Beweisstück A - Neue Indizien - Annina Anderhalden - E-Book

Beweisstück A - Neue Indizien E-Book

Annina Anderhalden

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Beschreibung

Mordverdächtige Filmdiven und Märchenprinzessinnen, die lieber einen anderen Job hätten. Teenager und ein Wertiger, die an den Erwartungen ihres Umfelds verzweifeln. Ein Schneider und eine Gruppe Freunde, die mit magischen Rätseln konfrontiert sind, während Nerds sich mit der Postapokalypse herumschlagen müssen. 19 Geschichten dienen als neue Beweisstücke dafür, wie farbenfroh die Palette an asexuellen und aromantischen Figuren sein kann und welch vielfältige Möglichkeiten das Leben jenseits klassischer romantischer Paarbeziehungen bereithält. Mit Beiträgen von Annina Anderhalden, Annika Baumgart, Jay Blue-Corax, DasTenna, Carmilla DeWinter, Jens Gehres, Marcus R. Gilman, Kaj Iden, Gregor Jungheim, Katharina Lucas, Tanja Meurer, Morning Dew, Nayina, Lydia R. Noir, Finn A. Pieber, Juliane Seidel, skalabyrinth, Katherina Ushachov und Judith Wolfertstetter. Der komplette Erlös geht an den InSpektren Podcast n.e.V.

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Inhalt

Kobold

Lydia R. Noir

Amore dell'arte oder Die Kunst der Liebe

Annika Baumgart

Kammerspiel

Tanja Meurer

14 von 10

Katharina Lucas

Göttlicher Bund

Kaj Iden

jinrui no zetsumetsu

Katherina Ushachov

Keine Romeo-und-Julia-Nummer

Jay Blue-Corax

Ein neuer Freund

Juliane Seidel

Die Signaltechniken der Römer

Judith Wolfertstetter

Rüdiger und der Rote Panda

Gregor Jungheim

Ein ganz anderes Märchen

Marcus R. Gilman

Das Verhör

Jens Gehres

Nur nicht heute.

Carmilla DeWinter

Gesucht. Gefunden.

DasTenna

Mystell

skalabyrinth

Wasser schweigt

Finn A. Pieber

Das Herz einer Sirene

Annina Anderhalden

Wenn die Welt schweigt

Nayina

In Ordnung

Morning Dew

Nachwort

InSpektren

Content Notices – Inhaltshinweise

Glossar

Die Mitwirkenden

Dank

Kobold

LYDIA R. NOIR

Leises, regelmäßiges Klackern, beruhigend und einlullend. Dazu das leichte Schwanken des Wagons. Draußen zieht die flache, von einzelnen Bäumen und ausgedehnten Feldern gesäumte Landschaft vorbei. Keine Eile oder Hektik der Großstadt ist zu spüren. Alles fällt von mir ab und bleibt auf der Strecke liegen. Ja, ich liebe es, mit dem Bummelzug zu fahren. Besonders, weil ich endlich meinen kleinen, wilden Kobold wiedersehen darf.

Schwankend hält der Zug am Bahnsteig an. Moos und allerlei Kräuter bedecken das Pflaster und das Wartehäuschen wird von Efeu überwuchert. Das lauteste Geräusch neben meinem eigenen Herzschlag und dem Vogelgesang ist das Konzert der Grillen, die die erste und mindestens auch die zweite Geige spielen. Ich strecke mich einmal kräftig und sauge die frische, würzige Luft in meine Lungen ein. Ein kräftiges Gähnen entfährt mir. Plötzlich durchbricht ein scharfes »Hände hoch! Das ist ein Überfall!« die Stille.

Ich erschrecke mich halb zu Tode, lasse reflexartig meine Reisetasche fallen und hebe meine Arme gehorsam nach oben. Bis mir gewahr wird, dass ich dieses leicht kratzige, hohe Lachen kenne. Schmunzelnd tritt Kobold hinter dem bewachsenen Wartehäuschen hervor.

»Du hättest gerade dein Gesicht sehen sollen, Rieke. Einfach nur herrlich.«

»Haha, sehr witzig. Irgendwann bekomme ich wegen dir noch mal einen Herzinfarkt.« Ich stöhne dabei möglichst theatralisch, worauf Kobold mit nur noch mehr Gelächter reagiert. Wirklich böse kann ich dem kleinen, zierlichen Geschöpf mit den kurzen, kupferroten Haaren nicht sein, die mal wieder wild und wirr in alle Richtungen abstehen. Letztendlich lasse ich mich von dem Lachen anstecken und wir fallen uns gegenseitig in die Arme.

Nach unserer Begrüßung löst Kobold sich von mir. »Lasst mich mal eben unser edles Reittier holen, welches uns zum hochherrschaftlichen Schloss geleiten wird.«

Ich steige lächelnd in die Szene ein, die Kobold mir bietet, knickse ganz höfisch und antworte: »Wie großmütig von Euch, mich mit Eurem edlen Ross abzuholen.«

Während Kobold das alte Fahrrad hinter dem Wartehäuschen hervorzieht und meine Entgegnung mit eben jenem verschmitzten Kobold-Lächeln quittiert, das gefühlt alle Sommersprossen im blassen Gesicht zum Leuchten bringt, braut sich unter dem wirren roten Schopf schon der nächste Satz zusammen.

»Hochgeschätzte Rieke, ich muss Euch leider gestehen, dass unterwegs mein edler Schimmel den Dienst verweigerte und ich diesen an der Tränke beim Wirtshaus zurücklassen musste. Ich konnte unter größter Mühe diesen Drahtesel organisieren, welchen ich möglichst komfortabel satteln ließ.«

Grinsend weist Kobold auf die Decke, die auf dem Gepäckträger klemmt. Ich muss lachen, hänge mir dabei die Reisetasche wie einen Rucksack auf den Rücken, setze mich auf den Gepäckträger und umschlinge Kobolds schmale Taille mit meinen Armen, um mich festzuhalten.

Holpernd fahren wir zuerst den Trampelpfad und später die alte, von zahlreichen Schlaglöchern gesäumte Straße zum Dorf entlang. Unterwegs träume ich ein wenig vor mich hin. In Kobolds Nähe ist das Entfliehen vor der Realität so einfach. Ich habe immer das Gefühl, der nächste Feenkreis ist nicht fern und nur ein Lächeln trennt uns von Tír na nÓg in der Anderswelt.

Plötzlich unterbricht Kobold meine Gedanken: »Rieke, ich fürchte, auch der holde Drahtesel bockt.«

Wir halten an, stiegen vom Rad ab und stellen fest, dass das Hinterrad einen Platten hat.

»Hm. Mein wunderschöner und kluger Kobold, ich denke, das ist ein Fall für die Haus- und Hufschmiede. Da werden wir wohl geschwinden Fußes und nicht mehr hoch zu Pferde weiterziehen müssen.«

»Ich schätze Euren Scharfsinn, o teure Rieke. Wohlan, lasset uns schnellen Schrittes der heimatlichen Festung entgegeneilen und hoffen, dass uns keine Wesen begegnen, die Böses im Sinne haben.«

»Wehe uns! Gibt es denn in dieser Gegend boshafte Gestalten? Ich hielt Eure Residenz immer für ruhige Lande.«

»Oh, als eine Person unter den einflussreichsten Kobolden ist mir so manch eine Geschichte bekannt. Ich möchte dabei aber nicht Euer Gemüt beunruhigen.«

»Nein, wohlan, ich muss doch wissen, vor welchen Gefahren ich mich wappnen sollte. So sprecht doch!«

So beginnt Kobold, eine märchenhafte Welt um uns zu spinnen, unterdessen wir dem Lauf der alten Landstraße folgen, die als einzige immer schon das Dorf mit dem abgelegenen Bahnsteig verband.

In den Erzählungen verbergen sich unter den größten Steinen Gnome, im Schatten der Bäume wispern leise die winzigen Pixies und im Wind leben die verschiedensten Luftgeister.

Über eine Gestalt weiß Kobold mit besonderer Hingabe zu berichten: »Hast du schon einmal von den Gancanaghs gehört? Dabei handelt es sich um eine meist männliche gelesene, menschengroße Fee, die in der irischen Mythologie dafür bekannt ist, Menschen aller Gender, vornehmlich aber junge, weiblich gelesene, wie uns, zu verführen.«

»So? Das ist mir neu. Die verführen also vorzugsweise Teenager?«

»Ja, und junge Erwachsene. Das Schlimme ist, dass sie besonders nett, hilfsbereit und zuvorkommend wirken, die Menschen dann aber in die Wälder locken und ins Verderben stürzen.«

»Und was ist zu tun, wenn ich einem Gancanagh gegenüberstehe?«

»Na, du rufst mich! Ich, meines Zeichens eine mächtige Persönlichkeit unter den Kobolden, gehöre zufällig auch dem Orden des schwarzen Ringes an, dessen Mitglieder allesamt immun gegen die betörende Magie der Gancanaghs sind.«

Schmunzelnd erwidere ich: »Da bin ich froh, mit einem so großartigen Kobold befreundet zu sein. Aber sagt an, hochwohlgeborenes Ordensmitglied, wo ist denn Euer schwarzer Ring, wenn Ihr zu dieser Kongregation gehören wollt?«

In diesem Moment wirkt Kobold zum ersten Mal seit Langen etwas verlegen auf mich.

»Nun ja, ähm, verehrte Rieke, bevor ich diesen bekomme, muss ich erst meinen Mut beweisen und mich offiziell zur Gemeinschaft bekennen.«

»So? Dann macht das doch.«

»Ach, wenn das nur so einfach wäre ...«, sagt mein kleiner Kobold, mehr zu sich selbst als zu mir, und wirkt dabei fast zerbrechlich.

Ich will nachhaken und fragen, was los sei, denn ich vermute die Angelegenheit mehr hier als in Tír na nÓg. Allerdings habe ich auch das Gefühl, dass mein Kobold noch nicht ganz bereit ist, über das Thema zu reden. Somit stimme ich in das nachdenkliche Schweigen ein. Es sind auch nur noch ein paar Meter bis zum Dorf und Kobolds Elternhaus.

Am Abend werden wir zum gemeinsamen Essen gerufen. Kobold meint, ich solle schon mal vorgehen, und murmelt etwas von einer Überraschung. Neugierig, wie ich bin, kann ich es kaum erwarten, werde aber aus dem Zimmer gescheucht.

Ich gehe also die knacksende Treppe runter ins Esszimmer und setze mich an den alten Bauerntisch. Diese in die Jahre gekommene Küche hat auch etwas Zeitloses mit den massiven Balken, die die Decke stützen, und dem eher alt-bäuerlichen Mobiliar. In der Großstadt, aus der ich komme, würden die Leute wohl »Vintage« dazu sagen. Sogar der Gasherd ist museumsverdächtig, funktioniert allerdings einwandfrei. Das Einzige, das nicht so recht hineinpasst, ist der brummende Kühlschrank. Aber hey, sind es nicht oft die Dinge, die nicht ganz passend scheinen, die dem Gesamtbild das gewisse Etwas verleihen?

»Bentje, wie siehst du denn nur wieder aus?«

Ich drehe mich zur Treppe um. Mein kleiner, gewitzter Kobold schwebt in einem sehr außergewöhnlichen Outfit die Stufen herunter. Kobold trägt eine Art schräg abgeschnittenes Fischemetzminikleid über jeansblauen, ausgeblichenen Hotpants und einem schwarzen Bandeau-Top unter dem löchrigen Gewand. Veredelt wird das Kunstwerk mit verschiedenen Tüchern und Bändern an Armen, Beinen und in den Haaren. Beim Näherkommen sehe ich, dass von der rechten Hüfte schräg oberhalb des Bauchnabels bis kurz vor der linken Brust ein schwarzer, rechteckiger Flicken an das Netz angenäht ist. Auf diesem Stoffstück steht, in Kobolds eigener, leicht krakliger Schrift: »100% pirate«.

Ich muss schmunzeln. Jeder andere Mensch hätte in diesem Aufzug albern ausgesehen. Nicht so Bentje, mein kleiner, frecher Kobold. Elbengleich lässt Kobold sich auf dem freien Stuhl neben mir nieder.

»Bentje, was soll denn dieser Aufzug wieder?«, tönt Anniek mit der mir so vertrauten sonoren Alt-Stimme.

»Lass doch gut sein. Wir wollen jetzt das wunderbare Mahl, das du uns bereitet hast, genießen und dem Herrn dafür danken«, entgegnet Jonte beschwichtigend im tiefen Bassklang.

Gehorsam falte auch ich die Hände und brumme das Vaterunser mit, das hier vor jedem Essen noch gang und gäbe ist. Ich esse still, aber aufmerksam meine Mahlzeit und folge dem Gespräch der anderen drei am Tisch.

Anniek hält das Schweigen nach dem Gebet nicht lange aus und setzt erneut dazu an, Kobold darüber zu belehren, wie man sich sittlich kleidet: »Bentje, mein Spatz, ich weiß, dass du dich sehr für Klamotten begeisterst und gerne auch selbst entwirfst und nähst, aber, Liebes, das geht doch nun wirklich etwas zu weit. Du hast ja fast nichts an. Was sollen denn die Leute denken? So kannst du mir nicht auf die Straße gehen!«

»Warum?« Kobold fuchtelt mit erhobener Gabel. »Lass sie doch reden! Alle gesellschaftlich relevanten Körperteile sind abgedeckt und damit bin ich ausreichend bekleidet. Was andere Menschen darin sehen wollen, kümmert mich nicht.«

»Aber Kind, das geht doch nicht! Jonte, sag doch auch mal was!«

Jonte brummt: »Ich kann nicht sagen, dass ich begeistert bin von deiner Kleidung, Bentje, aber es stimmt, alle wesentlichen Stellen sind abgedeckt. Und Anniek, wir waren doch auch mal jung. Weißt du noch, wie wir uns den alten VW-Bus meiner Eltern geliehen hatten für unseren ersten gemeinsamen Urlaub? Du trugst da dieses grün-karierte, viel zu kurze Kleid und ...«

Anniek wird plötzlich ganz rot im Gesicht und unterbricht verlegen die beginnende Story: »Ach Gott, Jonte, bitte nicht jetzt diese Geschichte vor den Kindern.«

Kobold und ich grinsen uns in dem Wissen über den Tisch hinweg an, dass das Outfit-Thema beendet sein dürfte.

Nach dem Abendessen gehen wir noch etwas an die frische Luft. Draußen ist es inzwischen dunkel geworden und ich liebe den Himmel über dem Dorf, der so viel reicher mit funkelnden Sternen bestückt ist als der über meiner Heimat.

»Sag mal, Kobold, war das vorhin Absicht? Wolltest du unbedingt deine Eltern provozieren? Und mal ehrlich, ist dir nicht kalt in diesem Aufzug?«, frage ich stimrunzelnd, während wir auf einen Feldweg zusteuern, der uns aus dem Dorf führen wird.

Kobold lächelt verschmitzt. »Na ja, ich hatte das schon vor einer Weile entworfen und genäht und wollte es dir gerne zeigen.«

»Okay, und warum dann unbedingt beim Abendessen?«

»Weil ich es einfach wollte und ich in deiner Anwesenheit mutiger bin. Außerdem war klar, dass meine Eltern gemäßigter reagieren, wenn du dabei bist.« Kobold seufzt. »Weißt du, manchmal beneide ich dich darum, dass du in der Großstadt lebst. Da ist viel mehr los und es ist einfach bunter. Dort ist nicht alles so gezwungen und verklemmt wie hier.«

Während Kobold das sagt, geht der Blick des zierlichen Menschen neben mir in die Ferne.

»Hm, und ich würde gerne manchmal auf dem Land leben und die Ruhe und den unbeschreiblich schönen Nachthimmel genießen. Mir ist der Trubel manchmal echt zu viel.«

Kobold schenkt mir ein schiefes Lächeln. »Wir wollen wohl immer genau das, was wir im Moment für unerreichbar halten.«

Ich gehe auf Kobolds Feststellung nicht ein, weil ich etwas entdecke, was in mir eine Idee aufkeimen lässt.

»Hey, wenn du das städtische Leben so liebst, könnten wir doch etwas machen, was typisch Stadtkind ist.«

Ich weise dabei strahlend auf ein Plakat, das an einem Zaun angebracht ist. Durch das Licht der letzten Straßenlaterne vor dem Feldweg kann ich es noch deutlich erkennen. Kobold rückt näher zu mir, um es auch zu betrachten. »Partyfieber auf dem Gutshof«, ist da zu lesen. Unter der Überschrift steht, dass es einen Dresscode gibt, der das Thema »Sommernachtstraum« vorschreibt. Die Veranstaltung soll am kommenden Samstag im Nachbarort stattfinden. Was gut passt, da ich erst Sonntag gegen Mittag abreisen will.

»Da gehen wir hin. Ein Party-Abend, mehr Stadt-Feeling geht auf dem Land nicht, und mit deinem Outfit gerade bist du schon top angezogen, und wer weiß ...«, sage ich neckend, »vielleicht lernen wir beide sogar ein paar nette Typen kennen.«

Ich male mir den Abend schon vor meinem inneren Auge aus. Das ist genau das Richtige, und vielleicht finden wir da auch endlich einen potenziellen Partnermenschen für Bentje. Denn in Sachen Liebe und Sex hat Kobold noch null Erfahrung, was wir unbedingt ändern müssen.

Während ich so vor mich hin philosophiere, kratzt sich Kobold am Arm und setzt zum Sprechen an. »Ahm, also weißt du, ich tanze und feiere eigentlich nicht so gerne und ...«

»Was?«, schreie ich verwundert auf. »Seit wann denn das? Das können wir uns doch nicht entgehen lassen. Wir gehen da hin!«, verkünde ich in einem Tonfall, der keine Widerworte zulässt.

Statt mir zu widersprechen, zeigt Kobold Richtung Perseiden am Himmel und sagt: »Da schau, eine Sternschnuppe.« Ich blicke gerade rechtzeitig hin. »Hast du sie noch gesehen?«

Ich nicke.

»Cool, dann können wir uns jetzt beide etwas wünschen«, sagt Kobold mit einem zauberhaften Lächeln.

Mir ist grade durchaus bewusst, dass Kobold hier ablenkt und über das Thema, aus einem mir unbekannten Grund, nicht sprechen will. Ich nehme mir aber trotzdem vor, die nächsten Tage weiter darauf hinzuarbeiten.

In Ermangelung einer vortrefflichen Hofschmiede machen Kobold und ich uns nach dem Frühstück daran, das holde Ross von und zu Drahtesel neu zu besohlen, um es anschließend zusammen mit einem alten Fahrradanhänger als Lastentier gebrauchen zu können. Denn wir haben von Anniek und Jonte den Auftrag erhalten, Sommerrot-Äpfel von der Streuobstwiese zu ernten. Dafür bekommen wir von Jonte das extrem gute und wahnsinnig teure Teleskop für den Meteorschauer aus Richtung der Perseiden geliehen und Anniek sichert uns einen Nachmittag beziehungsweise einen Abend am Meer zu, plus einen wunderbaren Apfelkuchen. Diese Angebote können wir absolut nicht ausschlagen. Nachdem ich jetzt allerdings sehe, um welch einen Berg von Früchten es sich handelt, bin ich mir nicht mehr sicher, ob wir nicht noch etwas länger hätten feilschen sollen.

Wir beginnen damit, Fallobst aufzusammeln, bevor wir uns den prallvollen Ästen widmen. Ich denke indessen schon darüber nach, was mich zuerst umbringen wird – die Langeweile, die Hitze oder mein Rücken, der nichts mehr gewohnt zu sein scheint –, als Kobold auf einmal die magischen Worte »Lass uns so tun, als ob wir ...« ausspricht. In diesem Moment passieren wir schon einen imaginären Feenkreis und sind auf direktem Weg in die verzauberten Reiche der Anderswelt.

»... mit unserem Schiff nach langer Reise durch unwirtliche Welten, dunstige, mystische Nebelschwaden und zahlreichen Gefahren an den Ufern der heiligen Insel Avalon gestrandet sind, welche von magischen Apfelplantagen nur so gesäumt ist. Es herrscht ewiger Sommer, wunderbare Düfte liegen in der Luft und von überall her klingen zauberhafte Melodien. Es wird gesagt, dass dieser sagenumwobene Ort von weiblich gelesenen Feenwesen bewohnt und geschützt wird. Nur Eingeweihte kennen den Weg, wir aber haben uns eingeschlichen. Noch wurden wir nicht entdeckt und das sollte besser auch so bleiben, wenn wir möglichst viele Apfel sicher mit nach Hause nehmen wollen.«

Verdutzt schaue ich in Kobolds verschmitztes Gesicht und frage: »O weisester Kobold unter den Geschöpfen der Anderswelt, ich verstehe nicht recht. So erkläret mir doch, warum wir die Apfelernte an Avalons Küsten heimlich und im Stillen vollziehen müssen!«

»Weil, o huldvolle Rieke, diese Äpfel von unschätzbarem Wert sind. Jedes Wesen, welches von ihrem süßen Fleisch nascht, kann unschätzbare Weisheit erlangen, und sie werden niemals kleiner, sodass jedes Geschöpf sich ein Leben lang von einer einzelnen Frucht ernähren kann.«

»Das ist in der Tat wunderbar, das müssen wir mit der Welt teilen.«

»Aber nein, Rieke, den Ort müssen wir geheim halten und nur so viel des kostbaren Obstes nehmen, wie unser drahtiges Boot tragen kann. Denn seht, es hat uns die Segel davon gerissen.«

Ich blicke schmunzelnd auf unser mit Beuteln voller Äpfel beladenes Gefährt samt Anhänger, und spreche, indes ich auf den Lenker weise: »Mein höchst geschätzter Kobold, könnten wir nicht auch noch ein paar Leinensäcke an der Rahe befestigen, wo wir doch ohnehin zur Muskelarbeit gezwungen sind?«

»Eine höchst findige Idee ...«

Ein plötzliches Knacken im Unterholz unterbricht unsere Überlegungen.

»Still!«, flüstert Kobold mir ins Ohr.

Wir ducken uns hinter einen Baum. Unsere Herzen schlagen höher, als wir weitere Knackgeräusche vernehmen, die sich immer mehr wie Schritte anhören und in unsere Richtung kommen. Haben uns etwa die Feenwesen entdeckt und sind uns auf den Fersen? Was wird passieren? Nehmen sie uns den eigenen Willen, von hier zu fliehen, und halten uns auf diese Weise auf Avalon gefangen, oder kann uns vielleicht Kobold, als Mitglied dieses geheimen schwarz beringten Ordens, vor jeglicher mentalen Beeinflussung bewahren? Mein Herz schlägt höher, mit jedem Zentimeter, den sich die unsichtbaren Füße nähern.

Jäh verdunkelt sich vor uns das Licht, wir sind entdeckt worden. Ich blicke langsam vom Boden auf, um der unbekannten Bedrohung ins Gesicht zu sehen.

Zu meiner Überraschung vernehme ich eine eher ruhige Stimme, die tiefer klingt als erwartet.

»Was macht ihr denn da hinter dem Baum? Verstecken spielen?«

Vor uns steht eine Person, die ich ohne Gender-Hinweis männlich lesen würde. Haselnussbraune Augen blicken uns aus einem für meinen Geschmack sehr attraktiven, von dunklen Locken umrandeten Gesicht fragend an.

Ich richte mich auf, klopfe meine Hose ab, kann vor Verlegenheit der Person nicht in die Augen sehen und fange daher scheu an, mit meinen Haarsträhnen rumzuspielen.

Kobold ist schneller aufgestanden als ich und sagt gradeheraus: »Hallo, Roan, erstmal einen schönen guten Tag. Genaugenommen sammeln wir Äpfel. Das ist, soweit ich weiß, hier nicht verboten.«

»Nee, ist es nicht. Es sah nur gerade irgendwie anders aus. Als versuchtet ihr, euch beide hinter diesem Bäumchen zu verstecken.«

Roan kratzt sich etwas verlegen am stoppeligen Kinn und betrachtet auch mich dabei. Niemand rührt sich, bis Kobold das peinliche Schweigen bricht.

»Komm, Rieke, ich denke, wir haben genug Apfel, lass uns gehen.«

Als wir uns gerade zum Gehen wenden, findet der braunäugige Lockenkopf doch noch seine Sprache wieder.

»Ahm, Bentje und äh, Rieke, kommt ihr beiden am Samstagabend auch zur Party im Gutshof?«

Ich drehe mich um, blicke in das hübsche Gesicht und lasse mich sofort widerstandslos von dem Strahlen gefangen nehmen. Bevor ich allerdings ein »Ja« hauchen kann, ruft Kobold: »Nee, lass mal, auf so'n Verkleidungskram, peinliche, viel zu laute Schlager und das Rumgemache fahren wir nicht ab, das ist nur was für Deppen.« Dabei gestikuliert Bentje ziemlich abfällig.

»Bentje Anderson, du hast echt 'nen Schaden«, entgegnet Roan gekränkt und stapft sichtlich verärgert davon.

Entgeistert blicke ich zwischen dem sich immer weiter entfernenden Roan und Bentje hin und her.

Kobold guckt mich an. »Was? Rieke, sei froh, dass du grade keinen Spiegel zu Hand hattest. Ihr habt euch echt angeguckt wie zwei bekiffte Schafe. Sei glücklich, dass es sich nicht um einen Gancanagh handelte.«

Sichtlich genervt packt Kobold zusammen. Ich überlege, was bloß los sein könnte mit Bentje. So widerborstig kenne ich meinen kleinen, frechen Kobold eigentlich nicht. Der Sache muss ich definitiv nachgehen!

Und das letzte Wort zum Partyabend ist auch noch nicht gesprochen.

Nach unserer Apfelernte vergehen die nächsten Tage wie im Flug. Die Highlights sind natürlich Annieks unvergleichlicher Apfelkuchen und eine wunderbare Nacht voller Sternschnuppen, die durch Jontes Profi-Teleskop um einiges beeindruckender anzusehen sind. Und jetzt folgt noch der Ausflug ans Meer. Yeah!

Es ist ein sonniger Nachmittag, Kobold und ich schleppen gerade unsere viel zu vollgestopfte Strandtasche zum Auto.

»Meine Güte, plant ihr einen Umzug, dass ihr so viel Zeug braucht?«, witzelt Anniek herum.

»Wir wollen nur auf alle Eventualitäten vorbereitet sein«, antworte ich mit Unschuldsmiene, während Kobold breit grinsend ergänzt: »Ja, neben Sachen für Badespaß haben wir auch noch Zeugs zur Abwehr einer nahenden Zombieapokalypse, gegen menschenfressende Tigerhaie oder ein paar Aliens dabei, die den Planeten übernehmen wollen.«

Anniek schüttelt schmunzelnd den Kopf, schließt den Kofferraum hinter unserer Tasche und bedeutet uns einzusteigen.

Auf der Fahrt grölen wir lautstark, zusammen mit Kobolds Eltern, alte Schlagerkamellen mit – so viel dazu, dass Kobold solche Musik peinlich findet – und am Strand haben wir richtig Glück, dass wir trotz des guten Wetters ein schönes Plätzchen für unsere Decken ergattern. Ich genieße die Seeluft, lasse Sand zwischen meinen Fingern zerrinnen und einfach alle Fünfe grade sein. Bald darauf rennen Kobold und ich ins Wasser und planschen herum, bis es wieder Zeit für eine der mystischen, koboldtypischen Erzählungen ist. Diese handelt von den Each Uisgeachan, die gestaltenwandelnde Wesen sein sollen, welche an Küsten zu finden sind.

Kobold macht eine salbungsvolle Geste und bedeutet mir schweigend den Ausführungen zu folgen, während wir einen Snack zu uns nehmen. Auch Anniek und Jonte gesellen sich zu uns. Sie sind schon immer große Fans von Kobolds Geschichten gewesen.

»Ein Each Uisge tritt meist in Form eines weißen wunderschönen Pferdes oder Ponys in der Nähe von Stränden auf. In seltenen Fällen erscheinen diese Kreaturen auch als riesige Vögel oder gutaussehende junge männlich gelesene Menschen, um ihre Opfer in die Falle zu locken. In der häufigsten, pferdeähnlichen Gestalt hat ein ahnungsloser Mensch, welcher sich zu einem Ritt eines dieser majestätischen Tiere verleiten lässt, schon verloren, da es eine klebrige Substanz auf seinen Rücken absondert, die ein Absteigen oder Abspringen verhindert. Es wird mit der reitenden Person das Wasser aufsuchen und seine Beute an einer tiefen Stelle ertränken und fast vollständig verspeisen. Nur die Leber des unglücklichen Opfers wird, als einziges Zeugnis des Verschwindens, übrig bleiben.«

Bevor Kobold mit der Story fortfahren kann, ruft Anniek empört: »O Gott, stopp, Bentje! Wo hast du denn diese Horrorgeschichte schon wieder ausgegraben? Das ist ja grausig.«

Achselzuckend antwortet Kobold: »Dabei handelt es sich um eine schottische und gälische Sagengestalt, die im Zusammenhang mit dem Anderswelt-Mythos steht, also Geschichten um das sagenumwobene Land Tír na nÓg und Co.«

»Das sind fürchterliche Erzählungen, die du da kennst!«

»Wieso? Die Märchen der Gebrüder Grimm und weitere Märchensammlungen sind im Original auch nicht besser. Vor allem enthalten diese auch vermehrt sexualisierte Gewalt und Ähnliches. Ich mag halt die Mythen um die Anderswelt und ihre Bewohner. Ich komme mir in diesem Universum ja selbst oft vor, als stamme ich eher von dort, weil ich hier nicht wirklich reinzupassen scheine ...« Den letzten Satz flüstert Kobold, kaum mehr hörbar, zu sich selbst, steht auf und geht wieder Richtung Meer. Jonte und Anniek scheinen ihn nicht wahrgenommen zu haben, aber bei mir kam er an und löst einen Nachhall in meinem Kopf aus. Nach und nach fügt er sich mit den anderen Informationsfragmenten der letzten Tage zu einer vagen Ahnung zusammen. Es ist noch unscharf und nicht ganz greifbar, wie ein Wort, das einem auf der Zunge liegt, aber nicht gesprochen werden will.

Gegen Abend, als sich die Sonne dem Horizont schleichend annähert, machen wir uns ein kleines Feuer am Strand, in dessen Glut wir Kartoffeln legen und an langen Ästen unser Stockbrot ausbacken. Jetzt sind es Jonte und Anniek, die ins Reden kommen. Sie erzählen Bentje und mir, zum gefühlt tausendsten Mal, wie sie meine Eltern kennenlernten. Kobold und ich lieben diese Geschichten, auch wenn wir sie mittlerweile so gut kennen, als hätten wir sie selbst erlebt. Zusammen mit Kobold in eine große Decke gekuschelt, beim Knistern und Knacken im warmen Feuerschein, bekommt der Moment nochmal eine ganz besondere Würze.

»O ja, wir machten eine Skandinavien-Kreuzfahrt, als wir deine Eltern kennenlernten, Rieke«, beginnt Anniek in Erinnerungen zu schwelgen.

Jonte fügt grinsend hinzu: »Ja, und das Besondere war, dass Thorben und ich in der gleichen Situation waren. Jeder von uns zweien reiste mit einer schwangeren Frau und deren Launen im Gepäck.«

»Hey, beschwere dich nicht. Lilja und ich hatten schließlich die ganze Arbeit, unsere zwei Wunder hier auf die Welt zu bringen.«

»Du hast recht«, sagt Jonte liebevoll und haucht dabei Anniek einen Kuss auf die Wange. Was mich total verzückt, Kobold allerdings nur mit einem leisen, genervten Stöhnen und vermutlich auch mit Augenrollen quittiert.

Die Geschichte geht weiter wie immer. Wegen der Schwangerschaften kamen die Andersons und meine Eltern ins Gespräch. Sie waren die einzigen Paare mit sich anbahnendem Nachwuchs auf dem Schiff und hatten daher ähnliche Themen auf der Reise. Allerdings verloren sie sich nach der Fahrt wieder aus den Augen, trotz des Versprechens, Kontakt zu halten. Ein paar Monate später begegneten sie sich allerdings im Kreißsaal wieder. Das war für beide Familien ein glücklicher Umstand, da Anniek und Lilja sich gegenseitig Mut machen konnten, und auch Jonte und Thorben half der Kontakt, die Geburten nervlich durchzustehen.

Fun fact: Ich bin offiziell einen Tag älter als Kobold, da ich drei Minuten vor Mitternacht und Bentje sieben Minuten danach zur Welt kam. Also, effektiv liegen wir nur zehn Minuten auseinander, was selbst das gestresste Klinikpersonal zum Scherzen brachte und alle meinten, dass wir quasi Zwillinge sind. Trotz dieser kurzen, aber intensiven gemeinsamen Zeit schlief der Kontakt unserer Eltern wieder ein. Bis sie sich auf einer Irland-Kreuzfahrt wieder begegneten. Bentje und ich waren damals beide drei Jahre alt und verstanden uns prima.

Nach einem Räuspern setzt Jonte an dieser Stelle seine Erzählung fort.

»Da sahen wir plötzlich, nach knapp drei Jahren, zwei bekannte Gesichter an Deck. Lilja und Thorben mit ihrem kleinen Steppke. Und Rieke, als du Bentje sahst, bist du uns entgegengerannt und hast Bentje mit großen Augen angeschaut, breit gegrinst, um darauf laut und freudig auszurufen: >Ich habe einen Kobold gefunden und wir sind jetzt befreundet!< Nicht nur wir, sondern alle Personen in der Nähe mussten lachen. Tja, und da war es endgültig beschlossen, dass unsere Familien zusammengehören.« Wie immer werde ich ein klein wenig rot an der Stelle, muss dabei aber genauso herzhaft lachen wie Kobold, Anniek und Jonte. Zugegeben sah Bentje damals mit den Sommersprossen und kupferroten Schopf wirklich wie meinem Kinderbuch mit Koboldgeschichten entsprungen aus.

Als der Samstag mit unserem Partyabend näher rückt, mache ich des Morgens Nägel mit Köpfen und fragte Jonte, ob er uns am Abend zum Gutshof im Nachbardorf bringen und abholen könnte. Kobold ist gerade draußen beschäftigt und kann daher nicht protestieren.

Jonte hat nichts dagegen und Anniek freut sich sehr über meine Bitte. Beide meinen, es wird Zeit, dass Kobold mal etwas erlebt, weil sie manchmal schon Sorge haben, dass Bentje, ein bis auf die bizarren Outfits und dem Hang zu mythischen Gruselstorys eher braver Teenager, etwas verpassen könnte in seinem jungen Leben, und dieses später vielleicht bereue. So vergeht der Samstag ziemlich ereignislos, bis Jonte Kobold und mich nach dem Abendessen fragt, wann wir denn gedenken aufzubrechen. Kobold hält sofort verdutzt inne.

»Wir wollen nirgendwohin aufbrechen.«

»Aber Liebes«, entgegnet Anniek. »Wir wissen doch von der Party und freuen uns, dass du mit Rieke zusammen mal ausgehst. Das Thema war doch, glaube ich, irgendwas Fantasievolles, das passt doch wunderbar. Da kannst du Rieke und dir was Schönes raussuchen. Ich freu mich schon, euch beide richtig schick gemacht zu sehen. Also los! Hopp, hopp!«

Oben im Zimmer angekommen funkelt mich Kobold wütend an.

»Ey, Rieke, ich will da wirklich nicht hin. Ich bin kein Partymensch. Wenn du unbedingt feiern willst, such dir hinten aus dem Schrank Klamotten raus. Ich mag nicht mitkommen.«

Entnervt lässt sich Kobold aufs Bett fallen und rollt sich mit einem großen Plüschdrachen in den Armen zusammen. Ich seufze geräuschvoll, bin aber noch nicht ganz bereit aufzugeben. Eilig suche ich ein Outfit für mich und auch eines für Bentje heraus.

Während ich mich umziehe, macht Bentje keine Anstalten mehr, mit mir zu reden, und liegt einfach nur wie ein kleiner zusammengerollter Igel auf dem Bett. Kobold reagiert auf meinen Hinweis nur mit einem Schulterzucken. Nachdem ich fertig umgezogen bin, einen weiteren kläglichen Überzeugungsversuch unternommen und überlegt habe, was ich mit meinen Haaren anstellen könnte, klopft es an Kobolds Zimmertür.

Es ist Anniek.

»Hey ihr beiden, ich bin ein wenig neugierig, was ihr euch rausgesucht habt.«

Bevor ich antworten kann, hat Anniek die Tür auch schon geöffnet und sieht erst mich in meinem mitternachtsblauen Elben-Gewand an. Dann gleitet der Blick weiter über das salbeigrüne Outfit, welches ich Kobold zurechtgelegt hatte, hin zum zusammengekauerten Häuflein Mensch auf dem Bett. Anniek steht die Verwunderung buchstäblich ins Gesicht geschrieben.

»Bentje, Liebes, warum bist du denn noch nicht umgezogen?«

Ein weinerliches, mehr in den Plüschdrachen genuscheltes »Will nicht!« dringt schwach an unsere Ohren.

Anniek blickt mich fragend an.

Ich kann nur mit den Schultern zucken.

»Bentje, du hast dich doch früher immer so gerne mit Rieke verkleidet. Warum denn nicht auch heute wieder? Du entwirfst und schneiderst doch immer so schöne Sachen. Es wäre doch schade, wenn diese niemand außer uns zu Gesicht bekäme.«

Zeitgleich mit der kleinen Ansprache hat Anniek das Zimmer durchquert, sich neben Kobold aufs Bett gesetzt, und angefangen, sanft über eine Wange zu streicheln. Langsam beginnt sich der zierliche Körper etwas zu entspannen. Kobold dreht sich in unsere Richtung um, sodass ich in Bentjes verheulte Augen sehen kann.

Ich frage mich, was an einer Verkleidungsparty und einem netten, flirty Tanzabend so ein großes Drama sein kann, als Anniek erneut mit einem liebevollen Lächeln zu Kobold spricht.

»So, und jetzt, mein kleiner Kobold, wisch dir die Tränen aus den Augen. Das kriegen wir mit etwas Make-up schon wieder hin. Nimm dir bitte die Sachen vom Stuhl, die dir Rieke rausgesucht hat. Du wirst sehen, wie toll ihr beide heute Abend strahlen werdet, wie zwei junge Elben.«

Wortlos steht Kobold auf, greift sich die Kleidung und geht aus dem Zimmer Richtung Bad. Ich schaue verblüfft hinterher und dann zu Anniek. Sie zuckt mit den Schultern.

»Ich weiß leider auch nicht, was genau mit Bentje ist. Seit einiger Zeit scheint das Köpfchen über irgendwas zu brüten. Ich weiß aber nicht, worüber, und möchte auch nicht nachbohren.«

Ich nicke nur als Antwort.

»So, Liebes, wenn du möchtest, kann ich dir gerne die Haare etwas machen. Du siehst wirklich zauberhaft aus, fast wie Arwen aus Der Herr der Ringe.«

Ich stehe fertig im Flur, derweil Kobold nach über einer halben Stunde noch immer nicht aus dem Badezimmer gekommen ist. An die Tür klopfend, fragte ich nach, ob ich diese bald eintreten müsse oder ob Kobold langsam mal freiwillig rauskäme. Normalerweise ist Kobold immer viel schneller als ich fertig, was mir, zusammen mit dem kurzen Drama von vorhin, schon wieder zu denken gibt.

Zögernd und widerwillig wird die Tür geöffnet und ich sehe einen kleinen, zerknirschten Kobold, der sich weder geschminkt noch umgezogen hat. Da mache ich leicht gereizt meinem Arger Luft.

»Mensch, Bentje, ich verstehe dich einfach nicht. Das könnte ein so schöner Abend werden. Vielleicht lernen wir echt coole Typen kennen, eventuell verknallst du dich auch endlich mal und hast auch bald dein erstes Mal. Ich mach mir langsam echt Sorgen, da du noch nie eine Partnerperson hattest.«

Insgeheim denke ich bei der Party auch ein wenig an Roan, für mich.

Während ich meine Rede halte, schaut Kobold trotzig auf die Wand und wirkt dabei sehr angespannt und, als Bentje schließlich das Wort ergreift, um jedes davon ringend.

»Ich will einfach nicht, okay? Warum müssen wir unbedingt zu dieser beschissenen Party gehen? Es ist unser letzter Abend, bevor du fährst. Den möchte ich nicht mit ollen Schlagern, verkleideten und komisch rummachenden Menschen verbringen.«

Jonte war bereits auf den Hof zum Auto gegangen, kommt jetzt allerdings wieder rein. »Hey, ihr zwei, wo bleibt ihr denn?«

Ich wende mich an Jonte. »Bentje ist noch nicht mal umgezogen und bockt hier rum.«

Woraufhin Kobold mir entgegenbrüllt: »Du gehst mir auf die Nerven. Ich komm nicht mit!«

Dann rennt Kobold die Treppen hoch ins eigene Zimmer. Mit lautem Knall fliegt die Tür dort ins Schloss. Ich lasse mich auf einen der Küchenstühle nieder und atme lautstark aus.

»Das Tor kann ich dann wohl wieder schließen«, meint Jonte mit einem verständnisvollen Nicken.

Statt rauszugehen, setzt sich der Bär von einem Menschen allerdings zu mir an den Tisch. Eine Weile herrscht verständnisloses Schweigen zwischen uns. Als Anniek sich zu uns gesellt, erzähle ich von Bentjes erneuten Gefühlsausbruch. So viele in so kurzer Zeit ist keiner von uns gewöhnt.

Dann steht Jonte auf und brummt: »Ich denke, wir brauchen hier jetzt einen heißen Kakao. Der hilft immer.« Während das Getränk in einem alten Milchkochtopf erhitzt wird, wechseln wir ein paar warme Worte, sodass ich mich wieder beruhigen kann und zum vernünftigeren Denken befähigt fühle. Während ich die bisherige Woche Revue passieren lasse, wird mir bewusst, dass Kobold mir immer wieder etwas zu sagen versuchte. Und um ehrlich zu sein, war ich mir die ganze Zeit darüber im Klaren, dass Kobold nicht zur Party wollte, was ich aber zu verdrängen versucht hatte, um meinen kleinen Kobold zu seinem Glück zu zwingen.

Jonte drückt mir die Kanne mit dem fertigen Kakao und zwei Becher in die Hände und sagt, dass ich diesen am besten zusammen mit Bentje trinken soll. Wir hätten das beide nötig. Ich bedanke mich und gehe die Treppe zum Zimmer hoch.

Ich finde wieder ein Häufchen Elend vor, eingerollt, das Gesicht in den Plüschdrachen vergraben. Seufzend betrete ich den Raum, stelle Kanne und Becher auf einer Kommode ab und überlege mir zeitgleich, was ich sagen könnte. Als mir nichts Sinnvolles einfällt, lasse ich mich neben Kobold auf dem Bett nieder. Nach gefühlt endlosem Schweigen entscheide ich mich, mit einer Entschuldigung zu beginnen.

Ich beginne zu sprechen, doch im gleichen Moment sagt auch Kobold: »Es tut mir leid. Ich wollte dir den Abend nicht vermiesen ...«

Wir müssen beide schmunzeln, und setzen auch noch zeitgleich ein »Bitte, du zuerst« hinterher, was uns vollends zum Kichern bringt.

»Fast wie früher«, sagt Kobold versöhnlich.

»Hey, hast du vergessen, dass wir quasi Zwillinge sind, Geschwister im Geiste, die alles miteinander teilen? Also ist das doch normal.«

»Ja, stimmt«, schmunzelt Kobold. »Aber ich denke, ich muss trotzdem versuchen, mich zu erklären.«

»Ja, ich auch. Vorher trinken wir aber erstmal den Kakao, ehe der noch ganz kalt wird.«

Kobold nickt zustimmend und ich stehe auf, um diesen zu holen.

Nach dem köstlichen Getränk komme ich zuerst ins Reden, entschuldige mich für mein Drängen und versuche Kobold meine Sorgen in Sachen Liebe und ersten sexuellen Erfahrungen zu erklären, die Kobold im Gegensatz zu mir noch gänzlich fehlen.

Kobold nickt wissend und scheint sich ein Herz zu fassen: »Rieke, weißt du, ich bin asexuell und vielleicht auch aromantisch. Jetzt ist es raus.«

Kobold atmet geräuschvoll aus, sackt etwas in sich zusammen und schaut mich erwartungsvoll an, nur um im gleichen Moment, in dem ich zurückschaue, wieder wegzugucken.

»Okay«, sage ich etwas langgezogener, als es das Wort eigentlich verlangt, um zu bestätigen, dass ich das Coming-out gerade als solches wahrgenommen habe, und um mir zugleich etwas Zeit zum Grübeln zu verschaffen. »Danke, Bentje, es bedeutet mir wirklich viel, dass du mir das anvertraust«, höre ich mich sagen und weiß, dass das nicht nur eine Floskel ist, sondern ich es auch wirklich so fühle und meine.

Kobold fängt an zu schniefen und die ersten Tränen fließen aus den honigfarbenen Augen. Ich rutsche näher zu Kobold heran und nehme mein kleines Zauberwesen in die Arme. Nachdem Kobold sich langsam beruhigt hat, werde ich aus zwei vom Weinen geröteten Augen angestrahlt.

»Weißt du, Rieke, du bist der erste Mensch, dem ich das anvertraut habe. Ich hatte mich davor gefürchtet, was du von mir denken könntest, wenn ich dir meine Sexualität und mögliche romantische Orientierung gestehe. Da war so ein ambivalentes Gefühl in mir. Einerseits wollte ich es unbedingt sagen, andererseits hatte ich Angst davor.«

Wir reden gemeinsam den ganzen Abend darüber, was Asexualtität und Aromantik bedeuten, und Kobold erklärt mir, dass es sich bei beiden um Spektren handelt, es verschiedene Erklärungsmodelle, wie das Split Attraction Model, gibt, dass es Unterschiede in den Einstellungen und den Gefühlen zur Teilhabe an sexuellen und romantischen Handlungen gibt, und über vieles mehr. Eine spannende und mir bisher unbekannte neue Welt tut sich da vor mir auf.

»Kobold, eine Erklärung bist du mir aber noch schuldig. Was hat es denn mit dem Orden des schwarzen Rings auf sich, von dem du in einigen deiner Geschichten sprichst?«

Bentje kichert. »Stimmt, das habe ich jetzt so oft angeteasert, dass ich das jetzt noch erklären sollte. Aces, so bezeichnen sich viele Menschen auf dem asexuellen Spektrum, tragen gerne einen schwarzen Ring am rechten Mittelfinger als Symbol der Verbundenheit untereinander und als dezentes Erkennungsmerkmal. Ich selbst habe mir noch keinen geholt.«

Ich richte mich auf und versuche, mich möglichst huldvoll zu geben, während ich folgende Worte spreche: »Nun, hochgeschätzter und äußerst mutiger Kobold! Wie mir scheint, haben Sie sich des Ordens des schwarzen Ringes durch Ihren Mut und Ihr Vertrauen als würdig erwiesen. Daher heiße ich Sie herzlich willkommen und würde Ihnen gerne einen schwarzen Ring überreichen, wenn Sie das nächste Mal in meinen Gefilden unterwegs sind.«

Kobold quiekt vergnügt auf. »Echt? Du möchtest mir einen Ace-Ring schenken?«

»Na, klar! Den hast du dir jetzt auch echt verdient.«

Kobold drückt mich darauf überglücklich an sich. Beseelt und trunken vor Freude reden wir noch bis in die frühen Morgenstunden hinein miteinander. Irgendwann aber werden wir doch vom Schlaf übermannt.

Tja, und nun ist der Tag meiner Abreise gekommen, an dem ich Kobold samt unserem gemeinsamen Zauberland verlassen muss.

Wir reden auf dem Weg zum Gleis die ganze Zeit über alles Mögliche, um uns von dem bevorstehenden Abschied abzulenken. Aber es hilft alles nichts, wenn der Zug einfährt und dem Ganzen wie eine eiserne Schranke ein Ende setzt.

Wir drücken uns noch einmal. Kobold verspricht mir, in den nächsten Ferien zu mir zu kommen. Und ich, dass wir gemeinsam einen schwarzen Ring kaufen werden. So fließen ein paar Abschiedstränen und das leise, regelmäßige Klackern des Zuges, das beruhigend und einschläfernd auf mich wirkt, zusammen mit meinen Gedanken darüber, wie viel bunter die Welt, die Menschen und ihre Anziehungen untereinander eigentlich sind.

Amore dell'arte oder Die Kunst der Liebe

ANNIKA BAUMGART

Verona, 3. September 1586

»Kann ich dich kurz sprechen, Flavio?«

Der hochgewachsene Mann dreht sich zu ihr um, einen Stapel Unterlagen unter dem Arm. Vermutlich die Notizen der letzten Probe.

»Ah, buon giorno, Isabella! Kurz, ja? Ich habe gleich einen Termin mit dem Schatzmeister. Wie kann ich dir helfen?«

Noch während in Isabella Zweifel aufkommen, ob sie ihren Kollegen wirklich jetzt damit belästigen muss, hört sie sich antworten: »Ich habe nachgedacht und ich möchte nicht mehr die Verliebte spielen.« Nun ist es raus. Die Nervosität vor dem Gespräch wird von Nervosität vor seiner Reaktion vertrieben, Isabella spürt es in ihren Schultern.

»Aber warum denn nicht? Du bist die beste Schauspielerin für diese Rolle. Unsere Truppe ist landesweit dafür bekannt, dass du die Isabella spielst.« Sein Ton ist sachlich, nicht vorwurfsvoll.

»Ich weiß, ich weiß. Ich will auch nicht die Rolle oder gar das Spielen aufgeben, keine Sorge. Ich will nur ... ich weiß auch nicht, ich habe seit einiger Zeit irgendwie das Gefühl, dass mir diese Figur so furchtbar fremd ist, weißt du? Es fühlt sich nicht ganz richtig an, sie zu spielen.«

Seinem Blick kann Isabella entnehmen, dass Flavio nicht versteht. Sie kann es ihm nicht übelnehmen. Sie versteht ja selbst kaum, was sie da von sich gibt.

»Wie meinst du, die Figur ist dir fremd?« So, wie sie ihn kennt, wird er versuchen, sich in ihre Situation hineinzuversetzen – und kläglich daran scheitern. Nichtsdestotrotz will er verstehen. Isabella schätzt das sehr an ihm.

»Ach, ich weiß auch nicht so genau. Ich weiß, was sie tut und was sie tun soll, aber ich habe neulich darüber nachgedacht, ob ich das genauso machen würde und ob ich vielleicht das Gleiche fühlen würde wie sie und –«

»Du unterschreibst unsere Verträge mit dem Namen Isabella«, unterbricht er sie höflich, aber bestimmt, »die Leute haben deinen richtigen Namen längst vergessen. Du bist Isabella. Wie kann sie dir da so fremd sein, dass du sie jetzt aufgeben willst?«

»Ich will sie ja nicht aufgeben, ich ...« Isabella seufzt. Er hat recht. Seit sie auf der Bühne steht, ist sie immer die Isabella gewesen, und als solche wird sie geliebt für ihren Ausdruck, für ihr Aussehen, für ihren Gesang. Sie ist wahrlich so sehr Isabella, dass sie selbst einen Moment braucht, um sich an den Namen zu erinnern, den sie in ihrer Kindheit getragen hat. Doch unter Schichten von Textversatzstücken und Gedichten, Liedern und Tanzeinlagen, begraben unter ihrer florierenden Karriere als Schauspielerin und Vorsteherin der >Compagnia der Unbarmherzigem erinnert sie sich. Lucrezia erinnert sich.

Flavios tiefes Seufzen reißt sie aus ihren Gedanken.

»Heißt das, dass du heute Abend nicht spielst? Können wir uns das überhaupt leisten?«

»Natürlich spiele ich! Auch wenn die Kasse von den Auftritten in Venedig noch recht gut gefüllt ist, werde ich euch auf keinen Fall hängen lassen. Ich dachte nur –«

»Sollen wir ein anderes Stück spielen? Wenn du dich nicht wohl fühlst ...« Ohne wirklich auszureden, blättert er durch seine Unterlagen, ohne jedoch nach etwas Bestimmtem zu suchen oder es zu finden. Isabella schüttelt den Kopf; betet, dass er sie verstehen möge – dass sie sich verstehen möge.

»>Die zwei Dienen könnten wir zum Beispiel machen, oder >Der arme Richten. Darin kannst du kürzere Szenen spielen und es etwas ruhiger angehen. Und Tomaso freut sich bestimmt, wenn er seine neuen Lazzi direkt ausprobieren kann. Aber wir haben überall schon die >Verwirrung um die jungen Liebendem beworben ...«

»Es geht mir nicht darum, andere Stücke zu spielen«, unterbricht Isabella Flavios sprudelnde Gedanken. »Ich will einfach ... ich habe überlegt, vielleicht das Hauptaugenmerk einfach etwas mehr auf ... aber das geht bei den >jungen Liebendem natürlich nicht so gut ... ich ...«

Sie bricht ab, hat keine Ahnung, wie sie ihre Gedanken, ihre wirbelnden Gefühle in Sprache ausdrücken soll und unterstreicht die hilflose Stille mit unentschlossenen Gesten. Schau mal an, spöttelt eine Stimme in ihrem Inneren, die große Isabella Martinelli, Meisterin der sprachlichen Improvisation, geliebt für ihren Wortwitz und ihr großes literarisches Repertoire, ist sprachlos. Lass das bloß nicht die Öffentlichkeit erfahren!

»Liegt es an Marco?« fragt Flavio vorsichtig, die Stimme nun gesenkt, und schaut Isabella eindringlich aus dunklen, sorgenvollen Augen an. »Hat er dir etwas getan?«

»Was? Nein, mit Marco hat das überhaupt nichts zu tun.«

»Sonst jemand aus der Compagnia?«

Isabella schüttelt den Kopf, teils als Antwort und teils um ihre rasenden Gedanken zum Schweigen zu bringen. Warum versteht er denn nicht? Warum kann sie ihm nicht verständlich machen, was sie beschäftigt? Es ist wahrlich nicht so, dass sie das Spielen leid wäre oder ihre Truppe. Sie liebt Marco und Tomaso und Silvia und Angelica, die vor einigen Wochen neu dazugekommen ist. Sie liebt Flavio und sogar Carlo, auch wenn sie mit ihm abseits der Bühne eher wenig zu tun hat.

Es ist auch nicht ihre Rolle. Isabella genießt es jedes Mal, in den wunderschönen Kleidern der Fürstin Francesca ihr Können zu präsentieren, für ihre literarische Bildung und ihren Einfallsreichtum bewundert zu werden, für ihre Darstellungen und ihre Wortgewandtheit vom Publikum gefeiert zu werden. Sie liebt den Applaus und die Jubelrufe, sie liebt die Geschenke von Fürstinnen und die Anerkennung ihrer Mitmenschen. Aber der Kem ihrer Rolle fühlt sich seit einiger Zeit ... falsch an. Eigentlich schon immer, doch es ist ihr erst vor Kurzem aufgefallen und bewusst geworden, eines Abends in Venedig.

Dabei ist sie Isabella, in vielerlei Hinsicht. Und trotzdem kann sie sich nicht selbst in Isabellas Situationen vorstellen. In keiner der vielen, die sie seit Jahren Tag für Tag spielt. Sie ist keine Amorosa, keine Verliebte, nicht im wahren Leben. Sie ist Comica, Schauspielerin, klar. Sie ist Geschäftsfrau, sie ist Vorsteherin der >Compagnia der Unbarmherzigem und Tochter aus gutem Hause. Sie ist Autorin und Sängerin, sie ist gute Freundin der Fürstin Francesca. Sie ist stolz auf ihre Arbeit und darauf, die Mitglieder ihrer Compagnia zu ihren liebsten Menschen zählen zu können. Sie weiß, dass sie sich auf sie verlassen kann, im Spiel und im wahren Leben.

Sie weiß, was die Leute gern von ihr sehen. Sie weiß, wie sie die Innamorata, die Verliebte, darstellt; wie sie sich zu verhalten hat, was sie sagen muss, um das Publikum auf ihre Seite zu ziehen. Sie weiß, wobei die Leute am liebsten mitfiebern, wenn sie und Marco in seiner Rolle als Amoroso auf der Bühne Hindernis um Hindernis überwinden müssen, eines schier unlösbarer als das nächste, damit am Ende die Freude und Erleichterung umso schöner sein kann, wenn die Verliebten endlich zueinanderfinden und heiraten dürfen. Denn so endet es, immer, so muss es enden. Sie weiß all das. Aber sie hat immer gedacht, dass das nur auf der Bühne passiert, dass die Innamorati eine bis ins Unermessliche übertriebene Version wahrer Menschen sind, so wie die anderen Bühnenfiguren mit ihren ulkigen Gesichtsmasken und akrobatischen Lazzi auch. Das weingetränkte Gespräch mit Silvia vor ein paar Wochen in Venedig hat sie an dieser Annahme zweifeln lassen.

»Vielleicht ist es nicht so wichtig«, hört Isabella sich sagen und zwingt sich, ihren Blick auf Flavio zu fokussieren. Ihre Mundwinkel ziehen sich zu einem Lächeln, dieses liebenswerte Lächeln, für das sie von so vielen verehrt wird.

»Bist du sicher?« Flavio kennt sie. Er weiß, wann das Lächeln ein echtes ist. Sie bleibt ihm eine Antwort schuldig.

»Hör zu, ich will, dass es dir gut geht und dass du dich wohlfühlst. Wenn du spielen kannst, sehe ich derzeit kein Problem, und ich muss dringend zu meinem Termin mit dem Schatzmeister. Können wir erstmal so verbleiben, dass wir nachher spielen wie bisher? Die Leute lieben deine Isabella, und solange sie das tun, sehe ich keinen Grund, etwas daran zu ändern.«

Ganz der Geschäftsmann, grinst Isabella in sich hinein. Er hat recht. Sie muss sich zusammenreißen und vor allem an ihre Compagnia denken. Sie weiß, dass sie auf ihre Truppe vertrauen kann, aber das bedeutet auch, dass sie ihnen gegenüber die gleiche Verantwortung hat. Sie muss spielen, sie wird ihre Sache gut machen. Solange sie keine wirkliche Idee hat, die sie umsetzen kann, muss sie weitermachen wie bisher.

»Ja, lass uns so verbleiben. Ich glaube, ich bin gerade einfach etwas ... ich muss mich damit erst noch selbst ein bisschen mehr beschäftigen. Aber ich danke dir für dein offenes Ohr und für deine Unterstützung.«

»Selbstverständlich! Wenn ich irgendetwas für dich tun kann, sag jederzeit Bescheid. Wenn du später nochmal darüber reden möchtest, bin ich für dich da. Das weißt du.«

»Ja, das weiß ich. Du bist ein guter Freund.«

Irgendwo über ihnen erklingen Kirchenglocken, als Flavio sie mit einem zugleich aufmunternden und besorgten Lächeln stehen lässt und in den Trubel der Stadt entschwindet.

Mantua, 9. September 1586

Die Luft in der Stadt ist stickig, als Isabella mittags über die Piazza schlendert. Die Düfte der Essensstände hüllen sie ein und berauschen ihre Sinne. Isabella kauft einer der Marktfrauen einen Pfirsich ab und verschlingt ihn fast an Ort und Stelle. Sie versucht ihren Kopf freizubekommen, die Gedanken loszulassen und ihnen nachzuspüren, wie sie im Gedränge der Stadt an Wichtigkeit verlieren, bis sie schließlich in der Menge untergehen.

Eine Horde Kinder rennt lachend an ihr vorbei, jemand ruft ihnen etwas hinterher, was Isabella nicht versteht. Eines der Kinder ruft etwas Unflätiges zurück, die anderen kichern, dann verschwinden sie aus Isabellas Sichtfeld. Sie muss an die Kinder ihrer älteren Schwester denken, die sie letzten Sommer besucht hat, und an das kleine Landhaus, das wunderschön inmitten der Weinberge liegt. Ihre älteste Nichte Alessandra hat ihr voll Begeisterung ihre Lieblingsstücke auf dem Cembalo vorgespielt und sie haben zusammen einige Lieder aus Isabellas Repertoire gesungen.

»Die traurigen gefallen mir am besten«, hat Alessandra ihr verraten, »die sind so gefühlvoll, so voll Verlangen.« Isabella hat ihr zugestimmt, aber wenn sie nun ehrlich mit sich ist, ist sie nicht sicher, ob sie wirklich hat nachvollziehen können, was Alessandra bei den Liebesliedern empfunden hat. Isabella hat auf die Klänge des Cembalos geachtet und darauf, wie Alessandras Finger die Luft mit filigranen Tonmustern, mit wohlklingenden Akkorden und virtuosen Koloraturen gefüllt haben. Sie hat sich bei dem Gedanken daran erwischt, ob die Stimmung der Musik eine andere wäre, wenn Alessandra auf der Gamba oder Laute spielen würde. Sie hat sich fest vorgenommen, Silvia dazu zu befragen, die viele Instrumente spielt, oder vielleicht ein Gedicht darüber zu schreiben.

Isabella schüttelt den Kopf, um diese Gedanken zu vertreiben. Sie wollte in die Stadt gehen und unter Leuten sein, um nicht weiter über Dinge zu grübeln, die sie ohnehin nicht versteht. Wenn du nicht aufpasst, ermahnt sie sich selbst, dann bist du nachher auf der Bühne so abgelenkt, dass du das ganze Stück durcheinanderbringst.

Tatsächlich hat sie sich seit dem Gespräch mit Flavio immer öfter selbst bei dem Gedanken erwischt, einfach mal nicht verliebt zu spielen; der Isabella ein anderes Ziel als das der Heirat zu geben. Doch wie klar und laut diese Idee auch in ihr geschrien hat, bisher hat sie sich nicht getraut. Alles, was sie kennt, ist das: Isabella – die Bühnen-Isabella zumindest – ist fürchterlich in einen jungen Mann verliebt, aber ihr Vater darf nichts davon erfahren oder hat etwas dagegen. Es folgen allerlei Verwirrungen und geheime Pläne, die Dienerschaft bringt alles durcheinander. Flavio, Carlo und manchmal auch Silvia begeistern das Publikum mit ihrem akrobatischen Können, Isabella und Marco rezitieren schnulzige Liebesliteratur und am Ende können sie doch heiraten. Jeden Tag im Kem das Gleiche, eigentlich. Manchmal wechseln die Verwandtschaftsverhältnisse; mal ist nicht Carlo ihr Vater, sondern Giovanni; mal ist Silvia ihre Bedienstete, mal eine besorgte Nachbarin. Doch tagtäglich heiratet Isabella am Ende Marco. Was, wenn das einmal nicht geschieht? Das Publikum wäre sicherlich ungehalten, das Stück würde unfertig wirken, vielleicht würden sie sogar aus der Stadt gejagt.

Sie erreicht den Lago Inferiore und lässt sich im Schatten eines Kastanienbaumes auf einer hüfthohen Mauer nieder. Die Luft ist etwas angenehmer hier am Wasser, das Stimmengewirr des Marktes kaum mehr als ein Rauschen im Hintergrund. Eine Weile lang beschäftigt sie ihre Hände damit, den Rock ihres Kleides feinsäuberlich um sich herum zu drapieren. Irgendwo in der Feme kräht ein Hahn, vor ihr spiegelt sich die Sonne im sanft plätschernden Wasser.

Der Stoff zwischen ihren Fingern erinnert sie an die Fürstin Francesca. Das Kleid ist ein Geschenk – ein aussortiertes Teil aus den fürstlichen Gemächern, aber ein großer Schatz und Vertrauensbeweis für Isabella. Ihr erster Auftritt bei Hofe war im Palazzo der Fürstin. Die Compagnia hatte, damals noch unter der Leitung von Carlos Vater, bei Hofe spielen müssen, um ein paar Tage in der Stadt bleiben und auftreten zu dürfen. Wenn sie sich in die Situation zurückversetzt, kann Isabella noch heute genau nachspüren, wie ihr die Nervosität in den Tagen vor dem großen Auftritt in den Schultern gesessen hat.

Nach dem Auftritt hat die Fürstin Francesca sie zu sich rufen lassen, hat ihr Komplimente gemacht, ihr Spiel und ihr Talent gelobt, und ihr ein Kleid aus ihrem Bestand geschenkt. Isabella erinnert sich daran, wie sie einander Gedichte rezitiert und gemeinsam über Literatur und Musik geschwärmt haben. Die Fürstin, das ist Isabella sofort aufgefallen, hat eine sehr gute Bildung genossen und einen hervorragenden Blick und Geschmack für das Künstlerische entwickelt. Ihre Leidenschaft ist dabei schon immer die Literatur gewesen. Anders als bei den meisten Leuten, die ihr begeistert Komplimente zurufen, hat Isabella sich bei der Fürstin immer wohlgefühlt. Ihrer stehenden Einladung folgt sie, sooft es geht; sie kehrt gern an Francescas Palazzo zurück, nun selbst Vorsteherin ihrer Compagnia. Im Gegenzug zeigt die Fürstin sich sehr großzügig und zahlt ihnen ein ordentliches Gehalt.

»Du bist eine gute Freundin, und ich freue mich jedes Mal, wenn du mich besuchen kommst«, hat Francesca ihr einmal verraten. Seitdem schreiben sie einander regelmäßig Briefe,