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Zwischen zwei Frauen steht ein Mann – er ist der Sohn der einen und der Liebhaber der anderen. Hat eine Beziehung zwischen einem Vierzigjährigen und einer Frau Anfang sechzig eine Chance? Spielt das Alter in der Liebe eine Rolle? Oder gibt es in der Liebe keine Regeln? Die beiden Frauen Brigitta und Monika sind mit über sechzig schon länger in der zweiten Lebenshälfte angekommen. Trotz großer Unterschiede in Lebensstil und Temperament sind sie seit Jahren beste Freundinnen. Brigitta ist immer in Aktion und versucht Monika aufzumuntern, die seit dem Tod ihres Mannes vereinsamt. Bei Prosecco und Ingwertee nehmen sie es mit den Widrigkeiten des Älterwerdens auf und unterstützen sich gegenseitig. Die Zweisamkeit der beiden Frauen wird durch die Ankunft von Monikas Sohn Alex gestört, der nach Jahren der Abwesenheit überraschend mit seinem Dackel in der Kleinstadt auftaucht und wieder in das Zimmer seiner Kindheit einzieht. Als Brigitta sich in Alex verliebt, wird die Freundschaft der beiden Frauen auf eine harte Probe gestellt. Brigitta gerät in eine Zwickmühle – soll sie sich auf die Liebe zu Alex einlassen, obwohl sie soviel älter ist als er und ihre Freundschaft mit Monika aufs Spiel setzen? Oder soll sie verzichten? Mit Anhang: Coburger Rezepte, denn ... ... Liebe geht durch den Magen
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Seitenzahl: 285
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Die beiden Frauen Brigitta und Monika sind mit über sechzig schon länger in der zweiten Lebenshälfte angekommen. Trotz großer Unterschiede in Lebensstil und Temperament sind sie seit Jahren beste Freundinnen. Brigitta ist immer in Aktion und versucht Monika aufzumuntern, die seit dem Tod ihres Mannes vereinsamt. Bei Prosecco und Ingwertee nehmen sie es mit den Widrigkeiten des Älterwerdens auf und unterstützen sich gegenseitig.
Die Zweisamkeit der beiden Frauen wird durch die Ankunft von Monikas Sohn Alex gestört, der nach Jahren der Abwesenheit überraschend mit seinem Dackel in der Kleinstadt auftaucht und wieder in das Zimmer seiner Kindheit einzieht.
Als Brigitta sich in Alex verliebt, wird die Freundschaft der beiden Frauen auf eine harte Probe gestellt.
Brigitta gerät in eine Zwickmühle – soll sie sich auf die Liebe zu Alex einlassen, obwohl sie soviel älter ist als er und ihre Freundschaft mit Monika aufs Spiel setzen? Oder soll sie verzichten?
Heidi Fischer wurde 1954 in Oberfranken geboren, lebte einige Jahre in München und kehrte dann nach Coburg zurück. Sie arbeitete als Lehrerin, reist gerne und viele ihrer Geschichten spielen in Ländern, die sie besucht hat, sind aber auch oft in ihrer Heimat Oberfranken angesiedelt.
Familie, Freundschaften und die Gefühle ihrer Mitmenschen spielen immer eine große Rolle in ihren Romanen, egal, ob es sich um einen Krimi oder Liebesroman handelt.
Im Lauinger Verlag sind bisher folgende Bücher der Autorin erschienen: 2013 Laufmaschen im Strickstrumpf, 2015 Wer später stirbt ist länger alt – Kurzgeschichten, 2015 Der verlorene Mann, 2018 Tod der Schmetterlingsfrau – Mallorca-Krimi, 2020 Weißer Tod im Paradies – Mallorca-Krimi.
HEIDI FISCHER
ROMAN
LAUINGER VERLAG
Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.
© 2023 Lauinger Verlag, Karlsruhe
Umschlaggestaltung, Satz & Layout: Sonia Lauinger
Projektmanagement: Anna-Linda Hahn
Lektorat: Nina Gibler
Korrektorat: Nele Müller, Elena Riedesser
Umschlag: Ein großes Dankeschön an Thomas Habermann für das spontane Malen von »Dackel Albert Einstein«, sowie die Bereitstellung von »Veste Coburg bei Nacht« und die Veröffentlichungsrechte der beiden Aquarelle für dieses Buch.
https://www.kunstmaler.online/thomashabermann // [email protected]
Druck: Bookpress, Olsztyn, Polen
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes (auch Fotokopien, Mikroverfilmung und Übersetzung) ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt auch ausdrücklich für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen jeder Art und von jedem Betreiber.
ISBN: 978-3-7650-2163-3
Dieser Titel erscheint auch als EBook:
ISBN: 978-3-7650-2164-0
http://www.lauinger-verlag.de
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https://www.instagram.com/lauingerverlag/
Das Alter hat mit der Liebe nichts zu tun. In der Liebe gibt es keine Regeln!
Lebensweisheit
Das Buch
Die Autorin
Brigitta
Monika
Alex
Brigitta
Monika
Alex
Brigitta
Alex
Brigitta
Alex
Alex
Brigitta
Monika
Brigitta und Alex
Brigitta
Brigitta
Brigitta
Alex
Monika
Brigitta
Alex
Brigitta
Alex und Brigitta
Alex
Alex
Brigitta
Brigitta
Alex
Brigitta
Monika und Brigitta
Monika
Alex
Moniko
Alex
Brigitta
Alex
Brigitta und Monika
Brigitta
Alex
Monika
Brigitta
Brigitta, Alex und Monika
Coburger Rezepte: … Liebe geht durch den Magen
Bratwurst in Blätterteig
Schokoladenkuchen
Monikas Bandnudeln
Tomatensoße aus sonnenreifen fränkischen Tomaten
Kaiserschmarrn
Fischpfanne
Rinderrouladen nach Coburger Art
Coburger Klöße
Dankeschön!
»Meine Welt ist rund! Und wenn sie eiert, dann male ich sie mir rund!« Das war das Lebensmotto von Brigitta. Ihr Glas war immer halb voll, niemals halb leer. Und wenn es gut lief, dann war es kein Wasserglas, sondern ein mit prickelndem Prosecco gefülltes.
Rund wie ihre Welt war auch schon immer ihr Gesicht, ihr Bauch, eigentlich ihre Gesamtfigur und meist auch ihre Stimmung. Rund im Sinne von gut, denn Brigitta war mit sich und der Welt im Einklang und zufrieden. Nur wenig konnte sie im Alter von zweiundsechzig noch aus der Ruhe bringen.
Doch an diesem Morgen fing der Tag unrund an. Um acht Uhr klingelte das Telefon. Sie wankte nach unten in die Diele, traumverloren und verschlafen. Vor zehn war bei ihr immer kurz nach Mitternacht. Gedanklich war sie um diese Uhrzeit noch nicht auf der Höhe. Seit sie nicht mehr arbeitete, gönnte sie sich ausgiebigen Morgenschlaf, samt Aufstehen im Schneckentempo. Dafür ging sie selten vor Mitternacht ins Bett.
Nur weil ihr Hirn noch auf Leerlauf geschaltet hatte, nahm sie den Anruf an, ohne zu schauen, wer dran war. Wenn Brigitta etwas gar nicht vertrug, dann waren es Überraschungen am Morgen. Sie hätte das Klingeln ignorieren und ihre Tochter später zurückrufen sollen.
»Du bist die Erste, die es erfährt. Ich habe gerade einen Test gemacht, der eindeutig positiv ist. Freust du dich gar nicht?«, fragte Lena nach der Mitteilung, die Brigitta alles andere als entzückte. Ihre Stimme, die durch den Telefonhörer kraftlos, dünn und gar nicht fröhlich klang, war ein einziger Vorwurf. »Natürlich freue ich mich, aber es kommt überraschend.«
Brigitta sagte es, obwohl es nicht stimmte. Sie war nicht glücklich darüber, ein weiteres Enkelkind zu bekommen. Die Begeisterung hielt sich in Grenzen, denn oft genug fühlte sie sich überfordert und ausgelaugt, weil ihre Tochter sie zum Betreuen der Enkelkinder brauchte. Ein Baby mehr würde noch weniger Zeit für sie selbst bedeuten.
»Wie konnte das passieren?«, entfuhr es ihr unüberlegt.
»Mama, du bist unmöglich. Ich will dieses Kind. Es war kein Unfall, sondern volle Absicht, dass ich schwanger bin.«
Brigitta hielt die Sprechmuschel mit der Hand zu, stöhnte und rollte mit den Augen.
»Ich habe sehr wohl gehört, wie genervt du bist!«, kam postwendend die Reaktion ihrer Tochter.
Auch wenn Brigitta ganz bestimmt entzückt sein würde, sobald sie das Baby zum ersten Mal im Arm halten, wenn sie den weichen Flaum auf dem Hinterkopf streicheln, und wenn es zum ersten Mal mit seinen winzigen, runzligen Fingern nach ihren faltigen greifen würde. Aber würde ihr dieses Kind nicht viel zu viel Energie rauben? Jedes ihrer fünf Enkelkinder war liebenswert, aber auch anstrengend. Durfte man mit über sechzig nicht egoistisch sein und die verbleibenden guten Jahre seines Lebens in vollen Zügen genießen?
Sie schwieg in den Hörer und ihre Tochter am anderen Ende der Leitung wurde zornig.
»Ich liebe Kinder und ja, ich weiß selbst, dass eine Frau mit sechs Kindern von drei verschiedenen Männern von den meisten als asozial angesehen wird…«
Mit dieser herauszuhörenden Anschuldigung, dass auch sie zu diesen Menschen gehörte, die ihre eigene Tochter als asozial bezeichneten, war Brigitta der Wind aus den Segeln genommen. Bis zu einem gewissen Grad hatte Lena recht damit. Musste ausgerechnet ihre Tochter sechs Kinder bekommen? Brigitta wäre mit einem einzigen Enkel voll und ganz zufrieden gewesen.
»Nein, wirklich, ich freue mich!«, versicherte sie noch einmal, um Lena und ihr aufkeimendes schlechtes Gewissen zu beruhigen. Sie vereinbarten, dass Lena in den nächsten Tagen auf einen Kaffee vorbeikommen würde. Es gäbe viel zu besprechen, fügte ihre Tochter noch hinzu und Brigitta schwante nichts Gutes. Hoffentlich gab es diesmal einen verlässlichen Vater für das Kind. Leider war Lena immer sehr schnell sehr verliebt und diese Liebe hielt nie besonders lange. Die männlichen Bewohner im Haus ihrer Tochter wechselten so häufig wie ihre Haarfarben. Manchmal hatte Brigitta Mühe ihre Tochter zu erkennen, wenn sie von einem Tag zum anderen von Blond zu Schwarz wechselte oder sich für ein Karottenrot entschied.
Als sie auflegten, beschloss Brigitta das Gespräch für eine Weile aus ihren Gedanken zu streichen.
Deshalb holte sie wie oft, wenn ein Ereignis sie in ihren Grundfesten erschütterte, einen Teebeutel aus dem Schrank, setzte Wasser auf und beschloss den Tag einfach noch einmal neu beginnen zu lassen. An Schlafen war nicht mehr zu denken.
Sie hatte ein ganzes Fach voller Teesorten und dieser Morgen mit der Ankündigung eines neuen Babys in der Familie verlangte nach einem besonderen Getränk. Ihre beste Freundin Monika hatte ihr zum Geburtstag Ingwertee mit Limetten und Kardamom geschenkt. Auf der Verpackung der tassenfertigen Beutel war jeweils eine Lebensweisheit aufgedruckt. Vier Sorten gestaffelt nach Frieden, Lebensfreude, Glück und Harmonie. Sie wählte einen Beutel der Sorte Lebensfreude. Genau das Richtige, um diesen Tag zu optimieren, dachte sie.
»Freude wohnt in einem Haus mit vielen Kindern«, stand innen. Brigitta seufzte, stopfte den Beutel wieder zurück in die Packung und versuchte es in der Spalte mit der Aufschrift Glück.
»Teile mit anderen, dann kommt das Glück auch zu dir.«
Erneut klingelte das Telefon. Sie ignorierte es.
Mit Schwung knallte sie die Schranktür zu und holte sich einen Pikkolo aus dem Kühlschrank, dazu zwei mit Bratwurst gefüllte Blätterteigtaschen, die noch vom Vorabend übrig waren. Während sie den herzhaften Imbiss in der Mikrowelle erwärmte, goss sie den Sekt ein und freute sich an den fröhlichen Bläschen, die munter im Glas nach oben perlten. Mit dem Duft der Bratwürste und einem großen Schluck Sekt erwachten ihre Lebensgeister zu neuer Frische. Manche Tage verlangten nach radikalen Maßnahmen. Sie prostete sich selbst zu: »Cheers, meine Liebe! Carpe diem und lass dich nicht unterkriegen!«
(Rezept: Bratwurst in Blätterteig)
Es war die Stille, die es so unerträglich machte. Die Vorhänge hatte sie aufgezogen, um das Gefühl der Weite nicht auszusperren. Vor dem Fenster prahlte ein weißblauer Himmel mit dem Versprechen von Wärme und Heiterkeit. Was trügerisch war, in Anbetracht der noch frischen Temperaturen, die typisch für Februar waren. Auf den Straßen war es ungewöhnlich ruhig, weil geschlossene Geschäfte und Ausgangsbeschränkungen die Menschen zu Hause bleiben ließen.
Monika war die meiste Zeit des Tages in ihrer Wohnung. Wenn sie hinausging, dann so gut wie immer in den nahegelegenen Wald, der sich hinter ihrem Grundstück erstreckte. Sie konnte von ihrem Schlafzimmerfenster aus bis zum Waldrand sehen und morgens beobachten, wie die Rehe herauskamen und im ersten Licht des Tages auf der Wiese nach Futter suchten. Scheu und immer bereit, zurück in die Dunkelheit des Waldes zu flüchten, wenn sie ein Geräusch erschreckte oder ein früher Spaziergänger mit seinem Hund die Runde machte. Monika verfolgte fast täglich ihr Kommen und Gehen. Bald würde es wieder Kitze geben, wenn im Frühling der Nachwuchs auf die Welt kam.
Doch an diesem Nachmittag lief nur ein Wanderer auf dem Weg, der sich am Waldrand entlang zog, ein Buntspecht saß auf der Wiese und zwei Krähen stritten sich unter den kahlen Bäumen um einen vergessenen Apfel, den der Wind vom Baum gefegt hatte.
Monika schaute zu dem Bild ihres Mannes, das sie vor sich auf den Wohnzimmertisch gestellt hatte.
»Wenn du nur etwas sagen könntest. Ich halte diese Stille nicht mehr aus. Seit Stunden spricht niemand ein Wort!«
Ihr Leben war seit Monaten wie eingefroren. Stillstand. Sinnvolles war ihr abhandengekommen.
Sie schenkte sich aus einer Teekanne lauwarmen schwarzen Tee in die Tasse, füllte sie mit Orangensaft auf und trank einen großen Schluck.
»Nicht mal die Katze schnurrt, wenn ich sie kraule.« Vorwurfsvoll betrachtete Monika das lächelnde Gesicht ihres Mannes.
Mechanisch strich sie dabei über das struppige Fell der Graugetigerten, die mit geschlossenen Augen neben ihr auf dem Sofa lag.
»Warum musstest ausgerechnet du zuerst sterben? Du würdest bestimmt viel besser allein klarkommen. Nie haben wir damit gerechnet, dass einer von uns schon so bald sterben könnte. Wir haben uns für gesund und unbesiegbar gehalten, zumindest ich. Was für eine Arroganz! Außerdem hast du immer behauptet, dass diese stinkige Katze mit dir spricht.« Sie nahm erneut ihre Tasse in die Hand und trank sie in einem Zug aus.
Er war einfach am Mittagstisch umgekippt. Es hatte einen Nudelauflauf mit Zucchini gegeben. Er mochte ihn gerne. Alles mit Käse Überbackene hatte er geliebt. Nach den ersten Bissen war er einfach vom Stuhl gefallen und war tot. Viska hatte weiter auf dem Sofa gelegen und geschlafen, die Sonne hatte zum Fenster hereingeschienen und die Meisen auf der Terrasse hatten gezwitschert, als wäre nichts geschehen. Nicht einmal den Teller hatte er umgeworfen, nur das Glas mit Mineralwasser hatte gewackelt. Monika war fassungslos gewesen, die Trauer war erst später gekommen. Zucchini-Nudelauflauf hatte sie seit diesem Tag nie mehr gemacht. Monika hatte nie einen anderen Mann über die Schwelle ihres Herzens gelassen. Als er starb, war die Tür hinter ihm zugefallen und Monika hatte den Schlüssel verloren.
Die alte Graugetigerte hob den Kopf und sah sie mit ihren grünen, unergründlichen Augen herausfordernd an.
Unten vor dem Haus schepperte der Deckel einer Mülltonne. Monika fühlte sich wirr im Kopf, als wäre sie betrunken. Dabei hatte sie heute noch nicht einmal an einem Glas Wein genippt. War sie auf dem Weg verrückt zu werden?
»Warum lebe ich und er ist tot?«, fragte sie in Richtung der Katze. Als diese die Augen schloss und sich abwandte, murmelte Monika:
»Ich sollte zur Abwechslung mal bei Tee bleiben.«
Sie war sich sehr wohl bewusst, dass sie viel zu häufig die Cognacflasche oder einen Wein aus dem noch immer gut sortierten Getränkekeller holte, um die Tristesse des Alltags zu vergessen.
Die Katze begann zu schnurren.
Monika streichelte weiter über das vom Alter stumpf gewordene Fell, dann schlief sie ein und träumte einen wirren Traum von toten und sterbenden Katzen, die sie umringten und Anklage gegen sie erhoben. Eines der Tiere, das aussah wie Viska verwandelte sich plötzlich in ihren verstorbenen Mann und begann, sich vor ihren Augen in ein Gerippe aufzulösen.
»Sabine war so unglücklich. Du bist ständig unterwegs, lässt sie viel zu oft allein. Ich wollte das wirklich nicht. Es tut mir leid!«
Mit diesen Worten hatte Alex versucht sein Verhältnis mit Sabine vor Robert zu entschuldigen.
»Was für ein erbärmlicher Versuch dich herauszureden«, hatte Robert ihn unterbrochen. Seine Stimme hatte vor verhaltener Wut gezittert. Und auch Alex war voller Zorn und Verbitterung gewesen. Unversöhnlich hatten sich die beiden Geschäftspartner, die noch vor kurzem Freunde gewesen waren, gegenübergestanden.
Seitdem fragte sich Alex, wie er in diese verfahrene Situation geschliddert war.
Dabei wusste er genau, dass es zumindest zum Teil an seiner Unfähigkeit lag, im richtigen Moment Nein zu sagen. Der gesunde Menschenverstand hätte ihm klarmachen müssen, dass es falsch war, sich auf ein Verhältnis mit der Frau seines Geschäftspartners und Freundes einzulassen. In den vergangenen Monaten war zwar von der früheren gegenseitigen Sympathie zwischen ihm und Robert nicht mehr viel übriggeblieben, aber es hatte sie immer mehr verbunden als ihre Arbeit. Er schämte sich dafür, dass er ihn hintergangen hatte und konnte im Nachhinein verstehen, dass er Roberts Gefühle mit Füßen getreten hatte. Und die Affäre war es auch nicht wert gewesen. Wegen dieser Liebesgeschichte, die eigentlich nur eine Bettgeschichte gewesen war, war er jetzt in der Kleinstadt seiner Kindheit gelandet und auf dem Weg ins Haus seiner Mutter.
In den Häusern rechts und links der Straße waren auffallend viele Fenster und Balkontüren geöffnet. Lüften war die Devise dieser neuen Zeit, neben Maskentragen und Abstandhalten. Der Februar hatte erst angefangen, der Winter war also noch längst nicht vorüber, aber von Schnee und Kälte gab es keine Spur mehr. Lang und endlos war allen dieser Herbst und Winter erschienen. Langsam steigende Temperaturen beglückten an diesem Tag nicht nur Alex.
Er trug zusätzlich zum Mund- und Nasenschutz, passend zu seinem Befinden einen schwarzen, breitkrempigen Filzhut. Ohne Hut verließ er nie seine Wohnung, da hätte schon ein Dach über seinem Kopf zusammenstürzen müssen. Im Sommer waren es Strohhüte, im Winter Kopfbedeckungen aus Filz, Stoff oder Leder. Sie gaben ihm Sicherheit, schützten ihn nicht nur vor Sonne, Regen und Wind, sondern auch vor neugierigen Blicken seiner Mitmenschen. Hinter der Maske verbarg sich ein wettergegerbtes Gesicht. Durch seinen Beruf war er viel im Freien, was man ihm ansah. Die Sonnenbräune der Haut stand im Gegensatz zu einem silbrig durchzogenen Dreitagebart. Seine blauen Augen waren von kleinen Falten umgeben, die sich zu einem Kranz ausdehnten, wenn er lachte.
Alex war nicht schlank, aber seine massige Figur war durchtrainiert und an seinem forschen Schritt konnte man unschwer erkennen, dass er körperlich fit war. Wer nicht wusste, dass er einen Handwerksberuf ausübte, hätte darauf getippt, dass er viel Zeit im Fitness-Studio, auf dem Fahrrad oder mit einer anderen Sportart im Freien verbringen würde. Die vereinzelten Sonnenstrahlen milderten die düsteren Gedanken der meisten Bewohner der kleinen Stadt, wenn auch nur für kurze Zeit. In den Vorgärten schauten die Menschen nach dem ersten Grün der Schneeglöckchen. Doch noch lugte nichts aus dem Erdreich, der Boden war hart gefroren. Ein paar vorwitzige Vögel zwitscherten dennoch unternehmungslustig in den kahlen Ästen der Bäume. Für ein paar Minuten riss sogar das Wolkengrau auf und ein Stück blauer Himmel wurde sichtbar.
Die vergangenen Monate hatten alle Menschen verändert. Sie waren je nach Naturell gereizter, aggressiver oder liebenswürdiger und achtsamer geworden. Alex grüßten mehrere Leute auf seinem Weg vom Bahnhof in den Rosenweg, obwohl er das letzte Mal vor drei Jahren hier gewesen war. In einer Kleinstadt hatten die Menschen ein gutes Gedächtnis. Gesichter wurden nicht so leicht vergessen und seine Familie lebte seit mehr als siebzig Jahren im Ort. Seine Familie, die jetzt nur noch aus ihm und der Mutter bestand.
Die meisten Leute, die ihm begegneten, trugen FFP2-Masken, die die bunten Mund- und Nasenbedeckungen der ersten Monate der Pandemie abgelöst hatten und schon Normalität geworden waren.
Alex zog den Filzhut tiefer in die Stirn. Er fühlte sich damit wie in einer Höhle, einem Unterschlupf. Seit wann er die Kopfbedeckungen konsequent trug, konnte er nicht mit Bestimmtheit sagen. Schon auf den Babybildern, die in einem Familienalbum existierten, das seine Mutter früher regelmäßig herumgezeigt hatte, trug er immer ein Mützchen, später Kappen und ungefähr ab dem dreißigsten Lebensjahr bevorzugt Hüte mit breiten Krempen. Früher war es ihm um ein Markenzeichen gegangen. Seit ein paar Jahren kaschierte er damit auch eine lichter werdende Stelle auf dem Hinterkopf. An diesem Wintertag, der einer längeren Regenperiode gefolgt war, wäre ein Strohhut unangebracht gewesen. In seinen Koffer hatte er nur noch eine warme Mütze gepackt. Er reiste mit kleinem Gepäck. Seine restliche Kleidung hatte er in seiner Wohnung in München deponiert. Den Hund hatte er nicht zurückgelassen.
Der Dackel Einstein, der hinter ihm her trottete, gehörte zu den Wenigen, die nicht von dem Virus verstört waren. Covid-19 hatte die Welt der Menschen verändert, für Hunde war sie geblieben wie zuvor. Zumindest hatte es für Alex den Anschein, dass der Dackel sich nicht davon beeindrucken ließ. Schwanzwedelnd beschnupperte er jeden Straßenlaternenpfahl, die Büsche, Zaunlatten und alle Hosenbeine, die an seiner Nase vorbeikamen. Auch sein Name schien ihm ziemlich egal und dass er einen berühmten Namensgeber hatte, der zudem intelligent und von großer Bedeutung für die Menschheit war, juckte ihn kein bisschen. Je nach Laune hörte er auf diesen Namen oder auch nicht. Wichtiger war ihm das dargebotene Fressen, das oftmals mit dem Rufen dieser Nennung einherging. Sagte Alex Albert zu ihm, dann bedeutete das meist leckere Leberwurst, setzte er ein Einstein dazu, war die Situation angespannt und der Dackel erkannte, dass sein Fütterer nicht zufrieden mit dem war, was er gerade im Sinn hatte.
Alex war sich sicher, dass Albert Einstein nichts von dem verlorenen Glauben der Bewohner wusste, dass es in ihrer Kleinstadt, in Deutschland, in Europa, vielleicht sogar in der ganzen Welt, je wieder so sein könnte wie vor dem März 2020. Diese Unbekümmertheit bewunderte und erfreute Alex, gerade in der momentanen Situation, die alles andere als unbeschwert daherkam.
Die Angst, dass das gute Leben zu Ende war, ging nicht nur bei ihm um. Es war eine depressive Stimmung, aber auch eine explosive, die nur darauf wartete, entzündet zu werden. Denn wer wollte sich auf Dauer vorschreiben lassen, Mund und Nase zu bedecken, sich alle paar Monate impfen zu lassen und zu allen Mitmenschen auf Abstand zu gehen? Nur ganz wenige mochten sich vorstellen, dass dieser Zustand noch weitere Monate andauern sollte.
Einstein, ja alle Hunde, waren in dieser Zeit privilegiert. Für sie gab es keine Beschränkungen. Der Dackel erinnerte sich wahrscheinlich nicht einmal mehr an den Streit seines Besitzers vor einigen Tagen. Dieser Streit, der Alex‘ Leben verändert hatte, das des kleinen Hundes jedoch bisher eher zum Positiven. Alex war seitdem viel häufiger zuhause und unternahm lange Spaziergänge mit ihm, was ihm gut gefiel. Einstein freute sich darüber, nahm alles hin und liebte sein Herrchen dafür umso mehr.
Alex Schüsslers Leben war gänzlich aus den Fugen geraten. »Du brauchst nicht mehr zu kommen!«, hatte sein Geschäftspartner Robert Mittermeier gesagt. In einem ganz normalen Tonfall, so wie er an einem anderen Tag gesagt hätte: »Willst du den Auftrag übernehmen oder soll ich ihn machen?«, oder: »Kannst du morgen früher kommen, ich muss noch kurz einen Arzttermin wahrnehmen!«
Sie hatten sich gut verstanden, waren in dem Garten- und Landschaftsbau-Unternehmen in München ein Spitzenteam gewesen. Robert war für die Finanzen und Organisation zuständig, während Alex der Praktiker war, der die Arbeiten plante und mit einem Team von Arbeitern ausführte und überwachte. Das Geld für die Firma stammte von Roberts Eltern. Sie waren vermögend und hatten eine beträchtliche Summe für die Anschaffung des Maschinenparks und der Arbeitsgeräte lockergemacht. Bis zu dem Moment, als Alex ein Verhältnis mit Roberts Frau angefangen hatte, war die Zusammenarbeit gut gewesen, auch wenn Robert oftmals heraushängen ließ, dass das Unternehmen ohne die Vorfinanzierung der Eltern niemals so gelaufen wäre.
Als Sabine ihm ihren Seitensprung beichtete, dachte sie, ihn damit wachrütteln zu können. Ihre Ehe war an einem Tiefpunkt angekommen. Sie fühlte sich vernachlässigt und unverstanden. Aber das Gegenteil war der Fall. Robert rastete aus. Alex bemühte sich, ihm zu erklären, dass es nur ein Ausrutscher gewesen war, dass Sabine sich von ihm stiefmütterlich behandelt gefühlt hatte und eigentlich nur einmal eine breite Schulter zum Ausweinen gesucht hatte. In die daraus folgende Affäre waren sie beide hineingeschliddert, ohne es wirklich zu wollen.
»Du hast unsere Freundschaft verraten. Das hätte ich dir niemals zugetraut.«
»Sabine war so unglücklich. Du bist ständig unterwegs, lässt sie viel zu oft allein. Ich wollte das wirklich nicht. Es tut mir leid.«
»Wenn du jetzt auch noch mir und Sabine die Schuld gibst, dass du mit jeder Frau ins Bett steigst, brauchen wir gar nicht mehr weiter zu reden.«
Diese Aussage war dem Zorn seines Partners geschuldet, denn es stimmte absolut nicht, dass Alex mit jeder Frau schlief, die ihm über den Weg lief. Im Gegenteil: Seine bisherigen Beziehungen zu Frauen in seinem fünfundvierzigjährigen Leben konnte er an einer Hand abzählen.
»Ich will niemandem die Schuld geben, ich versuche dir nur klarzumachen, dass es ein Ausrutscher war und dass Sabine unglücklich ist.«
»Was für ein erbärmlicher Versuch, dich herauszureden. Du hast doch immer nur Beziehungen, die schon nach ein paar Treffen wieder beendet sind. Dir liegt doch nichts an einer festen Bindung und du achtest die Gefühle deiner Mitmenschen nicht. Dass du nicht einmal bei deinem Freund Halt machst, kann ich dir nicht verzeihen.« Robert hatte null Verständnis gezeigt und ihm die Gesamtschuld an der Affäre gegeben. Ehebruch stand für ihn auf einer Stufe mit Pornografie und Rauschmitteln. Er war ein guter Katholik, ging jeden Sonntag in die Kirche. In seiner Familienplanung waren ein Kind und Eigenheim vorgesehen. Das »Lotterleben«, wie er Alex‘ Lebensweise bezeichnete, war ihm ein Graus. Dass seine Ehe schon vorher nicht die beste war, spielte keine Rolle. Die Aussprache war schnell beendet, die Fronten waren verhärtet.
Am nächsten Morgen dann der endgültige Bruch: »Du brauchst nicht mehr zu kommen! Ich zahle dir deinen Anteil am Geschäft aus. Gute praktische Arbeiter, die deinen Job übernehmen, lassen sich leicht finden. Verschwinde einfach aus unserem Leben.« Hingeknallt auf den Schreibtisch, der an diesem Morgen belagert war mit Vollkornbrötchen und hartgekochten Bio-Eiern von einem Demeter-Hof, der den angesagten Bioladen belieferte, in dem die Mittermeiers ihre Lebensmitteleinkäufe tätigten. In Bezug auf Ernährung unterschieden sich die beiden Geschäftspartner erheblich. Alex bevorzugte Wurst und Fleisch, gerne auch von McDonalds und mied jede Form von Bio-Produkten.
Abgefeuert waren die Worte, nicht mehr rückgängig zu machen. Gesagt, weil er ihre Freundschaft und damit auch ihre Geschäftsidee angeblich verraten hatte. Robert war in Sachen Ehrlichkeit pingelig und er wollte seine Ehe nicht in Frage gestellt sehen.
Für ihn hatte es keine Rolle gespielt, dass Alex ihm versicherte, es täte ihm leid. Insgeheim hatte er wohl darauf gewartet, einen Grund zu finden, den Geschäftspartner abzuservieren, ihn aus dem Unternehmen auszubooten und alleiniger Chef zu sein.
»Ich werde nicht mehr zurückkommen!« Auch Alex war laut geworden und Einstein, der in seinem Körbchen in der Ecke gelegen hatte, war zusammengezuckt und aus einem angenehmen Hundetraum aufgeschreckt.
Alex hatte seinen Schreibtisch geräumt, seine Arbeitsklamotten zusammengepackt und war gegangen. Mit Robert hatte er kein Wort mehr gewechselt. Dieser war ihm schon lange wie ein Fremder vorgekommen. Der ausgeglichene, freundliche Geschäftspartner, mit dem er gerne zusammengearbeitet hatte, war im vergangenen Sommer verschwunden und durch einen miesepetrigen, übel gelaunten ersetzt worden. Auch er selbst hatte sich verändert. Auf der Hut, keine falsche Bemerkung zu machen, die zu einem Streitgespräch führen könnte, war er immer ruhiger geworden.
»Lachen findet in diesem Büro nur noch im Keller statt, dafür sind wir Weltmeister im Schweigen«, hatte er vor ein paar Tagen festgestellt. Diese Äußerung hatte dazu geführt, dass Robert das Büro ohne ein weiteres Wort verlassen hatte und erst drei Stunden später wieder aufgetaucht war. An Aufträgen hatte es ihnen nicht gemangelt. Aber bedingt durch die Corona-Maßnahmen waren sie viel zu oft lange im Büro geblieben, hatten keine Abstecher mehr in den Biergarten oder in die Kneipe um die Ecke gemacht und es hatte keine gemeinsamen Unternehmungen neben der Arbeit mehr gegeben. Trotzdem gab es keine Entschuldigung dafür, dass er mit Roberts Frau ins Bett gegangen war. Schließlich waren sie einmal gute Freunde gewesen.
Als Alex an besagtem Tag das Büro für immer verlassen hatte, war er fast erleichtert gewesen, dass dieses Kapitel abgeschlossen war.
Alex hatte auch seine Wohnung gekündigt und beschlossen, noch einmal neu anzufangen. Ob er in drei Monaten seine Möbel in einer anderen Wohnung in München oder in einer anderen Stadt aufstellen würde, wusste er noch nicht. Er hielt sich alle Optionen offen.
Nach einer Woche des Nichtstuns und Grübelns hatte er bei seiner Mutter angerufen und sich ein Bahnticket nach Coburg besorgt. Ein Ortswechsel war bestimmt nicht verkehrt, um das Leben aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Und wo konnte man das besser als an dem Ort seiner Kindheit? Der Gedanke dazu war ihm spontan gekommen. Unüberlegt, ohne dass er genau wusste, warum.
Unerschütterlich und vertraut thronte die Veste auf dem Hügel über der Stadt. Das Wahrzeichen von Coburg hatte ihn schon willkommen geheißen, als er auf den letzten Kilometern aus dem Zugfenster geschaut hatte. Es hatte sich nicht viel in der Kleinstadt geändert, im Gegensatz zu ihm selbst, den die Jahre der Abwesenheit entfremdet hatten.
Als er sich seinem Elternhaus näherte, wurden seine Schritte immer langsamer. Hatte er die richtige Entscheidung getroffen? Was wollte er eigentlich in der Stadt seiner Kindheit?
Es war der erste Besuch daheim seit der Beerdigung des Vaters. Er war vor drei Jahren gestorben. Weihnachten und am Geburtstag der Mutter hatte er nur angerufen, immer in der Absicht bald mal vorbeizukommen. Doch irgendwie hatte es nie den richtigen Zeitpunkt gegeben. Meist lag es an der Arbeit, aber oft auch daran, dass er keine große Lust verspürte, seine Freizeit in der verschlafenen fränkischen Kleinstadt zu verbringen. Urlaub war für ihn Reisen. Möglichst weit weg und mit viel Action verbunden.
Und es war auch eine Portion schlechtes Gewissen Grund dafür, dass er nicht mehr gekommen war. Sein Vater war selbstständig gewesen. Er hatte einen Hausmeister-Service aufgebaut, den er bis zu seinem Tod betrieben hatte. Kein großes Unternehmen, sondern eine Ein-Mann-Firma mit höchstens zwei bis drei Aushilfskräften während der Hauptsaison. Er hatte Rasenmähen, Heckenschneiden und das Pflanzen von Bäumen im Sommer und Schneeräumen im Winter angeboten, in den Herbstmonaten war er unterwegs, um Gärten für die kalte Jahreszeit fit zu machen und im Frühjahr legte er Blumen- und Gemüsebeete an. Seine Kunden waren Privatleute, meist alte Menschen, denen ihre Gärten zu groß geworden und die auf fremde Hilfe angewiesen waren.
Als Alex Gartenbau studiert hatte, hofften seine Eltern natürlich, dass er einmal in die Fußstapfen seines Vaters treten würde. Sie hatten ihn nie gedrängt, aber ihre Enttäuschung war ihnen deutlich anzumerken, als er ihnen mitteilte, dass die Kleinstadt zu eng für ihn wäre und er nicht zurückkommen wollte.
Wahrscheinlich würde er nicht lange bleiben. Er musste sich dringend einen neuen Job suchen. Sein Konto war noch gut gefüllt, aber ewig würde das angesparte Geld nicht reichen. Eine Arbeit zu finden, war nie ein Problem für ihn gewesen. Gartenarbeiten, Post zustellen, Pizza ausliefern, im Fitnessstudio jobben, Hausaufgabenbetreuung. Er hatte während des Studiums schon vieles ausprobiert, um sich über Wasser zu halten. Seine Ausbildung als Gartenbauarchitekt war oftmals nützlich gewesen, auch sein monatelanger Aufenthalt in Australien und Neuseeland war von Vorteil, wenn er sich um einen Job beworben hatte. Doch sesshaft werden, für Jahre an einem Ort leben und immer von denselben Menschen umgeben sein, das hatte er noch nie geschafft.
Seit ein paar Monaten hatte er immerhin einen Hund, vielleicht der Anfang einer neuen Dauerhaftigkeit. Einstein hatte ihn sich selbst als Herrchen ausgesucht. Er hatte vor seiner Wohnungstür gesessen und ihn treuherzig angeschaut, als er von der Arbeit nach Hause gekommen war. Zuerst hatte Alex gedacht, der Hund wartete nur auf seinen Besitzer, den alten Herrn aus der Nachbarwohnung, mit dem er ab und an ein paar Worte gewechselt hatte, wenn sie sich im Treppenhaus begegnet waren. Doch Herr Wehrmeister war eine Woche zuvor ins Krankenhaus eingewiesen worden und an einem Schlaganfall gestorben. Der Hausbesitzer hatte den verwaisten Dackel im Tierheim abgegeben. Bei einem Spaziergang war der Hund abgehauen, zurück in sein altes Wohnviertel gelaufen und hatte es sich vor Alex‘ Tür gemütlich gemacht.
Es war Liebe auf den zweiten Blick gewesen. Einstein war nicht gerade der Schönste. Sein Fell war schon ziemlich grau und struppig, die Augen hatten an Glanz verloren und sein Bauch schleifte beim Laufen fast auf dem Boden. Herr Wehrmeister hatte ein künstliches Knie gehabt und konnte nicht weit mit ihm spazieren gehen. Er hatte den Dackel mit Wurst, Käse und Fleisch von seinem eigenen Teller verwöhnt, ohne darauf zu achten, was für dessen Gesundheit förderlich war. Als sein Herrchen starb, war Einstein ebenfalls schon im gesetzten Alter von vierzehn Jahren.
Zuerst wollte Alex den Dackel so schnell wie möglich wieder loswerden. Doch Albert Einstein war vielleicht nicht so klug wie sein Namensvetter, aber ziemlich raffiniert. Seinem treuherzigen Blick konnte Alex nicht widerstehen und als die Chefin des Tierheimes meinte, dass für einen so alten Dackel wohl kein neuer Besitzer gefunden werden könne, hatte Alex sich spontan entschieden. Er hatte sofort alle Papiere unterschrieben, einen nicht unerheblichen Betrag bezahlt, um das Tier zu adoptieren und ihn wieder mit nach Hause genommen. Den Namen des Hundes hatte er ebenfalls vom Vorbesitzer übernommen, schließlich konnte man einen alten Dackel nicht mehr umtaufen. Gleich am ersten Abend hatten sie einträchtig nebeneinander auf dem Sofa gesessen und sich bei der Sportschau eine Tüte Chips mit Knoblauch- und Käsegeschmack geteilt. Alex‘ Lieblingssorte war auch Einsteins Favorit und seitdem waren sie unzertrennlich.
Als Alex in die Straße einbog und das Haus, in dem er aufgewachsen war, sichtbar wurde, keimte in ihm der Gedanke, dass er nicht mehr länger vor Verantwortung davonlaufen sollte. Seine Mutter wurde in diesem Jahr siebzig. Der Vorgarten sah verwildert aus, die Fassade des Hauses wirkte abgewohnt. Der Putz blätterte von den Wänden, in der Dachrinne wuchs Moos und die weiße Farbe wirkte grau und war von dunklen Flecken durchzogen.
»Na sowas, bist du nicht der Alexander?« Die Stimme des alten Mannes aus einem der Gärten schreckte ihn aus seinen Gedanken. Seit langem hatte ihn niemand mehr Alexander genannt. Wenn er in München neue Leute kennenlernte, stellte er sich stets als Alex vor. Er fand, dass die Abkürzung seines Taufnamens besser zu ihm passte. Alexander klang für ihn altmodisch, kleinkariert und dem Namen haftete in seinen Augen der Kleinstadtmief an, dem er seit dem Ende der Schulzeit entkommen wollte.
Alex erkannte den alten Mann sofort, auch wenn er sich in den Jahren, die sie sich nicht mehr gesehen hatten, ziemlich verändert hatte. Sein Rücken war krumm geworden, er hatte kaum noch Haare auf dem Kopf und sein Gesicht war faltiger, als Alex es in Erinnerung hatte. Als kleiner Junge hatte er Onkel Friedrich zu ihm gesagt. Seine Eltern waren mit dem Ehepaar aus dem Nachbarhaus eng befreundet gewesen, er selbst hatte viele Stunden seiner Kindheit bei Friedrich und Elly Fischer verbracht. Sie hatten keine eigenen Kinder und hatten sich gefreut, wenn er mit ihnen eine Runde MauMau gespielt oder sich mit Onkel Friedrich dessen Briefmarkensammlung angeschaut hatte.
»Grüß dich! Freilich bin ich es!« Er winkte zu ihm hinüber und über das Gesicht des alten Mannes glitt ein Lächeln, das Alex von innen heraus wärmte.
»Das wird Monika freuen. Schön, dass du mal wieder vorbeischaust!«
Alex nickte zustimmend. Ihm fiel keine passende Antwort ein, denn der leichte Vorwurf in der Stimme des Nachbarn war nicht zu überhören. Unausgesprochen die Worte, dass es schon viel zu lange her war, dass er seine Mutter besucht hatte.
Was erwartete ihn hinter den Mauern des Hauses?
Nach dem Waschen trug Brigitta ihre Haare offen. Sie stellte fest, dass sie seit dem Winter beachtlich gewachsen waren. Mittlerweile reichten sie ihr bis über die Schulter. Vor dem ersten Lockdown waren sie kinnlang gewesen. Doch der früher regelmäßige Termin bei ihrer Stammfriseurin musste coronabedingt ausfallen. Einen Monat später hatten die Friseursalons noch immer geschlossen und danach hatte sie entschieden, ihre Haare einfach wachsen zu lassen. Sie tönte sie in einem Kastanienrot, damit man die grauen Strähnen nicht sah. Das Haar lockte sich, wenn sie es offen trug. Meist band sie es zu einem lockeren Knoten am Hinterkopf, was praktisch und pflegeleicht war. Das Coronajahr hatte ihr ein vollkommen neues Aussehen gegeben. Manchmal kam sie sich fremd vor, wenn sie in den Spiegel schaute.
Bereits seit der Trennung von Wolfgang vor vielen Jahren fühlte sie sich freier und jünger. Auch die Entscheidung, frühzeitig in Rente zu gehen, hatte sie noch keine Minute bereut. Seit sie nicht mehr jeden Tag ins Büro musste, fühlte sich das Leben wie Urlaub an. Auch oder vielleicht gerade, weil sie seit dem Tod ihrer Mutter allein lebte, ein anderes Aussehen pflegte und keine Ahnung hatte, was in der Zukunft kommen würde. Was für eine Person war diese Frau, die ihr da im Spiegel entgegenblickte? An diesem Sonntag trug sie eine bunte Tunika über einer schwarzen, ziemlich ausgeleierten Jogginghose. Farbenfroh und bequem. Warum sollte sie sich chic anziehen, wenn doch niemand vorbeikommen konnte, wenn sie nicht ausging und wenn sie sich