruhe. Die sollen behütet aufwachsen. Da gibt es Gesetze drüber. Wann die Hecke geschnitten werden darf und noch viele andere Extras. Und unsere eigenen Kinder? Die Eltern trennen sich. Was denkt denn das Kind, wenn es auf der anderen Straßenseite Vati mit Kati sieht?«
Ich liebte diese gemütlichen, aber auch tiefsinnigen Stunden. Wir sprachen über die Oberhofer Originale, Rilkes Hennes, Greitgers Seppi, Schulten Treschen und viele andere, teils schon verstorben. Unzählige oberstaufenwälder Geschichten und Dönekes kamen auf den Tisch. Wir unterhielten uns über Gesundheit und Ernährung.
Und – ja und wir unterhielten uns über Politik und Psychologie, besonders meine Tante und ich. Wir vertieften unser gemeinsames Denken. Die Verbindung war ihre Mutter, meine Großmutter. Meine Großmutter hat mich, neben meinen Eltern, geprägt, wie keine andere Frau in meinem Leben. Josi und ich waren eine Seele. »... aufschreiben müsste man »Vati mit Kati, Mammi mit Manni«!«
»Ja mach das doch mal! Schreib das Mal auf! Einer muss den Menschen endlich mal wieder den Spiegel vorhalten!«
Was waren das für schöne Stunden in Görlitz! Mit Wehmut fuhr ich mit Caro am Sonntagnachmittag wieder nach Hause. Nach einigen Kilometern auf der A4 Richtung Westen verdrängte die Vorfreude auf das nächste Mal die leichte Trauer des Abschieds. »Hier fahren wir noch oft hin, nach Josi, nach Thomas, zum Dicken, nach »Neiße in Flammen«, zum Weihnachtsmarkt. Wir werden noch schöne Kaffeestunden auf der Terrasse erleben.«
Caro und ich liebten das lange Frühstücken und Kaffeetrinken. Wir gingen gern in den Wald. Mit dem Motorrad fuhren wir ab und zu durch die Gegend. Zum Shoppen fuhr Caro am liebsten nach Frankfurt. Mit unseren Freunden feierten wir gern bis spät in die Nacht.
Der Wäscheberg wurde immer größer. Caros flinke Hände immer schneller. Wenn sie freitags nach Hause kam, erledigte sie ihre auferlegten »Hausaufgaben« und fuhr zu mir. Samstags morgens nach dem Frühstück schaute sie dann bei ihren Eltern vorbei. Die Besuche wurden mit der Zeit immer kürzer. Das gefiel Bertha nicht. Es gab oft Stress zwischen Tochter und Mutter. »Mama ist total ausgerastet, weil ich ihr keine Bananen geholt habe!«
Bertha diktierte Caro des Öfteren auf, sonntags einen Kuchen zu backen. »Das kannst du doch wohl machen. Ich habe so viel für dich getan.« Dadurch saßen wir sonntags Nachmittag öfters bei Schmidts zum Kaffee. Mir gefiel es. ›Frau Schmidt hat ja schon ihren Kopf!‹, dachte ich. Ich naschte von dem Kuchen. ›Caro aber auch!‹ Ich schaute Frau Schmidt unschuldig an und genoss den köstlichen Kuchen.
Nach dem Kaffee fuhr Caro oft nach Tüddern. Bertha fiel der Abschied immer schwer. Bedröppelt stand sie jedes Mal auf dem Treppenstein vor dem Haus und schaute ihr gedankenverloren nach. Ludwig kam dazu, immer in seiner Yachtkleidung, mal für Sommer-, mal für Wintertage.
»Caroline, brauchst du noch Geld?«
»Nein, ich habe noch was.« Sie ging noch einmal ins Haus und holte ihre Jacke. Ludwig steckte ihr 50 Mark in die Tasche. »Da hast du noch ein bisschen.« Er schaute sie liebevoll an. Dann stieg er in seinen Firmenwagen und fuhr eilig davon. Caro fuhr nach Tüddern, neuerdings immer öfters mit mir. Ich fuhr sie zum Bahnhof und immer öfters direkt zum Internat.
»Heute Abend saufen wir!« Caroline stand den Samstag drauf im Bad und stylte sich. Es war Schützenfest. Das hörte sich aus ihrem Mund harmlos an. Mir schmeckte weder Bier, Wein, noch sonst irgendein alkoholisches Getränk. Bertha sagte nicht »unsere Caro säuft«, sondern »unsere Caroline trinkt ja doch mal gerne ein Bier.« Ich wusste bereits, dass es oft nicht bei einem Bier und dass es oft nicht bei einer normalen Zigarette blieb. Aber Bertha musste ja nicht alles wissen. Wir gingen in die Kneipe, in der wir uns vorher meistens trafen. Ich sagte wie selbstverständlich: »Willi – zwei Bier!« Der Wirt, der mir seit Jahren Apfelschorle ausschenkte, lachte sich auf seine unverwechselbare Art ins Fäustchen: »Du trinks’ Bier? Also nee! Also sowas ...« Er kicherte vor sich hin, schüttelte den Kopf, zapfte meisterhaft zwei frische Pils und grinste. »Also sowas! Dass ich das noch erleben darf. Der Michel trinkt Bier.« Willi kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.
Unsere Clique hatte Spaß auf dem Schützenfest. Wie war die Freude groß im ganzen Oberstaufenwalde, als ich angetrunken in der Schüttkirchener Schützenhalle stand. Diddi haute mir auf die Schulter. »Na siehst, es schmeckt doch gut, oder?« Worauf ich »nüchtern« antwortete: »Es schmeckt immer noch nicht, aber es wirkt!« Alle, die um uns rumstanden, lachten aus voller Brust. Ich nahm meine Caro in den Arm: »Du bist echt ein süßer Oski!«, strahlte ich sie an. Genauso wie bei unserer ersten Begegnung. »Dann bist du aber auch ein Oski.« Wir waren seitdem Tag die Oskis.
Tabus wurden gebrochen. Wir rissen uns heraus aus verklemmten Gewohnheiten und flohen in die grenzenlose Freiheit. Unsere Partnerschaft gab uns Halt. Wir stärkten uns gegenseitig. Caro löste meine verkrampfte Haltung zum Alkohol. Ich stärkte ihr Selbstvertrauen. Sie riss sich los von ihrer Mutter. Sie begann ihr Leben zu leben. Wir begannen, unser Leben zu leben. Wenn auch immer noch nicht ganz störungsfrei.
»Unsere Mutter ist gestürzt. Sie ist von einem Stuhl gefallen, beim Wäsche aufhängen.« Bertha lachte leicht abwertend. »Die meint auch immer noch, sie wäre fünfzig! Caro, fahrt doch mal zu ihr ins Krankenhaus.« Caro schaute auf den Tisch. »Ja, können wir machen. Also ich wäre dabei«, antwortete ich für uns beide. »Ihr könnt auch das Auto vom Ludwig nehmen, dann spart ihr den Sprit.«
»Bei der gab es dänische Plätzchen aus der Dose aus diesem alten Schrank.«
»Der Schrank ist gar nicht alt. Den hat der Schreiner auf der Schwattlenge nach alten Vorlagen gebaut. Der ist komplett aus Eiche, sogar die Rückwand. Der hat richtig viel Geld gekostet.«
»Meine Oma hatte auch so eine Plätzchen-Dose.«
Caroline hatte eine Oma! Wie gerne hätte ich in den Jahren eine Oma gehabt! Ich war jeden Tag bei meiner Oma. Wir sind zusammen spazieren gegangen, waren viel im Garten, haben gebacken oder gekocht.
Sie war für mich die Größte. Sie war ein gutmütiger Mensch. Leider starb sie, als ich im neunten Schuljahr war. Ich trauerte lange hinter ihr her. Seitdem hatten alle alten Frauen einen Stein bei mir im Brett. Das gefiel Bertha.
Caros Schritte wurden immer langsamer im Krankenhausflur. »Ah, da ist es ja!« Wir standen vor der breiten Tür. Caro machte keinerlei Anstalten, die Tür zu öffnen. Eine Krankenschwester kam uns zuvor. Die Tür öffnete sich. »So Frau Meyer, ihr Tee mit einem Schuss Honig.«
»Haben sie den Tee auch aufgeschüttet?«
»Ja das haben wir! Wir haben den Tee ordnungsgemäß aufgeschüttet, wie es sich gehört. Genauso, wie sie es uns aufgetragen haben.«
»Den Honig erst nach dem Ziehen mit einem Holzlöffel untergerührt?«
»Na klar, Frau Meyer.«
»Weh nicht! Ich schmecke das sofort! Wehe sie haben einen Eisenlöffel genommen.« Die geduldige, freundliche Schwester schaute uns verschmitzt an. »Frau Meyer! Das würden wir niemals wagen. Schauen sie mal, sie haben Besuch.« Frau Meyer schaute aus dem Fenster. »Besuch? Ah, unser Bertha, sonst kommt ja doch keiner. Und selbst die kommt selten. Da hat man sieben Kinder in die Welt gesetzt und im Alter ist man doch alleine!«
Sie saß im Bett mit blauen Flecken im Gesicht. Sie saß im Krankenbett mit ihren 96 Jahren, mit ihrem gebrochenen Oberarm und wetterte vor sich hin. Die Krankenschwester verließ den Raum. Wir gingen zum Bett. Caro gab ihr die Hand. Sie schauten sich nicht an. Es fiel kein Wort. Ich reichte Frau Meyer die Hand. Sie strahlte mich an! »Das ist aber schön, dass ihr mich besuchen kommt!«
Die alte Frau Meyer rückte sich zurecht, um den Tee trinken zu können. Wir stellten uns vor das Bett, Caro links, ich rechts. Frau Meyer erzählte vor sich hin: »Ich habe mein ganzes Leben hart gearbeitet, habe zwei Kriege erlebt. Ich habe noch die stolze Kaiserzeit erlebt.« Klara Meyer strahlte! Für einen kurzen Moment strahlte und träumte sie. Die alte Frau schaute zu mir hoch. »Macht euch ein schönes Leben!«