Bewegung und Sport in der Kindheitspädagogik -  - E-Book

Bewegung und Sport in der Kindheitspädagogik E-Book

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Beschreibung

Bewegung wird in dem dynamischen Feld der frühen Bildung ein großer Stellenwert zugeschrieben. Das Buch verknüpft aktuelle kindheitspädagogische Diskurse mit bewegungs- und sportwissenschaftlichen Wissensbeständen für die bewegungspädagogische Arbeit in Feldern der frühen Bildung, Betreuung und Erziehung. Es konturiert pädagogische und didaktische Grundlagen einer frühkindlichen Bewegungspädagogik, diskutiert relevante Erkenntnisse unterschiedlicher Bezugsdisziplinen, wie z. B. der Soziologie, Sportmedizin und den Gesundheitswissenschaften. Außerdem werden disziplinübergreifende Verknüpfungen vorgestellt, z. B. mit Blick auf Inklusion, Spracherwerb oder Gender. Aus professionstheoretischer Perspektive werden Herausforderungen professionellen Handelns aufgeworfen und bewegungsbezogene Förderansätze (z. B. Psychomotorik) präsentiert. Das Buch wird durch einen Blick auf die ausgewählten Praxisfelder Tanz und Spiel abgerundet.

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Die Herausgeberin

Dr. Anja Voss ist Sport- und Erziehungswissenschaftlerin und Professorin für Bewegungspädagogik/-therapie und Gesundheitsförderung an der Alice Salomon Hochschule Berlin. Ihre Arbeitsschwerpunkte umfassen Bewegungsbildung im Kindesalter, Bildungs- und Gesundheitsförderung in Institutionen der Kindheitspädagogik und körper- und bewegungsbezogene Geschlechterkonstruktionen.

Anja Voss (Hrsg.)

Bewegung und Sport in der Kindheitspädagogik

Ein Handbuch

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-028440-1

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-028441-8

epub:    ISBN 978-3-17-028442-5

mobi:    ISBN 978-3-17-028443-2

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

I          Einführung in frühkindliche Sport- und Bewegungspädagogik

1          Sport- und bewegungsbezogene Pädagogik der frühen Kindheit – eine Bestandsaufnahme

Anja Voss

2          Bewegungserziehung – pädagogische und didaktische Grundlagen

Renate Zimmer

3          Der Wandel kindlicher Bewegungswelten als Herausforderung für die Institution Kita

Anja Voss

II          Disziplinäre Anschlüsse

4          Was ist der Körper? Eine philosophisch-soziologische Annäherung

Robert Gugutzer

5          Motorische Entwicklung im Kindes- und Jugendalter

Christine Graf & Nina Ferrari

6          Bewegung in Kindertageseinrichtungen – gesundheitliche Ressource oder Belastung für pädagogische Fachkräfte?

Maria Schumann, Elvira Mauz & Anja Voss

III          Thematische Schwerpunkte

7          Inklusion – zum Umgang mit Vielfalt in bewegungsorientierten Handlungsfeldern der Kindheitspädagogik

Heike Tiemann

8          Psychomotorik – bewegte Entwicklungsförderung im Arbeitsfeld der Kindheitspädagogik

Peter Keßel

9          Bewegung und Sprache – Sprachbildung bewegt gestalten

Wolfgang Beudels & Hans Jürgen Beins

10       Geschlecht – eine relevante Kategorie in der frühkindlichen Bewegungsbildung

Anja Voss & Elke Gramespacher

11       Sportbeteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund

Michael Mutz

IV          Professionalisierung und Forschung

12       Bewegungsbezogene Kompetenzen von Kindheitspädagog_innen

Astrid Krus & Christina Jasmund

13       Körper, Bewegung und Sport im biografischen Kontext

Matthias Schierz

14       Systematisch Intervenieren – Programme und Projekte frühkindlicher Bewegungsförderung: nationaler und internationaler Forschungsstand

Rolf Schwarz

V          Praxisfelder

15       Tanzimprovisation in der Praxis der frühkindlichen Bildung

Angela Boeti

16       Spiel – Spiele – Spielen

Wolfgang Beudels & Hans Jürgen Beins

Die Autorinnen und Autoren

Einleitung

 

 

 

Das vorliegende Handbuch führt theoretische sowie empirische bewegungs- und sportwissenschaftliche Wissensbestände mit aktuellen kindheitspädagogischen Diskursen zusammen, die für die bewegungspädagogische Arbeit in außerfamiliären Settings mit Kindern in den ersten sechs bis acht Lebensjahren relevant erscheinen. Dabei stehen die Dokumentation und Einspeisung von Forschungsergebnissen in den fachwissenschaftlichen Diskurs ebenso im Mittelpunkt wie die Sichtbarmachung relevanter Themen, vielfältiger Perspektiven und disziplinärer Besonderheiten. Die spezifischen Schwerpunkte der Beiträge repräsentieren die Breite der theoretischen, praktischen und empirischen Zugänge.

Sport- und bewegungspädagogische Diskussionen rücken, wenn es um Bildungsprozesse in der Kindheit geht, seit jeher in erster Linie die Schule und mit ihr die Schulkindheit in den Mittelpunkt ihrer Forschungs- und Gestaltungsinteressen. Auch für die Herausgabe dieses Handbuchs besteht hierdurch die Gefahr, sich aktuellen schulbezogenen Strömungen der Pädagogik der frühen Kindheit und ihrer Forschung hinzugeben und in erster Linie Bedingungen und Wirksamkeiten einer professionellen Entwicklungsförderung zu fokussieren »– womöglich sogar noch zugespitzt auf die Förderung in Kindertageseinrichtungen mit dem Maßstab des Schulerfolgs« (Honig 2015, S. 47). Um dieser Perspektiv-Verengung entgegenzuwirken, beschränkt sich das Handbuch mit Blick auf die Gegenstandsauffassung sport- und bewegungspädagogischer Anliegen zum einen nicht allein auf die Institution Kita1 und deren Fragen im Hinblick auf ihre Aufgabe der Gestaltung und Vorbereitung von Übergängen in die Schule. Es thematisiert daneben auch non-formale und informelle Kontexte sowie therapeutische und gesundheitsbezogene Handlungsfelder der Frühpädagogik. Zum anderen ist es ein zentrales Anliegen dieses Handbuchs, mit der Auswahl und der Themenzusammenstellung der Beiträge zu zeigen, dass der Diskurs zu Bewegung und Sport in der frühkindlichen Bildung keineswegs nur einseitig einer kompensatorischen Logik verpflichtet ist, die auf die seit langem diskutierten Veränderungen der Bewegungs- und Lebenswelt von Kindern antwortet. Bewegung, Sport und nicht zuletzt das in den vergangenen Jahren wissenschaftlich weniger beachtete Spiel verfügen im Kontext frühkindlicher Pädagogik über eine eigene Dignität. Denn Bewegung, Sport und Spiel gelten in bildungstheoretischen Ansätzen der Bewegungs- und Sportpädagogik als körper- bzw. leibbasierte Modi und symbolische Formen kindlicher Weltbegegnung, in denen sie sich Welt in Selbst-, Sach- und Sozialbezügen erschließen (vgl. Laging & Kuhn, 2017).

Sport und Bewegung im Diskurs der Kindheitspädagogik

Mit der steigenden Attraktivität früher Bildung geht seit einigen Jahren auch eine erhebliche Multidisziplinarität in der Frühpädagogik einher (vgl. Mischo, 2017). Unter der Vielzahl der beteiligten Disziplinen finden sich in einem verstärkten Maß die Sport- und Bewegungswissenschaften wieder. Konstitutives Moment der Sportwissenschaften ist das Paradigma der Interdisziplinarität: Durch die Integration von theoretischen und empirischen Befunden der Bezugswissenschaften (z. B. Medizin, Pädagogik, Psychologie) werden ausgewählte Aspekte des Gegenstands Sport untersucht (vgl. Willimczik, 2014). Die Bewegungswissenschaften fokussieren als Teildisziplin der Sportwissenschaften sowohl auf körperinterne Steuerungs- und Funktionsprozesse (z. B. Motorik, Sensorik, Emotion, Kognition) als auch auf äußerlich beobachtbare Aspekte von Bewegung und Haltung (z. B. Biomechanik). Sport und Bewegung lassen sich manchmal nicht trennscharf voneinander abgrenzen und schon der Begriff der Bewegung kann wissenschaftstheoretisch sowohl naturwissenschaftlich-mechanistisch als auch anthropologisch oder phänomenologisch Verwendung finden. Bewegung gilt als eines der zentralen Themen des Sports, wobei Sport als eine »spezifische Kulturform der menschlichen Bewegungsfähigkeit« betrachtet werden kann (vgl. Scheid & Prohl 2017, S. 6).

Die Gründe für die prominente Verortung von Bewegung und Sport in der frühen Bildung liegen u. a. darin, dass Sport und Bewegung in der kindlichen Entwicklung eine zentrale Rolle einnehmen und als bedeutende bildende, soziale und gesundheitliche Ressourcen kommuniziert werden. Da Umgebungsfaktoren das Bewegungsverhalten maßgeblich beeinflussen, kommt bewegungspädagogischen Settings nicht nur vor dem Hintergrund einer sich wandelnden Lebens- und Bewegungswelt, sondern auch mit Blick auf steigende Inanspruchnahmequoten von Kindertagesbetreuung und hoher gesellschaftlicher Relevanz der Frühen Bildung ein großer Stellenwert zu.

Kindertageseinrichtungen werden als lebensbiografisch bedeutsame Institutionen und als bewegungs- und sportpädagogisch relevante Orientierungs- und Gestaltungsorte erfasst (Zimmer, 2015) und aus unterschiedlichen Perspektiven bearbeitet. Mit Blick auf Bildungsprozesse in der frühen Kindheit werden Bildsamkeit und Selbsttätigkeit als »konstitutive Prinzipien körperlicher Bewegungspraxen« betrachtet (vgl. Franke 2018, S. 270 f.). Dabei geht es um die Potenzialität des Körpers bzw. des Leibes in kindlichen Bildungsprozessen: Mit der Gleichzeitigkeit von Leib-Sein und Körper-Haben wird der Blick zum einen auf Bewegung als Medium der Gestaltung von Mensch-Welt-Verhältnissen möglich, zum anderen auf den Körper unter dem Aspekt der Funktionalität, z. B. hinsichtlich einer Förderung der motorischen Entwicklung (vgl. Fikus, 2012). Mit Blick auf Erziehungsprozesse in Kitas sind sowohl das interaktionale Bewegungshandeln zwischen pädagogischen Fachkräften und Kindern als auch die erzieherischen Wirkungen der Peers oder der Familie sowie die erzieherischen Einflüsse der strukturellen Rahmenbedingungen (z. B. durch offene und geschlossene Bewegungsangebote) von Interesse.

Die Relevanz und Attraktivität des Bewegungsdiskurses für die Kindheitspädagogik wird seit vielen Jahren durch das gesellschaftlich-diagnostische Deutungsmuster »Bewegungsmangel« ebenso befördert wie durch alarmierende Botschaften über die Zunahme übergewichtiger Kinder oder Besorgnis erregende motorische Defizite der heutigen Kindergeneration. Dabei geht es aus medizinischer Perspektive um die Warnung vor den möglichen und in Teilen auch schon nachweisbaren negativen gesundheitlichen Folgen der Abnahme motorischer Alltagsaktivitäten von Kindern. Aus soziologischer Perspektive zeigt sich im Kontext sozialer Ungleichheitsforschung, dass die Partizipationsmöglichkeiten am Kindersport milieu-, geschlechts- und migrationsspezifische Disparitäten aufweisen. Sie manifestieren sich bislang jedoch weniger im nichtorganisierten Sport- und Bewegungsverhalten als vielmehr in der sozialen Teilhabe an den organisierten Praktiken des Sportvereins (vgl. Nagel, 2003; Mess & Woll, 2012). Aus pädagogischer Perspektive spielt auch das drastische Verschwinden kindgerechter Bewegungsorte aus dem öffentlichen Raum eine ebenso gewichtige Rolle wie die zunehmende Funktionalisierung kindlichen Bewegens im Kontext moderner Kontroll- und Subjektivierungsprozesse. Gleichwohl schlägt sich der Diskurs zur Sicherung und Qualitätssteigerung von Bewegungsumwelten und Streifräumen der Kinder weitaus stärker in der Überformung von Kita, Sportverein und Schule mit kompensatorischen Aufgaben nieder als beispielsweise in der Stadtentwicklungsplanung und Sozialraumentwicklung.

Sport und Bewegung dürfen in der Diskussion um Bildungsqualität im Elementarbereich inzwischen als etablierte Dimensionen pädagogischer Praxis in Kitas gelten. Dies kommt z. B. im ›gemeinsamen Rahmen der Länder für die frühe Bildung in Kindertageseinrichtungen‹ der Jugendminister- und Kultusministerkonferenz (JKM, 2004) zum Ausdruck, in dem »Körper, Bewegung, Gesundheit« einen Bildungsbereich darstellt. Dieser wird durch die Bildungspläne auf Landesebene entsprechend spezifiziert oder erweitert. Bewegungsbildung und -pädagogik bilden zudem integrale Bestandteile der akademischen Ausbildung von Kindheitspädagog_innen (vgl. Robert Bosch Stiftung, 2008) und sind Gegenstand relevanter Nachschlagewerke zur Pädagogik der frühen Kindheit (vgl. Braches-Chyrek et al., 2014; Fried & Roux, 2013).

Im Zuge einer gesteigerten Aufmerksamkeit für die entwicklungsförderliche Bedeutung von Bewegung und Sport im Alltag von Kindern existieren inzwischen zahlreiche Projekte, Maßnahmen und Programme im Bereich der Bewegungserziehung und -förderung. Gleichwohl mangelt es an einer wissenschaftlichen Begleitung und an Ergebnissen zur Wirksamkeit bewegungsfördernder Maßnahmen jenseits einer »irgendwie funktionierenden Breitbandwirkung« (Schwarz 2014, S. 61). Es gibt bislang auch »nur vereinzelte Studien über die frühkindliche Bewegungsentwicklung, wenige empirische Untersuchungen über lebensweltliche Bedingungen frühkindlicher Bewegungserfahrungen oder am Kind und seiner Perspektive ansetzende Forschung«, wie im Positionspapier »Frühe Kindheit und Bewegung« der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft (2015) festgehalten wird. Außerdem fehlen grundlegende Daten über die bewegungspädagogische Qualität in frühpädagogischen Arbeitsfeldern der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung (FBBE) aber auch in Feldern des organisierten Sports sowie zur integrativen bzw. inklusiven Funktion von Sport und dessen gesellschaftspolitischer Verantwortung mit Blick auf Teilhabechancen von Kindern in den ersten Lebensjahren.

Daher stehen die empirisch fundierten sport- und bewegungswissenschaftlichen Forschungsbeiträge zur frühen Kindheit bislang eher noch am Beginn und wirken vorerst unverbunden. Und auch die normativen Konturen einer sport- und bewegungswissenschaftlich begründeten Pädagogik der frühen Kindheit sind derzeit noch wenig geschärft. Weder ihre Konzepte noch deren Theorierahmen sind über Funktionsbeschreibungen und Ordnungen von Bewegungsbedeutungen hinaus für frühpädagogische, außerfamiliäre Wirkungsorte wie die Kita klar umrissen und begründet, was für eine Anschlussfähigkeit an die allgemeine Pädagogik der frühen Kindheit ebenso relevant wäre wie für die Anschlussfähigkeit an den Diskurs zur Professionalisierung frühpädagogischer Fachkräfte.

So gestaltet sich die Praxis in Kindertageseinrichtungen trotz gegenläufiger Vorstellungen über die erforderlichen Kompetenzen professioneller Fachkräfte gerade im Hinblick auf die Konfiguration bewegungs- und sportfreundlicher Umwelten und Angebote häufig noch so, dass an die Stelle professionellen bewegungspädagogischen Handelns und Verantwortung für die Qualität im Bewegungsbereich primär das biografische, lebensweltliche Wissen der mehr oder weniger bewegungsaffinen Fachkräfte tritt, denen es überlassen bleibt, für Bewegung im Kitaalltag oder auch dem Alltag der Grundschule Sorge zu tragen. Hier ist die Sport- und Bewegungspädagogik gefordert, in einer gründlichen Auseinandersetzung mit dem in der Pädagogik des Schulsports und der Schule schon weit fortgeschrittenen Professionalisierungsdiskurs ein »fachliches« Verständnis von der Professionalität frühpädagogischer Fachkräfte zu entwerfen und Maßnahmen und Konzepte zu ihrer Professionalisierung zu entwickeln, zu erproben und zu evaluieren.

Zielgruppen, Aufbau und Beiträge des Handbuchs

Das Handbuch richtet sich an einen breiten Kreis von Leserinnen und Lesern: Es will Studierende aus kindheitspädagogischen Studiengängen, den Bewegungs- und Sportwissenschaften aber auch aus anderen Disziplinen ebenso erreichen wie Interessierte, die sich umfassend und vertiefend mit dem Thema beschäftigen möchten. Es will auch die Lehrenden und Forschenden an den Hochschulen und Universitäten, an denen es früh- bzw. kindheitspädagogische Studiengänge gibt, in ihrem Auftrag unterstützen, das Fachgebiet Sport und Bewegung fundiert und facettenreich zu vermitteln.

Das Buch gliedert sich in fünf Teile, die das Thema umfassend und systematisch bearbeiten: Im ersten Teil geht es um eine Einführung in frühkindliche Sport- und Bewegungspädagogik.

Anja Voss widmet sich einer Bestandsaufnahme relevanter Entwicklungen im Feld der frühen Bildung und versucht diese für die Bewegungs- und Sportpädagogik fruchtbar zu machen. Im Mittelpunkt stehen normative und strukturelle Prozesse, aber auch berufsprofilierende und bildungstheoretische Entwicklungen bis hin zum Status quo der Forschungslandschaft und dem Umgang mit Qualitätsdimensionen (Kap. 1).

Renate Zimmer befasst sich mit pädagogischen und didaktischen Grundlagen der Bewegungserziehung. Dabei geht es um die unterschiedlichen Formen der Entwicklungsbegleitung durch und in Bewegung, aber auch um grundlegende didaktische Fragen zur Gestaltung der Bewegungserziehung, die als Querschnittsaufgabe frühkindlicher Bildung und Erziehung aufgefasst wird (Kap. 2).

Anja Voss thematisiert Lebens- und Bewegungswelten von Kindern im 21. Jahrhundert. Mittels einer Gegenwartsdiagnose wird der Wandel kindlicher Bewegungswelten am Beispiel sozialräumlicher, familialer und mediatisierter Bedingungen, unter denen Kinder aufwachsen, skizziert. Anschließend werden Kindertagesstätten – unter Bezugnahme auf aktuelle Qualitätskriterien – als moderne Bewegungsinstitutionen für Kinder konturiert (Kap. 3).

Im zweiten Teil wird das Feld aus unterschiedlichen Fachdisziplinen beleuchtet, die zum einen den Forschungsstand sowie aktuelle Entwicklungen der Disziplinen darstellen, zum anderen Konsequenzen für die Ausgestaltung von Bewegung und Sport in der Kindheitspädagogik begründen. Im Mittelpunkt stehen dabei die Darstellung und Diskussion frühpädagogisch relevanter Erkenntnisse unterschiedlicher Bezugsdisziplinen.

Robert Gugutzer nähert sich aus soziologischer Perspektive der Frage nach dem menschlichen Körper als einem gesellschaftlichen und kulturellen Phänomen. Dafür wird aus philosophisch-anthropologischer Perspektive das Verhältnis von Natur und Kultur mit Blick auf den Körper diskutiert sowie aus der Sicht der Phänomenologie Differenz und Einheit von Leib und Körper (Kap. 4).

Christine Graf und Nina Ferrari fokussieren aus sportmedizinischer Sicht die motorische Entwicklung von Kindern und zeigen sowohl die physiologischen Hintergründe der motorischen Entwicklung sowie deren Verlauf im Altersgang, aber auch den aktuellen Status quo und Empfehlungen zum Bewegungsverhalten auf (Kap. 5).

Maria Schumann, Elvira Mauz und Anja Voss thematisieren aus gesundheitswissenschaftlicher Perspektive die Zusammenhänge von körperlicher Aktivität und der Gesundheit von pädagogischen Fachkräften am Arbeitsplatz Kita. Neben der Darstellung bewegungsbezogener Ressourcen und Belastungen im Kita-Alltag wird der Beitrag eines betrieblichen Gesundheitsmanagements für eine bewegungsförderliche Gestaltung des Arbeitsplatzes Kita diskutiert (Kap. 6).

Im dritten Teil verlagert sich der Fokus von disziplinär geprägten Betrachtungsweisen zu disziplinübergreifenden Verknüpfungen, die hier eine sinnkonstruierende »Rahmung« meinen, die Konzepte unterschiedlicher Fachrichtungen fruchtbar miteinander verknüpft.

Heike Tiemann widmet sich dem Thema Inklusion und befragt bewegungsorientierte Handlungsfelder der Kindheitspädagogik auf der Basis relevanter Konzepte, Strategien und Prinzipien auf ihren Umgang mit Vielfalt. Ihre Ausführungen münden in die Formulierung von Konsequenzen für die Sport- und Bewegungspraxis (Kap. 7).

Peter Keßel stellt das Konzept der Psychomotorik vor. Neben der Entstehung und Beschreibung verschiedener Perspektiven innerhalb dieses Konzepts skizziert er dessen methodische Prinzipien. Unter Bezugnahme auf aktuelle Wirksamkeitsstudien werden die Etablierung der Psychomotorik in der Kindheitspädagogik diskutiert und aktuelle Anwendungen des Konzepts in der Organisationsberatung und der Professionalisierung im Arbeitsfeld der Kindheitspädagogik aufgezeigt (Kap. 8).

Renate Zimmer und Nadine Madeira Firmino sensibilisieren für die entwicklungsfördernden Potenziale von Bewegung, die sich insbesondere in den ersten Lebensjahren (auch) auf den Spracherwerb positiv auswirken können. Im Mittelpunkt stehen sowohl der konzeptionelle Ansatz der »Bewegten Sprache« als auch die Wirksamkeit einer bewegungsorientierten Sprachbildung anhand der Ergebnisse eigener Studien (Kap. 9).

Anja Voss und Elke Gramespacher nehmen die (früh)kindliche Bewegungsbildung aus der Perspektive der sportwissenschaftlichen Geschlechterforschung in den Blick. Sie fokussieren sowohl theoretische Ansätze zum Zusammenhang von Geschlecht, Bewegung und (früher) Kindheit als auch den empirischen Forschungsstand und präsentieren Geschlecht als relevante Kategorie in der frühkindlichen Bewegungsbildung (Kap. 10).

Michael Mutz befasst sich mit der Sportbeteiligung von Kindern mit Zuwanderungsgeschichte und fragt nach den sozialintegrativen Potentialen des Sports. Er stellt den wissenschaftlichen Forschungsstand zur Sportbeteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund vor und erläutert die Bedeutung von Kontextbedingungen des Sporttreibens (Kap. 11).

Der vierte Teil des Buches fokussiert Professionalisierung, Professionalität und professionelles Handeln in bewegungspädagogischen Feldern der frühen Kindheit. Die Beiträge aus sportpädagogischer und professionstheoretischer Perspektive sollen Herausforderungen und Probleme professionellen Handelns aufwerfen, diskutieren und Antworten aufzeigen. Zudem wird der nationale und internationale Forschungsstand sport- und bewegungspädagogischer Programme und Projekte im Bereich der frühen Kindheit umrissen.

Astrid Krus und Christina Jasmund stellen, basierend auf den Ergebnissen des Verbundforschungsprojektes Bewegung in der frühen Kindheit (BiK), ein Profil bewegungsspezifischer Handlungskompetenzen frühpädagogischer Fachkräfte zur ganzheitlichen bewegungsorientierten Bildungs- und Entwicklungsförderung in der frühen Kindheit vor (Kap. 12).

Rolf Schwarz zeichnet den nationalen und internationalen Forschungsstand zur frühkindlichen Bewegungsförderung mittels systematischer Interventionen nach. Im Mittelpunkt stehen multidimensional verlässliche Befunde zu den wichtigsten Interventionsvariablen systematischer Maßnahmen (Kap. 13).

Matthias Schierz gibt einen Überblick über die Thematisierung von Bewegung und Sport im biografischen Kontext. Sein Beitrag behandelt u. a. Fragen der besonderen Rolle von Bildung und Lernen im Diskurs der Biografieforschung und dokumentiert die Bedeutung biografischer Reflexivität im Professionalisierungsprozess frühpädagogischer Fachkräfte (Kap. 14).

Der fünfte und letzte Schwerpunkt rundet das Buch durch einen deutlichen Praxisbezug ab und rückt Bewegungssettings und -inszenierungen in den Mittelpunkt des Interesses.

Angela Boeti stellt die Bedeutung des Tanzens für Bildungsprozesse in der Kindheit dar und zeigt auf, wie konzeptionelle Ansätze der Tanzpädagogik als Medien der ästhetischen Bildung umgesetzt werden können (Kap. 15).

Wolfgang Beudels und Hans Jürgen Beins akzentuieren das Thema Spiel – Spiele – Spielen und identifizieren grundlegende bzw. übergreifende Merkmale und Charakteristika kindlichen Spiels (Kap. 16).

Literatur

Berufsprofil Kindheitspädagogin/Kindheitspädagoge (2015). Studiengangstag Pädagogik der Kindheit. Online im Internet: URL: www.fbts.de/fileadmin/fbts/Arbeitskreise/Studiengangstag/Berufsprofil_01.06.2015_END_Kopie.pdf (Zugriff am 01.05.1017).

Braches-Chyrek, R., Sünker, H., Röhner, Ch. & Hopf, M. (Hrsg.) (2014). Handbuch Frühe Kindheit. Leverkusen/Opladen: Barbara Budrich.

Deutsche Vereinigung Sportwissenschaft (DVS) (2015). »Frühe Kindheit und Bewegung«. Positionspapier der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft (Fassung vom 15.09.2015). Online im Internet: URL: http://www.sportwissenschaft.de/fileadmin/pdf/download/dvs_Positionspapier_Fruehe_Kindheit_final.pdf (Zugriff am 16.08.2018).

Fikus, M. (2012). Bewegung im Elementarbereich. Handreichungen zum Berufseinstieg von Elementar- und KindheitspädagogInnen. Heft B07. In U. Carle & G. Koeppel (Hrsg.), Universität Bremen. Online im Internet: URL: www.fruehpaedagogik.uni-bremen.de/handreichungen/B07Bewegung%28MF%29.pdf (Zugriff am 02.10.2016).

Franke, E. (2018). Eine allgemeine Pädagogik für die Sportpädagogik? In R. Laging & P. Kuhn (Hrsg.), Bildungstheorie und Sportdidaktik. Ein Diskurs zwischen kategorialer und transformatorischer Bildung. Wiesbaden: Springer VS, S. 253–292.

Fried, L. & Roux, S. (2013). Handbuch Pädagogik der frühen Kindheit. Berlin: Cornelsen.

Gemeinsamer Orientierungsrahmen Bildung und Erziehung in der Kindheit der Jugend- und Familienministerkonferenz (2010), Online im Internet: URL: https://www.kmk.org/…/2004/2004_06_03-Fruehe-Bildung-Kindertageseinrichtungen (Zugriff am 16.08.2018).

Honig, M.-S. (2015). Vorüberlegungen zu einer Theorie institutioneller Kleinkinderziehung. In P. Cloos, K. Koch, & C. Mähler (Hrsg.), Entwicklung und Förderung in der Frühen Kindheit. Interdisziplinäre Perspektiven. Weinheim und Basel: BeltzJuventa, S. 43–57.

Laging, R. & Kuhn, P. (Hrsg.) (2018). Bildungstheorie und Sportdidaktik. Ein Diskurs zwischen kategorialer und transformatorischer Bildung. Wiesbaden: Springer VS.

Mess, F. & Woll, A. (2012). Soziale Ungleichheit im Kindes- und Jugendalter am Beispiel des Sportengagements in Deutschland. In Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation 32 (4), S. 358–379.

Mischo, Ch. (2017). Die Professionalisierung der Professionalisierungsforschung in der Kindheitspädagogik. In I. Nentwig-Gesemann & K. Fröhlich-Gildhoff (Hrsg.), Forschung in der Frühpädagogik X. Zehn Jahre frühpädagogische Forschung – Bilanzierungen und Reflexionen. Freiburg: FEL Verlag, S. 59–84.

Nagel, M. (2003). Soziale Ungleichheiten im Sport. Aachen: Meyer & Meyer.

Scheid, V. & Prohl, R. (2017). Kursbuch Sport 3: Bewegungslehre. Wiebelsheim: Limpert Verlag.

Schwarz, R. (2014). Effekte der Bewegungsförderung. Review längsschnittlicher Evaluationsstudien zu Bewegungsinterventionen in der frühen Kindheit. In motorik 37 (2), S. 52–63.

Willimczik, K. (2014). Interdisziplinäre Sportwissenschaft – der Weg zu einer paradigmatischen Begründung. In St. Kornmesser & G. Schurz (Hrsg.), Die multiparadigmatische Strukur der Wissenschaften. Wiesbaden: Springer VS, S. 181–229.

Zimmer, R. (2015). Frühkindliche Bildung und Sport. In W. Schmidt, N. Neuber, Th. Rauschenbach, H.P. Brandl-Bredenbeck, J. Süßenbach & Ch. Breuer (Hrsg.), Dritter Deutscher Kinder- und Jugendsportbericht. Schorndorf: Hofmann-Verlag, S. 395–415.

1     Kindertageseinrichtungen stehen als Kernhandlungsfeld zwar nach wie vor im Mittelpunkt bewegungs- und sportpädagogischer Betrachtungen. Analog zu der stetig breiter werdenden Palette kindheitspädagogischer Arbeitsfelder (vgl. »Berufsprofil Kindheitspädagogin/Kindheitspädagoge«, 2015) werden auch Krippe und Schulhort bzw. die verlässliche Ganztagsbetreuung an Schulen ebenso wie bewegungsbezogene Angebote der Familienbildung und -beratung in Familienzentren und anderen Bildungseinrichtungen in den Beiträgen berücksichtigt.

I           Einführung in frühkindliche Sport- und Bewegungspädagogik

1          Sport- und bewegungsbezogene Pädagogik der frühen Kindheit – eine Bestandsaufnahme

Anja Voss

1.1       Einleitung

Das aktuelle gesellschaftliche Interesse an frühkindlicher Bildung, Betreuung und Erziehung (FBBE) manifestiert sich auch in Erwartungen an ein Paradigma einer Sport- und Bewegungspädagogik der frühen Kindheit. Allerdings sind die Konturen einer sport- und bewegungswissenschaftlich begründeten Pädagogik der frühen Kindheit derzeit noch unscharf und weder ihre Konzepte noch deren Theorierahmen sind hinreichend für frühpädagogische Wirkungsorte wie die Kita umrissen und empirisch fundiert. Gleichwohl kristallisieren sich relevante Themen, vielfältige Perspektiven und disziplinäre Besonderheiten heraus.

Der folgende Beitrag möchte, dem Format einer Bestandsaufnahme folgend, wesentliche Entwicklungslinien einer sport- und bewegungsbezogenen Pädagogik der frühen Kindheit skizzieren, die für das Gegenwartsverständnis des Diskurses über die bewegungspädagogische Arbeit in Kindertagesstätten und anderen kindheitspädagogischen Arbeitsfeldern informativ erscheinen. Im Folgenden werden normative, strukturelle aber auch berufsprofilierende und bildungstheoretische Entwicklungen bis hin zu Veränderungen mit Blick auf Qualitätssicherung und Forschungslandschaft dokumentiert, ohne dass sich damit schon Ansprüche an eine Systematik verbinden.

1.2       Bildungspläne

Mittlerweile haben sich die Bildungs- und Orientierungspläne der Bundesländer als normative Grundlage für die Arbeit in Kindertagesstätten etabliert. Unter dem besonderen Fokus dieses Beitrags bedeutet das zunächst: »Bewegung« ist in nahezu allen Bildungsplänen als ein eigenständiger Bildungsbereich benannt, zum Teil in enger Verbindung mit »Gesundheit«1. Länderübergreifend legen die Bildungspläne in ihren Grundsätzen die Vermittlung diverser Kompetenzen und Ressourcen durch Bewegung nahe, wobei durchweg ein entwicklungsorientiertes Verständnis von Bewegung vorherrscht (Bahr 2017, S. 340). Neben der Förderung und Unterstützung der motorischen Entwicklung im Kindesalter (Kap. 5) werden Körper- und Bewegungserfahrungen für die Entwicklung bildungsbereichsübergreifender personaler, sozial-emotionaler und kognitiver Kompetenzen eine tragende Rolle zugesprochen (Zimmer 2014, S. 682 f.). Außerdem spielt Bewegung bei der Erschließung der sozialen und materialen Umwelt von Kindern als »Medium des Lernens« eine Rolle (Beudels 2016, S. 47 f.) und findet in einigen Bildungsplänen unter dem Aspekt der körperlichen und seelischen Gesunderhaltung und -förderung sowie der Resilienzförderung von Kindern Erwähnung (Bahr 2017, S. 340 f.). Während Bewegung in den meisten Bildungsplänen einen Bildungsbereich neben anderen darstellt, nimmt sie in den Bildungsgrundsätzen von Nordrhein-Westfalen eine Querschnittsaufgabe ein und es wird deutlich, dass sich dieser Bildungsbereich durch den gesamten Kita-Alltag hindurchzieht und mit allen Bildungsbereichen korrespondiert (MFKJKS/MSW 2016), so z. B. mit der sprachlichen (Kap. 9) oder naturwissenschaftlichen Bildung.

Nicht zuletzt als Folge von PISA steht die frühe und nachhaltige Förderung kognitiver Kompetenzen im Fokus der Bildungspläne. Die prominente Verortung von Bewegung in den Rahmenplänen zementiert zwar die Relevanz der Disziplin für die FBBE. Unter dem (wenn auch empirisch bislang nicht nachgewiesenen, so doch viel gepriesenen) Motto »Bewegung macht schlau« läuft Bewegung in den Bildungsplänen allerdings auch im Sinne der Optimierung des Humankapitals Kind Gefahr, instrumentalisiert zu werden. Dem gegenüber scheint das Potential von Bewegung z. B. für die Ausbildung des Selbstkonzeptes und der Persönlichkeit (vgl. Gerlach, 2008) oder die damit im Zusammenhang stehende Identitätsentwicklung (vgl. Gugutzer, 2002) in der FBBE bislang vielfach noch ungenutzt. Außerdem wird die Bedeutung von Bewegung und Sport mit Blick auf die in den normativen Vorgaben geforderte systematische Sicherung des Übergangs von der Kita in die Schule sowie der Verzahnung von Bildungsinstitutionen (z. B. Bildungsnetzwerke oder -landschaften) bislang lediglich umrissen.

Ob die Bildungspläne im Mehrebenensystem von der Vogelperspektive der OECD bis zur Froschperspektive der alltäglichen Handlungskoordination in den Tageseinrichtungen aktuell als Instrumente zur Sicherung von bewegungsbezogener Bildungsqualität wirksam eingesetzt werden, ist derzeit noch offen und müsste zum Gegenstand empirischer Überprüfung gemacht werden. Obwohl die Bildungspläne in der Kita-Praxis ›angekommen‹ sind, wie die Studie »Schlüssel zu guter Bildung, Erziehung und Betreuung« (Viernickel et al., 2013) belegt, zeigt ein Blick auf die Konzepte unterschiedlicher Träger in den Ländern Berlin und Brandenburg, dass sich die bewegungsbezogenen Kompetenzen, die in den Bildungsplänen formuliert werden, schon in den Konzepten der Träger und Einrichtungen häufig nicht mehr wiederfinden – außer in der Versicherung, dass man sich in den eigenen Empfehlungen auf die aktuellen Bildungspläne beziehe! Wobei die Bildungspläne auch weniger eine Vorgabe im Sinne eines sport- und bewegungspädagogischen Handlungskonzeptes darstellen sollten als vielmehr bildungspolitisch definierte Erziehung- und Bildungsziele im Sinne einer normativen Grundlage der bewegungspädagogischen Arbeit. Dieser Rahmen müsste auch den aktuellen sport- und bewegungswissenschaftlichen Fachdiskurs repräsentieren und entsprechende Standards bestimmen. Voraussetzung hierfür ist die (Weiter)Entwicklung bildungstheoretischer Vorstellungen von Bewegungshandeln in der frühen Kindheit. Das ›Umsetzungsdilemma‹ der pädagogischen Fachkräfte, wonach sie die Erwartungen, die an sie herangetragen werden oder die sie in ihrem professionellen Selbstanspruch haben, nicht zufriedenstellend umsetzen können, ließe sich nach Viernickel et al. (2013) durch verbesserte Rahmenbedingungen lösen. Daneben ist der »Erfolg« der Bildungspläne nach Röhner (2014, S. 610) sowohl von Qualitätsentwicklungs- und -sicherungsmaßnahmen sowie der Professionalisierung pädagogischer Fachkräfte abhängig, worauf später eingegangen wird.

1.3       Studiengänge

Strukturelle Veränderungen zeigen sich vor allem in den Sektoren der Aus- und Weiterbildung. Nicht zuletzt die Einführung der frühpädagogischen BA-Studiengänge seit 2004 hat auch auf der Ebene der Fachschulen zu Reformen mit Blick auf Lehrinhalte und Konzepte geführt und es gibt bewegungsbezogene Ausbildungsgänge für pädagogische Fachkräfte z. B. »mit bewegungs- und sportpädagogischem Profil«2, »Gesundheit, Sport und Bewegung«3 oder die_den »Facherzieher_in für Psychomotorik«. Inzwischen wird an der Entwicklung eines koordinierten Gesamtkonzeptes für Aus-, Weiter- und Fortbildung auf verschiedenen Ebenen gearbeitet (vgl. Aktionsrat Bildung, 2012). Weitere Stärkung und Profilierung erfährt die Kindheitspädagogik durch Qualitätskataloge, Kompetenzprofile und Qualifikationsrahmen. So wurde im Programm PiK – Profis in Kitas, Professionalisierung von Frühpädagogen in Deutschland (2005) ein Orientierungsrahmen für frühpädagogische Studiengänge entwickelt (vgl. Gerstberger, Wagner & von Behr, 2008). Bewegung ist darin einer von 28 Bausteinen, die als Basis für die Konzeption konkreter Studienangebote genannt werden und Orientierung und Anregung für die inhaltliche Ausgestaltung geben. Neben dem Wissen um die Bedeutung von Bewegung für die motorische, psychische, kognitive und soziale Entwicklung von Kindern sollten Frühpädagog_innen Bildungsprozesse in und durch Bewegung fördern können (ebd., S. 115 f).

In der Landschaft der kindheitspädagogischen Studiengänge gibt es an einigen Standorten bewegungsspezifische Profile oder Möglichkeiten bewegungsthematischer Schwerpunktsetzungen4, so z. B. an der Hochschule Niederrhein im BA Studiengang »Kindheitspädagogik« mit dem Schwerpunkt »Bildung durch Bewegung«. Möglichkeiten einer bewegungsthematischen Vertiefung gibt es z. B. in den kindheitspädagogischen BA-Studiengängen an der Alice Salomon Hochschule Berlin oder der PH Karlsruhe. An der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln kann im Rahmen des BA-Studiengangs »Frühförderung« das Modul »Psychomotorische Entwicklungsförderung« als Wahlpflichtmodul gewählt werden.

Der Masterstudiengang »Sport und Bewegung im Kindes- und Jugendalter« ist als Kooperationsprojekt von vier Hochschulen (Universität Heidelberg, Karlsruher Institut für Technologie, PH Heidelberg, PH Karlsruhe) deutschlandweit einzigartig. Die Universität zu Köln bietet im Zweifachmaster »Erziehungswissenschaft« einen MA-Schwerpunkt »Psychomotorik als Frühe Hilfe in Institutionen der Kindheit« an und an der Universität Konstanz besteht in Kooperation mit der Pädagogischen Hochschule Thurgau im MA Frühe Kindheit die Möglichkeit zur Spezialisierung »Motorische Entwicklung und Förderung«. In anderen BA-Studiengängen hingegen spielt Bewegung lediglich eine untergeordnete Rolle. Kindheitspädagogische Studiengänge mit bewegungsbezogenen Schwerpunkten bilden allerdings in erster Linie die strukturellen Rahmungen für eine Professionalisierung der Bewegungspädagogik. Von größerer Bedeutung ist die Umsetzung eines kindheitspädagogischen Kompetenz- und Berufsprofils, auf das weiter unten eingegangen werden soll.

Neben der Qualifizierung und Akademisierung erfährt die bewegungsbezogene Pädagogik der frühen Kindheit weitere strukturelle Flankierungen:

•  Mit der Einrichtung eines ad-hoc-Ausschusses »Elementarbereich« fand eine temporäre strukturelle Verankerung in der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft (dvs) statt. In einem von dem Ausschuss erstellten Positionspapier »Frühe Kindheit und Bewegung« (2015) wird die frühe Kindheit als ein notwendiges Querschnittsthema der sportwissenschaftlichen Disziplinen angemahnt.

•  Eine institutionelle Vernetzung von Forschungsaktivitäten und ein wechselseitiger Transfer von Wissenschaft und Praxis finden seit 2008 z. B. unter dem Dach des »Niedersächsischen Instituts für Frühkindliche Bildung und Entwicklung – nifbe« statt. Die »Forschungsstelle Bewegung und Psychomotorik« wurde 2016 in eine »psychomotorische Förderstelle« überführt.

•  Die Bundesarbeitsgemeinschaft Bildung und Erziehung in der Kindheit (BAG-BEK e.V.) bietet eine Plattform zum Austausch von Informationen über aktuelle Entwicklungen der Professionalisierung in kindheitspädagogischen Arbeitsfeldern und ggf. zur Formulierung von Positionen. Eine Arbeitsgruppe der BAG-BEK widmet sich dem Thema Gesundheit, Bewegung bleibt hier als Fokus bislang außen vor.

•  Auch Kommunen, Trägerverbände von Kindertageseinrichtungen, Ministerien und Sportorganisationen haben in den letzten Jahrzehnten vielfältige Anstrengungen ergriffen, Bewegung, Spiel und Sport stärker als bisher in der Alltagswelt von Kindern zu verankern. Diese Entwicklung zeigt sich z. B. in der Gründung bzw. Zertifizierung von Sport- und Bewegungskindergärten.

1.4       Berufsprofilierung

Eine berufliche Profilbildung der Kindheitspädagogik wird insbesondere durch das vom Studiengangstag Pädagogik der Kindheit beschlossene »Berufsprofil Kindheitspädagogin/Kindheitspädagoge« (2015) deutlich. Es wird wie folgt definiert:

»Der Beruf der Kindheitspädagogin und des Kindheitspädagogen ist auf die familiäre und öffentliche Bildung, Erziehung und Betreuung in der Kindheit, die Lebenswelten, Kulturen und Lebensbedingungen von Kindern und Familien sowie die Zusammenarbeit mit Familien ausgerichtet. Die Tätigkeit hat ihre Schwerpunkte in der erkenntnisgenerierenden Erforschung, der Konzeptionierung und der didaktischen, organisationalen und sozialräumlichen Unterstützung von Bildung, Erziehung und Betreuung in Kindheit und Familie. Dies schließt die wissenschaftlich begründete, kritische Reflexion gesellschaftlicher Konstruktionen und Bedingungen von Kindheit und Familie sowie die Mitwirkung an der sozialen, politischen und kulturellen Gestaltung und Sicherung eines guten und gelingenden Aufwachsens von Kindern ein. (…)« (Berufsprofil Kindheitspädagogin/Kindheitspädagoge 2015).

Bewegung ist fester Bestandteil der im Berufsprofil als kindheitspädagogische Kernhandlungsfelder benannten Kitas, Ganztagsschulen und Einrichtungen der Familienbildung sowie des Gesundheitswesens. Bewegung wird explizit unter »berufsspezifische Funktionen und Positionierungen« als eine »auf Bildungsbereiche bezogene Didaktik« aufgeführt und findet implizit z. B. über Tätigkeiten im Gesundheitswesen, gesundheitsbezogene Bildung und Freizeitpädagogik Berücksichtigung. Die in dem Berufsprofil festgeschriebene konzeptionelle, reflexive und forschungsorientierte Ausrichtung kindheitspädagogischen Denkens und Handelns bedeutet mit Nentwig-Gesemann (2017, S. 236 f.), dass sich Kindheitspädagoginnen und -pädagogen » nicht als Anwender_innen von Rezeptwissen, als Umsetzer_innen von Programmen oder Methoden verstehen, sondern als pädagogische Expert_innen, die zu eigenverantwortlichem, selbständigem und fachlich begründetem Denken und Handeln in der Lage sind und damit als Angehörige einer Profession (…) agieren«. Für die Ausbildung eines bewegungsbezogenen Berufsprofils bringt dies neben der »Selbsterfahrung in vielfältigen Bewegungssituationen« eine reflexive Bearbeitung von (bewegungs)biografischen Erfahrungen mit (Jasmund & Krus 2016, S. 277 f.). Für Studierende der Frühpädagogik kann das u. U. auch bedeuten, bildungsinduzierende Krisen- bzw. Problemkonstellationen zu erzeugen, die gewohnte Körperpraktiken ins Wanken bringen und zu einer »reflexiven Distanzbildung« führen, sowohl im Umgang mit dem Körper, des Bewegens als auch der Haltung zum Sport (Kap. 13).

In Anlehnung an das Kompetenzmodell von Fröhlich-Gildhoff, Nentwig-Gesemann und Pietsch (2014) müsste das berufspraktisch erworbene, reflektierte Erfahrungswissen zudem mit (theoretisch und empirisch) wissenschaftlich fundierten Themen der Bewegungs- und Sportpädagogik verankert werden, statt punktueller, projektbezogener und lernfeldspezifischer Einordnung, wie die Analyse der Aus- und Weiterbildung pädagogischer Fachkräfte von Krus und Jasmund zeigt (Kap. 12). Kindheitspädagog_innen müssten in der Lage sein, einen Perspektivwechsel z. B. von der sportlichen Akteurin bzw. dem Akteur hin zur Arrangeurin bzw. zum Arrangeur vielfältiger Bewegungsanlässe in Kitas vorzunehmen. Dabei könnte ein reflexiver Gang durch vorhandene Konzepte z. B. für die Gestaltung von Bewegungsräumen und bewegungspädagogischen Fachkraft-Kind-Interaktionen und die Erprobung der Planung von (offenen und geschlossenen) Bewegungsangeboten sowie eine vielfältige Nutzung von Materialien und Geräten in den Praxisphasen der hochschulischen Ausbildung weniger als normative Vorgaben, sondern mit dem Ziel einer reflektierten Anwendung und der Absicherung einer eigenen didaktischen Position, die Bildung eines forschenden Habitus unterstützen (vgl. Nentwig-Gesemann, 2017).

Der von Nentwig-Gesemann (2017, S. 237) geforderte »zirkuläre Prozess«, durch den Forschungserkenntnisse »ihren Weg in die Praxis finden, aus der heraus wiederum für das professionelle Handeln relevante Forschungsfragen entwickelt werden«, stellt die Sport- und Bewegungswissenschaften aus mindestens zwei Gründen vor große Herausforderungen:

•  Es besteht noch eine deutliche Diskrepanz zwischen appellativ postulierten und wissenschaftlich gesicherten Wissensbeständen z. B. mit Blick auf den vielfach als »Krise« konstatierten Rückgang motorischer Fertigkeiten und Fähigkeiten. Eine Bewegungspädagogik der frühen Kindheit wird sich daran messen lassen müssen, ob die unterstellten positiven Wirkungen von Bewegung in der frühen Kindheit auch tatsächlich gegeben sind. Der Forschungsstand wächst zwar stetig an, bislang ist die empirische Studienlage über die frühkindliche Bewegungsentwicklung und über lebensweltliche Bedingungen frühkindlicher Bewegungserfahrungen allerdings lückenhaft (DVS 2015, S. 2).

•  Eine auf den Bildungsbereich Bewegung bezogene Didaktik der frühen Kindheit existiert noch nicht. Eine Abgrenzung zum Lehren und Lernen in der Grundschule scheint ebenso diskussionsbedürftig zu sein, wie die Vor- und Nachteile der »Didaktisierung« des Elementarbereichs beispielsweise in Formen der Operationalisierung von Zielen, der Standardisierung von Niveaustufen, der Kanonisierung von Inhalten und der Methodisierung von Vermittlungsweisen. Mögliche Ansatzpunkte einer Didaktisierung könnten z. B. die von Zimmer (Kap. 9) entwickelten didaktischen Prinzipien für die Planung und Umsetzung von Bewegungskonzeptionen für Kinder bieten oder die »indirekte Didaktik« von Liegle (2009), in der es um die Schaffung von Gelegenheiten und Herausforderungen zum Lernen für Kinder geht. Auch die von Schäfer et al. (2009) für den Bildungsbereich Naturwissenschaften formulierten didaktischen Grundprinzipien einer Lern- und Entwicklungsbegleitung könnten für die Sport- und Bewegungswissenschaften fruchtbar gemacht werden. Gegen die Entwicklung einer Bewegungsdidaktik für den Elementarbereich spricht eine damit möglicherweise einhergehende Fokussierung von Schulfächern und somit eine Engführung des Elementarbereiches. Eine Alternative wäre die Erschließung kindlicher Bildungsphasen, -formen, -themen und -räume unter Berücksichtigung bildungstheoretischer Perspektiven sowie pädagogischer Erkenntnis- und Handlungsformen. Damit einher würde ein übergreifender Blick auf die klassischen didaktischen Traditionen im Spannungsfeld von Kita, Schule und anderen kindheitspädagogischen Feldern gehen.

1.5       Qualitätssicherung

Die Diskussion um Qualität in der Bewegungsförderung der frühen Kindheit konzentriert sich bisher primär auf Zertifizierungen, Gütesiegel oder Markenzeichen von Kindertageseinrichtungen5. Für die Bewegungs- und Sportpädagogik stellt sich die Frage, wie gute bewegungspädagogische Qualität in Kitas und anderen kindheitspädagogischen Arbeitsfeldern durch die Definition wissenschaftlich begründeter Standards strukturell abgesichert werden kann. In der Fachdiskussion um die Qualität von Kindertageseinrichtungen hat sich ein Qualitätsbegriff etabliert, der von einem komplexen Zusammenspiel verschiedener Qualitätsdimensionen ausgeht (Herrnberger & Schubert 2010, S. 53 f.). Zur Strukturierung von Qualitätskriterien werden regelmäßig die Dimensionen der Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität herangezogen, wobei Strukturqualität die Rahmenbedingungen pädagogischer Arbeit umfasst, Prozessqualität die konkrete Gestaltung des pädagogischen Alltags meint und Ergebnisqualität die Wirkungen und Ergebnisse beschreibt, die eine Kindertageseinrichtung unter Einsatz der verfügbaren Strukturen und realisierten Prozesse erzielt (Kap. 3).

Fachliche Orientierung zur Entwicklung bewegungspädagogischer Qualität in Kitas bietet z. B. der im Nationalen Kriterienkatalog für pädagogische Qualität in Kindertageseinrichtungen (Tietze & Viernickel, 2016) enthaltende Qualitätsbereich Bewegung. Die folgenden sechs Leitgesichtspunkte zur Bestimmung von Qualität werden in der praktischen Anleitung für die Arbeit mit dem Kriterienkatalog (Tietze & Viernickel, 2017) mit Materialien, konkreten Anregungen und Checklisten unterlegt:

•  räumliche Bedingungen im Innen- und Außenbereich,

•  die pädagogische Fachkraft-Kind-Interaktion (Beobachtung, Dialog und Beteiligungsbereitschaft, Impuls),

•  Planung (Grundlagen und Orientierung, pädagogische Inhalte und Prozesse, Dokumentation),

•  Vielfalt und Nutzung von Material,

•  Individualisierung (Berücksichtigung individueller Bedürfnisse und Interessen, individueller Umgang mit Material und Angeboten),

•  Partizipation (Einbeziehung der Kinder in Entscheidungs- und Gestaltungsprozesse, Balance zwischen Individuum und Gruppe) (vgl. Tietze & Viernickel 2016, S. 171 f.).

Es stellt sich allerdings die Frage nach der Operationalisierbarkeit mancher Kriterien, wie z. B. der Einrichtung »großzügiger Bereiche für Bewegung«, die »gut zu erreichen« sein sollen (Tietze & Viernickel 2016, S. 173).

Wissenschaftlich begründete Qualitätsstandards stellen im Bereich der bewegungsbezogenen Kindheitspädagogik immer noch ein Desiderat dar. Erste Ansatzpunkte für die Raumqualität bietet die Expertise von Bensel et al. (2015). Hier werden wissenschaftliche und fachliche Empfehlungen mit den Bildungsplänen, gesetzlichen Regelungen und Empfehlungen der Bundesländer sowie der »tatsächlichen« Raumqualität abgeglichen und zu neuen Empfehlungen zusammengeführt. Für Kita und Tagespflege werden Flächengrößen, Raumarten und »Bildungsraummerkmale« für den Innen- und Außenbereich definiert, wozu körperliche Herausforderungen für grobmotorische Bewegungsanreize und feinmotorische Herausforderungen, körperliches und psychisches Wohlbefinden, Sinnes- und Wahrnehmungserfahrungen, Materialerfahrungen aber auch Selbsterfahrungen und Selbstwirksamkeit gehören. Die seitens der Expert_innen empfohlene Flächengröße (Innenraum) von 6 qm pro Kind wird von nahezu allen untersuchten Kindergartengruppen bzw. zugrunde gelegten Daten verfehlt. Anders als z. B. beim Personalschlüssel gibt es in Deutschland keine Meldedaten zur Raumqualität, was den Ruf nach Regulierung laut werden lässt (ebd., S. 377).

Neben der materiellen Ebene spielen auch die personelle, organisatorische und inhaltliche Ebene eine Rolle. Kitas müssten als kindliche Bewegungsräume und bewegungsbezogene Bildungsorte systemisch erschlossen und anhand der oben aufgeführten Qualitätsdimensionen definiert und gesichert werden, weil die »Qualitätsmerkmale der Aufforderung zur Bildung (…) erhebliche Auswirkungen auf die Qualität der Bildungsprozesse der Kinder im Sinne des Erwerbs bzw. der Aneignung von Kompetenzen« haben (Liegle 2014, S. 37). Hierbei können auch die zahlreichen Ansätze der Qualitätsentwicklung in der Gesundheitsförderung für die Bewegungsförderung nutzbar gemacht werden.

1.6       Bildungsdiskurs

Sportpädagogische Diskurse um Bildung rücken seit jeher in erster Linie die Schule als ausgewiesenen Bildungsort in den Mittelpunkt ihrer Forschungs- und Gestaltungsinteressen. Insbesondere durch den Impuls des 12. Kinder- und Jugendberichtes (BMFSFJ, 2006), wonach Bildung nicht mehr nur den Bildungsinstitutionen vorbehalten bleibt, sondern auch non-formale und informelle Settings umfasst, geraten jedoch auch Kitas in der sport- und bewegungspädagogischen Diskussion um Bildung als lebensbiografisch bedeutsame Institutionen für Kinder zunehmend in den Blick (Zimmer, 2008, 2015; Heim, 2011; Schmidt et al., 2015). Bewegungsbezogene Bildungsprozesse finden in Kitas als non-formalen Bildungsorten mit ausdrücklichem Bildungsauftrag sowohl explizit (strukturiert, geplant und intentional) als auch implizit (beiläufig, unbeabsichtigt) statt (Heim 2011, S. 260). Bewegung, Sport und Spiel passieren auf freiwilliger Basis, sind mehr oder weniger strukturiert und unterliegen einem relativ großen Gestaltungsspielraum. Bewegung findet sowohl offen und über jederzeit zugängliche Bewegungsmöglichkeiten als auch über geschlossene, regelmäßige und angeleitete Bewegungsangebote, -rituale und -projekte statt. Im Mittelpunkt kindheitstheoretischer Entwürfe der Sport- und Bewegungspädagogik sollte das aktive, selbst erkundende Kind in einer (mit)gestalteten Umgebung und einer bewegungsfreundlichen Raumgestaltung stehen. Bewegungsbezogene Bildungsprozesse werden idealerweise von einer Fachkraft-Kind-Interaktion getragen, die das Kind in seiner Selbsttätigkeit unterstützt und sich durch die Begriffe »Beobachtung, Dialog und Beteiligungsbereitschaft sowie Impuls« umschreiben lässt (vgl. Tietze & Viernickel 2016, S. 41). In diesem Prozess sind Beziehung und Bindung die Voraussetzungen für Bildung und Mündigkeit bzw. Selbstbestimmung ist das Ziel. Bildung wurde ideengeschichtlich bereits seit Rousseau, nachfolgend bei Herbart und Humboldt, als Arbeit des Menschen an seiner Bestimmung beschrieben, also als »Selbstbildung« unter den Prämissen von »Bildsamkeit« und der »Aufforderung zur Selbsttätigkeit« konzipiert. Bildung ist komplementär zu Erziehung zu verstehen, wobei in Anlehnung an Benner (2001) Erziehung als Vermittlungstätigkeit und Bildung als Aneignungstätigkeit begriffen wird.

Nicht erst in der Schule, sondern bereits in der Kita bilden die Bereiche Bewegung, Spiel und Sport die einzige Domäne, in denen sich Erziehungs- und Bildungsprozesse unmittelbar über körperliche Erfahrungen und Bewegungserfahrungen vollziehen, so dass mit Franke (1998) zu Recht von einer Bildung – auch und gerade Kompetenz-Bildung – durch den Körper gesprochen werden kann. Kritisch betrachtet ist jedoch der Erwartungshorizont, der sich mit Bewegung als thematischer und medialer Bildungsressource verbindet, gegenwärtig noch in den pädagogischen Redeweisen und Thematisierungsformen vom Erwartungshorizont an eine allgemeine Bewegungsförderung in Kitas kaum zu unterscheiden.

Bildungstheoretische Implikationen einer Bewegungsbildung in der Kindheitspädagogik setzen an dem Gedanken der selbsttätigen, aneignenden Auseinandersetzung des Kindes über Bewegung, Spiel und Sport mit materialen, sozialen und personalen Sachverhalten an, über die sich das Kind im Verhältnis zu sich selbst und zur Welt bestimmt. Denn Bewegung, Spiel und Sport gelten als körper- bzw. leibbasierte Modi und symbolische Formen kindlicher Weltbegegnung, in denen sie sich Welt in Selbst-, Sach- und Sozialbezügen erschließen (vgl. Laging & Kuhn, 2017). Das Bildungspotential von Bewegung liegt dabei nach Meinberg (2011) erstens in der Bildung des Leibes im Sinne einer Herausbildung vielfältiger körperlicher Bewegungen, zweitens im Leib als Medium in Bildungsprozessen und drittens im Leib als Mittel bzw. Instrument. Dabei geht es auch um die Bildung zu einer gelingenden Lebensführung, die Meinberg schon als eine »angemessene Leibesführung« bezeichnete (Meinberg 2011, S. 32 f.). Mit der Gleichzeitigkeit von Leib-Sein und Körper-Haben wird der Blick zum einen auf Bewegung als Medium der Gestaltung von Mensch-Welt-Verhältnissen möglich, zum anderen auf den Körper unter dem Aspekt der Funktionalität, z. B. hinsichtlich einer Förderung der motorischen Entwicklung (vgl. Fikus, 2012). Bewegungsbildung rahmt

•  im Sinne einer Auffassung von Bewegung als Kultur und inzwischen häufig unter »kulturelle Bildung« gefasste sinnlich-ästhetische Zugänge des Kindes zur Welt (Klinge 2018, S. 345). Dazu gehören auch die tradierungswürdigen Bestände an kinderspezifischen Bewegungsspielen und -tänzen sowie die besonderen kulturellen Formen, in denen sich die Bedeutungen der Grundbewegungen des Laufens, Werfens, Fangens, Kletterns, Springens, Balancierens im Bewegungsalltag von Kindern ausgestalten.

•  Bewegung als Zeichen im Sinne von erfahrungsbezogenen Zugängen zur materialen, sozialen und personalen Welt. Dies umfasst auch expressive, impressive, explorative, produktive, komparative und kooperative Funktionen von Bewegung (vgl. Scherler, 1990).

•  Bewegung als Verkörperung, womit nicht nur die Verankerung körperlicher Erfahrungen im Gehirn betont wird, sondern im Sinne eines Wechselspiels von Körper, Geist und Psyche auch, dass »diese kartierten Abbilder des Körpers im Gehirn, den Körper wiederum beeinflussen« (Jansen & Richter 2016, S. 208; vgl. auch Bauer, 2013; vgl. auch Embodiment-Ansatz). Hier müsste die Bedeutung der Wahrnehmung als Mittler zwischen Körper/Leib und der physikalischen Umwelt theoretisch deutlicher herausgearbeitet und empirisch fundiert werden.

•  Bewegung als Instrument zur Prävention von Erkrankungen, dem Auf- und Ausbau von Fitness und der Haltungsschulung sowie zur Reduktion von Unfallrisiken. Eine solche instrumentelle Sicht auf Bewegung schlägt sich auch in den normativen Grundlagen der Bildungspläne nieder, wie das Beispiel des Berliner Bildungsplans zeigt, der Bewegung unter Gesundheit subsummiert.

Die Bearbeitung des Spannungsverhältnisses zwischen einem losen Perspektivenbündel zur Begründung einer Domäne der Förderung von Bewegung, Spiel und Sport in Kitas und dem bildungstheoretischen Anspruch auf eine Systematisierung der Modi der Weltbegegnung, die der leiblichen und körperlichen Aneignung von Welt, ihrem Verstehen und ihrer Gestaltung einen unaustauschbaren Stellenwert im Bildungsgeschehen von Kitas einräumt, steht derzeit jedoch noch aus.

1.7       Forschungslandschaft

Trotz der zunehmenden Bedeutung von Bewegung im Kontext der FBBE stellen Forschungen zur Bewegung in der frühen Kindheit noch ein marginales Feld der deutschen Sport- und Bewegungswissenschaften dar. Während Analysen motorischer Entwicklungs- und Lernprozesse und die diagnostische Erfassung motorischer Leistungsfähigkeit ersichtlich zugenommen haben, mangelt es an Grundlagendaten über bewegungspädagogische Qualität in kindheitspädagogischen Arbeitsfeldern, zur Nutzung von (Bewegungs)Räumen oder zur Quantität und Qualität räumlicher Gegebenheiten und freier und angeleiteter Bewegungszeiten sowie an umfassender Prozessevaluation und wissenschaftlicher Begleitung von Interventionen, um ihre Effekte zu überprüfen und die Ergebnisse übertragbar zu machen. (vgl. DVS, 2015). Auch gibt es bislang kaum Studien, die das Kind prononciert als Akteur und Subjekt betrachten und am Kind und seiner Perspektive ansetzen. Professions- bzw. professionaliserungstheoretisch begründete Fragestellungen der Kindheitspädagogik finden erst langsam Einzug in die Sport-und Bewegungswissenschaften, ebenso wie Vorhaben zur integrativen bzw. inklusiven Funktion von Sport und dessen gesellschaftspolitischer Verantwortung mit Blick auf Teilhabechancen von Kindern in den ersten Lebensjahren. Die Begründung der Notwendigkeit von Bewegungsförderung in der frühen Kindheit sowohl aus bildungs- als auch aus gesundheitspolitischer Perspektive unterstreicht außerdem eine stärkere Zusammenführung von Bildung und Gesundheit in Kitas (vgl. Voss & Viernickel, 2016). Im Folgenden wird ein Überblick aktueller Forschungszweige skizziert:

Motorikforschung6

Bewegung und körperliche Aktivität nehmen in der kindlichen Entwicklung eine zentrale Rolle ein, werden bereits im Vorschulalter maßgeblich geprägt und zeigen in der Lebensspanne häufig einen stabilen Verlauf (Ahnert & Schneider, 2007). Mit den »Nationalen Empfehlungen für Bewegung und Bewegungsförderung« liegt seit 2016 eine wissenschaftliche Grundlage und Orientierung für Bewegungsförderung von Kindern in Deutschland vor. Für Kita-Kinder (4–6 Jahre) wird eine Bewegungszeit von 180 Minuten/Tag und mehr empfohlen, Säuglinge und Kleinkinder (0–3 Jahre) sollten sich »so viel wie möglich bewegen und so wenig wie möglich in ihrem natürlichen Bewegungsdrang gehindert werden« (Rütten & Pfeifer 2016, S. 25). Hier wird zu zeigen sein, ob und wie die Empfehlungen umgesetzt werden (können). Denn in Deutschland werden laut der KiGGS Welle 2 (2014–2017) schon 60 Minuten moderate bis intensive Aktivität pro Tag lediglich von 22,4 % der Mädchen und 29,4 % der Jungen im Alter von 3–17 Jahren erreicht (Finger