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Das Herzensgebet kann Leben aus der Tiefe heraus verändern. Wer nach einer spirituellen Lebensgestaltung sucht, die in den Alltag passt und sich aus den Quellen der christlichen Tradition speist, wird hier fündig. Stephan Hachtmann lebt seit 15 Jahren mit dem Herzensgebet. Er öffnet die mantrische Weisheitstradition der Christenheit für den modernen Menschen: Für ein Leben, das vom Klang der Liebe berührt wird.
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Seitenzahl: 204
Stephan Hachtmann
Berührt vom Klang der Liebe
Wege zum Herzensgebet
© Kreuz Verlagin der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2012Alle Rechte vorbehaltenwww.kreuz-verlag.deUmschlaggestaltung: agentur IdeeUmschlagmotiv: © CorbisAutorenfoto: privatAbbildungen: © St. H8mannISBN (E-Book): 978-3-451-33936-3ISBN (Buch): 978-3-451-61096-7
Einführung – Das Heiligtum des Herzens
1. Vom Pflanzen der Aufmerksamkeit – die Grundlagen
Vor dem Anfang
Die eigene Herzensbitte finden
Die drei Stufen des Gebetes
Das Gebet des Herzens im Alltag
Akzeptanz lernen – sieben Schritte
Wegbegleitung
Weitere Übungszugänge
2. Von den Vorfahren lernen – das Jesusgebet
Die Bedeutung des Gottesnamens
HERR Jesus Christus, erbarme dich meiner
Der Weg des Herzensgebetes durch die Jahrhunderte
3. Von der Reise mit dem Herzensgebet – Betrachtungen
Jetzt ist die Zeit für dein Gebet
ER ist innen und ER wartet
Vom Sinn des Bösen
Der Weg des Werdeseins
Die drei Dimensionen des Werdeseins
Die drei Schritte der Verwandlung
4. Vom Geheimnis des Gebetes JA, ICH BIN DEIN
Die Hinwendung zum Heiligen
Die Gestalt des Gebetes
Die Kraft des JA
Die Macht des ICH BIN
Die Weite des DEIN
5. Von der Verwandlung der Welt
Die Heiligkeit des Alltags
Es geht um nichts: Alles ist umsonst
Es geht um alles: die Fülle des Lebens
Ausblick
Dank
Anhang
Literatur
Gewidmet meinen KindernRebecca, Maximilian und Lexia
DIE FRUCHT DER VERWANDLUNG
IST DER IM JETZT
WIRKENDE MENSCH
DER DURCHSTRÖMT
VON DER EINEN LIEBE
DIE NEUE ERDE ERSCHAFFT
Bete stets für Gottes
innewohnende Herrlichkeit,
dass sie aus der Verbannung erlöst werde.
(Baal Shem Tov, um 1700–1760)
Vom Heilwerden. Einfach, wiederholend und um hingebungsvolle Treue bemüht, spreche ich seit vielen Jahren innerlich den immer gleichen Gebetssatz– JA, ICH BIN DEIN.Immer wieder und immer wieder. Nur diesen einen Satz. Nur diesen einen Klang. Zu Hause in meinem Alltag oder bei Kontemplationskursen in einem Kloster. Morgens während meiner festen Meditationszeit oder nach einem weggefahrenen Bus an der Haltestelle. Immer wieder. Diese wenigen Worte sind mir inzwischen vertraute Heimat geworden und wirken wie eine zuverlässige Landkarte auf dem Weg in das Heiligtum meines Herzens. Dieser Gebetsklang ist der in meinem Bewusstsein am häufigsten formulierte Satz der vergangenen fünfzehn Jahre. Er ist die liebgewonnene Grundlage und Mitte meiner Lebensgestaltung.
Rückblende: Als ich Anfang dreißig war, befand ich mich in einer für mich sehr entscheidenden Lebenskrise. Ich erlebte mich in einem Zustand scheinbar unauflösbarer innerer Verzweiflung und Ausweglosigkeit. Die Konsequenzen meines vorrangig um mich selbst kreisenden Denkens und Handelns wurden mit den Jahren immer deutlicher und zeigten ihre Spuren in einer düster-depressiven, mich selbst und andere zerstörenden Gesamtverfassung. Exzessiver Alkoholmissbrauch, Raubbau an meinem Körper, innere und äußere Enge, ein zerbrechliches Selbstbewusstsein und eine durch meine Opferhaltung sich manifestierende Täterrolle behinderten und beschränkten zunehmend mein inneres und äußeres Leben.
In dieser Zeit hatte ich einen sehr markanten Traum. Ich war an einen Stuhl gefesselt und aus allen nur erdenklichen Körperöffnungen wurden mir mit bürstenartigen Metallfedern und Spiralen jahrelang angesammelter Morast und Dreck herausgezogen. Die Reinigungsinstrumente durchdrangen meinen ganzen Körper, und ich fühlte mich von innen her sehr gründlich gereinigt und durchwirkt. Da ich mich zuvor jahrelang an keine Träume erinnern konnte, übte dieser Traum eine besondere Wirkung auf mich aus. Ich spürte die tiefe Bedeutung dieser Bilder für mein Leben und begab mich auf eine erste Spurensuche. Als Erstes sagte ich dem Alkoholmissbrauch den Kampf an. Ich brauchte einen klaren Kopf, um weitere Schritte in Richtung Heilung gehen zu können. Und ich hatte große Sehnsucht danach, heil zu werden.
Dieser Reinigungstraum setzte also den Prozess in Gang, bei dem ich dann – später – auch mit dem Herzensgebet in Kontakt kam: ein Heilungs-, Reinigungs- und Ganzwerdungsprozess, der bis auf den heutigen Tag anhält und mir auf immer tieferen Ebenen Klärung, Genesung und Integration ermöglicht. Der Traum markiert für mich den ersten Schritt auf dem Weg zu einer großen Lebenswende.
Ich erzähle das, um klarzumachen, dass mir diese Art der Religiosität nicht in die Wiege gelegt war. Zwar bin ich in einem evangelischen Pfarrhaus in der damaligen DDR groß geworden, lebte aber über zwanzig Jahre als Rockmusiker und Künstler in Berlin und zeitweise in London. Der Zugang zu einer bewusstseinstransformierenden Spiritualität, die in der mystischen Tradition wurzelt, war mir verborgen geblieben.
Was ist nun das Herzensgebet, um das es mir in diesem Buch geht? Zunächst ist das Herzensgebet ein mantrischer, kontemplativer Ganzwerdungsweg, der bis in die ersten Jahrhunderte des Christentums zurückreicht. Dieser Weg wurzelt im Erfahrungswissen der christlichen Weisheit und ist mit ihr auf das Engste verbunden. Es ist also ein alter Weg, der Kraft aus den Erfahrungen schöpft, die seit der apostolischen Zeit mit dieser Art zu beten gemacht wurden. Ein Weg, der zur Ganzwerdung und zur Verwirklichung Gottes im Herzen der Menschen einlädt. Gleichzeitig ist es ein Weg, der ganz in unserer Zeit Heimat gefunden hat und der für alle Menschen geeignet ist, die nach einem kraftvollen spirituellen Schulungsweg im Christentum suchen.
Welches Potenzial hat das Herzensgebet? In Kürze: Es lädt uns in die Mitte unseres Seins ein. Es hilft uns, mit dem, was in uns heil oder heilig ist, in Verbindung zu treten. Aus dieser Mitte heraus, von diesem heilen inneren Raum her, sind wir eingeladen, aus der Rastlosigkeit des Daseins schrittweise in die Einheit, Sammlung und Gelassenheit geführt zu werden.
In der orthodoxen Tradition des Herzensgebetes wird diese Bewusstheit hēsychia – die Ruhe des Herzens – genannt. Für den Gelehrten Augustin, einen der Urväter dieses mystischen Gebetes im 5.Jahrhundert, war die Erfahrung der Herzensruhe grundlegend und richtungsweisend: »Unruhig ist mein Herz, bis es ruhet in dir.«
Das Herzensgebet führt also zur Herzensruhe. Es ist wie ein Wegweiser. Und es kann das Auge für das Unsichtbare im Sichtbaren öffnen.
Dem orthodoxen Klassiker des Herzensgebets – »HERR Jesus Christus, erbarme dich unser« – widme ich nur ein recht kurzes Kapitel dieses Buches. In der Tradition hat diese in den ersten Jahrhunderten nach Christus häufig verwandte Gebetsformel auch unter dem Begriff Jesusgebet Verbreitung gefunden. Doch heutzutage können viele Menschen mit dieser Sprachform wenig anfangen. Es scheint hilfreich zu sein, andere Formulierungen zu finden, ohne die Essenz des Gebetes verlieren zu müssen.
Der Gebetssatz, mit dem ich lebe und aus dessen Erfahrungswelt ich erzählen möchte, klingt sehr schlicht: JA, ICH BIN DEIN.Dennoch ist er verwandt mit dem alten Satz der Orthodoxie und lädt wie er zu einer neuen Weltsicht ein, die unser Bewusstsein in der Tiefe neu ausrichtet. Mit dem Blick hinter den Schleier des Vordergründigen können wir so immer durchlässiger werden und uns für das Unsichtbare im Wunder des Lebens öffnen.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass dieses Gebet Heilungs-, Wachstums- und Entwicklungsprozesse voranbringt. Es erweckt das Bewusstsein des Betenden so, dass es sich auf einen neuen Klang der Schöpfung und des eigenen Lebens einstimmen kann. Es ist die feine Einstimmung auf ein uns umgebendes »Du« und die sich daraus neu formulierende Beziehung auf das hin, was wir unter Gott verstehen.
Das Herzensgebet kann uns in einer Atmosphäre verorten, die unser Leben neu ausrichtet und verwandelt. Darum nennt man dieses Gebet auch Wandlungsgebet. Es kann eine Erfahrung ermöglichen, die uns zu einer an den Wurzeln ansetzenden Klärung der innersten Strukturen unseres Bewusstseins führt. Dabei geht es um nichts weniger als um die eigene Verbundenheit mit Gott. Mit der Erinnerung an diese Gottverbundenheit kann nach und nach das Potenzial freigelegt werden, das jedem menschlichen Wesen ursprünglich zur Verfügung steht, was ihn – oder sie – heilig sein lässt.
Diese Heiligkeit bleibt nicht bei der eigenen Herzensruhe stehen. Das Herzensgebet stellt vielmehr eine neue Verbindung zur Welt, zu unserer Umgebung her. Das Geheilte und Heilige in uns ist zugleich der Ort, von dem aus Heilung in das Außen, in die Welt hinein und im ganz normalen Alltag geschieht. Heiligkeit bezieht sich immer auf das Alltagsgeschehen und möchte dort Verantwortung übernehmen.
Die Berührung durch das Geheilte möchte sich in uns ausbreiten und sich von dort wieder zurück in die uns umgebende Schöpfung verströmen. In einem Führer durch das Heiligtum in Lourdes stehen die wegweisenden Worte: »Haben Sie keine Angst, heilig zu werden, öffnen Sie sich nur der Liebe, die Ihnen angeboten wird.«
Was finde ich in diesem Buch? Im ersten Kapitel werden die spirituellen Grundlagen zur Einübung des Herzensgebetes gelegt. Es soll zeigen, was beim Herzensgebet geschieht, wie es eine neue Perspektive auf eigene Erfahrungsräume ermöglicht; es geht auch um die ersten Schritte in der Praxis.
Im zweiten Kapitel geht der Blick zurück in die Tradition. Woher kommt dieser mantrische Weg, was sind seine Wurzeln? Hier wird auch erläutert, was es bedeutet, sich betend mit dem Namen Gottes zu verbinden. Die Quellen, aus denen ich schöpfe, sind in der Bibel zu finden, in Texten anderer Beter aus lang vergangenen Zeiten, aber sie finden sich auch in Zeugnissen, die aus der Gegenwart stammen. Im Literaturverzeichnis am Ende des Buches findet sich eine Aufstellung der Bücher, aus denen ich gelernt habe.
Im dritten Kapitel soll es darum gehen, was das Herzensgebet auslösen kann, was während der spirituellen Reise passieren kann und welche Erfahrungen und Ernüchterungen auf den vom »Klang der Liebe« Berührten warten.
Im vierten Teil werde ich die Bedeutungsfacetten des hier vorgeschlagenen Herzensgebetes JA, ICH BIN DEIN aufblättern, seine Tiefe auszuloten versuchen. Dazu gehört es, die vielfältigen Beziehungen dieses Mantras zur christlichen Tradition, zur Bibel aufzuzeigen. Es kann eine Entdeckung ganz eigener Art sein, wie sich Gebet und Bibelweisheit wechselseitig aufzuschließen vermögen. Ich lese die Bibel dabei mit einem offenen Blick und vertraue mich der Tiefenkraft ihrer lebendigen Worte, Symbole und Bilder an.
Im abschließenden fünften Teil wird es darum gehen, wie sich ausgehend vom Herzensgebet nicht nur das Leben, der Alltag der Betenden ändert, sondern wie die Welt in ihm erfahren werden kann, wie die Berührung mit dem Klang der Liebe Verwandlung wirkt.
Mein Wunsch ist, dass mein Buch dazu inspiriert, sich auf die Reise mit dem Herzensgebet zu begeben. Es ist ein Weg zu Gott, zu sich selbst, zu den Menschen und in den Alltag.
Hamburg, im Dezember 2011
Stephan Hachtmann
Christus spricht: »Ich habe ihnen deinen
Namen kundgetan und werde ihn kundtun,
damit die Liebe, mit der du mich liebst,
in ihnen sei und ich in ihnen.«
(Johannes 17,26)
Das Herzensgebet ist einfach und leicht zu praktizieren. Der Weg des Herzens ist unabhängig von Alter, Gesundheitszustand oder intellektuellen Fähigkeiten jederzeit beschreitbar. Er ist für die Anfängerin und den Anfänger in Sachen Gebet genauso geeignet wie für Menschen, die schon Erfahrungen mit dem Beten haben.
Eigentlich geht es um eine einzige und unser ganzes Wesen verwandelnde Übung – das wiederholte Sprechen eines kurzen Satzes oder eines Wortes. Dieses Wort oder dieser Satz sollte Ausdruck der tiefsten Sehnsucht unseres Herzens sein. Eine Auswahl möglicher Gebete finden Sie auf Seite 174.
Für die ersten Schritte braucht es keine wirkliche Methode. Meine erste Lehrerin des Herzensgebetes legte mir am Anfang nahe: »Das aufrichtig und treu wiederholte Gebet allein genügt. In kindlicher Einfachheit und mit viel Geduld. Immer wieder und immer wieder neu. Gebe dich diesem Tun ganz hin. Beginne immer wieder neu und werde nicht müde, dein Gebet im Herzen zu wiederholen. – Mit Geduld, mit Geduld, und ich sage es noch mal: mit Geduld.« Das hat mir damals sehr geholfen, einfach zu beginnen.
Für mich hat sich eine vierfache Grundregel bewährt, die ich in einem ganz und gar nicht spirituellen Kontext kennen gelernt habe: beim Improvisationstheater. Sie lässt sich aus der Welt des Spielens übersetzen in die Welt des Herzensgebets.
Frage nicht, behaupte. Wer anfängt zu beten, fragt nicht, er sagt »Ja«. Er (oder sie) vertraut sich diesem Weg an. Mit unserem »Ja« schaffen wir eine Atmosphäre, die es erlaubt, zuzulassen, was geschieht. Wir entscheiden uns zu beten und lassen uns auf die sich daraus ergebenden Erfahrungen ein. Ohne Warum. Voller Vertrauen. Wir brauchen kein Ergebnis oder eine Antwort. Wir brauchen nichts zu erreichen, kein Ziel zu erlangen. Wir entscheiden uns dafür, zuzulassen, dass die geheimnisvolle hintergründige Kraft der Liebe ihr Werk verrichtet, ohne uns zu erklären, wie sie das tut. Wir beginnen und sind einfach nur da. Diese Haltung, für die man sich entscheiden muss, hilft auch, dabei auftretende Zweifel bezüglich der Auswahl der Worte unseres Gebetes zu beenden. Sie schult Vertrauen und eine gesunde Form der Disziplin.
Nimm es an. Anzunehmen, was ist, ist wohl das Schwierigste. Sich in der Zeit, die wir uns für das Gebet nehmen, ganz darauf einzulassen, was im Bewusstsein erscheint, erfordert Übung. Jeder Gedanke, jedes Gefühl will wahrgenommen und wieder losgelassen werden, damit wir nach der Ablenkung wieder in die Einfachheit zurückkehren können, um unseren heiligen Satz zu wiederholen.
Bleib dabei. »Zweige, die oft umgesetzt werden, treiben keine Wurzeln.« Diese Warnung Gregors vom Sinai (gestorben 1346), eines Wüstenheiligen der orthodoxen Kirche und wichtigen Vertreter des Hesychasmus, beschreibt, dass unsere Einübung eine gewisse Form der Disziplin und Beständigkeit erfordert. Nur so kann sich das Gebet in unser Herz einwurzeln. Das erfordert tägliche Regelmäßigkeit. Einen Satz, einen Ort, eine Zeit. Täglich schenken wir Gott damit etwas von unserer Lebenszeit und öffnen uns ganz der Erfahrung, die uns dann widerfährt.
Wir benötigen diese Hingabe und Treue, um dem Geheimnis unseres Seins auf die Spur zu kommen. Dieses Am-Ball-Bleiben bezieht sich auch und im Grunde vorrangig auf die Wiederholung der Gebetsformel. Dem scheinbar gegensätzlichen Sprichwort folgend: »Zweige, die man oft umsetzt, treiben besonders kraftvolle Wurzeln«, kann die genaue Wortfolge des Gebetes, die wir verwenden, von Zeit zu Zeit verändert werden, doch sollte dies nicht zu häufig geschehen.
Ich möchte dazu ermutigen, am Beginn des Weges dem einmal begonnenen Gebet treu zu bleiben und mit diesem Wort-Klang erste Erfahrungen zu machen. Denn die Wirkungen des Gebetes entfalten sich am stärksten, wenn es gelingt, bei einer Formulierung zu bleiben und damit den unruhigen Geist immer wieder neu in die Stille zu führen. Das ist die Hauptsache. Die Wege in die Ruhe des Herzens sind vielfältig. Wir sollten uns nicht von den vielen Möglichkeiten verwirren lassen. Wir dürfen bei dem bleiben, was wir gewählt haben.
Mach was draus. Die gewonnenen Erkenntnisse und Einsichten können uns von Grund auf verändern. Bei manchen Menschen unmerklich und sanft, bei anderen radikal und deutlich spürbar. Der Exerzitienmeister und Jesuit Franz Jalics, der durch seine Bücher über die kontemplativen Exerzitien auch in Deutschland bekannt wurde, beschreibt, woran wir in unserem Leben merken können, ob wir in unserer Praxis voranschreiten. »Wenn du nach geraumer Zeit kontemplativen Gebetes merkst, dass du, ohne dich zu bemühen, die Menschen ein bisschen mehr liebst, ihnen gegenüber mehr Geduld empfindest, wenn du merkst, dass dein Lebensgefühl ein bisschen positiver geworden ist, deine Toleranzgrenze in schwierigen Situationen sich geweitet hat, und wenn du merkst, dass du dich selbst mehr so nehmen kannst, wie du bist, ja, dann geht dein kontemplatives Gebet in die richtige Richtung.« (Franz Jalics, Kontemplative Exerzitien)
In unserem alltäglichen und vertrauten Umfeld können wir am ehesten Fortschritte und Veränderungen erspüren. Der Alltag mit seinen Verpflichtungen und Vergnügungen bleibt der beste Gradmesser für unsere spirituelle Weiterentwicklung. In ihm offenbart sich unsere neu dazugewonnene Lebenstiefe und Lebensfreude am deutlichsten und ehrlichsten.
Der traditionelle Weg des Herzensgebets orientiert sich an der alten, mächtigen Anrufung »HERR Jesus Christus, erbarme dich meiner« (die ausführliche Erläuterung dieser Gebetsformel findet sich auf Seite 38 ff). Für viele Menschen ist aber gerade diese Formulierung zu fremd, darum kann es hilfreich sein, nach einem Satz zu suchen, der sich leichter im Herzen verwurzeln lässt.
Welches ist nun aber die Formel, die uns entspricht, die uns im Innersten anspricht und somit einen Wandel in uns vollziehen kann? Was ist der Klang, der uns in die Beziehung zu Gott führt? Welches sind die Worte, die uns für die göttliche Wirklichkeit öffnen und die nicht durch negative Erfahrungen und Erinnerungen besetzt sind? Für viele Menschen sind schon die Worte »Herr« oder »erbarmen« eine unüberbrückbare Hürde. Zu groß sind die Verletzungen durch immer noch zerstörerisch wirkende Gottesbilder aus den Tagen ihrer Kindheit.
Das eigene Gebet des Herzens sollte die Eigenschaften verkörpern, die dem universalen Wesen von Liebe, Ganzheit, Weisheit und Mitgefühl entsprechen. Die Herzensbitte sollte das widerspiegeln, was uns im jetzigen Augenblick am meisten in unserem Innersten anspricht und berührt. Unser Herzensgebet sollte die tiefste Sehnsucht unseres Herzens ausdrücken.
Dazu braucht es oft kein langes Nachdenken: »Mein Herz ist mein Weg«, sagte mein Sohn, »Mein Licht ist mein Weg« meine Tochter, als ich sie fragte, welches Gebet ihnen aus der Seele sprechen würde. Da waren die beiden acht Jahre alt.
Auch das sind Satzsymbole, die einen Menschen weit tragen und tief verwandeln können. Es gibt eine unbegrenzte Vielfalt von Möglichkeiten für ein Herzensgebet. Selbst der Satz: »Nimm dein Bett und geh!« (die Aufforderung Jesu aus einer Heilungsgeschichte in Johannes 5,8) kann für einen Menschen eine lebensgestaltende Bedeutung entfalten.
Beim Finden des eigenen Gebetsklanges kann jeder Mensch seiner Intuition vertrauen. In diesem Buch geht es hauptsächlich um das Mantra JA, ICH BIN DEIN.Eine Auswahl anderer Herzensgebete finden Sie im Anhang.
Das mündlich gesprochene Gebet. Wir formen den Klang unseres Herzensgebets mit den Lippen, in Verbindung mit dem Atem und den Stimmbändern – das kann sehr leise, fast klanglos sein–, oder wir beten es in einer einfachen Melodielinie. Allen Menschen, die mit dem Herzensgebet beginnen, wird diese hörbare anfängliche Art der Übung empfohlen.
Das verstandesmäßige Gebet. In unserem Inneren erklingt – gedacht und allein innerlich gesprochen – unsere Herzensbitte. Tonlos. Dabei pflanzt der Verstand das Gebet langsam in unser Herz. Dieses Gebet nennen wir »das Gebet des Geistes«. Die Wüstenväter, allen voran der Starez Theophan, sprachen vom Versenken der Intelligenz, des Verstandes in die Tiefe unseres Herzens.
Das Gebet des Herzens. In uns erklingt unablässig unser Ein-Klang-Wort-Gebet. Ohne etwas zu machen, lassen wir uns von der Wirklichkeit, die durch die Worte unseres Mantras hindurchtönt, im Alltag tragen. Wir sind ganz eingehüllt in die Atmosphäre dieses inneren Zustandes und erleben uns in der Welt ganz bei den Menschen und im Herzen ganz bei Gott. Das »immerwährende Herzensgebet« wird als sehr weit fortgeschrittener Zustand beschrieben und wird auch das »Gebet des Geistes im Herzen« genannt. Es ist die durch Gnade geschenkte Bewusstseinsstufe der permanent erfahrenen Vereinigung des göttlichen Herzens mit unserem menschlichen Herzen. Die Präsenz der Gegenwart Gottes in unserer Mitte.
Ein Schüler wurde eines Tages von Abbas Cordius gefragt, wann er denn das Herzensgebet übe. Er sagte: »Jeden Morgen von sechs bis sieben Uhr.« »Oh, dann hast du noch nichts verstanden!«, erwiderte sein spiritueller Lehrer. »Wenn du nicht den ganzen Tag in der Atmosphäre des Gebets verweilst, nützt dir deine regelmäßige Übung gar nichts.« Wenn er nun die Antwort gegeben hätte: »Ich übe mich Tag und Nacht immer in diese Gestimmtheit des Herzens ein«, dann hätte sein Lehrer ihm wahrscheinlich geantwortet: »Oh, dann hast du noch nichts verstanden! Wenn du nicht jeden Morgen ganz treu mindestens eine Stunde in strenger Versenkung dein Gebet sprichst, wird dir die Ausrichtung auf diese Haltung nicht gelingen.« So scheinen beide Gebetsweisen zusammenzugehören und hilfreich zu sein. Der Brite Kallistos Ware, ein orthodoxer Bischof unserer Tage und Lehrmeister des Herzensgebetes, hat ebenfalls zwei Formen unterschieden, in denen wir das Gebet praktizieren können: Er nennt sie das »freie Gebet« und das »formale Gebet«.
Das freie Gebet. Mit dem freien Gebrauch ist gemeint, dass wir das Gebet im Laufe des Tages sprechen, während wir mit den gewohnten Tätigkeiten beschäftigt sind. Wir können es einmal oder mehrmals in den verschiedensten Situationen über den Tag verteilt sprechen. Wir wiederholen es in den Momenten, in denen der Kopf frei ist. Wir können es auch beim Abwaschen, beim Warten auf den Bus, beim Stau im Straßenverkehr, bei schwierigen Gesprächen, beim Einschlafen, beim Spazierengehen, bei einfachen Arbeiten und so weiter innerlich sprechen. Egal, welche Situation, das Gebet kann unsere ständige innere Begleitung sein. Der hohe Wert des Gebetes liegt in seiner Einfachheit.
Das formale Gebet. Das »freie« Sprechen des Herzensgebetes wird idealerweise durch die »formelle« Übung ergänzt: Auch hierfür gibt es keine strengen Regeln. Wir suchen uns einen möglichst ruhigen Ort in unserer Wohnung, möglichst immer an derselben Stelle, und nehmen uns eine regelmäßige feste Zeit vor, um das Gebet zu sprechen. Circa 20 bis 30Minuten am Morgen haben sich bewährt. Der unruhige Geist und die Vielzahl von Gedanken, die auf uns einstürmen, wenn wir uns zur Ruhe setzen, brauchen ein wenig Zeit, damit sie sich beruhigen können. Es ist so, als ob in einem Raum Staub aufgewirbelt wird. Nach einer Weile setzt er sich. Das braucht eben seine Zeit.
Wenn nicht anders möglich, können wir uns aber auch einmal oder öfters über den Tag verteilt fünf Minuten ganz dem Gebet widmen. Wichtig sind allein die Kontinuität und die Regelmäßigkeit. Es ist sinnvoller, eine kurze Gebetszeit über einen längeren Zeitraum zu praktizieren, als die Hürde mit einer langen Gebetszeit zu hoch zu legen und daran zu scheitern. Das Gebet kann auf einem Stuhl, im Liegen, im Stehen, auf einem Sitzkissen oder im Lotussitz verrichtet werden. Auch dafür gibt es keine festen Vorgaben, es ist aber gut, wenn die Körperhaltung so ist, dass die Atmung ruhig und entspannt fließen kann. Ein aufrechtes Sitzen hat sich bewährt und folgt der Einsicht, dass äußere Aufrichtung in Beziehung zu innerer Aufrichtigkeit steht und umgekehrt. Vieles wird sich im Laufe der Zeit ergeben und individuell einspielen.
Lesung und Liturgie. Eine tägliche geistliche Lesung kann inspirierend und unterstützend auf unserem Weg des Herzens wirken und sollte darum ein fester und regelmäßiger Bestandteil unserer spirituellen Lebensgestaltung sein.
Die Auswahl der Lektüre kann von der Bibel, den Wegerfahrungen anderer Menschen, von spirituellen Weisheitsgeschichten bis hin zu den Überlieferungen aus den anderen großen Weisheitstraditionen reichen. Das Spektrum der Auswahl darf vielseitig sein und kann dazu beitragen, unsere interreligiöse Toleranz und ökumenische Weite weiter zu entwickeln.
Ein von uns selbst bestimmtes Ritual oder ein regelmäßiger fester Gebetsablauf wirken sich ebenfalls positiv auf die sanfte Beheimatung dieses Weges in unseren Lebensvollzug aus. Eine mögliche Liturgie für ein tägliches Ritual wäre zum Beispiel: 3 x Klangschale, Verbeugung, kurzes Gebet, 10 bis 25Minuten Sitzen in der Stille mit dem Herzensgebet, 3 x Klangschale, Segen und abschließende Verbeugung. Dabei können wir ganz offen und experimentierfreudig sein und die uns genehme Form und Zeitspanne herausfinden.
Meditationsplatz. Man kann überall beten, aber es unterstützt den spirituellen Weg, wenn wir den Ort unseres Gebets gestalten. Unser Meditationsplatz darf dem Erschaffen eines Kunstwerkes ähnlich sein und kann sich in unserem Wachstumsprozess immer wieder verändern und neu ausdrücken. Zur Gestaltung können wir Symbole oder Gegenstände verwenden, die uns für die Beziehung zu Gott hin öffnen und in denen sich eine eigene Berührung widerspiegelt.
Die Gebetsschnur. Das Beten unter Zuhilfenahme einer Gebetsschnur kann eine große Hilfe sein, um die Gedanken zu sammeln und zu zentrieren. In der orthodoxen Tradition des Herzensgebetes heißt diese Gebetsschnur Komboskini oder Tschotki. Sie ist eine geflochtene Knotenschnur, an der das Herzensgebet oder Jesusgebet verrichtet wird. Üblicherweise hat eine Komboskini einhundert Knoten, es gibt aber auch Formen mit fünfundzwanzig, dreißig, dreiunddreißig oder fünfhundert Knoten. Die geschlossene Schnur steht als Zeichen für die Ewigkeit und das nie endende monastische Gebet. Den Komboskini erhalten die Mönche und Nonnen in der Ostkirche bei der Profess (Ordensgelübde, Bekenntnis). Die mit sich getragene Gebetsschnur soll an das Wort des Apostels Paulus: »Betet ohne Unterlass!« (1.Thessalonicher 5,17) erinnern. Dieser Hinweis gilt nicht nur Mönchen und Nonnen, sondern allen Christen. Wir können auch von einem »spirituellen Herzschrittmacher« sprechen. Die Knotenschnur wird nicht verwendet, um die Gebete zu zählen, sondern als Hilfe zur Konzentration und für einen gleichmäßigen Rhythmus.
Das Gebet kann auch mit einer Perlenkette (japa mala) gebetet werden. In dem katholischen Rosenkranzgebet und in den östlichen Traditionen begegnet uns ebenfalls diese Gebetsweise. Hierbei werden Holzperlen oder andere Perlen verwendet. Die sich wiederholende monotone Rezitation des Herzensgebetes hat eine ähnliche Wirkung wie das monotone und rhythmische Gleiten der Finger über die Knoten oder Perlen. Jeweils ein Knoten oder eine Perle ist ein Gebet und verstärkt die meditative Versenkung. Meine erste Herzensgebetslehrerin sagte, dass jedes Gebet eine Zelle des Körpers erleuchtet. Da gibt es einiges zu tun, und sie sagte des Weiteren, dass man mit der Zeit bescheidener wird… Alle Tiefenschichten der Person werden in dieses Gebet mit eingebunden und in die Dankbarkeit, Demut und Reinheit des Herzens geführt.