Berührung - Eine Pilgerin auf dem Weg nach Santiago - Lydia Beutin - E-Book

Berührung - Eine Pilgerin auf dem Weg nach Santiago E-Book

Lydia Beutin

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Beschreibung

Berührung - Eine Pilgerin auf dem Weg nach Santiago de Compostela. Folge den Spuren einer Pilgerin zu Fuß von den französischen Pyrenäen bis Santiago de Compostela in Spanien. Fünfunddreißig Tage mit Momenten von Glück und Leid im Alltag auf dem Camino. Mit über 400 Anmerkungen zu Unterkünften, Restaurants und den vielen Besonderheiten, die der Jakobsweg (Camino Francés) durch Nordspanien bietet. Illustriert mit 72 Fotos, die sehenswerte Eindrücke zu den Orten längs des 780 km langen Weges vermitteln. Wertvolle Hilfe und Ermutigung für Alle bei der Planung einer eigenen Pilgerreise, egal aus welchem persönlichen Motiv diese auch angetreten wird.

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Lydia Beutin (1952-2017), staatlich geprüfte Übersetzerin Deutsch-Französisch, u. a. von Reiseliteratur (Rother, Outdoor), Romanen und Biographien. Auf vielen Wegen in Europa unterwegs, darunter Pilgerreisen nach Santiago de Compostela 2008 und 2010.

Lothar Beutin, Mikrobiologe und Autor von Sachbüchern und Belletristik. Zu Fuß unterwegs in Deutschland, Frankreich und Spanien. Im Mai 2010 gemeinsame Pilgerreise mit Lydia nach Santiago de Compostela.

Dieses Buch enthält die aus dem Französischen übersetzten Aufzeichnungen meiner verstorbenen Frau Lydia Beutin über den Verlauf ihrer Pilgerfahrt von dem Pyrenäenstädtchen Saint-Jean-Pied-de-Port durch Nordspanien bis Santiago de Compostela. Es sind ureigene Erfahrungen, welche die täglichen Freuden und Mühen, die Übereinstimmung und den Widerspruch mit dem eigenen „Ich“ bei einer langen Pilgerreise wiedergeben. Dabei ist es zweitrangig, aus welchem persönlichen Motiv eine solche Reise erfolgt. Wie beglückend und ebenso unerträglich wird die enge Gemeinschaft mit anderen Menschen empfunden, so wie man sie auf dem Pilgerweg und in den Herbergen erfährt.

Lydia wuchs im Pariser Vorort Clichy als erstes von fünf Kindern einer französischen Mutter und eines algerischen Vaters auf. Wir lernten uns 1978 kennen und lieben, gründeten eine Familie aus der vier Kinder hervorgingen und blieben bis zu Lydias Tod im April 2017 ein glückliches Paar. Nach Lydias Krebserkrankung im Sommer 1999 wuchs in ihr das Bedürfnis nach Spiritualität gekoppelt mit dem Wunsch, die Welt zu Fuß zu entdecken. Je suis une nomade (ich bin eine Nomadin), sagte sie mitunter in Anspielung auf die Herkunft ihres Vaters aus dem Berbervolk der algerischen Kabylei.

Durch Lydia lernte ich das Reisen zu Fuß kennen und lieben. Nachdem unsere Kinder selbstständig waren, unternahmen wir Wanderungen auf Wegen in Deutschland, Frankreich und Spanien. Mit der Zeit wuchs in Lydia der Wunsch auf dem bekanntesten aller Jakobswege, dem Camino Francés durch Nordspanien zu pilgern. Diesen Traum verwirklichte sie im Frühjahr 2008. Dabei legte sie in fünfunddreißig Tagen 780 Kilometer zu Fuß zurück.

Als ich Lydia am 14. Mai 2008 auf dem Berliner Hauptbahnhof bei ihrer Rückkehr abholte, erwartete ich ein Gesicht, das von den Strapazen einer anstrengenden Reise gekennzeichnet ist. Wie erstaunt war ich meine Frau zu sehen, die strahlend aus dem Zug ausstieg und zehn Jahre jünger aussah! Ihre Erlebnisse haben uns dazu gebracht, auf dem Camino Francés ein zweites Mal gemeinsam zu pilgern.

Für dieses Buch habe ich Lydias Aufzeichnungen durch Erklärungen und Anmerkungen für die Planung einer eigenen Pilgerreise ergänzt. Den Jakobsweg gibt es so nicht, es ist vielmehr ein verzweigtes Netz von Pilgerwegen, welches sich von Mitteleuropa bis Santiago de Compostela, dem Wallfahrtsort, an dem alle Jakobswege zusammenlaufen, erstreckt. Am bekanntesten davon ist der Camino Francés, der von den Pyrenäen bis nach Santiago durch Nordspanien verläuft.

Nur elf Prozent der Jakobspilger schaffen diese Strecke in einem Stück. Um die Pilgerurkunde in Santiago zu erhalten, genügt es jedoch, die letzten einhundert Kilometer (Abschnitt Sarria-Santiago de Compostela) zu Fuß zurückgelegt zu haben.

Seit 2008 hat die Zahl der Herbergen auf diesem Weg enorm zugenommen und für das Jahr 2021 zählte die Statistik knapp 180.000 Pilger auf dem Weg.

Ich wünsche Ihnen allen viel Freude beim Lesen und auf allen Wegen, die ihr in Zukunft beschreitet.

Buen Camino!

Berlin, im April 2023

Lothar Beutin

INHALTSVERZEICHNIS

Ein Traum wird wahr

Berlin - St. Jean-Pied-de Port

St.-Jean-Pied-de-Port – Orisson (7,5 km)

Orisson – Roncesvalles (16,5 km)

Roncesvalles – Zubiri (21,6 km)

Zubiri – Pamplona (20,6 km)

Pamplona – Cizur Menor (5,4 km)

Cizur Menor - Puente de la Reina (23,5 km)

Puente de la Reina – Estella (21,3 km)

Estella – Los Arcos (21,7 km)

Los Arcos – Viana (29,7 km)

Viana – Navarrete (20,3 km)

Navarrete – Azofra (23,1 km)

Azofra - Grañon (21,7 km)

Grañon – Villafranca (25,9 km)

Villafranca – Atapuerca (18,2 km)

Atapuerca – Burgos (20,9 km)

Burgos – Hontanas (31,7 km)

Hontanas - Boadilla del Camino (28,3 km)

Boadilla del Camino – Carrión de los Condes (26,0 km)

Carrión de los Condes – Terradillo (25,7 km)

Terradillo - Bercianos (22,6 km)

Bercianos – Mansilla de las Mulas (26,1 km)

Mansilla de las Mulas - León (17,8 km)

León - Villar de Mazarife (20,7 km)

Villar de Mazarife – Astorga (30,7 km)

Astorga – Foncebadón (25,2 km)

Foncebadón – Ponferrada (25,7 km)

Ponferrada - Villafranca del Bierzo (20,8 km)

Villafranca del Bierzo – Vega de Valcarce (16,8 km)

Vega de Valcarce – Fonfría (23,4 km)

Fonfría - Sarria (27,5 km)

Sarria – Portomarín (22,9 km)

Portomarín – Palas de Rei (24,5 km)

Palas de Rei – Ribadiso da Baixo (25,8 km)

Ribadiso da Baixo – O Pedrouzo (21,6 km)

Pedrouzo – Santiago de Compostela (18,6 km)

Staub, Matsch, Sonne und Regen

Ein Traum wird wahr

Ich hatte schon so lange davon geträumt. War es ein Traum oder ein Ruf? Aber kann ich meine Familie für sechs Wochen allein lassen? Wir reden oft darüber und Lothar, mein Ehemann, gibt mir grünes Licht. Es wird nicht so leicht für ihn sein. Aber unsere Kinder sind schon erwachsen! So buche ich nur die Hinreise und nicht die Rückfahrt, denn man kann ja nie wissen. Womöglich muss ich bereits früher zurück. Wer weiß, vielleicht möchte ich es sogar?

Lothar fährt wegen seiner Arbeit für eine Woche nach Litauen. Inzwischen packe ich sorgfältig meinen Rucksack, wiege jedes einzelne Stück, um zu entscheiden, was ich unbedingt brauche. Am Ende wiegt er zehn Kilo und das ohne Wasser und Essensvorräte! Eindeutig zu viel, aber mir fällt nicht ein, worauf ich noch verzichten kann1.

Ich packe nur wenig Kleidung ein: Drei Slips, drei Paar Socken, zwei kurzärmelige und zwei langärmelige T-Shirts, jeweils eins aus Baumwolle und eins aus Kunstfaser, denn die trocknet schnell. Das langärmelige, baumwollene T-Shirt nehme ich für die Nächte und das aus Kunstfaser für den Aufenthalt in den Herbergen. Dazu kommen eine dünne Fleecejacke, eine Jogginghose, eine 3/4 lange Wanderhose mit vielen Taschen, eine kurze Hose, ein Paar leichte Handschuhe und eine Fleecekappe. Außerdem habe ich einige Wäscheklammern mit dazugehöriger Leine und eine kleine Taschenlampe dabei. Meine Reiseapotheke enthält Wundsalbe, Pflaster, Verbandszeug, Aspirin und Schmerzgel. Im Kulturbeutel stecken Sonnencreme, eine Zahnbürste, Zahnpasta, eine kleine Seife, Shampoo, Ohrstöpsel, Zahnseide und eine Augenmaske für die Nacht.

Außerdem packe ich Teebeutel, Nescafé, Süßigkeiten, Salz und Pfeffer, einen Trinkbecher und Mandeln ein. Zur Orientierung auf dem Weg dienen mir der Reiseführer von Ferdinand Soler2 sowie die kleine „Bibel“ für Pilger: Christian Champions Buch3 über Herbergen und Essensmöglichkeiten auf dem Camino nach Santiago.

Nicht zuletzt kommen mein Daunenschlafsack, ein dazu gehöriges Innenfutter aus Seide, ein Regenschutz für den Rucksack, sowie eine regendichte Hose und eine Regenjacke von Red Ledge mit. Weiterhin die Wanderschuhe und leichte Badelatschen für die Dusche. Meine Ausrüstung wird sich später als äußerst praktisch erweisen. Vor allem die Regenhose, bei Wind trägt sie sich bequemer als ein Poncho und hat ein geringeres Gewicht.

Später auf dem Camino bereute ich, keinen wärmeren Pullover für Abende mitgenommen zu haben, an denen wir nach dem Duschen frierend in den großen, feuchten und unbeheizten Herbergen saßen. Ein dünnerer Wollpullover wäre da nützlich gewesen!

Mein Rucksack ist fertig gepackt. Wenn Lothar aus Litauen zurückkehrt, bleiben uns nur zwei Tage, die wir vor meiner Abreise zusammen verbringen können. Die Zeit ist ein bisschen kurz. Aber ich will den Aufbruch nicht länger hinauszögern, denn ich befürchte, dass der Camino im Mai schon überlaufen ist. Am 7. April, einen Tag vor der Abfahrt, bereite ich zu Hause alles für meine lange Abwesenheit vor. Am Samstagmorgen kommt jemand zum Hausputz. Weiterhin lasse ich ein Heftchen mit diversen Kochrezepten und einer Bedienungsanleitung für die Waschmaschine da. Der Tag vergeht schnell. Lothar hat heute freigenommen, damit wir beide füreinander Zeit haben.

1 Das Gewicht des gefüllten Rucksacks sollte bei normal Trainierten nicht mehr als ein Fünftel des Körpergewichts betragen.

2 Ferdinand Soler, Guide pratique du chemin de St-Jacques de Compostelle: Des Pyrénés françaises à Santiago de Compostela. Editions Dervy, Paris, Frankreich.

3 Christian Champion. Miam Miam Dodo Camino Francés (Compostelle). De Ronceveaux à Saint Jacques de Compostelle. Editions de vieux Crayon. Les Sables d'Olonne, Frankreich.

Berlin - St. Jean-Pied-de Port

Dienstag, 8. April.

Ich stehe früh auf. Lothar bringt mich zum S-Bahnhof Nikolassee, von dort fahre ich um 6.44 Uhr mit der S-Bahn zum Berliner Hauptbahnhof. Dieses Mal reise ich tagsüber und nicht wie sonst mit dem Nachtzug vom Bahnhof Zoo4. Ich bin rechtzeitig dort, um in Ruhe das Gleis für die Weiterfahrt zu suchen. Mein Wanderstock ist eingepackt, denn ich möchte hier noch nicht wie eine Pilgerin aussehen. Vermutlich, weil ich das Buch von Hape Kerkeling5 gelesen habe!

Die Abfahrt nach Hannover ist um 7.48 Uhr, von dort fährt mein Anschlusszug bis Karlsruhe, wo ich dann mit dem TGV6 in der 1. Klasse nach Paris weiterreise. Im Schnellzug serviert man uns ein vorzügliches Essen, das ich mit einem Glas Pinot Noir7 begieße. Ich nehme das vegetarische Menü, den Gemüse-Wrap mit Salatbeilage. Zum Nachtisch gibt es Honigcreme und ein leckeres Brötchen mit einem Boursin8, welches ich mir für morgen aufhebe.

Um 16.34 Uhr erreichen wir Paris! Zuerst fahre ich mit der Metro9 zum Bahnhof Gare d'Austerlitz10, um dort meinen Rucksack im Schließfach zu deponieren. Das kostet vier Euro, doch der Wanderstock passt nicht mit hinein, sonst käme es auf 9,50 €. So nehme ich ihn mit und fahre mit dem Bus zur Buchhandlung La Procure11, unweit der Pfarrkirche St.-Sulpice12. Dort erleide ich „seelische Qualen“13, denn ich verzichte schweren Herzens darauf, mir Bücher zu kaufen. Anderenfalls müsste ich sie auf dem ganzen Weg bis Santiago mitschleppen. So erstehe ich nur die April-Mai-Ausgabe des Magnificat14.

Von der Buchhandlung laufe ich bis zur Pfarrkirche St. Gervais15, um dort an der Vesper und am Gottesdienst teilzunehmen. Dann fahre ich mit der Metro bis zur Station Place d'Italie, weil ich vorhabe, in dem nahegelegenen baskischen Restaurant Gladines16 zu essen. Die Adresse habe ich aus dem Internet.

Als ich dort eintreffe, ist die Gaststätte voll, die Besucher sind überwiegend Studenten. Man zeigt mir einen großen Tisch, wo ich zwischen den anderen Gästen Platz nehme. Die Atmosphäre hier ist angenehm und ich bestelle mir einen Salat mit Entenmägen, Speck, Kartoffeln und Käse17. Dazu gibt es ein Glas Irouléguy, ein köstlicher baskischer Rotwein.

Bald ist es an der Zeit, zum Gare d'Austerlitz zurückzukehren. Von dort fährt mein Nachtzug nach Bayonne18. Ich hole das Gepäck aus dem Schließfach und verziehe mich ins Wartezimmer, denn draußen ist es recht kalt. Hier treffe ich auf die ersten Rucksackpilger, sie reisen mit mir im gleichen Abteil. Ihre Fahrt verläuft über Irun19 bis nach Sahagún20, wo sie im letzten Jahr ihre Pilgerfahrt beendet hatten. Dieses Mal wollen sie es bis Santiago de Compostela21 schaffen. Für viele Berufstätige ist es schwierig, mehr als drei Wochen Urlaub zu nehmen. Diese Zeit reicht aber normalerweise nicht aus, um den ganzen Weg bis nach Santiago22 zu Fuß zu bewältigen.

Ich lege mich hin, meine Koje ist oben im Liegewagen. Der Zug fährt um 23.11 Uhr. Morgen sollen wir um 6.37 Uhr in Bayonne ankommen.

„Hl. St. Harpe“ Spruch unter einer Brücke auf dem Jakobsweg bei Tardajos

4 Lydia fuhr gewöhnlich mit dem Nachtzug von Berlin nach Paris.

5 Hape Kerkeling: „Ich bin dann mal weg: Meine Reise auf dem Jakobsweg.“

6 TGV (franz.: train de grande vitesse), Schnellzug der französischen Eisenbahn.

7 Rotwein, Spätburgunder.

8 Französischer Doppelrahmkäse.

9 Name der Pariser U-Bahn, die teilweise auch oberirdisch verläuft.

10 Einer der sechs großen Fernbahnhöfe in Paris. Vom Gare d'Austerlitz fährt der Zug nach Bayonne, den Lydia für ihre Weiterreise nimmt.

11La Procure, 3 rue de Mézières, 75006 Paris.

12St.-Sulpice, 2 Rue Palatin, 75006 Paris.

13 Das französische Wort suplice bedeutet auf Deutsch: Qual. Im französischen Originaltext ist es ein Wortspiel mit dem Namen der Pfarrkirche St. Suplice, erbaut im 17. Jh.

14 Alle zwei Monate erscheinendes katholisches Stundenbuch.

15St.-Gervais-St.-Protais, Pfarrkirche in Paris, erbaut 1494, 13 Rue de Barres, 75004 Paris.

16Chez Gladines. Buttes aux Cailles, 30 Rue des cinq Diamants, 75013 Paris. Als Einstimmung auf den im Baskenland beginnenden Camino francés.

17 Spezialität aus dem Südwesten Frankreichs und des Baskenlandes.

18 Größere Stadt im Südwesten Frankreichs an der spanischen Grenze.

19 Stadt in Spanien an der französischen Grenze.

20 Etappe in Spanien zwischen den Städten Burgos und León auf dem Camino francés. Von dort sind es circa 350 km bis Santiago de Compostela.

21 Stadt im Landesteil Galicien, katholischer Erzbischofsitz und Wallfahrtsort. Ziel des Jakobsweges mit der Kathedrale von Santiago de Compostela.

22 Gemeint ist Santiago de Compostela.

St.-Jean-Pied-de-Port – Orisson (7,5 km)

Mittwoch, 9. April.

Ich habe verhältnismäßig gut geschlafen und mit Hilfe meines Weckers bin ich gegen sechs Uhr früh auf den Beinen. Schon seltsam, denn es ist so still. Wir müssten doch bald in Bayonne ankommen und der Schaffner hat uns nicht geweckt! Der Zug muss Verspätung haben. Nachdem ich mich gewaschen und angezogen habe, nehme ich meine Sachen und verlasse das Abteil. Der Gang vor mir ist menschenleer. Im Nachbarabteil rechts schlafen noch alle. Ich laufe den Gang nach links bis zu dem Platz, wo die Schaffner sitzen.

Auf meine Frage was los ist und wann wir denn in Bayonne ankommen, höre ich: „Oh je! Sie Arme, wir sind noch nicht einmal in Bordeaux23“!

Der Zug hatte zuvor ein paar Stunden Aufenthalt in Orleans, weil durch einen Selbstmord die Schienenverbindungen in südwestlicher Richtung blockiert waren. Und jetzt sitzen wir vor Bordeaux wegen Reparaturarbeiten am Gleisnetz fest!

Daher werden wir mit Bussen nach Bordeaux weiterreisen, wo wir alle ein Frühstück bekommen sollen. Na, das fängt ja prima an! Nachdem wir am Bahnhof von Bordeaux angekommen sind, stehen im Warteraum Kaffee und Croissants für uns bereit. Es gibt widersprüchliche Ankündigungen über die weiteren Reiseverbindungen. Die Zugreisenden möchten nach Bayonne, Dax, Irun oder Tarbes24. Ich gehöre zu denen, die Bayonne als Ziel haben. Nach einer Weile kommt unser Bus. Ich höre, wie neben mir ein Vater mit seinem Sohn über das Städtchen St.-Jean-Pied-de-Port25 spricht. Ich sage ihm, dass dieser Ort auch mein Reiseziel ist, woraufhin er fragt, ob ich allein unterwegs bin. Seine Frau würde ihn und seinen Sohn mit dem Auto in Bayonne abholen und sie hätten noch einen freien Platz. Das nenne ich Glück! Wir steigen in den Bus. Der Fahrer fragt, ob jemand nach Dax möchte, doch zu unserer Freude meldet sich niemand, denn das hätte einen Umweg bedeutet. Die Busfahrt dauert drei Stunden und glücklicherweise bleibt mir noch das Brötchen und der Boursin aus dem TGV.

Gegen elf Uhr vormittags erreichen wir Bayonne. Hier herrscht bereits der Frühling. Es ist schon recht warm und man sieht, wie alles nur so wächst und sprießt. Mein Anschlusszug nach St.-Jean-Pied-de-Port ist längst weg. Wir treffen die Frau meiner Busbekanntschaft und sie nimmt uns mit dem Auto mit bis St. Jean26, wo wir gegen 12.30 Uhr ankommen. Die Familie setzt mich vor dem Tor zur Altstadt ab. Ihr eigentliches Ziel ist ein Urlaubsquartier in einem nahegelegenen Dorf. Nur mir zuliebe sind sie den Umweg über St. Jean gefahren und ich bedanke mich herzlich für ihre Hilfe.

Mein nächster Weg führt mich in das Pilgerbüro27 in der Rue de la Citadelle, aber es hat geschlossen. Somit bekomme ich keinen Stempel vom Ausgangspunkt meines Camino in den Pilgerpass28 und gehe auch nicht in die Statistik der Jakobspilger ein. Na, und wenn schon!

Vor zwei Wochen hatte ich für meine erste Tagesetappe einen Schlafplatz in Orisson29 reserviert. So mache ich mich gleich auf den Weg in die Berge. Das Wetter ist angenehm warm und zuerst besuche ich ein kleines Café, wo ich mir im Waschraum leichtere Kleidung anziehe. So fühle ich mich schon besser.

Mit der 3/4 Wanderhose und dem T-Shirt sehe ich endlich wie eine Pilgerin aus. Nachdem ich meinen Wanderstock ausgepackt habe, kaufe ich Brot und Käse für den Weg und schon geht es los. Einige Touristen, die mir auf dem Weg begegnen, werfen mir neugierige Blicke zu. Ob sie etwa neidisch sind?

Ich passiere die Porte d’Espagne30 und starte die Bergetappe unter strahlender Sonne. Der Aufstieg ist beschwerlich, es ist windig, doch das Wetter ist herrlich. Die Landschaft ist lieblich, Blumen blühen und ich halte einige Eindrücke auf ersten Fotos fest. Meinen Hunger stille ich mit etwas Brot und Käse. Bei Huntto31 lege ich eine Verschnaufpause ein. Auf einmal bin ich mir nicht mehr sicher, ob es der richtige Weg nach Orisson ist. Mir begegnen ein paar junge Leute in einem Minibus, die ich danach frage. Nachdem sie ein Stück vorausgefahren sind, halten sie wieder an, warten auf mich und bieten mir an, meinen Rucksack bis nach Orisson zu bringen, wo sie auch hinmöchten. Ich bedanke mich, lehne jedoch ab und versichere ihnen, dass mit mir alles in Ordnung ist. Ich muss wohl erschöpft und rot im Gesicht aussehen. Auf dem Weg weiter bergauf treffe ich an der Straße auf eine Herde Pottok-Ponys32. Der Aufstieg ist steil und am Wegesrand wachsen viele wilde Christrosen.

Pottok-Ponys in den Pyrenäen

Gegen sechzehn Uhr erreiche ich endlich die Herberge. Von den zehn Leuten, die heute hier übernachten, bin ich die Letzte. Einige Pilger sitzen vor ihren Getränken auf der schönen Terrasse vor der Hütte. Nach meiner Ankunft werde ich freundlich begrüßt und bekomme einen oberen Schlafplatz auf einem von drei Etagenbetten in einem Zimmer für sechs Personen. Unter uns sind zwei nette Frauen aus Deutschland. Sie sind seit Ende Februar unterwegs und haben einen Teil ihrer Reise mit der Bahn zurückgelegt. Das Osterfest haben sie in Taizé33 verbracht. Weiterhin treffe ich einen Franzosen mit seiner brasilianischen Ehefrau, die den Aufstieg zur Hütte äußerst beschwerlich fanden.

Die Pilgerherberge von Orisson

Nachdem ich mich geduscht, den Slip und die Socken gewaschen habe, ordne ich die Sachen in meinem Rucksack neu ein. Gegen 17.15 Uhr sitze ich mit einem Tee im Café der Herberge und um 19.30 Uhr kommen wir alle zum Abendessen zusammen. Es gibt Suppe, Blutwurst und hausgemachte Würstchen, dazu trinken wir Wein. Es schmeckt ausgesprochen lecker. Nach dem Essen möchte ich nur noch ins Bett. Ich bin recht müde und verbringe eine erholsame Nacht.

23 Franz. Großstadt an der Atlantikküste, ca. 190 km vor Bayonne.

24 Städte nahe der französisch-spanischen Grenze.

25 Kleinstadt in den Pyrenäen an der Grenze zu Spanien. Ausgangspunkt für den Camino de Santiago (Camino francés) in den französischen Pyrenäen. Von dort aus sind es ca. 750 km Fußweg bis Santiago de Compostela.

26St.-Jean-Pied-de-Port.

27Bureau des pèlerins de Saint-Jean-Pied-de-Port, 39 Rue de la Citadelle, 64220 Saint-Jean-Pied-de-Port. Das Büro wird vom Freundeskreis der Jakobspilger betrieben. Es ist zuständig für die Beratung in allen Fragen rund um das Pilgern auf dem Jakobsweg nach Spanien.

28 Pilgerpass (franz. Créanciale), erforderlich zum Eintritt in die Pilgerherbergen und Nachweis (Tagesstempel der Unterkunft) des Pilgerweges für die Ausstellung der Pilgerurkunde in Santiago de Compostela.

29Auberge Orisson, 64220-Uhart-Cize, nächstgelegene Pilgerherberge in den Pyrenäen hinter St. Jean, ca. 7,5 km, Anstieg über 644 Höhenmeter. Diese Herberge hat nur wenig Plätze und Reservierung ist empfohlen.

30 Stadttor in St. Jean auf dem Weg nach Spanien (17./18. Jh.), Ausgangspunkt der Route Napoléon, der traditionelle Pilgerweg über die Pyrenäen.

31 Bergetappe in den Pyrenäen, 5,2 km hinter St. Jean-Pied-de-Port gelegen.

32 Eine baskische Pferderasse, die Arbeits- und Reitpferde hervorbringt.

33 Ökumenische Glaubensgemeinschaft in Frankreich mit solidarischen Grundsätzen. Pilgerstätte und Treffpunkt von Jugendlichen aus aller Welt.

Orisson – Roncesvalles (16,5 km)

Donnerstag, 10. April.

Gegen sieben Uhr früh stehe ich auf. Draußen ist es noch dunkel. Nachdem ich mich gewaschen habe, packe ich meine Sachen und frühstücke um halb acht.

Da taucht auf einmal Emilio mit seinen Glöckchen auf. Emilio ist ein Original, ein Pied-Noir34 aus Nordafrika und äußerst gesprächig. Er ist heute Morgen um fünf Uhr früh von St. Jean hierher losgezogen und schon einige Male nach Santiago gepilgert.

Kurz nachdem ich losgelaufen bin, fängt es an zu nieseln. Dummerweise habe ich die Regenhose vorher nicht angezogen! Bis ich sie endlich übergestreift habe, ist meine Wanderhose schon durchnässt. Das Wetter wird ungemütlicher, je weiter ich bergauf laufe. Später höre ich, dass den Wanderern wegen des Unwetters abgeraten wurde, den Weg über den Berg35 zu nehmen. In diesem Fall ist es sicherer, entlang der Straße durch den Ort Valcarlos36 (Luzaide) zu laufen.

Der Wind weht eisig mit Böen, die so kräftig sind, dass ich Angst bekomme, in die Schlucht zu fallen! Bald verwandelt sich der Regen in Hagel. Vom Himmel regnet es Eiswürfel, die in meinem Gesicht einfrieren. Zum Glück habe ich meinen Hut und die Handschuhe. Weiter bergauf fällt Schnee und inzwischen ist es bitterkalt geworden! Der Weg zieht sich hin und die Sicht ist miserabel. Glücklicherweise gibt es die Wegmarkierungen.

Da ich diesen Aufstieg in den Jahren zuvor schon zweimal bewältigt habe, kenne ich die Strecke recht gut. Hinter dem Pass wird der Pfad matschig und zudem gewittert es jetzt. Das Naturspektakel ist überwältigend und hier im Gebirge wird mir dabei ein bisschen mulmig. Doch ich lasse mich trotzdem nicht entmutigen.

Pyrenäenwipfel über den Wolken

Dann ist es endlich geschafft! Ich bin in Spanien.37 Ohne mir darüber im Klaren zu sein, laufe ich einen Weg bergab, den ich zuvor noch nie genommen habe. Die anderen beiden Male, als ich die Pyrenäen überquerte, war ich an der Straße entlanggewandert. Trotz des ungünstigen Wetters ist der Abstieg nicht so schwer. Nur ist der Pfad voller Matsch und ein bisschen rutschig. Einmal falle ich hin, doch zum Glück schützt mich der Regenanzug, eine prima Ausrüstung! Auf diesem Weg komme ich schneller von der Talseite aus nach Roncesvalles38 und habe ich die Abtei39, nicht wie sonst, schon früher auftauchen gesehen!

Inzwischen ist es vierzehn Uhr. Das Pilgerbüro hat offen. Ich gehe an die Rezeption, denn wegen des so ungemütlichen Wetters ist die Klosterherberge40 ausnahmsweise schon geöffnet. Normalerweise darf man erst ab sechzehn Uhr hinein. Ich bekomme einen unteren Platz in einem der Stockbetten41. Mein Bett steht nahe der Eingangstür, was sich später als großer Nachteil herausstellt!

Zuerst gönne ich mir eine heiße Dusche in dem picksauberen Sanitärbereich der Unterkunft. Dann wasche ich meine Slips, die Strümpfe und trockne all das nasse Zeug in einem Wäschetrockner für einen Euro Gebühr. In der Zwischenzeit sitze ich nicht weit entfernt davon am Computer der Herberge und lese meine E-Mails. Der Trockner macht jetzt ein komisches Geräusch! Ich frage mich, ob sie zu meiner Wäsche