Eine Wiener Mordgeschichte - Manfred Baehr - E-Book

Eine Wiener Mordgeschichte E-Book

Manfred Baehr

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Beschreibung

Im Jahr des Wiener Kongresses 1815 kämpft ein Polizeihauptmeister und dessen Freund an der Seite eines katholischen Pfarrers gegen einen von Einsamkeit geplagten Handwerksgesellen, der, durch seine Abseitigkeit auf den Plan gerufen, die Stadt Wien verunsichert.

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für B.

Das Leben ist ohne jeden Sinn. Es existiert keine

höhere Macht. Falls es da etwas gibt, ist es die Liebe.

Verfallen wir der Bequemlichkeit oder lassen uns zu

sehr von unseren Trieben bestimmen, dient sie uns

ebenfalls zu nichts.

Manfred Baehr

Fronhof 1

53520 Reifferscheid

[email protected]

Inhaltsverzeichnis

Begehren

Arbeitsstelle

Nummer Eins

Anton

Wie Lorette den Willi kennenlernte

Antons Krieg

In der Küche von Metternich

Im Hause Greifenstein

Metternich leidet

Des Mörders Stube

Zacharias Alb

Fehlgeschlagen

Der Schuldturm

Lorette und Karl

Des Übeltäters Träume

Wien ohne die Fürstin Sagan

Borsigs Traum

Zweiter Mord

Anton berichtet Hager

Aus dem Hause Greifenstein

Aufräumen

Ehrfurcht

Karls Euphorie - Antons Beschwerden

Pfarrer Fuchs mit Problemen

Toni, Anton & der Fuchs

Anton erzählt Toni von seinem Verdacht

Der Mörder sucht seine Auserwählte

Anton, Fuchs & Zacharias

Die Beichte

Pfarrer Fuchs und der Toni

Bemerkenswerte Klarheit

Wie eine Lösung der Verwirrung dient

Metternich trifft Dorothea von Lieven

Der Schrecken des Fuchs

Durch die Straßen Wiens

Aus der Falle in die Falle

Endspiel

Zacharias fahndet nach Karl

Begehren

Konnte er, wenn auch nur für wenige Minuten, die von ihm vergötterte Person unbemerkt beobachten, so öffnete sich sein Herz. Dieser Mund, diese Wangen, vor allem Ihre Augen: Wie anziehend! Schultern und Arme eine einzige Verlockung. Ihr bekleideter Körper eine paradiesische Verheißung. Sobald sein Auge die Fußknöchel der Begehrten auch nur erfasste, schauerte in ihm die pure Wollust.

Eine Frage verursachte wahre Qualen: Auf welche Weise durfte er sich ihr nähern? Gab es einen unbedenklichen Weg, ihr seine geheimen Sehnsüchte zu offenbaren? Einen Schritt weiter gedacht: Wie sollte er sich verhalten, sobald sie sich in seinen Armen liegend, ihm hingab? Diese Sorge trieb ihn während jeder lustvollen Beobachtung um. Würde er den richtigen Moment erkennen? Oder würde vielleicht sie seine Handlungen vorsichtig anleiten, damit alles richtig getan wurde? Er war zu allem bereit! Wie ein treuer Hund wollte er seiner Herrin folgen, falls sie dies wünschte. Trotzdem sollte sie spüren, dass er ein Mann sein konnte. Natürlich! Wenn auch die Sorge, etwas falsch zu machen, sie zu verschrecken, seine Phantasie mit immer neuen Plagen überzog. Noch durfte er ruhig sein. Denn soweit war ihre Beziehung noch lange nicht. Noch konnte er sich unbegrenzt lange seiner Phantasie hingeben.

Mit einer möglichen Zurückweisung durch seine Auserwählte beschäftigte er sich keine Minute. Das war undenkbar, durfte nicht geschehen. Jeder aufflammende Gedanke in diese Richtung wurde von ihm sofort erstickt. Man stelle sich bitte vor, welch mächtige Leidenschaft in ihm wirkte! Angesichts dessen wurde ein Scheitern zur undenkbaren Option.

Gerne hätte er jemanden um Rat gefragt. Aber da gab es niemanden, dem er derart heikle Fragen zu stellen wagte. Zu groß war die Angst, ausgelacht oder verspottet zu werden. Eine vertrauensvolle Öffnung seines Inneren war Voraussetzung, damit sein Bedürfnis treffend formuliert werden konnte. Diesen breiten Graben zwischen ihm und einem anderen Menschen galt es zu überwinden. Aber nicht einmal seiner Familie gegenüber hatte er ein solch vertrautes Verhältnis entwickelt. Abgesehen davon, durfte niemand etwas von seiner Leidenschaft erfahren. Wer brachte ihm überhaupt die als Voraussetzung nötigen, vertrauensvoll-freundschaftlichen Gefühle entgegen? Zugegeben: Er gab sich abweisend-unfreundlich. Da durfte er sich nicht wundern, wenn seine Mitmenschen ihm mit verständlicher Zurückhaltung begegneten.

Selbst bescheidenste Versuche schafften keinen Durchbruch. So beließ er es bei seiner abgesonderten Situation und verharrte in einer zurückgezogenen Ecke des Lebens, glaubte er doch, nur auf diesem Weg Konflikten sicher aus dem Weg gehen zu können. Ob er so konsequent für sich bleiben wollte, darüber nachzudenken erübrigte sich, war ihm doch jedes kameradschaftliche Verhalten fremd. Wünschte er sich Freunde? Darauf gab er sich keine Antwort. Ihn erfüllte einzig und alleine jene wundervolle Frau. Und damit war er auch schon mehr als zufrieden.

Dann der Schock: Seine Auserwählte, traf einen anderen Mann! Er hatte aufmerksam beobachtet, wie sie sich anfangs rein zufällig begegneten und eine Verabredung trafen. Weitere, abermals zufällige Treffen hielt Zacharias Borsig für ausgeschlossen. Was hatte dieser Kerl, was er nicht hatte? Wahrscheinlich tat dessen gutes Ansehen und ein gut gefüllter Geldbeutel sein Übriges. Aber halt! Noch konnte sich sein Mädchen ja gar nicht entscheiden, da er sich ihr nicht offenbart hatte! Nun war die Gelegenheit, dies so schnell wie möglich nachzuholen. Lange Zeit sann er darüber nach, wog seine Chancen, nur um schlussendlich zu entscheiden, diesen Tag weiter aufzuschieben. Die aktuellen Umstände stimmten einfach noch nicht. Er musste absolut sicher gehen, bevor er sich diesen unwiderruflichen Schritt zumuten durfte. Noch fühlte er nicht die angestrebte Sicherheit in seinem Innern. Was war in einer solch speziellen Situation überhaupt zu tun? Die Fragen trieben ihn hinaus auf die Straße. Dort fand er die Lösung. Es bedurfte demnach einer ganz speziellen Situation, um Zutrauen und Sicherheit zu erreichen.

Es war das Wien des Jahres 1815. Europa lebte. Trotz Napoleon Bonapartes, der Verirrungen des russischen Zaren und Preußens, Habsburgs sowie des englischen Kolonialismus. Nun trafen sich die schwer und leichtgewichtigen Politiker aller Länder unter der Führung des Fürsten Clemens von Metternich in Wien, um die neuartigen Probleme auf diplomatischen Pfaden einer Lösung zuzuführen. Dies gelang nicht, wurde aus dem Wiener Kongress doch eine Großveranstaltung, wie es Europa höchstens nach dem Dreißigjährigen Krieg erlebt hatte. Und der war einhundertachtundsechzig Jahre her. Im Gegensatz zu allen vorherigen diplomatischen Veranstaltungen trafen sich 1815 die bis dahin durch räumliche Distanz getrennt wirkenden Herrscher und Diplomaten persönlich an einem Ort, was sich als radikale Neuerung und gleichzeitig entscheidende Schwäche herausstellte. In der Folge entwickelte sich ein bislang nicht gekanntes Krächzen und Summen, Feilschen und Kratzen aus allen Ecken Europas. Der habsburgische Staatsminister, Fürst Metternich, versuchte, Herr über dies Gezerre zu werden. Doch dies war nicht seine einzige Sorge.

Seiner graziösen Weichempfänglichkeit zuliebe, versuchte Fürst Metternich in diesen aufgewühlten Tagen mit aller Kraft eine seinem Stand entsprechende Liaison anzubahnen. Die Auserwählte war die hochherrschaftliche Fürstin Wilhelmine von Sagan. Diese Wahl barg Probleme. Alles gipfelte in einem tüchtigen drunter und drüber.

Aber das ist eine andere, bereits erzählte Geschichte. Ob es einer Dame wie Wilhelmine von Sagan gerecht wird, sollte die von ihr festgesetzte Abreise als Flucht vor den graziösen Gefühlen des Staatskanzlers angeprangert werden, mag zweifelhaft erscheinen. Jedenfalls setzte ihre Entscheidung eine Zahl ihres Personals frei, darunter ihre Zofe Lorette, die es vorzog, in Wien zu bleiben. Wilhelmine von Sagan plante nämlich einen längeren Aufenthalt auf ihrem böhmischen Stammsitz Nachod. Das zurückgezogen ländliche Leben war nicht nach dem Geschmack der lebensfrohen Zofe. Also suchte Lorette eine andere Stellung und fand sie im Hause Igelmund. Dieser Meister der Schnitzkunst hatte gerade sehr viel zu tun und konnte es sich deshalb leisten, seiner Anvertrauten eine Hilfe zur Hand gehen zu lassen.

Dieser Zufall war es, der Lorette mit Zacharias in der Pflaumengasse zusammenführte. Eigentlich ist die Bezeichnung zusammenführen nicht ganz treffend. Für Zacharias war die Begegnung eine Offenbarung. Lorette bemerkte ihn bestenfalls irgendwo ganz am Rande ihres Blickfeldes. Zacharias Borsig kannte hingegen seit dieser einseitigen Begegnung nur noch ein Streben: sich dieser Frau zu versichern, gleich auf welchem Weg. Gleich wann. Er musste sie für sich gewinnen! Seine Rettung, seine Auferstehung als Mensch war unverbrüchlich mit ihr verknüpft. Den Ursprung für dies verblüffende Gefühl suchte er erst gar nicht. Er brauchte keinen. Unbegründete Gewissheit ist ja die bemerkenswerte Begleiterscheinung jeder Offenbarung. Die Vorstellung einer Gemeinsamkeit mit diesem weiblichen Wesen war derart verlockend-süß, dass alle Zweifel und jeder kritische Gedanke im Keim erstickt wurde. Und das mit vollständigem Erfolg.

Also folgte er seiner Geliebten auf Schritt und Tritt. Obwohl sie nichts davon wusste und auch nicht bemerkte, wie sehr er sie verehrte. Irgendwann würde er sich ihr zeigen. Aber bis dahin musste wirklich jede Kleinigkeit auf einen guten Ausgang hindeuten. Es galt ab sofort, alle aufgebotenen Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Gleich, welcher Natur. Dann erst würde er sich ihr in seiner ganzen Pracht zeigen. Verblüffung sollte sie darüber empfinden, seine Gefühle, seine Ergebenheit und Verehrung nicht bereits vorher bemerkt zu haben. In diese Inszenierung steckte er alle Kraft. Wehe dem, der diesen Weg versperren wollte!

Weder drohende Ernüchterung noch Enttäuschung hinderte ihn an den kommenden Unternehmungen. Während unruhiger Streifzüge durch die Gassen Wiens baute sich ein Gedanke, den dunkelsten Ecken seines Gemüts entsprungen, in ihm auf. Jeder weitere Schritt folgte dieser ersten Eingebung: Er entschloss sich, ihn auszuspionieren. Wann immer sich eine Gelegenheit fand, folgte er seinen Schritten. Zu Beginn beabsichtigte er damit, seine Neugierde zu befriedigen. Wer war der andere? Woher kam er? Was tat er? Stück für Stück verfielen diese Fragen zu Ruinen. Übrig blieb diese Person, dieser Mann, der seine Auserwählte belästigte, anging, bedrängte. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit nahm er die Witterung auf, beschnüffelte diesen Bastard unauffällig aus dem Hinterhalt. Ganz übel wurde es Zacharias, wenn der seine Auserwählte zum Tanz ausführte, sie anfasste, drehte, führte und an sich drückte. Dergleichen durfte er nicht noch ein einziges Mal zulassen! Dieser Mann machte seine Auserkorene völlig durcheinander. Sie wusste ja gar nicht, wie ihr wurde, so sehr machte er sie schwindelig. Einmal rechtsherum, einmal linksherum. Und schneller, immer schneller. Ihr Kleid drehte sich elegant im Kreis. Die Musik spielte und beinahe hätte er sich von dem Schwung mitreißen lassen, ebenfalls auf die Tanzfläche zu gehen. Nur ohne Partnerin. Ganz alleine, aber in Gedanken mit seiner Süßen in den Armen. Er musste wirklich darauf achtgeben, sich durch seine Handlungen nicht öffentlich bloß zu stellen. Der Spott und das Lachen schallten bereits in seinen Ohren, bevor es noch dazu kommen konnte.

Natürlich trafen sich sein Mädchen und dieser Mann nicht häufig. Weder erlaubte dies Lorettes Arbeit, noch mochte sie dieses Mannsbild auf eine Weise, die häufige Treffen notwendig machten. Davon war er vollständig überzeugt. Und so wollte Zacharias geduldig auf den rechten Moment warten. Falls die Situation eine unbemerkte Verfolgung des Nebenbuhlers erlaubte, war er zur Stelle. Nach einem halben Dutzend derartiger Unternehmungen entwickelte sich eine Art Routine. Dabei war ihm seine Unauffälligkeit behilflich. Er begriff nicht, weshalb die Menschen ihm keine Beachtung schenkten, selbst wenn er sich direkt in ihrer Nähe aufhielt. ‹Ich gehöre zu dem Schlag hässlicher Menschen, die niemand ansehen möchte›, dachte Zacharias.

Auf diese Weise gesichert wagte er, es war zwischen der siebten oder achten Verfolgung, sich direkt neben seinen Nebenbuhler zu postieren, dessen Geruch aufzunehmen und jede Kleinigkeit genau zu registrieren. Wer weiß, wozu ihm die Ergebnisse seiner Beobachtungen noch nützlich werden mochten. Er verfolgte keine festgelegte Strategie, sorgte aber gerne vor. Selbst, wenn ihm seine Absicht noch gar nicht vor Augen stand. Gerne würde er seinen Nebenbuhler beim nächsten Treffen begrüßen. Möglich, so seinen Namen in Erfahrung zu bringen. Ein nutzloses, aber befriedigendes Detail.

Arbeitsstelle

«Borsig!» Auf diese unmissverständlich-garstige Weise wagte nur ein Mensch, seinen Namen zu rufen: Sein Herr und Meister.

«Wo hält sich der Faulenzer wieder versteckt?» Meister Igelmund schaute sich in seiner Werkstatt um, derweil Borsig brav in einer dunklen Ecke an seinem Auftrag arbeitete.

«Ich bin gleich hier hinten», antwortete Borsig und erschrak mit dieser Antwort seinen Meister, der ihn abwesend wähnte.

«Schleich dich nicht von hinten an», zürnte Meister Igelmund wegen seines verwirrenden Gefühls, er selbst sei bei einer Missetat ertappt worden. Dies geschah nicht zum ersten Mal. Vielmehr erinnerte er sich an einige vergleichbare Situationen. Es kam so weit, dass Meister Igelmund keine Lust mehr verspürte, den Gesellen Borsig zu sich zu rufen und lieber die Mahlzeiten abwartete, um ihm seine Aufgaben zuzuweisen. Selbst bei Tisch musste er sich immer erst nach ihm umschauen, bis er ein Auge auf Borsig tun konnte. Sicher war, dass seine Gesellen keine Mahlzeit versäumten. Irgendwie schaffte es Borsig, sich ständig im Schatten eines anderen aufzuhalten, seine eigene Silhouette exakt hinter der seines Nachbarn zu verbergen. Dabei war der Borsig keinesfalls faul, unpünktlich oder unzuverlässig. Etwas unreinlich, für den Geschmack des Meisters. Aber darüber disputierte der Meister mit keinem seiner Untergebenen. Falls der Gestank seine Nase zu sehr belastete, ließ er gut durchlüften. Selbst im tiefsten Winter. Entweder seine Leute zogen daraus ihre Konsequenzen oder eben nicht und froren an ihren Gliedern. Für seine Person suchte er den Bottich so oft auf, wie möglich. Sauberkeit gefiel den Frauen. Sogar Krankheiten sollte ein Bad in Kräutern vorbeugen. Jedenfalls hatte er Gesprächen mit diesem Inhalt in der Gaststube gelauscht und geglaubt. Wohltuend war das warme, gut riechende Wasser allemal.

«Borsig, ist die Figur für Sankt Sebastian fertig? Der Küster war heut da und hat sich nach dem Stand der Arbeit erkundigt. Falls wir sie net rechtzeitig hinkrieg’n, gib’s am End Abzüge», was nicht ganz der Wahrheit entsprach, hatte der Küster sich doch nur nach dem Datum erkundigt, wann sie in ihrer Kirche wieder mit der Anwesenheit des hölzernen Heiligen rechnen durften. Zwei Vorteile sah der Meister in dieser Schummelei: Die Bande von Faulenzern wurde angetrieben und von Fall zu Fall war eine Reduzierung des wöchentlichen Lohnes durch unerwartet eintretende Verzögerungen möglich. So zum Beispiel, wenn ein Geselle ein Stück aus der Holzfigur während seiner Arbeit herausbrach. Daraus entwickelten sich komplizierte Korrekturarbeiten. Solches Missgeschick musste durch umständliche Nacharbeit gut getarnt werden, um Abzüge an der vereinbarten Bezahlung zu vermeiden. Nicht, dass seine Gesellen einen bemerkenswert guten Lohn erhielten. Die Möglichkeit einer Reduzierung ihrer kargen Entlohnung leistete allerdings gute Dienste in Sachen Disziplinierung. Ständiges Drohen mit diesem Schrecken ließ die Finger schneller arbeiten. Da brauchte es weiter keine Peitsche.

«Ich bin soweit, Meister», hallte es von irgendwo am Tisch.

«Dann ist es gut. In der Supp soll ja weiter Fleisch schwimmen. Da haben wir alle was von der Schufterei.» «Ja sicher, Meister. Sobald ich die Figuren fertig repariert hab, kann ich sie nach Sankt Sebastian tragen.» Zacharias Borsig legte echter Eifer an den Tag.

«Nein. Der Hans macht das. Der rechnet mir besser, als du es kannst.»

«Ich kann ganz gut rechnen, Meister.»

«Mach› erst mal deine Arbeit fertig! Dann sehen wir weiter.»

Borsig war es wichtig, Botengänge übertragen zu bekommen, damit er unbemerkt seine Nachforschungen betreiben konnte. Natürlich ahnte niemand etwas von seiner Leidenschaft für diese bestimmte Frau. Noch viel weniger, auf welche Weise er sich dieser Leidenschaft zu nähern beabsichtigte.

Das Spionieren ergab brauchbare Ergebnisse. So wusste er etwa, dass seine Angebetete noch niemandem versprochen war, Bekanntschaften aber durchaus aufgeschlossen gegenüberstand. Dies erfuhr er aus den Gesprächen der anderen weiblichen Hausangestellten seines Meisters Igelmund. Sie äußerten sich seinem Mädchen gegenüber nicht vollständig wohlgesonnen. Nicht weiter verwunderlich, wo sie doch erst spät in diesen Haushalt aufgenommen worden war und, was schnell deutlich wurde, nur für feinere Arbeiten in Anspruch genommen wurde. Sie musste sich ihre Hände nicht schmutzig machen oder in kaltes Wasser tauchen, um die Wäsche zu reinigen oder die Böden zu schrubben. Derartige Bevorzugung konnte nur den Neid der anderen Mädchen hervorrufen. Zacharias aber freute sich für sie. Die Eltern seines Sonnenscheins lebten nicht in Wien. So viel brachte Zacharias heraus. Ihr Wohnsitz blieb ihm allerdings verborgen. Diese Information war ihm aber auch nicht so wichtig. Sein Interesse an Neuigkeiten wurde nur geweckt, wenn er glaubte, einen unmittelbaren Vorteil für seine Sache daraus ableiten zu können. Und was nutzte ihm das Wissen über den Aufenthaltsort der Eltern seiner Schönen!

Bei jeder Gelegenheit schnüffelte Zacharias herum. Er versteckte sich in den dunklen Ecken oder anderen, beschatteten Plätzen, wo ihn niemand wahrnahm. Dann spitzte er seine Ohren und hörte geduldig und ohne jede Regung zu. Hier und da gelang es ihm sogar, einige Worte der Frau des Meisters aufzufangen. Etwa im Hof, falls das Gespräch laut genug geführt wurde. Dabei kam kein Zweifel an den hervorragenden Fähigkeiten der neuen Gehilfin auf. Lorette war ein wirklicher Luxus für den Haushalt in der Pflaumengasse. Ihre Anstellung hob das Ansehen der Werkstatt nach außen hin. Zacharias war froh über die Bevorzugung seiner heimlich Verehrten. Er hegte keinen Zweifel an den Fähigkeiten seiner Auserwählten, ihren zukünftig gemeinsamen Haushalt tadellos zu führen.

Natürlich musste sie ihre Arbeit aufgeben, sobald er sich ihr offenbart hatte. Noch war er ungewiss über den Weg, wie er zu dem nötigen Auskommen für sie beide kommen sollte. Nur, dass er soweit kommen würde, daran zweifelte er keinen Augenblick. Vielleicht fanden sich die notwendigen Münzen bereits in den Schubladen seines Meisters Igelmund. Der war knauserig bis auf’s Hemd. Irgendwo mussten die Gewinne aus der Gesellen Hände Arbeit, die alleine in seinen Beutel flossen, ja versteckt sein. Die Angestellten sahen jedenfalls nur ein Minimum von diesem Gewinn. Aber auch so sammelten sich verblüffend viele Münzen in Borsigs Tasche, ging er doch niemals saufen oder spielen oder verschleuderte sein Guthaben für irgendwelche neumodischen Kleidungsstücke. Schon gar kein Geldstück trug er in’s Freudenhaus. Zacharias wurde verlegen bei dem Gedanken, was in einem solchen Haus vor sich ging, fühlte allerdings wegen seiner unerschütterlich ablehnenden Haltung einen Stolz in sich. Immer wieder erwehrte er sich gegen den Ansturm seiner Kollegen, mit ihnen an einem freien Tag ein solches Haus zu besuchen, was merklich unangenehmen Hohn und Spott zur Folge hatte. Einmal versuchte er, sich mit Worten zu wehren: «Ihr schämt euch für das, was ihr tut. Und wegen dieser Scham verspottet ihr mich!»

Ob diese Worte nun zutrafen oder nicht, danach wurden die Vorhaltungen der Gesellen nur noch schärfer: «Du bist nicht Herr über dein Gemächt!»

«Hast wohl Angst vor Frauen?»

«Oder magst du vielleicht gar keine Frauen?»

«Klar kommt er nicht mit uns. Schaut ihn doch an! Was, wenn ihn selbst keine Hure an sich heranlässt, wo er doch so abstoßend hässlich ist!»

Er wehrte sich gegen diese Anwürfe, indem er sich noch stärker von allen in der Werkstatt zurückzog. Aber natürlich trafen ihn diese Aussagen. Seinen Groll versuchte er im Zaum zu halten, hatten sie doch allesamt gar keine Ahnung, was seine wahren Gefühle betraf. Nur eines stand ihm unverrückbar vor Augen: Niemals durfte er ihnen gegenüber auch nur ein Wort über seine Auserwählte verlieren. Niemals durften sie etwas von seinen zärtlichen Gefühlen erfahren! Vor der Reaktion seiner Auserkorenen hatte Zacharias mehr Furcht. Der kränkende Spott jener Meute war selbstverständlich auch kein Vergnügen. Seine Gefühle gegenüber der Angebeteten würden sie alle mit grosser Wonne verletzen und ihn damit verunsichern. Was sollte es ihm nutzen, würde er sie in der Luft zerreißen? Empfand seine Prinzessin Gewalt in ihrem Namen als ritterlich oder würde sie sich erschrocken abwenden? Wohin sich Zacharias Borsig auch richtete - überall drohte Ablehnung. Damit nicht genug, wirkte ein weiterer Schmerz in ihm: Wer war der Mann, mit dem sich sein Mädchen traf? Woher kam er? Über seine Absichten gab es jedoch keinerlei Zweifel.

Abends hatte Borsig frei. Genau in dieser Zeit organisierte er seine Beobachtungen. In einer Ecke nahe der Werkstatt, geschützt vor Wind und Regen, hielt er sich im Dunkeln, bis er sich sicher sein konnte: Heute würde sie nicht mehr ausgehen. Sein Beobachttungsposten war wie geschaffen für seine Zwecke: Ein vor Moder stinkender Eingang in verfallene, unbewohnte Räumlichkeiten. Wer sich kein Obdach leisten konnte, verbrachte seine Abende in derart schäbigen Räumen. Es kamen nicht viele Obdachlose hierher, weil niemand in dieser wohlhabenden Gegend ein solch heruntergekommenes, unbewohntes Gebäude vermutete. Und fand doch einmal eine elende Gestalt Zuflucht in diesem Gemäuer, was selten genug vorkam, so sprach diese Zacharias nicht an, vermutete jeder in ihm lediglich einen weiteren, armen Schlucker, der sich die Nächte in solch trauriger Umgebung um die Ohren schlagen musste.

Der einzig lichte Moment an solchen Abenden war ein Anblick der Silhouette seiner Angebeteten im durch Kerzen beleuchteten Fenster. Trat sie aus der Tür in irgendeine Richtung, war dies sogar ein Höhepunkt. Durch Routine geschult, erkannte Borsig bereits an ihrer Kleidung, ob der Ausgang zu ihrem Vergnügen oder zur Erfüllung irgendeiner Pflicht unternommen wurde. Immer folgte er in sicherem Abstand und äußerst angespannt, um auf keinen Fall entdeckt zu werden. Die Fähigkeit, für seine Mitmenschen unsichtbar zu bleiben, wurde mit jeder Verfolgung ausgeprägter, bis er eine Meisterschaft entwickelte, die jedem Spion Ehre gemacht hätte, selbst der zur Sicherung des Kongresses ganz frisch zusammengesetzten Wiener Geheimpolizey. Darüber war Borsig sich nicht bewusst. Wer weiß – womöglich wäre ihm unter anderen Umständen eine wirkliche Berufung deutlich geworden.

Was er beobachtete, rief abgrundtiefes Missfallen in ihm wach. Etwa die Freude, sobald sich zwei einander wohlgesonnene Menschen mit einer herzlichen Umarmung begrüßten. Noch heftiger reagierte er auf den Austausch von Zärtlichkeiten zweier sich offensichtlich Liebenden. Die Ursache seines heftig kochenden Bluts blieb ihm fremd. Wie gebannt hielt er seinen verborgenen Blick auf solche Situationen gerichtet, bis er sich vorstellte, seine Geliebte in einer solch verfänglichen Situation zu beobachten. Dadurch geriet er in einen Gefühlsstrudel, dem seine Vernunft nichts entgegenzusetzen hatte.

Das folgende Ereignis drängte sich ihm wie unter Zwang auf. Mit jeder Verfolgung wuchs der Druck in ihm, bis zu der Überzeugung, dass sein Handeln alternativlos sei.

Nummer Eins

Aus dem schwärzesten Winkel der Gasse trat er hinter seinen als Nebenbuhler gezeichneten Mann. Er spürte die Gewissheit: Dies war das letzte Mal. Jetzt war es an der Zeit, die aus dunkelsten Regionen seiner Person heraufbeschworenen Kräfte einzusetzen und die zuerst undeutlich gefassten Absichten in die Tat umzusetzen. Es musste einfach sein oder vielmehr so werden. Nichts vermochte die aufgestaute Spannung länger zurückhalten. Sie brauch aus ihm heraus, wie aus einem übervollen Behältnis.

Seine Rechte umgriff den Holzhammer, seine linke den spitzesten und längsten Stechbeitel, den er in seiner Werkstatt hatte finden können. Noch fünf, noch vier, noch drei, noch zwei Schritte: Seine Beine fest auf den Boden pressend, den Beitel mit seiner linken an den Hinterkopf des Nebenbuhlers platziert, schlug er mit brutal voller Kraft den Holzhammer auf den Scheitel jenes Werkzeugs. Der Beitel drang knirschend ein. Völlig überrascht, wie tief er ihn in einen menschlichen Kopf hatte treiben können, ließ seine Linke den Beitel los. Damit hatte er sein Opfer der Stabilität beraubt. Der obere Körperteil drehte sich wie von der Leine gelassen in seine Richtung. Offene Augen starrten begriffsstutzig auf ihn und seinen Hammer. Die Beine verdrehten sich ineinander, als wären sie elastisch. Nur einen Moment lang. Dann sackte dieser Körper zusammen, als wäre ihm sein Gerüst geraubt worden.

Welch ein triumphales Gefühl der Befreiung durchströmte ihn! Tief sog Zacharias die Luft in seine Lungen.

In diesem Moment realisierte Zacharias: Der Stechbeitel musste aus dem Hinterkopf wieder heraus! Möglicherweise würde das Gerät in seiner Werkstatt vermisst. Oder schlimmer noch: Der Beitel würde auf ihn als Täter hinweisen. Gebückt versuchte er, ihn aus dem Hinterkopf zu ziehen. Es funktionierte nicht! Entschlossen versuchte er es kräftiger, was den abgestorbenen Körper lediglich zu einem Ruckeln veranlasste. Der Beitel stak fest. Zeit für weitere Versuche blieben nicht. Noch war er von niemandem beobachtet worden, was sich aber jede Minute ändern konnte. Und sollte er hier, an diesem Flecken, in diesem Augenblick, gestellt werden, war es aus mit der sich anbahnenden Beziehung zu seiner Geliebten. Niemals würde er sie aus dem Zuchthaus heraus mit Briefen belästigen. Für immer würde seine Liebe verdammt, sein Geheimnis zu bleiben. Diesen Fluch würde er nicht lange ertragen. Zu seinem Glück würde der Galgen auf ihn warten, um diese Sache zu beenden.

Sollte er aber ungesehen diesem Dilemma entkommen, war noch alles möglich! Er konnte sein Mädchen immer noch ansprechen, ihr alles versprechen, sie lieben. Also ließ er den Beitel dort, wo er war und machte sich auf in seine Werkstatt, um dort Ruhe und vielleicht etwas Schlaf zu finden. Er konnte nicht wirklich fassen, was er getan hatte. Noch weniger, wie mühelos er der für sein Verständnis unvermeidlich eintretenden Konsequenz entkam. Nahm er dies als Zeichen, so hatte er das Einverständnis einer höheren Macht erlangt, ohne jede Vorstellung, wie ihm dies gelungen sein könnte. Vielleicht durch seine reine, unberührte Liebe gegenüber dem köstlichen Wesen. Die konnte doch kein Gott bestrafen. Oder etwa doch?

Anton

«Komm herein und schließ› die Tür.»

Anton hatte nichts anderes vor, war ihm doch die Kälte des Frühjahrs auf dem Weg zu seiner Dienststelle in die Knochen gefahren.

«Dir einen schönen Tag, Alfons», begrüßte Anton seinen Kollegen in der Wiener Polizeyhofstelle.

«Was bringt uns dieser Tag an Überraschungen, Alfons?»

«Nichts von Bedeutung. Wir haben vom Polizeychef Hager eine Anordnung erhalten, uns stärker um Betrüger und Diebe zu kümmern.»

«Und wie sollen wir dieser Aufgabe mit so wenigen Leuten nachkommen? Hat der Chef sich auch darüber ausgelassen?»

«Unterlass die Scherze auf Kosten der Obrigkeit!» Trotz dieser Ermahnung schmunzelte Alfons, denn er kannte seinen Anton gut genug, um dessen Worte richtig einzuschätzen.

«Unser Chef verlässt sich ganz auf unsere Findigkeit. Sollten sich irgendwelche Subjekte auffällig verhalten, so können sie aufgrund einer schriftlichen Sondererlaubnis des kaiserlichen Hofs gleich wieder vor die Stadttore befördert werden. Während des Kongresses wird sich viel Gesindel in unseren Straßen herumtreiben.»

«Wundert mich nicht, gibt es doch ausreichend Opfer für Taschendiebe und Betrügereien.»

«Nun mal nicht so aufmüpfig, lieber Anton. Wirst› schon die wirklich üblen Burschen zu fassen bekommen. Bist› doch einer unserer Besten», schmeichelte Alfons. Anton lächelte über dieses Kompliment, goss sich eine wärmende Tasse Kaffee aus der auf dem bullernden Kaminofen stehenden Kanne und schaute sich die herumliegenden Papiere erst obenhin, auf den zweiten Blick genauer an.

«Der Fürst Metternich hat unseren Chef Hager in den Stand gesetzt, so viele Hilfskräfte anzustellen, wie nötig sind, um die Sicherheit der ausländischen Gäste zu gewährleisten», berichtete Alfons.

«Das fehlt uns noch: Wir stellen selber das Gesindel ein, um es von der Straße zu holen.»

«Wäre doch kein so schlechter Weg, um Ruhe zu schaffen. So denke ich jedenfalls», lächelte Alfons liebenswürdig.

«Frag› unseren aufrichtig verehrten Kaiser Franz, wenn er dahinter kommt.»

«Wie sollte er dahinter kommen, dass wir Hilfskräfte für kurze Zeit einstellen, deren Strafregister uns nicht unbekannt ist?»

«Indem Herr Stadion als der erklärte Feind Metternichs dem Kaiser diese Information noch warm von böser Absicht zukommen lässt.»

Alfons schüttelte seinen Kopf: «Du immer mit deinen Sorgen, die hohen Herren betreffend! Lass› sie doch ihre Rivalitäten ausleben! Dann haben wir hier unten wenigstens unsere Ruhe.»

«Solange du hinter deinem Schreibtisch sitzt, lieber Alfons, kannst du sorgenfrei bleiben. Für uns auf der Straße haben die Scherereien der hohen Herren untereinander sehr wohl eine Bedeutung. Fortwährend müssen wir die Wünsche der hohen Herren vor Augen haben, falls wir einen Coup aufklären. Dem einem ist dies recht, dem anderen wieder jenes. Wie man’s auch anstellt, immerzu fühlt sich jemand auf seine hochherrschaftlichen Füße getreten.»

«Es sollen Diebe und Betrüger von unseren Straßen ferngehalten werden. Glaube deinem alten Kollegen: Niemand wird dagegen Einwände erheben, mein lieber Anton. Das ist die natürlichste Sache von der Welt.»

Anton nickte zustimmend. Es war schlicht unnötig, den alten Alfons mit seinem ganz persönlichen Ärger zu belästigen.

«Hoffen wir während der nächsten Wochen auf eine ruhige Zeit. Anderenfalls wird unter unseren Hintern der Zunder ordentlich zum Glühen gebracht.»

«Dann wird dir wenigstens warm werden, während es draußen friert», lachte Alfons.

«Ja, wird es dann wohl.» Mit einem Ruck packte Anton alle für ihn bereitgelegten Papiere und verschwand in sein winziges Büro. Er mochte diese vier Wände, auch wenn er sich kaum darin bewegen konnte. Meist war er ohnehin auf der Straße unterwegs. Und erst einmal zurück in seinen vier Wänden der Polizeyhofstelle, wollte er es warm und mollig haben. Dafür eignete sich sein Büro wie keines sonst in diesem Gebäude. Die Mehrarbeit wegen der Anwesenheit vieler Fremden in diesen Tagen machte sich auch räumlich bemerkbar. Nirgendwo sonst fand Anton noch ein ruhiges Plätzchen. Und jeden Tag kamen mehr Menschen nach Wien und in die Polizeyhofstelle wegen irgendwelcher Kleinigkeiten oder Beschwerden, die ihn nun wirklich nicht interessierten.

Aufmerksam las er die Berichte der letzten Tage. Meist unwichtiges Zeugs. Aber eine Sache war doch recht unangenehm: ein blutiger Mord in der Wendelgasse. Verübt mit einem Stechbeitel, wie es hieß. Die Örtlichkeit gehörte nicht zu den besseren Gegenden Wiens. Deshalb musste Anton also keinen zusätzlichen Wirbel fürchten. Die Brutalität der Tat war allerdings hervorstechend. In erstaunte das vollständige Fehlen weiterer Details. Nur eines schien bemerkenswert: Das Opfer hatte noch alle Wertsachen bei sich. Anton trank weiter seinen wärmenden Kaffee.

‹In allem findet sich ein positiver Kern›, dachte er. ‹Selbst in der Belagerung Wiens durch die Türken vor langer Zeit. Man muss nur seine Augen offen halten.›

Denn wie er ohne sein geliebtes Getränk den Tag durchstehen sollte, war ihm unklar. Und den Kaffee hatten die Wiener Bürger den Türken zu verdanken. ‹Bedauerlich, wie viele Menschenleben die Verbreitung dieses Getränks gekostet hat›, dachte Anton noch, während er weitere, unwichtige Berichte studierte.

‹Aus welchem Grund wurde gerade dieses Leben in der Wendelgasse ausgelöscht?› Anton grübelte. ‹Welches Motiv kann einen Täter zu solch einer schrecklichen Tat bewegen? Vielleicht widerfahrenes Unrecht? Eifersucht? Oder doch nur Schulden? In welcher Spelunke nahe der Wendelgasse wird um viele Münzen gespielt?

Ich muss mich erkundigen. Hoffentlich eine einmalige Sache. Sonst wird mir Hager auf den Pelz rücken. Von wegen der Sicherheit der auswärtigen Besucher.›

Nach Antons Ansicht war die Versammlung so vieler Menschen verschiedener Herkunft bislang recht harmlos verlaufen. Natürlich gab es vermehrt Diebstähle. Auch Freudenmädchen waren mehr als je zuvor in der Stadt versammelt. Beides war aber kein wirkliches Problem. Noch blieben Diebstähle wirklicher Kostbarkeiten erfreulicherweise aus. Auch die Zahl an Gewalttaten hielten sich in einem überschaubaren Rahmen. Ein Mord mit einem Stechbeitel als Tatwaffe, der in den Hinterkopf des Opfers getrieben wurde, fiel da schon auf. Jedenfalls galt es, die Sache im Blick zu behalten und einige Befragungen anzustellen, obwohl Anton nicht wusste, wo er damit anfangen sollte. In der Wendelgasse war aller Wahrscheinlichkeit niemand, der ihm etwas berichten konnte. Das Opfer war dort nicht bekannt. Anderenfalls hätte sich in den letzten Tagen doch sicher jemand mit einer Aussage in der Polizeyhofstelle gemeldet. Die Tat blieb ja nicht verborgen. Und irgendein freundlich gesonnener Mensch musste das Opfer doch gekannt haben, sollte es in der Wendelgasse gelebt haben. Diese Möglichkeit schloss Anton also bereits aus.

Blieben noch die Spelunken übrig, die in nächster Nähe lagen. Dort würde er mit seinen Fragen beginnen, obwohl er bereits in dieser Minute etwas von der Ergebnislosigkeit dieser Bemühungen ahnte. Aber genau wegen derartiger Fälle hatte Anton sich doch bis in die Polizeyhofstelle hinaufgearbeitet.

Dieser lange Weg begann bereits früh in seinem Elternhaus. Anton war seinen Eltern ein guter Sohn gewesen. Die Vorstellungen und Wünsche seines Vaters sowie seiner Mutter erfüllte er nach besten Kräften. Die brave, widerspruchslose Erfüllung dieser Sohnespflicht gehörte als fester Bestandteil zu seinen Charaktereigenschaften. Sie lag ihm von Geburt an im Blut. Soweit Anton sich erinnerte, bereitete ihm dies Entgegenkommen, was es auch für ihn bedeuten mochte, keine Mühe. Zu keiner Zeit meldete sich eine kritische Stimme in ihm, die hinterfragen wollte, was er da eigentlich tat oder eben nicht tat.

Er war bereits zu einem stattlichen jungen Mann herangewachsen, bis an Stelle einer kritischen Stimme sich seine Mama meldete: «Sag, Anton, wann bringst du dein Mädchen mit nach Hause, damit es deine alten Eltern einmal zu Gesicht bekommen?»

Beinahe hätte Anton geantwortet: «Mädchen? Welches Mädchen meinst du, Mama?» Gerade noch rechtzeitig wurde ihm bewusst, was seine Antwort bedeutet hätte. Stattdessen legte er sich eine Ausrede zurecht:

«Gerade muss ich mich so sehr auf die Prüfungen im Amt konzentrieren. Da kann ich mich um kein Mädchen bemühen.»

«Schade», bedauerte die alternde Frau. «Gerne hätte ich deine kommende Ehefrau kennengelernt.»

«Wirst du», beruhigte Anton. «Nur nicht sofort.»

Die Mutter wiederholte ihre Frage in immer kürzer werdenden Abständen. Seine Ausreden wurden abwechslungsreicher. Gänzlich befreit von jeder Ausrede wurde er durch die napoleonischen Kriege. Jeder wehrtaugliche Mann wurde eingezogen. Besonders gerne wurden angehende Polizisten in Dienst genommen. Ihre Eignung stand nämlich außer Frage.

Anton fühlte sich bestätigt: «Siehst du Mama! Es ist gut, dass ich kein festes Mädchen habe. Wie traurig wäre sie, da ich nun in den Krieg ziehen muss.»

«Es ist wichtig, dass dich jemand hier in Wien mit flatterndem Herzen zurückerwartet», konterte seine Mama.

«Aber Mama! Du und Papa wartet doch auf mich.»

Die Mutter kam richtig in Fahrt: «Das ist etwas ganz anderes. Dafür nimmt sich kein Mann zurück oder denkt daran, wie es wohl sein würde, sollte ihm eine Kugel die Gebeine zertrümmern. Für ein Liebchen gibt man sehr viel mehr acht auf sich, als für seine alten Eltern. Wegen der vielen gemeinsamen Jahre und dem Ärger, den Eltern ihren Kindern bereiten.»

«Ihr habt mich nie geärgert. Wie kannst du so etwas behaupten?»

Nun wurde die Mutter richtig kratzbürstig: «Behalt den Schmalz für dich und sieh zu, dass du einen Rock abbekommst, so lange noch einer da ist!»

«Es werden viele Röcke übrig sein, wenn ich wieder zurück bin.»

«Ja, wenn ... Hast du nicht Angst, etwas zu versäumen?»

«Was sollte ich den versäumen, Mutter?»

«Du kannst vielleicht Fragen stellen!»

Ohne von einer Liebsten verabschiedet zu werden, zog Anton an die Front. Nicht, dass er keine Gelegenheit gehabt hätte. Eher im Gegenteil: Die Frauen waren besonders nachgiebig, wussten sie doch nicht, wann sie wieder einem Mann in Hosen (oder ohne) begegnen würden.

Zu seiner Überraschung stellte Anton fest, wie gerne er sich abends im Kreis seiner Kameraden aufhielt. Man saß zusammen, um sich von der ständig anwesenden Angst vor dem Kampf abzulenken. Manchmal sprachen die anderen von ihren Geliebten, Eheweibern, Schwestern und Müttern. Oder sogar von Huren. Anton fand nichts dabei. Er blieb still und zurückhaltend, während alle nur erdenklichen Episoden aufgefrischt wurden, von denen mehr erfunden als wirklich geschehen waren.

Genau zu dieser Zeit fasste Anton zu dem Toni Vertrauen. Der war zufällig in seinem Bataillon. Mit der Zeit wurde Freundschaft daraus. Die fühlte sich für Anton gut an. Toni ließ ihn nie hängen. Das war Anton wichtig. Frauen waren kaum einmal das Thema zwischen ihnen. Wie nebenbei erwähnte Toni ein Geschwisterpaar, an dem er seine Freude hatte. Das war es aber schon. Anton wurde nicht aufgefordert, über seine Frauenbekanntschaften zu sprechen. Das war ihm ganz recht und machte einen Teil seines Wohlgefühls in der Gemeinsamkeit mit Toni aus.

Dann war der Krieg beendet. Seine Eltern starben. Die Fragen seiner Mutter verschwanden mit ihr. Anton kehrte in den Wiener Polizeydienst zurück. Dort erfuhr er die Kehrseite eines Männerbundes: Immer wieder wurde er von seinen Kollegen aufgefordert, mit ihnen ein Freudenhaus zu besuchen. In einem ganz bestimmten dieser Häuser wurde zum Zweck der Korruption ein Rabatt für die Männer der Wiener Polizey angeboten. Eine Zeitlang konnte sich Anton mit einer Braut herausreden, die er mit einem Besuch in einem derartigen Etablissement nicht verschrecken wollte. Immerhin sollte sie seine Braut werden.

Mit der Zeit registrierten die Kollegen jedoch, dass Anton gar keine Braut hatte, was ihr drängen noch verstärkte: «Hast’e die Hosen voll oder bist’e dir zu fein, dass’te immerzu absagst?»

«Quatsch. Der Anton hat die Hosen nicht voll, sondern komplett leer. Deshalb kommt der nie mit.»

«Wir laden dich auch ein! Musst› nix zahlen, beim ersten Mal. Komm’ste auf’n Geschmack, halten wir dich natürlich nicht noch mal aus. Woll’n dich nur auf’n richtigen Weg bringen, auf’s richtige Pferd setzen. Reiten wirst’e von ganz alleine.»

Alle lachten. Alle, bis auf Anton.

Lange zerbrach Anton sich seinen Kopf, was denn mit ihm los sei. Er verabredete sich mehrmals mit verschiedenen Frauen. Alle stammten sie weder aus seinem Viertel, noch aus der Wiener Polizeyhofstelle. Beides war absolut tabu. Irgendwelche Gerüchte, die seine Kollegen in ihrem Spott nur noch anfeuerten, wollte Anton tunlichst vermeiden. Waren die Frauen nicht aus seiner direkten Umgebung, fiel es nicht in’s Gewicht, falls sie so rasch wieder verschwanden, wie sie aufgetaucht waren. Zu Hause gab es ja keine Mama mehr, die ihn ernsthaft verhörte.

Hätte Anton sich während dieser Unternehmungen selbst beobachten können, würde er den immer gleichen Ablauf bemerkt haben: Zuerst Vorfreude und Aufregung auf die Begegnung. Immerhin hatte man in ein oder zwei kurzen Gesprächen Sympathie füreinander empfunden. Er putzte sich aufmerksam heraus und war rechtzeitig auf dem Weg zum verabredeten Treffpunkt. Mit jedem Schritt schmolz die Vorfreude und Aufregung übernahm die Kontrolle, machte die Bewegungen schwankend und kurz. Falls er verspätet den verabredeten Ort erreichte, wartete man dort bereits auf ihn, was ihm peinlich wäre. Sobald er die Türklinke in seiner rechten Hand hielt, war von der Vorfreude keine Spur mehr übrig. Schaffte er es, die Tür zu öffnen, den Blick umherschweifen zu lassen, ob er seine Verabredung irgendwo im Raum entdeckte, waren alle Reserven seiner ursprünglich empfundenen Entschlossenheit aufgebraucht. Einer immerhin freundlichen Begrüßung folgte seinerseits verlegenes Schweigen. Sein Kopf war wie leergefegt. Ihm fehlten die Worte für ein anregendes Gespräch. Unvermittelt fühlte er sich uninteressant, blass und ohne Rückgrat. Alle erwähnenswerten Ereignisse seiner nicht gerade langweiligen Arbeit versteckten sich in einem unzugänglichem Teil seines Kopfes. Und über den Krieg konnte er kein Wort verlieren. Die Erlebnisse waren ihm ein Gräuel und belasteten seine Seele. Und Pläne? Hatte er überhaupt irgendwelche Pläne für die Zukunft, fragte er sich gerade in diesen Momenten. Seine Person verschloss sich ihm als Reservoir für ein Gesprächsthema. So blieb seinem Gegenüber nichts anderes übrig, entweder die gesamte Konversation alleine zu führen oder ein Schweigen zu akzeptieren. Auf persönliche Fragen antwortete Anton wortkarg. Sein Gegenüber war nach einem Gespräch auf demselben Stand wie davor. Anton spürte dieses Manko deutlich. Und aus der Verlegenheit wurde Verwirrung.

Sobald sich ihm eine Frau während oder nach einem Gespräch zu nähern versuchte, verließ er fluchtartig den Ort des Geschehens, noch bevor es auch nur zu einer leichten Berührung kam.

Zurück blieben ratlose Frauen, die allesamt glaubten, irgendetwas falsch gemacht zu haben. Was aber konnte das sein? Sicher war es so, dass sie ihm nicht gefallen hatten.

In Anton kämpften zwei Seiten: Sobald sein Gegenüber eine zärtliche Geste andeutete, steigerte sich die Verwirrung zu Verstörtheit. Anton wehrte jede freundliche oder gutwillige Geste kurzentschlossen ab. Natürlich wollte ihn keine der Frauen nach einem solchen Abend nochmals wiedersehen. Das war ihm ganz recht. Denn was auf dem Heimweg folgte, erschreckte ihn mehr als alles andere: Eine Art emotionale Inkarnation strich um ihn während seiner Flucht. Anton litt unter diesem Schatten seines Selbst, den er trotz aller Selbstständigkeit nicht anzuerkennen vermochte, der ihn folglich direkt oder indirekt verfolgte und, was noch ärger wiegte, seiner Handlungsfreiheit beraubte. Diese Ereignisse gingen keineswegs spurlos an Anton vorüber. Unweigerlich stellte sich ihm die Frage: Was war los mit ihm? War seinem rätselhaften Problem vielleicht doch mit einem Besuch im Freudenhaus beizukommen? Natürlich nicht jenes von seinen Kollegen frequentierte. Es musste ein abgelegenes sein. In der Provinz, wo er unbekannt war.

Es dauerte einige Zeit, sich mit diesem Vorhaben vertraut zu machen. Als er sich endlich durchrang, schlug sein Herz sehr rasch. Die Aufregung war ihm deutlich anzumerken. Das blieb dem Türsteher des Etablissements natürlich nicht verborgen. So kam er Anton rasch entgegen, um ihn als möglichen Kunden nicht gleich wieder zu verlieren.

«Wer soll es denn sein? Wonach steht dir der Geschmack, Bursche?», wurde er eingeladen, seine Zurückhaltung abzulegen.

«Wie bitte?»

«Na, welche Hure will’ste?»

«Gar keine.» Die Antwort war einfach so aus ihm herausgesprudelt.

«Wie, gar keine? Und was treibt dich her? Doch sicher nicht unsere hübsche Stube?» Der Türsteher lächelte dümmlich, während er mit einer ausholenden Bewegung den miefigen Raum umfasste. Der Loddel baute sich zu ganzer Größe auf: «Sammel’ste Stuten für’n eigenen Stall?»

Es dauerte tatsächlich eine profunde Zeit, bis Anton begriff: «Die da. Die soll es sein.» Er zeigte willkürlich in die Ansammlung von Damen. Der Loddel schaute in die angezeigte Richtung und rief: «Klara. Komm her und zeig dem Kerl hier, was wir wert sind! Danach sieht er vielleicht ein klein wenig klarer.»

Klara bewegte sich lächelnd und mit den Hüften schwingend auf Anton zu: «Dann komm mal mit, Kleiner. Wollen mal sehen, was wir zu deiner Freude beitragen können.»

Sie nahm den verblüfften Kleinen bei der Hand und entführte ihn an einen fremden Ort. Doch war ihm dabei gar nicht wohl in seiner Haut. Selbst die bei anderer Gelegenheit wenigstens in Teilen vorhandene Vorfreude blieb hier an diesem Ort vollständig aus. Im entlegensten Zimmer des Hauses angekommen, fummelte Klara an der Hose des Kleinen herum.

«Was machst du da?»

«Nach was sieht es denn aus? Will´ste es etwa in hochgezogenen Hosen machen?»

Einige Zeit geschah überhaupt nichts, weil der Kleine nichts antwortete.

«Na gut. Behalt meinetwegen deine Hosen an. Ich muss sicher nicht noch ein Ding sehen. Hab› davon mehr als ausreichend kennengelernt. Waren nicht immer nur schöne dabei. Und schon gar keine sauberen. Aber was´te willst, musste mir schon verraten. Sonst wird’s nie so, wie’s du dir wünschst.»

Als immer noch keine Antwort aus dem Kleinen herauszuquetschen war, begann Klara ihre Kleider abzulegen. Nicht, dass da viel auszuziehen war. Aber immerhin. Sobald die dicken Busen unter der Bluse auftauchten, begann es im Kleinen zu arbeiten. Und zwar nicht zu knapp.

«Was is´n? Frier´ste etwa? Komm her, Kleiner. Im wärmen von kalten Männerherzen bin ich ganz groß.»

Kaum ausgesprochen, riss sie seinen Kopf zwischen ihre Möpse. Der kleine Kerl begann zu brabbeln.

«Komm zu Mama! Wirs´t sehen, ich kann dich trösten wie eine Mutter. Nur viel wirksamer. Du darfst mich auch vögeln!»

Ein unbeschreibliches Gackern entrang sich Klaras Kehle. Ein Schreck ließ den Kleinen erstarren, was die Frau zu weiteren, intensiven Liebkosungen trieb. Der Kleine war am Ende des Weges angekommen. Kräftig riss er sich los, stieß die Alte auf’s Bett und stammelte unverständliches Zeug.

«Was is´n nu? Ist es dir nicht recht, machen wir halt was andres. Warte.»

Damit drehte sie ihm ihren dicken Hintern zu und raffte den Rock hoch.

Das war zu viel. Der kleine Anton schrie etwas, was die Hure erschreckte, stand auf, sammelte sich und schaffte folgende Erklärung: «Bin von der Wiener Polizeyhofstelle und nur wegen eines Verhörs hierher gekommen.»

«Wie? Nicht zum Vögeln? Dann raus hier! S’gibt keine kostenlose Sondernummer. Selbst nicht für die hohen Wiener Herren!»

«Wollt ich auch gar nicht. Ich geh› jetzt runter und befrag› deinen Loddel.»

«Und wer begleicht mir die verbrauchte Zeit? Bin doch kein Verleihgeschäft», versuchte es die Hure.

«Wie viel?», fragte Anton.

«Na, Zeit und verlorenen anderen Kunden macht ...»

«Hier, nimm!» Anton warf angewidert alle Münzen auf’s Bett, die er bei sich trug. Gierig und gespannt machte sich Klara daran, jede Einzelne aufzusammeln. Während dessen machte sich Anton auf den Weg, treppauf, also raus aus dieser persönlichen Hölle. Es wurde ihm nicht schwer gemacht, einige belanglose Fragen an den Loddel zu richten. Bis er beweisen konnte, von welcher Polizeystelle er kam, war da schon schwieriger. Aber auch das schaffte Anton, obwohl die Skepsis beim Loddel nun nicht länger leicht zu beschwichtigen war.

Der Heimweg wurde zum Bußgang. Was war nur los in ihm? Anton wusste es nicht. Die Ratlosigkeit trieb zu weiten Umwegen, was so wenig half, wie die ganze Grübelei. Das Frühjahr brachte kühle Temperaturen. Er fror innerlich und an allen Gliedern. So lange hatte er auch gar nicht unterwegs sein wollen. Nur einmal kurz hin, sich Klarheit verschaffen. Das war tüchtig danebengegangen. Der ohnehin unsichere Boden unter seinen Füßen hatte sich in gefährlichen Treibsand verwandelt. Nun war es zu einer völlig überflüssigen, folgenschweren Konfrontation gekommen, die ein Leugnen oder Ausweichen nicht länger erlaubte. Was würde dies für ihn bedeuten?

Arbeit! Sehr viel mehr Arbeit als bisher. Die würde jede beschämende Erinnerung betäuben helfen.

Danach unternahm Anton keinen Versuch mehr, sein Verhältnis zu Frauen zu klären. Er hielt sich fern von ihnen, blieb höflich, aber ständig auf Distanz. Die Idee, mit jemandem zu sprechen, kam ihm nicht. Selbst die Freundschaft zu Toni erlaubte ihm kein Wort. Anton erwartete keine Anregungen, schon gar keine Antworten von einem solchen Gespräch. Vielleicht, nur möglicherweise, hätte er in einem besinnlichen Moment mit seiner Mutter darüber gesprochen. Aber das ging ja nun nicht mehr. Sie war endgültig unerreichbar. War überhaupt diese Tatsache der Grund, weshalb er glaubte, mit ihr über seine Seltsamkeit sprechen zu können? Er versuchte, sich seine Entgegnung vorzustellen, hätte sie abermals nach einem Mädchen gefragt: «Mama, du musst wissen, ich finde keines, was zu mir passt.»

«Unsinn, Antönchen», hörte er seine Mutter antworten.

«Gott hat für jeden Topf einen Deckel geschaffen. Du bist nur viel zu ruhig. Geh› mal aus dir raus und erzähl etwas von dir.»

«Da gibt es aber nichts, was von Interesse wäre.»

«Söhnchen, du weißt doch gar nicht, was andere Augen in dir sehen. Ich zum Beispiel erkenne einen lieben, freundlichen Kerl, den man nur am rechten Flecken berühren muss. Glaub mir: Ein Blick auf das Innerste eines Menschen lohnt sich in jedem Fall. Da gibt’s wenig Anlass für Scham oder Verlegenheit, die du immer empfindest, falls sich eine Frau für dich interessiert. Ich sag dir: Lass sie doch! Sind alles verantwortliche Menschenwesen, die wissen, was sie tun und vertragen. Grad die Frauen. Hast kein Vertrauen. Weder in andere, noch in dich selbst.»

Wären dies ihre Worte gewesen? Sehr wahrscheinlich. Denn sie war eine verständige alte Frau. Offen, dem Leben zugewandt. Gerne hätte er sie noch weiter befragt: «Mama, weshalb fühle ich so? Die anderen halten mich für einen Sonderling.»

«Andere Männer, vielleicht. Die Frauen würden schätzen lernen, was sie an dir haben, falls, ja falls du sie daran teilhaben lässt. Aber das tust du ja nicht. Streng dich an Junge! Sei nicht so hölzern und verstockt. Es gibt keinen Grund, etwas von dir zu verstecken oder zurückzuhalten.»

«Ich verstehe, Mama. Ich will offen sein. Nur weiß ich nicht, welche Türen ich in mir öffnen soll. Immer wenn ich einen Griff in der Hand habe, spüre ich, das ist nicht die richtige Tür und suche weiter.»

«Öffne einfach und du wirst schon sehen, was dahinter ist.»

«Mama?»

«Ja, mein Sohn?»

«Mama, genau davor habe ich so sehr Angst.»

Wie Lorette den Willi kennenlernte

Einige Tage bevor Zacharias Borsig, wie im Rausch, in der Wendelgasse mit seiner blutigen Schandtat eine imaginäre, nichtsdestotrotz deutliche Linie hinter sich ließ, trug es sich zu, dass das Opfer mit Lorette zusammensaß. Damals bereits unter der maßlos hasserfüllten Beobachtung des Zacharias Borsig.