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Warum sind sportliche Kinder besser in der Schule? Weshalb haben sportliche Menschen das bessere Gedächtnis? Unser Gehirn ist unser wichtigstes Organ: Denken, Fühlen, Erinnern und Lernen werden hier zentral gesteuert. Trotzdem widmen wir unserem Gehirn deutlich weniger Aufmerksamkeit als unserem Körper. Dabei ist wissenschaftlich erwiesen: Wie wir die Leistung unseres Gehirns verbessern und erhalten können, ist entscheidend für ein gesundes und langes Leben. Welche positiven Auswirkungen regelmäßige Bewegung auf unser Gehirn hat – dabei muss es noch nicht einmal Hochleistungssport sein – erzählt die Neurowissenschafterin Dr. Manuela Macedonia leichtfüßig, verständlich und mit einer Prise Humor. Sie erklärt, wie wir Stresssymptomen, Übergewicht, Depression und Demenzerkrankungen vorbeugen können und schildert, welchen Einfluss unsere Ernährung auf unsere Denkleistung hat.
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Seitenzahl: 212
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DR. MANUELA MACEDONIA
UND DEIN GEHIRN SAGT DANKE
Wie wir schlauer werden, besser denken und uns vor Demenz schützen
Für Gertrude und Falko Schmidt,für die liebevollen Worte in schwierigen Stunden,die Freude an meiner Freude,dafür, dass sie mich in den letzten zwanzig Jahrenwie Eltern durch das Leben begleiten,weil meine Eltern ins Paradies gehen mussten
EINLEITUNG
1 — UNSER GEHIRN, UNSER POTENZIAL
2 — ICH LAUFE NICHT FÜR MEINE FIGUR, ICH LAUFE FÜR MEIN GEHIRN
3 — FREIZEIT UND BEWEGUNG
4 — DIE KONTROLLZENTRALE IM VORDERHIRN
5 — ESSEN UND GEHIRN (UND BEWEGUNG)
6 — WARUM ÜBERDREHTE TEENAGER UND TRAURIGE ERWACHSENE SPORT TREIBEN SOLLTEN
7 — BEWEGUNG IM ALTER: BALSAM FÜR UNSER GEHIRN
QUELLENVERZEICHNIS
An einem heißen Sommernachmittag in meinem Leipziger Büro am Max-Planck-Institut für Neurowissenschaften fand ich während einer Literaturrecherche einen interessanten Fachartikel. Ich machte mir überall Notizen am Seitenrand und freute mich über diesen Fund. So ein Glücksfall! Ich hatte all das gefunden, was ich für meine Publikation gesucht hatte. Nach einigen Seiten fingen die Inhalte jedoch irgendwie an, mir bekannt zu werden. Plötzlich überkamen mich Zweifel und ich griff in einen weiteren Papierstapel auf meinem Schreibtisch: Denselben Artikel hatte ich ja ein halbes Jahr zuvor downgeloadet und gelesen, mit den gleichen Notizen versehen, mit einem Leuchtstift an den gleichen Stellen markiert. Wie konnte ich ihn komplett vergessen haben? Ich kannte die Autoren und ihre Forschungsschwerpunkte persönlich und gut. Aber ich hatte den Artikel nicht mehr in Erinnerung. Entsetzt berichtete ich Maren, meiner Bürokollegin, darüber. Zu jenem Zeitpunkt führte Maren morphometrische Messungen des Hippocampus durch, sie vermaß also das Volumen einer ganz wichtigen Gedächtnisstruktur im Gehirn. Maren kommentierte lapidar: „Wen wundert das? Du versumpfst seit Monaten jeden Abend hier drin, zehn, zwölf Stunden am Tag. Dein Hippocampus ist bestimmt schon vollkommen im Eimer“. Ihre Worte trafen mich hart, denn sie wusste, wovon sie sprach. Und ich war entsetzt über meine Fehlleistung, und beschämt obendrauf, ausgerechnet in unserem Büro, in dem wir beide – tagein, tagaus – Gedächtnisforschung betrieben. Obwohl Maren viel von mir wusste, konnte sie nicht ahnen, dass ich über das „Versumpfen“ im Büro hinaus auch sehr schlecht schlief, nächtelang wachte, über Statistiken grübelte, über die Programmierung des Kernspintomographen, darüber, wie ich widersprüchliche Ergebnisse in einen sinnvollen Zusammenhang für meine Fachpublikation bringen könnte. Ich hatte Stress, schlief zu kurz und unruhig, verbrachte viel zu viel Zeit am Schreibtisch, weil meine Arbeitseffizienz unter der Überlastung litt. All das war mir bewusst und dies schon lange vor meinem Gedächtnisausfall, aber es war mir nicht bewusst, dass ich etwas dagegen tun musste.
Am nächsten Tag, als ich ins Büro kam, fand ich auf dem Schreibtisch einen Stoß Fachpublikationen über den Hippocampus. Maren grinste mich verschmitzt an und sagte: „Du musst dich einlesen, damit du weißt, wie es um dich steht.“ Der Witz hörte sich fast wie eine Drohung an, aber der Wink rüttelte mich wach. Nun war es mir klar. Diese Episode konnte ich einfach nicht unter den Teppich kehren. Beim Hinausgehen aus dem Büro fügte sie noch hinzu: „Und schau, dass du heute zeitiger rauskommst. Um halb sechs bin ich vom Labor zurück, ich will dich nicht mehr hier sehen! Fahre mit deinem Rad zum Cossi und danach nach Hause. Wehe, du kommst am Abend ins Büro!“ Kurz bevor Maren wiederkam, schlich ich mich tatsächlich aus dem Institut, stieg auf mein Fahrrad und fuhr zum Cospudener See alias Cossi, wie die Leipziger ihren Badesee liebevoll nennen.
An jenem Tag traf ich eine der wichtigsten Entscheidungen meines Lebens, aus Scham, aus Stolz, aber auch aus Angst, unbewusst, um mein Gehirn wieder in die Gänge zu bekommen. Und tatsächlich fuhr ich danach jeden Tag, den ganzen Sommer lang, meine dreißig Kilometer mit dem Fahrrad. Im Herbst war mein Gedächtnis wieder auf Vordermann und ich konnte wieder schlafen. Seitdem vergeht fast kein Tag ohne Bewegung und es geht mir gut, besser als je zuvor. Seitdem habe ich mich tief in die Materie „Bewegung und Gehirn“ eingearbeitet. Meine Erfahrungen und mein Wissen möchte ich jetzt durch dieses Buch an Sie, liebe Leserin und lieber Leser, weitergeben. Aus Dankbarkeit!
Wie konnte es sein, dass ich als Gedächtnisforscherin nicht mehr wusste, was ich ein paar Monate vorher bereits gelesen und bearbeitet hatte? Ganz einfach: Ich hatte mein Gehirn längere Zeit schlecht behandelt, Stress und Schlafmangel hatten ihm zugesetzt, und dies hatte zu einer Fehlleistung geführt. Es war mir zu jenem Zeitpunkt natürlich nicht bewusst, dass mein Lebensstil zu schweren Folgeschäden für mein Gehirn, also für das Wichtigste, das ich habe, für mein Potenzial im Leben, hätte führen können. Ich war in der Wissenschaftsmaschinerie eines von vielen Rädchen, das sich drehte und zu funktionieren hatte. Wie es aus Sicht des Gehirns nun dazu kommen konnte und vor allem, was wir dagegen tun können, ist Inhalt dieses Buches. Aber zunächst zu den Basics, die wir brauchen, um die Mechanismen im Gehirn besser zu verstehen.
Auf diese mir oft gestellte Frage könnte man eine ganze Bibliothek füllen, doch die Grundlagen, um unsere Lesereise gemeinsam zu gestalten, sind recht einfach. Experten mögen mir verzeihen, wenn ich manchmal die Materie nicht vollständig behandle oder die Mechanismen vereinfache. Mein Bestreben ist es aber, dass alle Leserinnen und Leser, auch ohne Vorwissen und ohne einschlägige Ausbildung, dieses Buch lesen können und Freude am Wissen empfinden.
Das Gehirn besteht aus zwei Arten von Nervenzellen, den Neuronen und den Glia. Zusammen meistern sie unsere Wahrnehmung, unser Denken, das Lernen, das Fühlen und viele geistigen Prozesse, wie die Entscheidungsfindung oder das Assoziieren, kurzum unsere Kognition, aber auch unsere Emotion. Schätzungen zufolge sind zirka 100 Milliarden Neuronen auf der Oberfläche des Gehirns, in sechs Schichten, auf der Rinde – auch Kortex genannt – angeordnet. Als Zellen weisen Neuronen eine Besonderheit auf: Über den Zellkörper hinaus haben sie Fortsätze. Der längere Fortsatz, das Axon, überträgt die Information von der Zelle nach außen. Es ist sozusagen ihr „Sprechorgan“. Die kürzeren Fortsätze hingegen empfangen die Information, die von anderen Zellen kommt und heißen Dendriten, abgeleitet aus dem altgriechischen Wort für Baum, déndron. In der Tat sehen die Dendriten ein bisschen aus wie Bäumchen, die rund um den Zellkörper wachsen. Dies geschieht während ihres ganzen Lebens, dann, wenn die Zellen durch elektrische Signale erregt werden. Solche Signale stammen von anderen Zellen, die in vielen Schritten die Information, die aus der Außenwelt kommt, durch das Netzwerk transportieren. Als Beispiel wollen wir Neuronen im auditorischen Kortex, in der Hörrinde, oberhalb unserer Ohren, beschreiben. Sie sind für Wahrnehmung und Speicherung von allem Gehörten zuständig. Nehmen wir an, wir fragen einen Passanten nach dem Weg in einer fremden Stadt. Die unbekannte Stimme erregt eine Gruppe von Neuronen, eine sogenannte Population. Sie verarbeiten Frequenzen und Töne, all das, was das Ohr empfangen hat, und geben die Information an andere Zellen weiter. Jede Zelle sendet und jede Zelle empfängt Information zu dieser Stimme. Nach kurzer Zeit haben alle zuständigen Neuronen im auditorischen Kortex die Information untereinander ausgetauscht und bilden Muster dieser Kommunikation. Dadurch ist die neue Stimme „gespeichert“. Sollten wir den Passanten zu einem anderen Zeitpunkt hören, werden die zuständigen Gehirnzellen die Stimme wahrnehmen und als „bekannt“, also bereits verarbeitet, erkennen.
NEURON
HÖRRINDE
Die Erregung der Neuronen, die über elektrische Impulse stattgefunden hat, hinterlässt im Gehirn Spuren: Axone und Dendriten sind gewachsen. Sie sind länger und verzweigter geworden, haben sich anderen benachbarten Axonen und Dendriten genähert. Dabei sind abertausende Kontaktstellen auf den Fortsätzen entstanden, an denen die Informationsübertragung stattfindet. Solche Kontaktstellen heißen Synapsen. Sobald Neuronen miteinander kommunizieren, sprießen die Synapsen: auf den Dendriten, am Axon, aber auch am Zellkörper selbst. Ihre Funktion ist die Informationsübertragung von Zelle zu Zelle. Dabei hat sich die Natur einen interessanten Mechanismus einfallen lassen. Der Impuls, der vom Neuron über sein Axon ausgesendet wird, ist elektrisch. Er startet in der Senderzelle, kann aber die nächste Empfängerzelle als Signal nicht erreichen. Elektrizität kann nicht zielgerichtet von einer Zelle zur nächsten springen.
SYNAPSE
Diesen wichtigen Job übernimmt daher die Synapse: Sie übersetzt den Stromimpuls in einen chemischen Botenstoff, in einen Neurotransmitter. Als solcher entsteht er in der Senderzelle, genau genommen in der Präsynapse. In Bläschen gepackt wird der Botenstoff ausgeschüttet. Er wandert durch den synaptischen Spalt, um an die angrenzende Empfängerzelle anzudocken. Sie nimmt ihn ihrerseits auf und übersetzt ihn in ein elektrisches Signal zurück, das als solches zu den nächsten Zellen, genau genommen bis zu den nächsten Synapsen, reisen kann. Dort angekommen, geht die Übersetzung in Botenstoffe weiter und der Prozess wird jedes Mal wiederholt. Somit ermöglicht der Botenstoff die physische Überwindung des synaptischen Spaltes, die für den Stromimpuls nicht möglich wäre. Es gibt viele Arten von Neurotransmittern, die Unterschiedliches bewirken: Sie können die Kommunikation anregen, wie zum Beispiel Glutamat, aber sie auch hemmen, wie GABA (Gamma-Amino-Buttersäure). Dopamin, das sogenannte „Glückshormon“, oder Serotonin, der Botenstoff, der uns in Balance hält und den unser Gehirn in nicht ausreichendem Ausmaß produziert, wenn wir depressiv sind.
Je häufiger Neuronen Impulse empfangen und senden, also „feuern“, wie man in der Fachsprache sagt, desto stärker und dichter werden die Fortsätze, und umso zahlreicher werden die Synapsen. Somit entstehen Netzwerke, die auf ihre Art von Information spezialisiert sind. In unserem „Nach-dem-Wegfragen“-Beispiel verarbeiten Netzwerke an einer gewissen Stelle der Hörrinde Stimmen, die wir hören, indem sie sie in Kommunikationsmuster unter den Zellen verwandeln. Mit anderen Worten: Solche Netzwerke repräsentieren unser Wissen und unser Können. Wenn wir eine Stimme kennenlernen oder andere Inhalte begreifen und aufnehmen, macht unser Gehirn nichts anderes, als Netzwerke aufzubauen.
INFORMATIONSÜBERTRAGUNG
Ein Baby mit drei Monaten, das noch nicht so viele Stimmen gehört hat, wird in seiner Hörrinde Neuronen haben, die nicht so arborisiert, also in ihren Fortsätzen nicht so verästelt sind, wie die Neuronen eines Erwachsenen. Die Netzwerke im kindlichen Gehirn werden auch weniger dicht und weniger stabil sein als jene von Menschen, die bereits länger auf der Welt sind. Da das Baby die Stimme seiner Mama bereits im Mutterleib gehört hat, wird es schon bei der Geburt ein gut funktionierendes Netzwerk dafür haben. Dies gilt auch für die Stimmen jener Menschen, die mit der Mutter während der Schwangerschaft in Interaktion getreten sind, jedoch in einem geringeren Ausmaß. Verständlich daher, dass allein die Mutter das Neugeborene beruhigen kann, wenn es weint und eine unbekannte Stimme das Weinen sogar auslösen kann.
Werden Neuronen „in Ruhe gelassen“, also müssen sie keine Information verarbeiten, bilden sich Fortsätze und Synapsen zurück und nach einer gewissen Zeit können die Neurotransmitterbläschen den synaptischen Spalt nicht mehr überbrücken. Das erschwert die Kommunikation unter den Nervenzellen. Haben wir die Stimme des Passanten längere Zeit nicht mehr gehört, werden wir sie schwer oder gar nicht mehr erkennen. Die Neuronenverbände, die Netzwerke, die diese neue Stimme verarbeitet und sie als einzigartiges Muster gespeichert haben, haben sich – weil nicht mit Verarbeitung oder Abruf beschäftigt, also weil inaktiv – in ihrer Zusammensetzung verändert. Das Fließen der Information im Netzwerk ist nicht mehr ausreichend gegeben. Wir haben die Stimme vergessen.
Neuronen, die sogenannten „grauen Zellen“, bilden hauptsächlich die Oberfläche des Gehirns, die Rinde, und machen lediglich 10 % der Gehirnmasse aus. Von da stammt übrigens auch die landläufig bekannte Wendung: „Streng’ deine grauen Zellen an!“ Nun mag man sich aber fragen, was im Inneren des Gehirns ist, wenn Neuronen nur auf der Oberfläche sitzen. Wissenschaftler haben lange darüber gerätselt und geforscht, woraus diese geleeartige Masse, die weiße Substanz, besteht und welche Funktionen sie überhaupt erfüllt. Heute weiß man, dass sie sich aus Gliazellen und gebündelten Axonen zusammensetzt. Letztere fungieren im Inneren des Gehirns wie Autobahnen der Informationsübertragung.
Gliazellen wurden erstmals im Jahr 1858 vom deutschen Pathologen Rudolf Virchow in seinem Buch „Cellularpathologie“ als Stützgerüst, als „Leim“ (Altgriechisch glia), beschrieben, in dem die Neuronen eingebettet sind. Dass Glia aber viel mehr tun können, als Stützmasse für die Neuronen zu sein, konnte damals der Wissenschaftler nicht erahnen, weil er die entsprechenden Instrumente noch nicht hatte, um diese kleinen Zellen zu beobachten. Mit den modernen Mikroskopen haben wir heutzutage leichtes Spiel, wir wissen jetzt viel mehr über die Eigenschaften und Funktionen der Glia, wenngleich nicht alles. Eine Art davon, die Astrozyten zum Beispiel, haben bis zu 30.000 Fortsätze, die sternförmig weg vom Zellkörper verlaufen, daher der Name „Sternzellen“. Ihre Funktionen machen sie zu einem wahren Wunderwerk der Natur: Sie versorgen die Neuronen mit Nährstoffen (Glucose), unterstützen den Kreislauf der Botenstoffe im synaptischen Spalt und bilden die Bluthirnschranke. Die Endfüßchen ihrer Fortsätze dichten die Gefäße des Gehirns so ab, dass das Gehirnblut einen eigenen Kreislauf bildet. Dieser großartige Mechanismus hindert Krankheitserreger daran, über eine Wunde das Gehirn zu erreichen. Die Kommandozentrale wird sozusagen abgeschottet – dank der Astroglia.
ASTROZYT
Die Oligodendrozyten haben hingegen wenige Fortsätze, so wie der Name aus dem Altgriechischen verrät: oligos steht für wenig und dendron für Baum. Ihre Funktion für die Neuronen ist faszinierend. Sobald die grauen Zellen anfangen zu feuern, also miteinander zu kommunizieren, veranlassen biochemische Signale die Oligodendrozyten, sich um die Axone zu wickeln, sie also mit ihren (wenigen) Fortsätzen zu ummanteln. Diese „Hülle“, die sie bilden, die Myelinschicht, hat eine Isolierfunktion für die Axone – vergleichbar mit einer Gummischicht für Kupferdrähte bei einem Stromkabel. Je besser die Axone myelinisiert sind, desto schneller kann der Stromimpuls – also die Botschaft zwischen Zellen – sich im Netzwerk ausbreiten. Wenn wir lernen, feuern die Neuronen regelmäßig und wiederholt. So myelinisieren die Oligodendrozyten das Netzwerk. Dadurch ist das Wissen gut gespeichert und schnell abrufbar, ebenfalls dank den Oligodendrozyten.
OLIGODENDROZYT
Eine weitere Art von Glia soll nicht zu kurz kommen: die Mikroglia. Sie sind die kleinsten Zellen im System Gehirn und Phagozyten, also Zellen, die „fressen“ können. Ihr Name kommt vom Altgriechischen phagein (essen). Mikroglia beseitigen Krankheitserreger, welche die Bluthirnschranke überwinden, aber auch abgestorbene Neuronen und Oligodendrozyten, so wie Putzerfische in einem Aquarium. Mikroglia haben außerdem Fortsätze, die permanent die Umgebung abtasten. Stellen sie eine Veränderung fest, können sie Erste Hilfe leisten. Zum Beispiel sind sie beim Platzen eines Gefäßes in der Lage, innerhalb von Minuten mit ihren Fortsätzen nicht nur das beschädigte Gehirnmaterial zu beseitigen, sondern das Gefäß abzudichten: So klein und so großartig sind die Mikroglia!
MIKROGLIA
Zellen und ihre Funktionen bedeuten immer noch keine geistigen Vorgänge wie Denken oder Lernen. Wie und wo im Gehirn findet dann Kognition statt? Publikationen, die behaupten, unsere linke Gehirnhälfte sei analytisch und die rechte kreativ, verbreiten leider falsche Informationen zum Thema Gehirn und sind verantwortlich für die Entstehung von Neuromythen.
Echtes Wissen zu unseren geistigen Funktionen ist schon lange verfügbar. Es begann mit der Lokalisierung der Sprachareale in der zweiten Hälfte der 19. Jahrhunderts. Damals stellte der französische Neurologe Paul Broca fest, dass einer seiner Patienten, der eine grobe Verletzung in der linken Schläfe hatte, nicht mehr sprechen konnte, obwohl er Sprache verstand. Diese Gehirnregion wurde nach dem Arzt benannt, Broca-Areal1. Seitdem wissen wir, dass diese Hirnregion für die aktive Sprachbenutzung zuständig ist, also wenn wir einen Satz bilden und ihn auch sagen. Bei Schlaganfällen wird sie oft in Mitleidenschaft gezogen, daher erleiden Betroffene Sprachstörungen (Broca-Aphasie). Probleme mit der Sprache beobachtete in den 1870er Jahren auch Carl Wernicke, ein deutscher Neurologe, bei seinen Patienten. Diese Dysfunktionen waren aber anderer Art. Die Betroffenen konnten zwar sprechen, verstanden aber das, was ihnen gesagt wurde, nicht. Dies führte Wernicke auf Verletzungen des nach ihm benannten Areals zurück, das sich links, oberhalb des Ohrs befindet und für das Sprachverständnis zuständig ist. Eine Verletzung in diesem Areal kann die Wernicke-Aphasie2 auslösen.
SPRACHAREALE
Viele Sternstunden der funktionellen Anatomie sind seit der Arbeit dieser zwei Pioniere ins Land gegangen. Heute wissen wir ziemlich genau, wo viele der geistigen Funktionen stattfinden. In dieser Hinsicht hat der deutsche Neuroanatom Korbinian Brodmann einen großartigen Beitrag geleistet. Zwischen 1901 und 1910 löste Brodmann die gesamte Rinde von Gehirnen ab und untersuchte unter dem Mikroskop jeden Quadratmillimeter davon. Dabei identifizierte er 52 Areale, die sich wegen der Anordnung der Zellen (Zytoarchitektur) eindeutig voneinander unterscheiden3. Diesen Feldern entsprechen meistens auch Funktionen. Mit anderen Worten sind die Neuronen in den jeweiligen Feldern auf einen besonderen „Job“ spezialisiert. Als Beispiel soll das Broca-Areal dienen, das von Brodmann in drei Felder aufgeteilt wurde: Brodmann-Areale – abgekürzt BA – 44, 45 und 47. Anfang des 20. Jahrhunderts war die Funktion dieser drei Rindengebiete jedoch unbekannt, der deutsche Neuroanatom konnte sie lediglich zytoarchitektonisch identifizieren. Es dauerte bis in unsere Tage, dank der unermüdlichen Arbeit vieler Neurowissenschaftler, darunter meiner ehemaligen Vorgesetzten am Max-Planck-Institut, Angela Friederici, damit wir ruhigen Gewissens behaupten können, dass BA 44 für Syntax (Satzbau)4, während BA 45 und BA 47 für die Semantik (Bedeutung)5 der Sprache zuständig sind.
BRODMANN-AREALE
Auf die Funktionen der restlichen 49 Brodmann-Areale einzugehen, wäre zu fachspezifisch, deswegen möchte ich auf die nächste Illustration verweisen. Darin ist die Gehirnrinde in funktionelle Felder aufgeteilt. Wir erkennen die visuellen Areale (mindestens sechs an der Zahl), die Regionen für die Vorbereitung und Steuerung von Bewegung, den Tastsinn und die Körperempfindung (Somatorsensorik). Darüber hinaus finden wir in der Illustration jene Gehirnregionen, die für höhere kognitive Vorgänge zuständig sind: für Sprachproduktion und Sprachverständnis, für Gefühle, Entscheidungen, assoziatives Denken und Gedächtnis, Impulssteuerung. Diese Aufzählung ist unvollständig, aber sie hilft uns zu verstehen, dass wir zumindest diese Funktionen schon lange lokalisiert haben und den Neuromythos der linken und der rechten Gehirnhälfte nun beruhigt endgültig begraben können.
FUNKTIONEN DES GEHIRNS
Dieses Buch beschäftigt sich mit dem Einfluss von Bewegung auf unser Gehirn und in der Folge auf unsere kognitiven Fähigkeiten. Aber wie ist es möglich, dass Körper und Geist zusammengehören?
Nahezu alle in den westlichen Ländern sind mit der Vorstellung aufgewachsen, dass unser Körper den physischen Teil unserer Person darstellt. Er ist sozusagen der Behälter für Organe – unter anderem auch für das Gehirn. Im Gegensatz zu den physischen Phänomenen unseres Körpers vollzieht sich Kognition „im Geist“. Kinder sollen in der Schule ruhig sitzen, damit der Geist ungestört zum Einsatz kommt. In der Vorstellung vieler Menschen spielen sich geistige Prozesse in einer ungreifbaren Dimension ab, weit weg vom Körper. Wem verdanken wir diese Vorstellung? Und warum halten wir an der Dichotomie – also an der Trennung – Körper versus Geist fest? Und weshalb wird sie vielerorts praktiziert, mitunter auch in der Schule?
Das Nachdenken über Leib und Seele hat bereits in der Antike begonnen6,7. Es galt, die Frage zu beantworten, wie Seele den Tod des Körpers überlebt und aus welcher Substanz sie besteht, um diese Trennung zu schaffen. Platon erklärte, dass mit dem Tod die Seele aus dem Körper „hinauswandern“ würde. Diese Position kam der christlichen Philosophie des Mittelalters, der Scholastik, gelegen. Die Vorstellung von der Erlösung der Seele vom Körper nach dem Tod, von dem „Wandern“ der Seele ins Paradies oder in die Hölle, untermauerte die Idee, dass zwischen physischen und mentalen Phänomenen eine Kluft besteht, zusätzlich.
In der Aufklärung bestätigte der französische Philosoph und Mathematiker René Descartes in seiner Methodenlehre8 das Leib-Seele-Problem als Trennung von Materie und Geist. Sie stehen miteinander in Interaktion, sind aber im Grunde unterschiedliche und voneinander getrennte Systeme. Sein Satz „Cogito ergo sum“, ich denke, also bin ich, spiegelt diese Haltung: Mein Sein, meine Existenz gründet sich auf mein Denken. Sein ist laut Descartes demnach ein geistiges Phänomen.
Die Materie wird dadurch zwar nicht ausdrücklich, aber in der ganzen Haltung, in der Wertigkeit, außer Acht gelassen, letztendlich für unwichtig erklärt. Interessant ist die Begründung Descartes’ für uns Menschen des 21. Jahrhunderts. Er schreibt in den Meditationen9, er könne sich „klar und deutlich“ vorstellen, dass der Geist ohne Materie existiert. Diese Beschreibung, also dass er sich etwas vorstellen kann, stellt die unumstößliche Grundlage seiner Theorie dar. Heutzutage würde jeder lachen, wenn ein Wissenschaftler sich auf seine Vorstellung bezieht und keine hieb- und stichfesten Beweise erbringt. Aber so war es damals und so hat die Spaltung zwischen Körper und Geist auch ihren direkten Weg in unsere Zeit gefunden.
Selbst im 20. Jahrhundert wurde diese Position noch durch sehr prominente Geisteswissenschaftler bestätigt, die mitunter auch meinen Werdegang geprägt haben. Einer davon ist Noam Chomsky, der Vater der modernen Sprachwissenschaft. Seine Hauptthese besagt, dass Sprache nicht in Interaktion mit den Bezugspersonen gelernt wird, wie von den Behavioristen zur gleichen Zeit behauptet10, sondern angeboren sei. Sprache entfalte sich „von selbst“, ohne Lernprozess, wenn ein Kind sie in seiner Umgebung hört11. Chomsky, der mittlerweile einen regen Austausch mit der Neurowissenschaft pflegt, mitunter auch mit Angela Friederici12, hat inzwischen einige Aspekte seiner ursprünglichen Theorie revidiert. Dennoch hat sie sich im Lauf der Jahrzehnte weltweit etabliert und beeinflusst nach wie vor die Art und Weise, wie wir allgemein über Körper und Geist denken.
Tatsache ist aber, dass ein Teil des Körpers – unser Gehirn – nicht nur unsere Sprache, sondern alle kognitiven Funktionen steuert. Erleidet jemand einen Schaden an seinem „Denkorgan“, zum Beispiel durch einen Schlaganfall, ist es möglich, dass seine Sprache verloren geht oder sein Bewegungsapparat beeinträchtigt ist. Dasselbe gilt für degenerative Phänomene unseres Gehirns, wie Alzheimer. Ist ein Mensch betroffen, schwindet sein Gedächtnis, aber nicht nur. Seine geistigen Fähigkeiten, seine Emotionen sind irgendwann nicht mehr da.
Daher stellt unser Gehirn tatsächlich unser Potenzial dar: Ist es gesund und leistungsfähig, können wir Berge versetzen und unser Leben wunderbar gestalten. Angefangen vom Kindergarten über die Ausbildung und den Beruf: Alles hängt davon ab, wie gut wir lernen können, in der Lage sind, Inhalte zu erfassen, Multitasking zu betreiben, usw. Aber auch unser soziales Leben hängt von der Gesundheit unseres Gehirns ab: Leiden wir an Depressionen, ist unser Glück gefährdet. Uns geht es nicht gut und die Interaktion mit anderen Menschen gestaltet sich schwierig. Also hat die Pflege unseres Gehirns in jeder Lebensphase höchste Priorität, doch das lernen wir leider nirgends.
Wer möchte nicht sein Gehirn „tunen“, um das Maximum seiner geistigen Fähigkeiten herauszubekommen? In den letzten Jahren haben auch die Pharmakonzerne diesen Wunsch wahrgenommen und dadurch neue Geschäftsfelder gewittert. So liest man regelmäßig in den Medien von Neuro-Enhancement oder Hirndoping. Darunter versteht man die Einnahme von Pharmaka, die unsere geistigen Fähigkeiten steigern sollen. Diese psychoaktiven Substanzen sind unter anderem in der Familie der Amphetamine angesiedelt, so wie die Droge Speed oder wie Metylphenidat, im Präparat Ritalin vorhanden, womit man Menschen mit Aufmerksamkeitsstörungen behandelt. Es können aber auch Medikamente sein, die in der Behandlung von Demenz zur Steigerung des Gedächtnisses eingesetzt werden, oder Antidepressiva, Beruhigungsmittel und Wachmacher, wie Modafinil, um Müdigkeit zu senken und Lernphasen somit zu verlängern. Manche dieser Substanzen sind verschreibungspflichtig, andere illegal zu erwerben13. Der gesunde Menschenverstand allein sagt uns, dass diese Methoden für kognitive Steigerung äußerst fragwürdig sind. Und die Forschung bestätigt, dass Amphetamine zu Suchtverhalten führen können14. Bei anderen Medikamenten, wie Antidepressiva oder Anti-Demenzpräparaten, sind die Langzeitwirkungen, vor allem auf junge Gehirne, nicht belegt und schwer vorauszusehen15.
Wir leben in einer Gesellschaft, die Träume verkauft: Wir möchten im Schlaf lernen oder Gewicht reduzieren, indem wir eine Pille einnehmen und weiterhin unsere Essgewohnheiten behalten. All das, was anstrengend ist, versuchen wir zu vermeiden. Wenn uns jemand ein Wundermittel verkauft, um den steinigen Weg zu umschiffen, kaufen wir es für teures Geld. Beim Neuro-Enhancement scheint die psychoaktive Substanz attraktiver zu sein als das anstrengende Büffeln über Bücher. Ein weiterer Geschäftszweig, der jährlich Milliarden in die Konzernkassen spielt, sind Computerprogramme, die Gehirnjogging anbieten. Vor allem ältere Menschen empfinden die Notwendigkeit, gegen Probleme wie Vergesslichkeit Maßnahmen zu treffen. Vertrauensvoll kaufen sie teure Trainings. Sie sollen sie geistig fit halten, und im guten Willen werfen sie sich den Geschäftemachern an den Hals. Diese garantieren Erfolg und werben mit Studien, die sie in Kooperation mit namhaften Universitäten und Forschungszentren durchführen. Sieht man sich diese Studien im Detail an, findet man zwar Steigerungen im Trainingserfolg, jedoch keine Transfereffekte dieser Trainings auf kognitive Funktionen, welche die Anwender trainieren möchten. Im Jahr 2015 wurde aus diesem Grund der amerikanische Konzern Lumosity zu einer Geldstrafe von zwei Millionen Dollar verurteilt, weil das Versprechen zur Steigerung geistiger Funktionen haltlos war.
Zwei Jahre später erschien in der namhaften Zeitschrift Journal of Neuroscience eine Studie16, in der 128 junge Erwachsene zehn Wochen lang mit Lumosity-Spielen und normalen Videogames trainiert wurden. Die Wissenschaftler mussten wiederholt feststellen, dass das Gehirnjogging weder das Gedächtnis noch die Aufmerksamkeit oder die Multitasking-Fähigkeiten der jungen Menschen verbessert hatte und dass es zwischen Training mit Lumosity und Training mit Videogames keine Unterschiede in der erbrachten Leistung gab. Auch eine kürzlich erschienene Studie17 mit 97 Teilnehmern zeigte ähnliche Resultate: Die Wissenschaftler konnten nach acht Wochen Training keinen Transfereffekt auf Gedächtnis, Planungsfähigkeiten und logisches Denken feststellen.
Bereits die Römer sagten „mens sana in corpore sano“, also ein gesunder Geist in einem gesunden Körper. Sie waren ein Volk mit einem ausgeprägten Körperkult, den sie sich von den Griechen abgeschaut hatten. Körperliche Ertüchtigung war enorm wichtig. Der Sport war ein Körpertraining zu militärischen Zwecken: Die Römer rannten, boxten, warfen den Speer und den Diskus, rangen, hoben Gewichte und übten den Fünfkampf aus. Sie spielten aber auch Ball und eine Art Tennis. Dennoch meinte Juvenal, der Verfasser dieses berühmten Spruchs, in seinen Satiren18 nicht das, was wir heutzutage in ihn hinein interpretieren. Er empfahl den Römern, sie mögen zu den Göttern um einen gesunden Geist in einem gesunden Körper beten, statt um etwas anderes. Also – in der Tat – wussten die Römer nicht, dass die körperliche Ertüchtigung auch einen leistungsfähigen Geist mit sich bringt. Im Grunde genommen wissen wir es erst seit wenigen Jahren, erst seitdem die Neurowissenschaft Studien zu diesen Themen durchführt.