Bieberer Berg Blues - Thorsten Fiedler - E-Book

Bieberer Berg Blues E-Book

Thorsten Fiedler

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Beschreibung

Der frischgebackene Privatdetektiv Adi Hessberger ist alles andere als überarbeitet und freut sich daher über den Auftrag einer attraktiven Klientin: Er soll einen Stalker finden, der sich vom unverbindlichen Kurschatten zum bedrohlichen Verfolger entwickelt hat. Doch bald wird aus dem Job ein Albtraum, der nicht enden will – und auch Adi, Sina und ihr neugeborenes Töchterchen in große Gefahr bringt. Seine Exkollegen von der Polizei ermitteln derweil in einer unglaublichen Verbrechensserie: Ein Serienmörder ist schon seit Jahren unentdeckt im Raum Offenbach unterwegs. Schließlich gerät Adi selbst unter Mordverdacht … In seinem fünften Krimi lässt Autor Thorsten Fiedler ebenso packend wie überraschend die Schatten der Vergangenheit hinter der blutigen Gegenwart sichtbar werden. Mit voller Wucht werden Sina, Adi und ihre Weggefährten von den Ereignissen überrollt, bis hin zu einem furiosen Finale auf Leben und Tod. Tristesse herrscht auch rund um das OFC-Stadion, doch die Fans bleiben ihren Kickers selbst in düsteren Zeiten treu. So entsteht eine emotionale Hymne für den Verein und die Fans: der Bieberer-Berg-Blues.

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Seitenzahl: 229

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eISBN 978-3-948987-95-4

Copyright © 2023 mainbook Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Together Concept, Stephan Striewisch

Bildrechte: Thorsten Fiedler

Auf der Verlagshomepage finden Sie weitere spannende Bücher: www.mainbook.de

Thorsten Fiedler

Bieberer Berg Blues

Offenbach-Krimi

Inhalt

Das Buch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

DANK

Der Autor

Das Buch

Adi Hessberger ist der glücklichste Mann der Welt. Er ist Vater geworden und die kleine Fiona sein ganzer Stolz. Und da er gerade viel Zeit hat, weil er den Dienst bei der Polizei quittiert hat und die Geschäfte als privater Ermittler noch nicht wirklich angelaufen sind, kann er sich um seine beiden Frauen kümmern und verbringt einige glückliche Tage auf Sylt mit ihnen.

Kaum zurück in Offenbach, überstürzen sich die Ereignisse: Ex-Kripokollege Mühlbauer hat einen Selbstmordversuch gerade so überlebt, zwei heimtückische Morde an Radfahrern erschüttern das Polizeipräsidium Südosthessen, das personell stark unterbesetzt ist, und ein ermordeter Lkw-Fahrer auf dem Parkplatz Nasses Dreieck an der Waldstraße bereitet Kopfzerbrechen.

Da kommt Hauptkommissar Salzmann auf eine geniale Idee: Er engagiert Hessberger, um die Offenbacher Kripo zu unterstützen. Die Sache hat jedoch einen Haken …

*

LA LE LU, NUR DER BÖSE MANN SCHAUT ZU, WENN DIE ARMEN KINDER SCHLAFEN, KOMMT ER DAZU …

*

Das Geschrei hallte durch den Raum, seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, sein Hemd war klatschnass. Lange würde er das nicht mehr durchhalten. Wie ein Schraubstock pressten die Hände seine Adern ab und auf den Gelenken zeigten sich die ersten Umrisse von Hämatomen. Das grelle Licht blendete seine Augen und er empfand den Schmerz, als ob es sein eigener wäre. Das unrhythmische Atmen dröhnte in seinen Ohren und er schaffte es kaum noch, sich zu konzentrieren. Es brachte ihn schier um, dass er keine Möglichkeit hatte zu helfen. In seiner gesamten Laufbahn als Polizist gab es kaum einen Moment, in dem er sich hilfloser und unnützer gefühlt hatte. Der nächste Schrei holte ihn aus seiner Gedankenwelt zurück, in die er kurz abgedriftet war. Ein Zittern ging durch den ganzen Körper, seine Hand wurde fast zerquetscht und der letzte Schrei aus dem gequälten Körper gab ihm endgültig den Rest.

Der Arzt schüttelte ihn und wie durch Watte drangen die Worte zu ihm durch: „Ein Mädchen, Herr Hessberger, Sie haben eine Tochter …“

*

Es war lausig kalt und trotz seiner dicken Jacke, Mütze und der Handschuhe fror er erbärmlich auf seinem E-Bike. Der Akku hatte inzwischen den Geist aufgegeben, er trat schneller in die Pedale, um überhaupt ein paar Meter vorwärtszukommen.

Die Umgehungsstraße von Dietzenbach Richtung Offenbach war nicht sehr breit, sodass er den Luftzug der vorbeifahrenden Autos spürte. Allerdings war um diese Uhrzeit kaum jemand unterwegs. Trotzdem radelte er jetzt schon seit geraumer Zeit im Scheinwerferlicht eines hinter ihm fahrenden Fahrzeugs, das keine Anstalten machte, ihn zu überholen. Er fühlte sich zunehmend unbehaglich und strampelte etwas schneller, als etwa 100 Meter vor ihm die Kreuzung auftauchte. Trotz der Kälte fing er an zu schwitzen. Plötzlich heulte der Motor hinter ihm auf.

Der muss mich doch sehen, dachte er noch flüchtig, dann spürte er schon den schmerzhaften Aufprall. Er flog durch die Luft und landete unsanft auf dem harten Boden. Eine Schmerzwelle flutete seinen Körper. Verzweifelt versuchte er, sich aufzurappeln und sah dabei, dass das Fahrzeug sich rückwärts von ihm entfernte, bevor es abrupt stehen blieb. Entgeistert schaute er ins Scheinwerferlicht, als der Wagen sich wieder in Bewegung setzte und langsam auf ihn zu kam.

Gott sei Dank, er hat mich gesehen und wird mir jetzt helfen, beruhigte er sich und blieb unbewegt im Licht der Xenon-Scheinwerfer liegen.

Dann explodierte die Welt um ihn …

Januar 2023, Sylt

Adi Hessberger schaute auf die Brandung. Tief atmete er die kalte Seeluft ein. Die unendliche Weite des Meeres beruhigte ihn. Die Ereignisse der letzten Monate hatten ihn tief bewegt und sein komplettes Leben durcheinandergewirbelt. Die Geiselnahme im Albert-Schweitzer-Gymnasium, die überraschende Nachricht, dass er Vater werden würde, der Treppensturz von Sina mit der Angst um ihr ungeborenes Kind – das alles war schon mehr, als mancher Mensch verkraften konnte. Dann kamen die internen Ermittlungen gegen die beiden Kommissare und mehrere Mordanschläge dazu. Das hatte das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht. Adi hatte seinen Dienst nach vielen Jahren bei der Mordkommission quittiert und arbeitete jetzt als privater Ermittler. Die Polizeiführung rund um den Präsidenten Eberhard Möller hatte alles versucht, um den erfolgreichen Ermittler zum Bleiben zu bewegen, aber Adis Entscheidung war endgültig. Natürlich vermisste er seine Kollegen, vor allem Rüdiger Salzmann und Lars Mühlbauer, aber jetzt sollte ein neuer Lebensabschnitt beginnen. Beruflich und privat. Er liebte Sina und seine Tochter über alles. Der neue Job verschaffte ihm deutlich mehr Zeit für seine Familie, zumal er noch nicht mit lukrativen Angeboten überschüttet wurde.

Eine Sache in seinem Leben hatte sich nicht geändert und würde sich auch niemals ändern: seine Liebe zum OFC. Auch wenn es aktuell so aussah, als würden seine geliebten Kickers niemals den Niederungen der vierten Liga entfliehen. Der Trainer, der als Garant für den Aufstieg geholt worden war, hatte sich als einer der größten Fehlgriffe aller Zeiten entpuppt und jetzt musste Ersan Parlatan es richten. Aber leider hatte Ulm einen deutlichen Vorsprung und die nachfolgenden Konkurrenten um einen Spitzenplatz wollten den Aufstieg auch noch nicht abschreiben.

Sina war durch Corona und den Stress der letzten Monate angeschlagen. Jetzt hatte sie eine Reha beantragt und hoffte, dadurch wieder körperlich und mental fit zu werden. Durch eine glückliche Fügung war ihr mit dem Baby ein Aufenthalt in Westerland auf Sylt bewilligt worden. Adi hatte sich spontan entschlossen, seine Liebsten ein paar Tage zu besuchen, und so hatte er sich im Hotel Wagenknecht unweit der Klinik einquartiert. Da Sina ein straffes Programm mit Kinderbetreuung hatte, blieb Adi viel Zeit für Entspannung und endlose Strandspaziergänge. Im Garten seines Hotels stand ein umgebauter Bauwagen mit einer kleinen, aber feinen Sauna. Doch das war nicht das einzige Highlight seiner Unterkunft. Das Frühstück war der Hammer. Jeden Morgen begann der Tag mit leckeren Brötchen, Croissants, Wurst, Käse, Obst, Müsli und einem Ingwer-Shot, dem Geheimrezept der Familie Petersen. So gestärkt, schaffte er es endlich wieder, etwas für seinen aus den Fugen geratenen Körper zu tun, und wenn er abends auf seine Fitness-Uhr schaute, war er schon ein bisschen stolz auf die über 30.000 Schritte.

27.01.2023, Polizeipräsidium Südosthessen

Rüdiger Salzmann und Lars Mühlbauer waren seit Adis Ausscheiden im Dauerstress. Er fehlte ihnen nicht nur als Kollege, sondern vor allem als Ideengeber und brillanter Ermittler. Jetzt fiel auch noch Sina für längere Zeit aus und das war selbst mit neuen Kollegen nicht zu kompensieren. Das eingespielte Quartett gab es nun nicht mehr. Doch wie der einstige Trainer des beliebtesten Vereins Deutschlands, Dragoslav Stepanovic, richtig bemerkt hatte: „Lebbe geht weider!“

*

„Innerhalb von zwölf Monaten der zweite tote Radfahrer im Umkreis von zwanzig Kilometern“, fasste Salzmann zusammen und biss in sein Frühstücksbrötchen. „Es gibt keinerlei Verbindung zwischen den Männern, außer dass laut Spurensicherung beide absichtlich überfahren wurden. Lass uns mal schauen, ob es weitere Fälle gibt, die ein ähnliches Muster aufweisen, denn zwei unaufgeklärte Mordfälle sind mir zwei zu viel.“ Er lächelte müde.

Mühlbauer nickte. „Ich wünschte, Adi wäre hier und würde uns unterstützen.“

Er lehnte sich im Stuhl zurück und schaute grimmig. Der früher so energiegeladene Kommissar wirkte seit seinem Krankenhausaufenthalt deprimiert und in sich gekehrt. Er kam nicht darüber hinweg, dass er durch die Schussverletzung auf den Rollstuhl angewiesen war. Das hatte sein ganzes Leben auf den Kopf gestellt, privat wie beruflich. Es bedeutete langweiligen Innendienst, keine Festnahmen oder Befragungen mehr außerhalb des Präsidiums. Immerhin hatte er noch einen Job. Allerdings machte er nur noch Dienst nach Vorschrift, denn die verschworene Gemeinschaft früherer Tage gehörte der Vergangenheit an. Irgendwie gab er die Schuld daran seinem Freund Adi. Er hatte sie im Stich gelassen. Zumindest fühlte es sich so an. Und dieser Gedanke machte ihm schwer zu schaffen. Manchmal saß er abends in seinem Wohnzimmer und überlegte, ob das Ganze überhaupt noch Sinn hatte. Wenn er dann etwas mehr trank als normalerweise, dachte er öfter daran, sich das Leben zu nehmen. Wer würde ihn schon vermissen, einen nutzlosen Kommissar im Rollstuhl, ohne Aussicht, jemals eine Partnerin zu finden. Von Tag zu Tag wurde er trübsinniger und der Plan reifte in seinem Kopf.

03.02.2023, Westerland, Sylt

„Ja, natürlich, ich werde mich ab nächste Woche um die Überwachung Ihres Mannes kümmern. Nein, er wird nichts davon mitbekommen. Sobald es Informationen gibt, melde ich mich wieder.“

Ein wenig anders hatte sich Adi das Ermittlerleben schon vorgestellt. Ihm fehlten die Spannung, die Action und die Einsätze mit den Kollegen. Bisher bestanden seine Aufträge meistens aus Versicherungsfällen, Personenschutzanfragen oder der Überwachung von vermeintlich untreuen Partnern. Es war Zeit, dass ein bisschen Schwung in den Laden kam. Heute hatte er eine von Sinas Bekannten aus der Reha kennengelernt. Melinda Kohler war eine hübsche Frau, schlank, sportlich, dunkelhaarig, verheiratet und Mitte dreißig. Sina hatte ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählt, dass Melinda sich seit einigen Tagen einen Kurschatten geangelt und deshalb auch schon die eine oder andere Therapie verpasst hatte. Bei einem Spaziergang am Strand hatte sie den Mann getroffen und seitdem schmuggelte sie ihn abends heimlich in ihr Zimmer. Jetzt saßen Sina, Melinda und Adi bei Gosch und ließen sich den Backfisch schmecken, während Melinda sich auch wie einer benahm. Sie strahlte permanent übers ganze Gesicht.

Adi sprach sie darauf an: „Du siehst aus, als hättest du im Lotto gewonnen. Die Therapie hier scheint dir gut zu bekommen.“

Da platzte es aus Melinda heraus: „Ich habe hier einen Mann kennengelernt und fühle mich wie ein verliebter Teenager.“

Adi schaute sie lange an. „Du bist doch verheiratet. Hast du kein schlechtes Gewissen oder Angst, dass dein Mann es erfährt?“

„Was auf Sylt passiert, bleibt auf Sylt, und jetzt lasst uns über etwas anderes sprechen.“ Sie winkte ab und schaute zu dem Kinderwagen neben Sina, in dem ein friedlich schlafendes Baby lag. „Wie war die Geburt und wie habt ihr es geschafft, euch auf einen Namen zu einigen?“

Adi erinnerte sich an diesen Moment, der so besonders gewesen war. Trotz der schlimmen Befürchtungen nach Sinas Sturz hielt er ein gesundes Mädchen im Arm. Er hatte sich in seinem Leben noch nie glücklicher gefühlt. Nur einen Moment gab es, in dem er ähnlich empfunden hatte: den Augenblick, als Sina seinen Heiratsantrag angenommen hatte.

Nach der Geburt hatte er Sina, die erschöpft, aber glücklich in ihrem Bett lag, in die Augen geschaut. „Sie ist genauso schön wie du, mein Liebling!“ Irgendwie wollte er seine Tochter nicht mehr hergeben. Die Schwester musste erst ein wenig energischer werden, um Hessberger das Baby abzunehmen. Er sah sich wieder neben Sina auf dem Bett sitzen, während sie die Kleine stillte. Es war ein friedliches Bild.

Die beiden Frauen schauten ihn an, weil er noch kein Wort gesagt hatte. Die Bilder in seinem Kopf verschwanden so unvermittelt, wie sie gekommen waren.

„Wir haben sehr lange darüber gesprochen, wie unser Kind heißen soll. Am Ende fiel die Entscheidung auf Fiona, weil sich das einfach gut anhört, Fiona Fröhlich. Für mich war das alles wie ein Wunder. Ich bin tatsächlich ein waschechter Papa und sie ist mein kleiner Engel und auch wenn sie Fiona heißt, ich werde sie immer Fee nennen.“ Bei diesen Worten bekamen seine Augen einen seltsamen Glanz.

Bevor Adi Sina und seine Tochter in die Asklepios Nordseeklinik zurückbrachte, gab er Melinda noch eine Visitenkarte, da er am nächsten Tag wieder nach Offenbach zurückfahren würde. „Falls du mal Probleme bekommen solltest, ist es immer gut, einen fähigen Privatdetektiv zu kennen“, sagte er mit einem Augenzwinkern.

„Wieso, kennst du einen?“, fragte Melinda schlagfertig. Dann liefen sie lachend den Weg am Meer zurück.

04.02.2023, Offenbach-Bieber

Lars Mühlbauer hatte deutlich zu viel getrunken. Die Erinnerung an die Szene im Tunnel, als er versucht hatte, Adi zu helfen, verfolgte ihn jede Nacht. Seit einiger Zeit sogar tagsüber. Er konnte den Einschlag der Kugel körperlich spüren und dann verschwamm alles vor seinen Augen. Die Zeit im Krankenhaus war das Schlimmste, was er jemals erlebt hatte. Irgendwann war die Hoffnung auf der Strecke geblieben – die Hoffnung, jemals wieder laufen zu können oder ganz einfach normal zu leben.

Adi hatte ihn mit der Leidenschaft für den OFC angefixt und so langsam fand er Spaß daran, sich die Spiele live anzusehen. Außerdem fiel ihm zu Hause die Decke auf den Kopf. Mit dem Rollstuhl war er beim Spiel OFC gegen Gießen gewesen, das auf dem Gelände des OFC-Leistungszentrums stattfand. Im Anschluss war es zum Kickers-Fanmuseum gegangen, dort hatte er mit den Fans noch ein paar Bierchen auf das siegreiche 2:0 getrunken. Doch dann kam der entwürdigendste Augenblick seines Lebens, als er sich von Thorsten Franke helfen lassen musste, um zur Toilette zu gehen. Thorsten empfand es als selbstverständlich, aber Lars konnte sich an die eigene Hilflosigkeit einfach nicht gewöhnen. Es war furchtbar, auf jemanden angewiesen zu sein, und aus seiner Sicht auch noch megapeinlich.

Jetzt stand er auf dem Weg nach Hause vor dem Stadion Bieberer Berg. Die Bieberer Straße hatte ein tüchtiges Gefälle und er musste den Rollstuhl bremsen, um nicht mit Geschwindigkeit hinunterzurollen. Er schaute die Straße entlang und auf einmal wusste er, was er zu tun hatte. Seine Finger lösten die Bremse und der Rollstuhl wurde schneller und schneller. Inzwischen fuhr er mitten auf der Fahrbahn. Die rote Ampel an der Kreuzung kam immer näher. Mehrere Fahrzeuge fingen wie wild an zu hupen, Bremsen quietschten, der Rollstuhl kam ins Trudeln und überschlug sich schließlich. Lars Mühlbauer blieb mitten auf der Kreuzung liegen und die aus der Seitenstraße lospreschenden Autos rasten auf ihn zu …

05.02.2023, im Zug von Westerland nach Frankfurt

Hessberger hätte genug Zeit gehabt, um über seine aktuellen Fälle nachzudenken, doch irgendwie ging ihm Melinda nicht aus dem Kopf. Weil sie so offen mit dem Thema Kurschatten umging, hatte er Bedenken, Sina könnte auf den gleichen Gedanken kommen. Aber Sina war nicht der Typ dafür. Allerdings sah sie fantastisch aus und wirkte auf Männer anziehend. Er schlug sich den Gedanken aus dem Kopf. Eifersucht war das Letzte, was er gebrauchen konnte. Es war besser, sich damit zu beschäftigen, wie er seine Detektei lukrativer gestalten könnte. Plötzlich klingelte sein Handy.

„Hallo Rüdiger, was gibt’s Neues im Präsidium? Wir müssen unbedingt mal wieder etwas trinken gehen.“

„Du Adi, ich habe schlechte Nachrichten …“

„Wieso? Was ist denn passiert?“

„Lars hat … Ich …“

„Rüdiger! Jetzt rück schon raus mit der Sprache! Was ist mit Lars?“

„Er hat versucht, sich umzubringen.“

„Was? Oh mein Gott! Wie geht’s ihm?“ Während er Rüdiger Salzmann zuhörte, fühlte er sich plötzlich todmüde. „Ich melde mich, wenn ich wieder in Offenbach bin“, sagte er mit leiser Stimme und ließ das Handy sinken. Kaum zu fassen, was er eben gehört hatte.

Sommer 2019, Autobahnrastplatz Weiskirchen

Auf dem Parkplatz standen nur wenige Lkws. Alfred Smolek war schon seit mehreren Tagen unterwegs und freute sich aufs Wochenende. Er war auf verschiedenen Dating-Plattformen angemeldet und hoffte, wieder ein bedürftiges Opfer zu finden, das ihm die Nacht versüßte. An einer langfristigen Beziehung hatte er keinerlei Interesse, das war ihm viel zu anstrengend. Seine erste Ehe hatte ihm völlig ausgereicht, jetzt wollte er nur noch seinen Spaß haben. Der schon etwas abgedroschene Spruch seines Freundes kam ihm in den Sinn: Warum soll ich die Kuh kaufen, wenn ich nur ein Glas Milch trinken will? Klar, das war gemein und sexistisch, aber nicht sein Problem. Er zwang schließlich niemanden dazu, mit ihm ins Bett zu hüpfen.

In kurzer Hose, einem weißen Feinripp-Unterhemd und mit seinem Handtuch über der Schulter war er gerade frisch geduscht auf dem Rückweg von den Waschräumen, als er seinen Augen nicht traute. Neben seinem Lkw, der etwas abseits parkte, stand eine junge Frau. Blonde Haare, tolle Figur, kurzer Rock und eine tief ausgeschnittene Bluse.

Alfred schluckte. Der Abend nahm offenbar einen anderen Verlauf als gedacht. Was ihm nicht gefiel, war die Tatsache, dass sie sehr stark geschminkt war.

Sie kam ganz dicht an ihn heran und flüsterte in sein Ohr: „Ich hab’s noch nie in einem Truck gemacht, hast du Bock? 50 Euro und du wirst mich niemals mehr vergessen, das garantiere ich dir.“

Alfred war normalerweise etwas geizig, aber diese Gelegenheit wollte er sich nicht entgehen lassen. Er zog sie in den Truck und bevor sie ganz drin waren, hatte sie ihre Bluse schon ausgezogen. Gierig grapschten seine Hände nach ihren Brüsten. Plötzlich zog sie sich zurück. „Erst die Kohle, dann das Vergnügen.“

Widerwillig holte er einen 50-Euro-Schein aus der Tasche. Sie nahm den Schein, lächelte ihn an und verband ihm mit ihrer Bluse die Augen. „So erlebst du alles noch intensiver“, hauchte sie ihm ins Ohr und ihre Hände waren auf einmal überall. Er glaubte, ein leises Summen zu hören, irgendwo hatte er das schon einmal gehört, aber er wusste nicht mehr, wo und wann. Plötzlich verspürte er einen Schmerz, der ihm fast die Sinne raubte.

Das Letzte, was er wahrnahm, waren die Tränen, die über sein Gesicht liefen.

05.02.2023, Offenbach, Sana Klinikum

Nachdem er seinen Koffer zu Hause abgestellt hatte, fuhr Adi sofort ins Krankenhaus. Rüdiger Salzmann hatte ihm schon per WhatsApp die Zimmernummer mitgeteilt. Lars Mühlbauer war nicht mehr auf der Intensivstation, stand aber unter ständiger Beobachtung.

Fassungslos trat Adi an sein Krankenbett und schaute den Freund an. „Was machst du denn für Sachen? Wolltest du echt Schluss machen?“

Lars nickte ansatzweise. Zum Glück hatte er außer ein paar Prellungen, Schürfwunden und einer Platzwunde am Hinterkopf keine Verletzungen.

„Ist doch alles sinnlos, Adi. Ich werde nie wieder laufen können, im Präsidium bin ich nur der Garant dafür, dass die Behindertenquote erfüllt wird, und das Thema mit den Mädels – vergiss es! Alle erzählen mir von irgendwelchen Wundern, aber mein reales Leben heißt Rollstuhl. Weißt du, wie peinlich es ist, wenn mehrere Menschen um dich herumstehen und diskutieren, wie sie dich am besten auf die Toilette bringen? Es gibt einfach keine Privat- oder Intimsphäre. Ich will das alles nicht mehr. Früher war mein Job aufregend, spannend, turbulent und nach Feierabend gingen wir mit den Kollegen einen trinken. Jetzt ist es zu umständlich, mich mitzunehmen.“

Mühlbauer saß in seinem Bett wie ein Häufchen Elend und Adi wusste nicht, wie er ihn trösten sollte. Wenn es ganz dumm lief, wurde Mühlbauer nach seinem Selbstmordversuch auch noch suspendiert, freigestellt oder sogar entlassen – und wenn das passierte, würde sein Leben komplett aus den Fugen geraten.

Hessberger versuchte, ihn ein wenig aufzumuntern. „Ich hab gehört, du warst beim Kickers-Spiel gegen Gießen. Wenn das so weitergeht, wirst du noch ein richtiger Fan! Und es gibt ja auch Vorteile in deiner jetzigen Situation, du bist immer dicht dran am Spielfeld und hast auf jeden Fall einen Sitzplatz!“ Lars verzog das Gesicht zu einem müden Grinsen. „Mehr hast du nicht zu bieten? Adi, ich hoffe, der OFC gibt sich mehr Mühe beim Aufstieg als du beim Versuch, mich aufzuheitern.“

*

Der Besuch im Krankenhaus hatte Adi mitgenommen und verfolgte ihn weiter. Als er sich bei Sina per Facetime meldete, merkte sie gleich, wie betroffen er war.

„Wir müssen dringend etwas für ihn tun“, sagte Adi, „sonst wird er noch mal versuchen, sich umzubringen, und dann wird er es besser planen.“

„Du hast vollkommen recht, Adi. Wir werden ab jetzt, so gut es geht, auf Lars aufpassen. Sobald ich wieder daheim bin, laden wir ihn ein und vielleicht können wir ihn ein bisschen ablenken, indem wir ihn bei Fee einbinden. Was hältst du davon, wenn er Fees Patenonkel wird?“

Hessberger war begeistert. „Du bist einfach die Beste. Das machen wir. Wäre doch gelacht, wenn er nicht der coolste Onkel wird. Aber lass uns mal über deinen Aufenthalt reden. Was macht eigentlich deine Reha-Freundin?“

„Adi, du glaubst nicht, was ich erfahren habe. Sie ist praktisch eine Nachbarin von uns. Sie kommt auch aus Offenbach und wohnt nicht weit weg vom Ketteler Krankenhaus. Mittlerweile verstehen wir uns großartig. So ein Klinikaufenthalt schweißt echt zusammen. Wir wollen uns nach der Reha treffen und ich hoffe, dass du sie auch magst. Natürlich nicht zu doll“, dabei zeigte sie ihr unnachahmliches Lächeln, das er so liebte.

Vier Wochen später, Büro Hessberger

Der Alltag war wieder eingekehrt. Sina und Fee waren zurück aus Sylt und seine Lieblingsehefrau wirkte glänzend erholt. Trotz der noch nicht lange zurückliegenden Schwangerschaft hatte Sina fast schon wieder ihre Traumfigur von vor der Geburt, während er sich immer noch mit den Weihnachtspfunden herumquälte. Es war einfach ungerecht.

Zudem setzte sich die geschäftliche Flaute weiter fort. Zwar liebte er sein neues Domizil über alles, aber schließlich musste am Ende eines jeden Monats die Miete bezahlt werden. Das Backsteinhaus lag in der Nähe des Geflügelzuchtvereins „Erlenbruch“ am Siegmund-Merzbach-Platz. Der Schreibtisch stand direkt am großen Fenster und es gab noch einen Sitzplatzbereich für Besucher, an denen es leider mangelte, ein weiteres Büro, eine kleine Küche sowie ein Bad. Besonders stolz war er auf seinen neuen PC mit drei großen Bildschirmen. So etwas hatte es im Polizeipräsidium nicht gegeben.

Um wenigstens das Gefühl zu haben, etwas zu tun, rief er Salzmann an. „Hallo Rüdiger, na, wie läuft es bei euch? Gibt es irgendeinen spannenden Fall, den ich für euch lösen kann?“

„Adi, freut mich, dass du anrufst. Wir haben tatsächlich einige unaufgeklärte Morde und könnten deine Hilfe gut gebrauchen.“

Rüdiger berichtete von den ermordeten Radfahrern. Adi machte sich Notizen, als es plötzlich an der Tür läutete. „Du, ich muss leider Schluss machen. Die Klienten rennen mir quasi die Bude ein“, sagte er mit einem ironischen Unterton. „Ich melde mich wieder bei dir.“ Er stand auf und ging zur Tür.

Seine Überraschung war groß, als Melinda Kohler vor ihm stand. „Hallo Adi, störe ich?“

„Äh nein, überhaupt nicht. Was führt dich zu mir?“

Sie hielt die Visitenkarte in der Hand, die Adi ihr auf Sylt überreicht hatte. „Steht das Angebot noch?“, fragte sie, wobei sie auf die Karte zeigte.

„Setz dich erst mal. Magst du einen Kaffee? Ich hole uns welchen und dann erzählst du mir alles.“

Nachdem sie den ersten Schluck getrunken hatte, begann sie stockend. „Ich habe euch doch von meinem Kurschatten erzählt. Am Anfang war alles großartig und wir hatten viel Spaß miteinander. Unser Plan war eindeutig, dass wir nach der Reha keinen Kontakt mehr haben werden. Jetzt ruft mich der Heini jeden Tag an und sendet mir Nachrichten.“

„Ein Stalker!“

„Ja, er hat mich sogar schon beim Einkaufen abgepasst. Dabei habe ich ihm klipp und klar zu verstehen gegeben, dass unser Intermezzo beendet ist und ich keinen Kontakt mehr möchte.“

Adi hatte ihr schweigend zugehört. „Hast du eine Adresse für mich?“

„Leider nicht. Da ich nicht vorhatte, ihn nach der Reha jemals wieder zu treffen, hat es keinen Sinn gemacht, die Adressen auszutauschen. Das Einzige, was ich von ihm habe, ist seine Handynummer. Und ich weiß seinen Vornamen: Er heißt Sven. Auf jeden Fall hat er sich so genannt.“

„Das ist zwar nicht viel, aber vielleicht kann ich dir helfen. Beschreib ihn mir bitte und versuche, dich an so viele Details wie möglich zu erinnern.“

Sie dachte nach.

„Dunkelhaarig, etwa so groß wie du, ungefähr vierzig, schlank, sportlich, braune Augen und außerdem …“

Adi ahnte schon, was sie sagen wollte, da sie plötzlich ein Glitzern in den Augen hatte. „Nein, ich will lieber doch nicht jedes Detail wissen. Ich werde mich mal umhören und mich dann bei dir melden. Aber zuerst erledigen wir das Geschäftliche. Hier ist ein Auftrag, den du unterschreiben musst, und das hier ist mein Tagessatz.“

Ohne mit der Wimper zu zucken, unterschrieb Melina.

„Möchtest du einen Vorschuss?“, fragte sie.

„Nein, das ist nicht nötig. Lass mir deine Handynummer da, falls meine Nachforschungen erfolgreich sind. Liest dein Mann die Nachrichten auf deinem Handy?“

„Gott bewahre! Zum Glück kennt er meinen Code nicht. Vielen Dank, Adi! Ich hoffe, du findest den Kerl.“

„Das wird wahrscheinlich das kleinere Problem sein, aber was willst du machen, wenn ich ihn gefunden habe? Ihn anzeigen wird schwierig, das ist kaum geheim zu halten. Vielleicht solltest du deinem Mann einfach die Wahrheit sagen.“

05.03.2023, PSD Bank Arena, Frankfurt

Heute war es endlich so weit, das erste Punktspiel nach der Winterpause stand an. Zwei Stürmer hatten in den zurückliegenden Wochen den OFC verlassen. Nachdem schon vor der Saison das größte OFC-Talent seit Langem, Denis Huseinbašić, die Kickers Richtung Bundesliga verlassen hatte, wechselte ein weiteres großes Talent, Jakob Lemmer, nach Dresden. Zudem wurde der Vertrag mit Törles Knöll aufgelöst, da sich beide Seiten mehr versprochen hatten. Nicht umsonst lautete der Spitzname des gelernten Stürmers bei den Fans am Ende nur noch „Torlos Knöll“. Jetzt war man gespannt, wie es ohne Lemmer, den besten OFC-Stürmer, weitergehen würde.

Die Partie beim FSV Frankfurt war für Kickers Offenbach und die Fans kein normales Spiel, sondern eine hochemotionale Veranstaltung. Hessberger war mit dem Bus ins Stadion gefahren. In der PSD Bank Arena ging es spannend los. Der OFC machte von Anfang an das Spiel, aber der Ball wollte einfach nicht ins Tor. In der zweiten Halbzeit wurde es dann hochdramatisch. Der FSV bekam auf einmal die zweite Luft und die Chancen häuften sich. Es ging hin und her. In der 90. und der 92. Minute hatte der FSV zwei dicke Möglichkeiten, das Spiel zu entscheiden. Doch schließlich hatte der Fußballgott ein Einsehen. Abwehrspieler Jayson Breitenbach schaffte es mit einer Energieleistung, das aus OFC-Sicht hochverdiente Siegtor in der 95. Minute zu erzielen.

Adi jubelte während der kompletten Rückfahrt im Bus. Danach ging es erst zu Elke in die Fußball-Kneipe zum Bieberer Berg, danach in Rosis Pub, bevor er glückselig den Heimweg antrat.

1993

Das Kind konnte nicht einschlafen und lag immer noch wach im Bettchen. Den Kuschelhasen hielt es fest im Arm, als könne er es beschützen. Es fing an zu beten: „Bitte lieber Gott, mach, dass er mir nicht mehr Gute Nacht sagen kommt.“

Das Geräusch der aufgehenden Tür ließ es augenblicklich verstummen.

08.03.2023, Polizeipräsidium Südosthessen

Eberhard Möller überflog die Meldungen der letzten Tage. Doch heute beschäftigte ihn ein anderes Problem. Er musste Lars Mühlbauer mitteilen, dass er vorerst als nicht tauglich für den Innendienst eingestuft wurde. Der Selbstmordversuch in der Öffentlichkeit hatte den Fokus auf den Polizisten und somit auch auf das Präsidium gelenkt und die damit verbundenen Schlagzeilen sorgten bei Möller nicht gerade für gute Laune.

„Selbstmordpolizist soll Bürger beschützen?“, „Chaos auf der Kreuzung durch Rollstuhl-Polizisten.“ Im Netz überschlugen sich die Diskussionen. Er hoffte, dass Mühlbauer die Entscheidung vernünftig aufnehmen würde. Da klopfte auch schon seine Sekretärin und kündigte den Polizisten an. Er kam hereingerollt und die Sekretärin schloss leise die Tür hinter ihm.

„Hallo, Herr Mühlbauer. Ich hoffe, es geht Ihnen wieder besser nach dem spektakulären Unfall.“

Lars nickte kurz und wartete insgeheim auf die Standpauke, die gleich kommen würde. Aber Möller machte keine Anstalten dazu. Stattdessen sagte er in einem fast väterlichen Ton: „Mir ist klar, dass Sie viel durchgemacht haben und auch noch durchmachen werden, doch ich bin verantwortlich für den kompletten Ablauf hier im Haus, daher musste ich einen Entschluss fassen. Bis auf Weiteres sind Sie nicht diensttauglich.“ Er faltete die Hände und schaute sein Gegenüber ruhig an.

„Was bedeutet bis auf Weiteres?“, fragte Mühlbauer gefasst.

„Im Grunde müssen die Ärzte entscheiden, wann und ob Sie wieder den Dienst aufnehmen können“, erwiderte der Polizeipräsident diplomatisch.

„Herr Möller, Sie haben eben deutlich hinterfragt, ob ich den Dienst überhaupt wieder aufnehmen kann. Ich möchte es Ihnen leichter machen: Ab jetzt brauchen Sie sich darüber keine Gedanken mehr zu machen, denn ich werde nicht mehr zurückkehren.“

*

Rüdiger Salzmann hatte schon mehrfach versucht, Adi zu erreichen. Endlich ging er ans Handy.

„Was ist los?“