Berufswerk - Manfred Baehr - E-Book

Berufswerk E-Book

Manfred Baehr

4,4

Beschreibung

In diesem Band werden einige ausufernde Ereignisse unserer aktuellen Arbeitswelt beschrieben. Was widerfährt etwa dem selbstständigen Grafiker, falls die durch Existenzängste geschaffenen Werke sich unbarmherzig gegen ihn wenden? Eine Nachtschicht mit befremdenden Problemen belastet wird? Die Ärzte uns in einem Wartezimmer (fast) vergessen? Ein Psychologe an seiner Aufgabe (ver-)zweifelt? Ist es undenkbar, dass ein fehlerhafter Strichcode die an sich schlichte Warenbestellung in ein rätselhaftes Labyrinth ausufern lässt? Oder die Fülle einer zu schreibenden Geschichte die körperlichen Grenzen eines Autors strapaziert? Wenig überraschend wirkt ein unbarmherziger Erfolgsdruck verheerend auf einen jungen Programmierer. Und wie verhalten wir uns einem mysteriösen Boten gegenüber, dessen Nachricht wir nicht verstehen?

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für B.

 

Manfred Baehr

Fronhof 1

53520 Reifferscheid

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Nachtschicht

Programmierer

Logistiker

Glücks-Götter

Wartezimmer

Psychologe

Grafik

Geringfügig Beschäftigt

Lektorat

Diktat

Berichterstattung

Bote

Werdegang

Busfahrt

Leere Seiten

Gute Nacht John Wayne

Himmlisches Beamtentum

Vorwort

Allen, die dem ganz normalen Arbeitsalltagshorror noch nicht begegnet sind.

Aber auch denjenigen, die manch alltägliche Situation nur schwer ertragen.

Als Hinweis und Warnung!

Statt einem Vorwort folgender Apéritif:

Karl Gustav war es doch tatsächlich gelungen, in kürzester Zeit einen gut lesbaren, kurzweiligen Roman zu schreiben. Niemand, wirklich niemand, geschweige denn er selbst, hatte ihm diese Fähigkeit zugetraut. Die Scham vor Dilettantismus ließ ihn vorsichtshalber schweigend arbeiten. Um keinen Preis mochte er sich dem möglichen Spott und Hohn einer Leserschaft aussetzen. Nach Fertigstellung und mehrfacher Durchsicht wuchs der Wunsch nach Lesern allerdings mächtig an. Schließlich fiel die Wahl auf seinen besten Freund. Dessen verblüfft begeisternde Anteilnahme ermutigte Karl Gustav, ein Exposé an verschiedene Verlage zu senden. Zu diesem Zweck holte er sich die Datei von seinem Freund zurück.

Die freundlichen Reaktionen der Verlage machten Karl Gustav zu einem glücklichen Menschen, konnte er doch zwischen verschiedenen Angeboten frei wählen. Zufriedenstellend waren alle. Noch am selben Abend wollte er seine geliebte Anna mit dieser großen Neuigkeit überraschen.

Anna begrüßte ihn an der Haustür mit den Worten: „Ich musste heute deinen Rechner benutzen, da ich dringende Bestellungen zu erledigen hatte. Dabei öffnete sich wieder und wieder ein und dieselbe Datei. Auch nachdem ich sie geschlossen habe, tauchte sie automatisch sofort wieder auf.“ Karl Gustav verstand nichts von den Funktionen eines Schreibprogramms oder Computers. Also konnte er jenes automatische Öffnen der Datei nicht verhindern und hatte sich auch nicht um eine notwendige Sicherung bemüht.

„Normalerweise spioniere ich ja nicht“, fuhr Anna fort. „Aber da es sich um einen ganz offensichtlich völlig belanglosen Text oder langweilige Fortsetzung handelt und ich meine Bestellung so dringend erledigen musste, blieb mir nichts anderes übrig, als diese Datei zu löschen. Es war hoffentlich nichts bedeutendes. Du bist mir deswegen doch nicht böse, mein Schatz?“

Nachtschicht

Jeden Abend dieselbe Mühle. Pünktlich um zweiundzwanzig Uhr am Tor des Instituts. Keine Minute früher. Aber auch keine Minute später. Sonst gab es Ärger mit dem Kollegen. Der erwartete P. mit fertig gepacktem Köfferchen an der Tür. Kurzer Gruß und weg war der Herr Kollege. P. betrat die Pforte, sah sich um, legte sein Zeugs auf den dafür vorgesehenen Platz und setzte sich in den Stuhl. Die Rückenlehne berührte ihn kühl durch sein Hemd. Verweilen. Die Zeit baute sich in übersteigerter Dimension vor ihm auf. Eine ganze Nacht. Unendlich lange von dieser Minute an betrachtet. Drohende Langeweile.

„Hoffentlich kann ich heute Nacht einige Seiten lesen und damit die Zeit vertreiben. Ja: Ich möchte sie vertreiben - die Zeit. Sie ist mein Feind. Die nächsten neun Stunden. Fünfhundert vierzig Minuten. Zweiunddreißigtausendvierhundert Sekunden. Eine Sekunde ist allerdings nichts. Sieben vergehen während ich diesen Satz denke. Es sind demnach gut viertausend sechshundert Gedanken nötig um diese Nacht hinter sich zu bringen. Zu viele, um nicht zu ermüden. Dabei ist mir eine gedankenlose Zeit zuwider. Vielleicht lenken mich die Kontrollgänge ab. Auf jeden Fall werde ich vorschriftsmäßig und aufmerksam durch die Gänge wandeln. Alles kontrollieren. Das kostet Zeit. Bringt mich dem Dienstschluss also auch ein gutes Stück näher.“ Der erste Blick zur Uhr.

„Dabei habe ich mir untersagt, auf die Uhr zu schauen. Höchstens einmal die Stunde. Oder vielleicht doch besser einmal jede halbe Stunde. Schaffe es nicht, eine ganze Stunde lang nicht hinzuschauen. Bloß nicht zu viel Druck aufbauen. Einmal jede halbe Stunde. Den ersten Blick habe ich gerade getan. Also darf ich den nächsten nicht vor zweiundzwanzig Uhr dreißig riskieren. Und schaue ich aus Versehen früher, darf ich erst wieder nach dreiundzwanzig Uhr schauen. Damit unterdrücke ich den Wunsch, meinen Blick auf das runde Ding zu heften.“

P. packt seine vorbereiteten Sachen aus. Kaffee. Etwas zu essen. Allerdings keine großen Mengen, um keine Mahlzeitmüdigkeit zu riskieren. Auch nicht zu viel Kaffee. Damit der Magen nicht rebelliert. Er muss auf die Nahrungsaufnahme achten. Denn ein langer Toilettengang ist während seiner Dienstzeit nicht vorgesehen. Alles kontrolliert. Alles im Gleichgewicht. Um diese Nacht gut zu überstehen. Um sich auf die freie Zeit zu freuen. Vielmehr: befreit sein von der nutzlosen Last einer verlorenen Nacht.

Zwei Klicks und die beiden Monitore zeigen ihr Schwarzweißbild. Eines an der Schranke zur Einfahrt. Eines am Hintereingang. Nutzlos. Denn diese beiden Flecken werden in der Nacht von niemanden aufgesucht, außer vielleicht von den Wesen der Nacht. Es besteht die geringe Hoffnung, einen Fuchs zu beobachten. Oder ein Wiesel. Oder welches lebendige Nachtwesen auch immer. Diese Erwartung hatte P. schon einmal vor den Bildschirmen einschlafen lassen. Geweckt wurde er von der Warnglocke, die ihn auf den Pflichtrundgang alle drei Stunden aufmerksam machte. In der Zeit danach unterließ es P. unbeweglich auf die Monitore zu starren. Seufzend bediente P. einige Schalter, die Beleuchtung, die Heizungsanlage und Zentralverriegelung betreffend. Danach wieder Platz nehmen.

„Darf ich schon ein weiteres Mal auf die Uhr schauen? Bestimmt ist noch keine halbe Stunde vergangen. Lieber nicht. Ich wäre enttäuscht, wie langsam die Zeit vorüber kriecht. Also verzichten, verschieben, abwarten.“ Ein Licht an der Telefonzentrale leuchtet.

„Welcher Idiot ruft denn um (nein - ich schaue nicht auf die Uhr) ... so spät im Institut an?! Muss doch klar sein, dass jetzt niemand mehr an seinem Platz sitzt. Der Konferenzraum ist ebenfalls dunkel und abgeschlossen. Außer mir wird niemand im Gebäude sein.“ P. zögert. Dann hebt er ab, betätigt den erleuchteten Knopf und meldet sich: „Hier P.M.. Wen bitte wünschen Sie um diese Zeit zu sprechen?“ Er hoffte, den beabsichtigt ironischen Ton getroffen zu haben.

„Hallo! Wer ist da? Wen wünschen Sie zu sprechen?“ Ein Knistern antwortet. Falls der Gegenüber bereits aufgelegt hat, so hat P. diesen Klick nicht wahrgenommen. Es scheint, dass da noch jemand am Apparat ist. Allerdings irritiert dieses laute Knistern. Vielleicht eine fehlerhafte Verbindung aus dem Ausland?

„Hello? Yout want to speak with someone? Please answer!“, versucht es P. in einer anderen Landessprache. Nichts, nur jenes Knistern. P. verharrt noch eine kleine Weile. Dann legt er den Hörer auf. „Dieses Ereignis hat mir mehr als vier oder fünf Sätze an Zeit gewonnen. Vielleicht muss ich nur Suchen und auf Kleinigkeiten achten, um mir die Zeit im Gebäude zu vertreiben. Diesen Gedanken nehme ich mit auf den ersten Rundgang.“

P. lehnt sich an das kühle Rückenteil und verschränkt die Hände hinter seinem Kopf. Ein Blick auf die Monitore. Nichts. Kein Blick auf die Uhr. Noch war es nicht soweit. Auch wenn er gerne gewusst hätte, wie lange er bereits hier sitzt. Je länger er den Zeitpunkt nach hinten schiebt, desto größer die Überraschung. Er freute sich auf diesen Moment. Einen Schluck Kaffee trinken. Einen Biss vom Müsliriegel. Die Zeitung ausgepackt. Zwar war P. die tägliche Berichterstattung über Katastrophen oder die Aufarbeitung der gestrigen bzw. vorgestrigen zuwider. Doch war es ihm nicht vergönnt, seine Gedanken auf ein Buch zu konzentrieren. Und seichte Romane verabscheute er noch mehr als die tägliche Zeitungslektüre. Früher, da hat er für sein Leben gerne Kriminalromane gelesen. Allerdings war das schon lange vorbei. Eine glücklichere Zeit. Er vermisste diese Abwechslung aus ehemaligen Dienstabenden.

Patricia Highsmith. Obwohl, sie war ja eigentlich keine Krimiautorin. Er zählte sie trotzdem zu der Riege. Sogar als eine der Ersten. Ihre Figuren wandelten am Abgrund, nicht zuletzt wegen unerfüllter, aber durchweg menschlicher Bedürfnisse. Er erinnerte sich an „Lösegeld für einen Hund“ und versuchte, die Story zu rekonstruieren. Wie lange war es her, dass er dieses Buch gelesen hatte? Fünfunddreißig Jahre vielleicht? Er musste das unbedingt überprüfen. Vielleicht hatte er in den Buchdeckel das Lesedatum eingetragen. Er notierte sich in einem Notizkalender diese Absicht. Gleich morgen wollte er nachschauen. Gleich morgen!

Wen hatte er noch gerne gelesen? Der Name wollte ihm nicht einfallen. Grübeln ist ebenfalls ein prima Zeitvertreib. Vielleicht sogar der Kostbarste. Obwohl es ein bitteres Gefühl war, einen bevorzugten Autor nicht mehr mit Namen zu kennen.

Eric Ambler! So hieß er. P. hatte alle Bücher von ihm gelesen. Das mochte nur kurz nach der Lektüre von Highsmith gewesen sein. Richtig. Amblers Krimis näherten sich dem nüchternen Journalismus. Ungemein spannend. Aktuell. Damals. Naher Osten. Revolution. Krieg. Wirtschaftskriminalität.

Die Laune P’s wurde immer besser. Waren das Zeiten! Jetzt fielen sie ihm alle wieder ein: Per Sjöwall und Maj Wahlöö. Neun Bücher. In kürzester Zeit verschlungen. Und wieder gelesen. Ein Holländer: Janwillem van de Wetering. Das war eine willkommene Ablenkung: Alle gelesenen Krimiautorinnen und Krimiautoren aufzählen. Er holte Stift und Papier. Denn sofort war ihm klar, dass er nicht alle behalten und zählen würde können, ohne sich zu wiederholen.

Engländerinnen fielen ihm ein: Celia Fremlin, Joan Aiken, Ruth Rendell (wahlweise Barbara Vine), P. D. James, Minette Walters. Von der Walters stand ihm sogar ein Buchtitel vor Augen: Das Eishaus. So war es richtig. Nach Nationen vorgehen. Aber viel einzuordnen gab es da nicht. Aber es war ein Anhaltspunkt. Amerikanerinnen: Martha Grimes, Elizabeth George, Margaret Millar. War Joan Aiken denn Amerikanerin? Nein. Nun musste er doch wieder nach Namen vorgehen und die Nationalität weglassen. Boileau/Narcejac, Margery Allingham, Muriel Spark, Ngaio Marsh. Max Allan Collins war sicher Amerikaner. Überhaupt gab es einen Bruch in der Lesehistorie. Wilkie Collins. Ross Thomas. Und dann der unvergleichliche James Ellroy. Dass man dergleichen überhaupt las, blieb ein Rätsel. Brutal. Dunkel. Nein: Schwärze. Ein gähnendes Loch der Verzweiflung, Niedertracht und der Brutalität. Abermaliger Wandel. Doch nicht weniger brutal. Die Nordmänner: Henning Mankell, Ake Edwardson, Arne Dahl. Vor allem Letzterer. Da schüttelte es einen heute noch.

Irgendein Exot? Allerdings: Fred Vargas. Eine Französin. Toll zu lesen. Einfallsreich. Doch mit ihr und Arne Dahl verbindet sich eine endgültige und sehr bedauerliche Abkehr vom Krimi. Es ging einfach nicht mehr. Bestenfalls Langeweile. Niemals hätte P. es für möglich gehalten, das Interesse an einem Krimi zu verlieren. Alleine der Gedanke, dass es einmal einen Abgesang geben könnte war völlig abwegig, schien das Lesevergnügen doch unwiderruflich. Welch ein Irrtum!

„Jetzt darf ich auf die Uhr schauen.“ Ganz bewusst und im Vorgefühl der Befriedigung hob er seine Augen zu dem feindlichen Rund. Es war bestimmt schon mehr Zeit vergangen als ....

Zehn nach zehn Uhr. Es dauerte tatsächlich einige Zeit, bis P. seinen Blick senkte und sich irgendwelche Gedanken einstellten. Das war nicht möglich! Er starrte auf das Blatt Papier vor ihm. Darauf waren all die Namen versammelt. Und er hatte bestimmt eine halbe Stunde, wenn nicht viel länger, nachdenken müssen, um sich ihrer zu erinnern.

„Dabei habe ich mir sogar konkret einzelne Bücher ins Gedächtnis gerufen. Unmöglich, dass dies in nur zehn Minuten geschehen sein soll.“ P. trug keine Uhr. Um nicht in die Falle zu tappen, ständig auf das Zifferblatt zu starren.

„Sie muss stehengeblieben sein. Das ist es. Wahrscheinlich haben wir bereits nach elf Uhr.“ P. überlegte, wo die nächste Uhr im Gebäude sein könnte. Er griff nach der Taschenlampe und dem Schlüsselbund. Die Lampe war mit einem Griff gefunden. Der Schlüsselbund? Er war verschwunden. Ps. Herz schlug etwas schneller. Das durfte eigentlich nicht sein. Sein Kollege hatte diesen korrekt an ihn übergeben. Klar und deutlich sah er dieses Bild vor sich. Er musste also den Schlüsselbund irgendwohin gelegt haben. Aber wohin bitte? Der Schreibtisch war leer. Die drei Schubladen. Die zwei Schranktüren. Kein Schlüsselbund. Auf dem Boden. Auf dem Sicherungskasten. In dem Sicherungskasten. Nochmals den Boden absuchen. Nichts. Alle Taschen abtasten. Ein Fluch entrang sich Ps Kehle.

„Wo kann dieser verdammte Schlüsselbund abgeblieben sein? Es ist doch nicht möglich, dass er aus dieser Pforte von alleine heraus marschiert sein soll. Ruhig bleiben. Ich übersehe etwas. Habe etwas vergessen. Ruhig. Zuerst den Rundgang machen und nach einer Uhr Ausschau halten. Danach werde ich abermals die gesamte Pforte absuchen. Und dabei wird er mir sofort in die Hände fallen. Bleibt die Frage, wie ich ihn habe übersehen können. Also los jetzt.“

P. griff nach der Lampe und machte sich auf den Weg durch die leeren Gänge. Alle Türen sollten verschlossen sein. Er versuchte jede Einzelne. Denn in der Hoffnung, irgendwo die Uhrzeit angezeigt zu finden, konnte er dieser Kontrolle ein höheres Maß der sonst üblichen Aufmerksamkeit widmen. Nirgendwo ein Licht. Abgesehen von der Notbeleuchtung der Gänge. Alle Türen verschlossen. Keine Sicht auf eine Uhr. Ab in den nächsten Stock.

Der Vorgang wiederholte sich für den dritten, vierten, fünften und sechsten Stock. Ps. Verunsicherung nahm bei jedem Schritt zu. Sein Herz schlug ihm bereits bis zum Hals. Keine offene Bürotür. Kein Fenster. Auf das Dach konnte er nicht gelangen. Höchstens über die Feuerleiter. Doch er traute sich nicht, diese von der Decke im Obergeschoss zu lösen und auf das Dach zu klettern um in den Nachthimmel zu schauen. Denn das würde bei der örtlichen Feuerwehr Alarm für dieses Institut auslösen. Auf diesen Ärger am nächsten Tag konnte er gut verzichten. P. blieb atemlos im sechsten Stock und verharrte, um nachzudenken. Was war überhaupt geschehen? Nichts Besonderes. Er hatte ein wenig geträumt und dabei angenommen, dass die Zeit vorüber geeilt sein sollte. War sie aber nicht. Einfach ein Wachtraum. Beziehungsweise eine Einbildung. Also musste er nur diese Stufen hinabsteigen und seinen Blick erneut auf die einzige ihm zugängliche Uhr im Gebäude richten. Das würde alles wieder ins Lot bringen. Er würde über seine Aufregung lachen und diese Arbeitsnacht nicht so schnell vergessen. P. hastete die Gänge und Stufen in Erwartung der Auflösung jener Absurdität hinab. Kurz vor der Pforte verharrte er. Die Spannung war unangenehm hoch. Sollte er nicht vorher an der frischen Luft sein Hirn durchlüften lassen? Die Pforte wie einen verfluchten Ort meidend schritt er zur Flügeltür. Nur, um sie verschlossen vorzufinden. Nun verlor er die Fassung. Denn dass er sie abgeschlossen hatte, war ihm nicht bewusst. Überhaupt: Mit welchem Schlüssel?!? Vielleicht hatte der Kollege abgeschlossen? War das auch die Erklärung für die Abwesenheit des Schlüsselbundes? Noch vor dem Rundgang war er sich doch absolut sicher gewesen, den Schlüsselbund ausgehändigt bekommen zu haben. War das Einbildung? Und hatte der Kollege von außen die Eingangstür verschlossen? War das vielleicht alles nur ein dummer, aber bösartiger Scherz? Nein. Für einen solchen Scherz waren sie sich einfach zu fremd. Er würde dies als ungemeine Frechheit aufnehmen und dem Kerl gehörig die Leviten lesen. Und zwar heftig.

Also zurück zur Pforte. An der Tür verharrend, war es P. unmöglich, NICHT zur Uhr zu schauen. Zehn nach Zehn. Die Zeiger hatten sich nicht bewegt. Zehn nach zehn Uhr. Ein völlig losgelöster Schrecken durchfuhr seine Glieder. Er spürte den Herzschlag in der Fingerkuppe seines rechten Zeigefingers. Sofort machte er sich auf die Suche nach dem Schlüsselbund. Vergebens. Hatte er ihn vielleicht während der hektischen Durchforstung aller Etagen verloren? Unsinn. Er hatte ihn ja gar nicht dabei gehabt. Oder war die Kontrolle seiner Hosentaschen vielleicht nicht genau genug gewesen? Völlige Verunsicherung ließ P. erneut zur Taschenlampe greifen. Er jagte aus der Pforte. So unsinnig wie vergebens diese Suche auch sein mochte: Seine Gedanken bestimmten, nein zwangen ihn dazu. Nach der ersten, vollständigen Kontrolle bildete sich P. ein, nicht aufmerksam genug nachgeschaut zu haben, und wiederholte die Prozedur.

Außer Atem gelangte er abermals an die Pforte. Die Suche war ergebnislos verlaufen. Lange hielt P. seinen Blick streng auf die Stelle vor seinen Füßen gerichtet. Doch konnte er den Moment nur aufschieben. Nicht verhindern. Er hob den Kopf und erblickte: Zehn Minuten nach zehn Uhr. Im jäh erwachten Zorn warf er die Taschenlampe gegen das Uhrgehäuse über ihm. Sie prallte ab, flog zu Boden. Das Glas der Lampe zerbarst. Er rannte wild zur Eingangstür. Zog. Boxte und schlug auf das Glas ein. Ohne Ergebnis. Sicherheitsglas.

Absolute Dunkelheit vor der Tür. Schnell zurück zu den Monitoren. Unverändertes, stillhaltendes Bild. Geschlossene Einfahrtschranke. Verschlossene Sicherheitstür am hinteren Teil des Gebäudes. Sofort machte P. sich auf den Weg zu dieser Tür. Obwohl ihm klar sein musste, dass diese auf jeden Fall verschlossen sein musste. Dafür war in jedem Fall gesorgt.

Aber vielleicht verband P. eine Hoffnung mit diesem Weg. Dass die Uhr weiterlaufen würde. Dass der Schlüssel in einer Ecke lag, die er als einzige noch nicht abgesucht hatte. Dass - ja - welche andere Hoffnung sollte sich sonst noch mit dieser kurzen Abwesenheit verbinden?

Als P. von der fest verschlossenen Tür des Hintereingangs zurück zur Pforte gelang, die Uhr zehn Minuten nach Zehn anzeigte, der Schlüssel in keiner Ecke dieses Gebäudes zu finden war, griff P. nach dem Hörer um Hilfe zu rufen. Bis hierher war der Gedanke bestimmend, sich mit einem Anruf nicht der Lächerlichkeit preiszugeben. Nun, nach welcher Zeit auch immer, empfand er keine Bedenken mehr vor einer eventuellen Lächerlichkeit. Vielmehr suchte er nach Erlösung aus dieser Situation. Gleich um welchen Preis.

In diesem Moment leuchtete dieselbe Taste der Telefonzentrale wie zu Dienstantritt. Weshalb P. keine Erleichterung empfand, blieb rätselhaft. War dies nicht der ersehnte Kontakt nach draußen? Der vernehmbare Ruf nach Hilfe? Und doch zögerte er. Das Blinken brach nicht ab. Der Gegenüber suchte unnachgiebig das Gespräch mit ihm und gab nicht auf. Wie in Trance hob P. den Hörer und horchte, ohne ein eigenes Wort zu sprechen, auf das bereits bekannte Rauschen in der Leitung. Sein Herz schlug mittig in seinem Kopf.

Dann endlich vernahm er einen Ton. Es war eine Art Klingeln von kleinem, allerdings nicht leichtem Metall. Stumpf. Ganz so, wie von mehreren dünnen Metallteilen. Zum Beispiel von einem Schlüsselbund. Und eine sachliche Stimme informierte: „Willkommen in der Hölle!“

Programmierer

„Na Strovel, fühlen Sie sich dieser umfangreichen Aufgaben gewachsen?“

Ein Lächeln umspielte die Mundwinkel des Chefs. Strovel war sich der Intention dieser Frage wohl bewusst. Hier wurde keine ehrliche Antwort erwartet. Vielmehr eine Verpflichtung. Gleich welcher Tragweite. Und Strovel war sich des Ausmaßes in diesem Moment tatsächlich nicht bewusst. Es gab immer Tücken und Hindernisse, die im Vorfeld gar keine Rolle spielten. Ecken, die nicht ausgeleuchtet waren. Stufen, in der Dämmerung nicht genau wahrnehmbar. Fallgruben, die sich mit einbrechender Dunkelheit zu wirklichen Gefahren auswuchsen. Noch war er kein Programmierer mit unerschöpflicher Erfahrung. Sich diese Tatsache zu vergegenwärtigen, dazu reichte seine Aufrichtigkeit.

Die Versicherung A & T hatte für diese Filiale nicht den teuersten Programmierer ausgewählt. Jedoch jemanden mit ausreichender Reputation. Dessen war sich Strovel bewusst, bevor er dem Chef antwortete.

„Die Aufgabe wird in der dafür vorgesehenen Zeit erledigt werden.“

„Genau das will ich vor dem Beginn meines Wochenendes hören, Strovel!“

Wieder zeichnete sich ein schäbiges Lächeln auf dem Gesicht seines Vorgesetzten ab. Nun erfasste das Grinsen sogar dessen Wangen. Wie schaffte es dieser Mensch, seine Gesichtsmuskeln derart gekonnt einzusetzen?!

„Ich bin mit meiner Familie zu einem Segeltörn auf der Ostsee geladen. Das Mobiltelefon bleibt derweil zu Hause. Hätte ohnehin keinen Kontakt. Deshalb ist es mir wichtig, dass diese Frage im Vorfeld geklärt ist. Ich möchte betonen, Strovel, dass es mich nur einen Anruf kostet, von der Zentrale bis morgen jemanden anzufordern, der ihnen unter die Programmierarme greifen kann.“

Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Jetzt auf gar keinen Fall kneifen! Allen Eventualitäten zum Trotz. Strovel sollte das schon schaffen. Es ging ja lediglich um eine verflixte Umsatzidentifikationsnummer, die an allen Stellen des Programms abgefragt, erfasst, gespeichert und weiterverarbeitet werden sollte. Anderthalb Tage standen ihm zur Verfügung. Von Freitagabend zweiundzwanzig Uhr bis Sonntagmorgen zehn Uhr. Zum ersten Mal stand Strovel vor einer solchen Herausforderung. Alleine. Aber genau das wurde von ihm erwartet. Aus Kostengründen sollte, ja durfte niemand aus der Zentrale erscheinen. Jede einzelne Filiale hatte autonom zu funktionieren. Das war das Credo dieser Versicherungsfirma. Eben jener maximierte Gewinn durch Einsparung von Personalkosten. Letzteres ermöglichte ja Ersteres überhaupt erst. Scheiterte Strovel an dieser Aufgabe, so konnte er seinen Job vergessen. Es war also keineswegs verwunderlich, dass jene Aussicht auf das kommende Wochenende ein mulmiges Gefühl in Strovel verursachte. Vom Magen aufwärts in Richtung Hirn.

‚Ach was. Ich scheiß´mir nicht in die Hose, bevor es überhaupt losgeht! Zu Hause nochmal geduscht, alle Literatur und Hilfsprogramme eingepackt. Und dann frisch ans Werk. Habe ich dieses Wochenende überstanden, so hab ich die Feuertaufe hinter mir und kann der Zukunft in dieser Firma beruhigter entgegensehen.‘

„Nochmals: Ist alles klar, Strovel?“

„Jawohl Chef!“

Abtritt des Chefs.

Singularität

Frisch geduscht, bepackt mit auserkorenen Hilfsmitteln, machte sich Strovel frisch ans Werk.

„Zuallererst eine Sicherheitsdatei ziehen, bevor irgendetwas anderes unternommen wird. Verdammt schneller Rechner. Sicherheitshalber noch auf eine externe Platte sichern. Danach schaue ich mir die Struktur an. Zuletzt wird der Programmschlüssel studiert.“

Strovel fühlte sich gut. Strovel fühlte sich gesichert. Der Programmschlüssel ist hinterlegt. Verständlich und klar. Eine kurze, eigentlich überflüssige Lektüre der Programmiersprache „C“ - und schon geht es los: „Genau definieren, an welchen Stellen die Abfrage erfolgen soll.“

Es zeigte sich, dass dies an mehr Stellen im Programm nötig werden würde, als erwartet. All die verschiedenen Eingabeformulare für Mitarbeiter/innen. Dazu natürlich die der Außenmitarbeiter/innen. Schließlich diejenigen der Kundinn/en.

„Sollte ich zentralisieren und eine Abfrage mit Zugriff auf eine gesonderte Zeile aufbauen oder an jeder einzelnen Stelle die Abfrage einfügen? Was kostet mich mehr Zeit? Welcher Vorgang ist sicherer?“

Strovel überlegte, zieht Sekundärliteratur zu Rate.

„Scheint gleich. Dann entscheide ich mich aus dem Bauch für eine Anfrage an jeder dafür vorgesehenen Stelle. Einmal programmiert kann ich sie durch copy & paste einfügen. Vielleicht sind dadurch weitere Abzweigungen, die später eingefügt werden müssen, eher zu bearbeiten. Ich soll ja mitdenken. Also auch an das, was noch kommen kann. Anforderungen an das Programm, die heute noch nicht bekannt sind.“

Strovel arbeitete aufmerksam. Machte an verschiedenen Stellen Pausen, um seinen Augen und dem Hirn die nötige Entspannung zu gönnen. Trank eine Tasse Kaffee, nahm eine Kleinigkeit zu sich.

„Bloß nicht zu viel, damit ich nicht müde werde! Wenn alles gut läuft, bin ich noch heute Nacht hier raus. Morgen kann ich zur Absicherung nochmals Kontrollen durchführen. Aber das war’s dann schon. Läuft doch prima.“

Die Freude über den Fortschritt rieselte angenehm animierend durch Strovels Körper.

„Programming Fail“

„Was?“ Der Berieselung durch Freude folgte die eiskalte Dusche. Einige Minuten saß Strovel still und untätig vor der blinkenden Fehlermeldung.

„Verdammter Mist. Wo soll ich denn einen Fehler produziert haben?“

Die Finger zitterten angesichts der Anzeige.

„Ruhig. Erst einmal tief durchatmen. Aufstehen. Ein paar Schritte gehen. Aus dem Fenster schauen. Und dann zurück an den Programmiertisch.“

Strovel geht genauso vor. Ließ sich besonders viel Zeit bei der Beobachtung einiger Vögel. Kommt wieder herunter. Das Herz schlägt fast schon wieder normal.

„Also nochmal. Anweisungs-Reihenfolge prüfen. Da hab ich vielleicht einen Fehler gemacht.“

Die Finger jagten über die Tastatur. Und das in einem Tempo, welches ungeübte Zuschauer an Virtuosität denken lässt. Allerdings etwas zu schnell für eine Programmierung. Denn Sicherheit geht vor Schnelligkeit in diesem Prozess. Der kleine Finger der rechten Hand zögert vor der Eingabe „Enter“. Klick.

Eine Reihe Zahlen und Buchstaben jagten über den Bildschirm.

„Uff. Das wäre geschafft.“

Erleichterung. Durchatmen. Befreiung. Allerdings kein Triumph. Dafür wäre es noch zu früh.

„Jetzt muss ich nur noch an die Datenvalidierung denken.“

Das Programm läuft immer noch durch. Strovel ist leicht irritiert. Denn so lange sollte dieser Prozess gar nicht dauern. Er ist geneigt, ihn abzubrechen. Da ein Abbruch an dieser Stelle zu Fehlern führen könnte, verzichtet er darauf und wiederholt den Spaziergang durch den Raum. Vögel beobachten. Möglichst lange. Schont die Nerven. Zurück zum Bildschirm.

Zahlen und Buchstaben jagen nach wie vor über den Bildschirm. Das kann nur ein Fehler sein. Eine Panne. Ein Versehen.

Plötzlich ein blinkender Punkt. Eigentlich zu groß für diese spezielle Anzeige. Nach einiger Zeit die Angabe: „Programming Fail“.

Strovel wurde von einer Sekunde auf die andere übel. Dieser Programmierungsfehler musste in tieferen Regionen zu finden sein, andere Felder ergriffen haben. Ihm entschlüpfte ein: „Um Gottes willen.“ Als hätte Gott auch nur einmal auf eines Programmierers Ruf gehört.

Mit zitternden Fingern fuhr er den Computer herunter. Wartete. Zählte bis fünfzig. Ließ ihn wieder hochfahren. Wartete abermals. Die Nerven zerrten in ihm.

Roter Kreis mit rotem Querbalken. „Out of Order.“

Durchfall. Strovel raste zur Toilette, riss den Deckel hoch. Statt Durchfall übergab er sich. Flüssig. Hastete zurück an den Rechner. Tippte wie von Sinnen. War von Sinnen. Stellte erleichtert fest, einen Fehler gefunden zu haben. Zögerte mit der Eingabe von Enter. Der Moment zieht sich. Hoffnung wuchs. Bis dann erneut „Programming Fail“ im Bildschirm erscheint. Er schlug mit der Faust hart, sehr hart auf den Tisch. Zweimal. Dreimal. Überlegte, wie dies geschehen konnte. Fühlte, wie sich ein Labyrinth öffnete. Riss seine Tasche auf. Klemmte sich ein Buch über „fortgeschrittene Programmierung in C“ unter den Arm. Ging auf Toilette. Setzte sich auf die Schüssel und schlug das Buch auf. Überflog die Seiten. Bemerkte, dass nichts zu ihm vordrang. Wischte sich nicht den Hintern ab. Lief ins Büro. Rief seinen Kumpel Peter an. Diskutierte mit ihm mögliche Fehlerquellen. Aber: Fehlanzeige. Entdeckten nirgendwo einen Fehler in seiner Programmierung. Rief Susanne an. Fragte nach Lisdexamfetamin. Oder vielleicht Ephedrin. Ließ sich beides vorbeibringen. Wirkte auf den Boten wie ein Geist. Schluckte gleich alles. Trank den Rest Kaffee. Danach Wasser. Begann abermals mit der Programmierung. Copy und Paste. Versuchte es erneut mit einer Datenvalidierung. Dachte an das Ausfallverhalten redundanter Systeme. Wie war ein Fail-Safe in diesem besonderen Fall von ihm verursacht worden? War doch eigentlich ausgeschlossen. Eine Sicherheit lief doch immer. So sollte es doch sein. Deshalb konnte er im Grunde nichts kaputt machen. Er hatte aber kaputt gemacht. Und zwar gründlich. Lief hinunter zum Eingabeschalter für Kunden auf der Straße. „Out of Order“ blinkte ihm entgegen. Keinerlei Eingabe möglich. Was bedeutete dies für ihn? Sicher: die Entlassung. Aber darüber hinaus? Ausfallgeld? Schadenersatz? Hätte er überhaupt einen solch entscheidenden Eingriff alleine vornehmen dürfen? Hängte sein Chef mit drin? Abermals Anruf bei Peter. Der legte auf, als er Strovels Stimme hörte. Anruf bei Susanne. Sie weigerte sich, ihm größere Mengen zu verkaufen. War halt vernünftig, die Frau. Auf ihre Weise. Öffnete erneut das Feld für die Programmierung. Strukturierte Programmierung bedeutete: Ein Fehler kann gefunden werden. Ist der Editor im Eimer? Kontrollstrukturen überprüfen. Verzweigungen einsehen. Fehler in der imperativen Programmiersprache ausschließen.

Programmcode für den Compiler anschauen. Verwirrung. Gesteigerte Verwirrung. Systemausfall. Schuld. Schuld. Schuld. Schuld. Schuld. Schuld. Schuld. Schuld. Schuld. Schuld. Schuld. Schuld. Steigerung in einen Wahn? Herunterfahren. Ging nicht. Zuviel geschluckt. Mehr Wasser trinken. Angst. Furcht. Drehen vor den Augen. Farben. Dunkelheit. Sterne. Abbruch.

„Verstummt die Stimme in mir so werde ich verlöschen.“

Strovel sprach. Er musste sich selber hören, um auf dem Boden zu bleiben. Horchen als ein Ankerseil zur Wirklichkeit. Das Programm war keine Wirklichkeit mehr. Es hatte sich aus ihr heraus gefressen.

„Um es einzuholen, muss ich hinterher.“, schrie es in Strovel.

Hinterher. Aber wohin hinterher? Nach oben, unten, rechts, links? Das war der Wahn. „Und die einzige Verbindung zur Wirklichkeit ist diese Stimme. Ich muss mich an ihr festhalten. Lauter werden. Mich an ihr sichern.“

Erneuter Kaltstart. Erneute Fehlermeldung.

„Das hat aber doch gar nichts mehr mit dem zu tun, was ich durch meine Programmierung geändert habe!? Sicher nicht. Ist doch richtig. Oder?“

„Ja - du hast Recht. Das ist richtig.“

Verdoppelung der Stimme. Zur Sicherheit.

„Wie viel Uhr ist es eigentlich? Samstag. Achtzehnuhr neunundfünfzig. Zeit für die Sportschau.“ Strovel gelang doch tatsächlich ein Lächeln. Doch dieses Lächeln lebte nur wenige Augenblicke.

„Samstag. Wenn ich es nicht ablesen könnte, würde ich es nicht glauben.“

„Du hast noch Zeit bis morgen zehn Uhr in der Früh. Erst danach werden sie in der Hauptzentrale die Rechner hochfahren.“

„Ob der Fehler vielleicht gar nicht hier zu finden ist, sondern in der Zentrale?“

„Denk keinen Unsinn! Seit du hier programmierst, sind die dort offline.“

„Mist. Ja genau.“

„Überlege! Was ist ganz zu Anfang geschehen, als du hier hast hochfahren lassen?“

„Nichts. Wirklich nichts Außergewöhnliches. Habe nur ein Sicherheits Back-up gemacht.“

„Aha - dann schwenk´doch auf das Back-up.“

„In einem redundantem System kann ich nicht so ohne weiteres auf ein Back-up umswitchen. Jedenfalls nicht ohne Überprüfung des anderen Teils des Systems.“

„In einem redundantem System müsste das Programm doch laufen. Gleich ob du einen Fehler eingebaut hast oder nicht. Hast du ein debug Programm durchlaufen lassen.“

„Wenn du etwas beizutragen hast, dann bitte konstruktiv und aufbauend. Natürlich habe ich nach dem Fehler suchen lassen. Das Programm brach ab. Und bevor du fragst: An mehreren Stellen.“

„Ist ja gut.“ Die Stimme wurde leiser. „Ich bin nicht Schuld an dem, was du verbockt hast! Vergiss das bitte nicht!“

„Soll ich mich etwa bei einer Stimme entschuldigen, die nur ich höre?“

„Ganz wie du magst.“

„Diese Frage war nicht für dich gedacht.“

„Du und ich. Wir sind in diesem Fall gemeinsam. Was du denkst, höre ich. Was du fühlst, kann ich nachvollziehen.“

Strovel versuchte, weder zu denken noch zu fühlen. Vergeblich.

„Jetzt mache ich mich auch noch selber fertig.“

„Die ganze Zeit schon. Nur jetzt noch ein wenig intensiver. Und das Zeug, was du geschluckt hast! Und in dieser Menge! Und bei den Problemen …“

„Halt bitte dein Maul!“

„Du bist mein Maul. Und wenn ich nicht mehr bin ... Erinnerst du dich, was du vorhin gedacht hast?“

„Verstummt diese Stimme in mir, so werde ich verlöschen.“

„Richtig. Also Vorsicht, bitte!“

Wurde die Stimme wirklich schmaler oder bildete sich Strovel das alles nur ein?

„Eine Einbildung in einer Einbildung. Das bist du für mich.“

„Ein letzter Rettungsanker. DAS bin ich für dich!“

Wieder ein stückweit schwächer.

„Aber mach du nur weiter so. Dann bin ich gleich abgeschaltet.

Und was dann passiert, das weißt du wohl!“