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Die SOKO Bieberer Berg scheint am Ende zu sein. Kriminalkommissarin Sina Fröhlich liegt seit dem Mordversuch eines Serientäters schon sieben Monate im Koma und Adi Hessberger versinkt in Depressionen. Doch er bekommt einen neuen Fall auf den Tisch, bei dem das beliebte Offenbacher Bier eine wichtige Rolle spielt. Die Fans des OFC wollen keinesfalls auf ihr Lieblingsgetränk verzichten und sind notfalls bereit, dafür zu kämpfen. Als in diesem Zusammenhang Polizisten sterben, wird die SOKO Bieberer Berg brutal mit der Vergangenheit konfrontiert und Hessberger scheint diesem Albtraum nicht entfliehen zu können ...
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Seitenzahl: 256
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Thorsten Fiedler
Offenbach-Krimi
eISBN 978-3-947612-63-5
Copyright © 2019 mainbook Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Gerd Fischer
Covergestaltung: Together Concept, Stephan Striewisch
Bildrechte: Thorsten Fiedler
Auf der Verlagshomepage finden Sie weitere spannende Bücher: www.mainbook.de
Die spannende Fortsetzung des ersten Offenbach/OFC-Krimis „Schlusspfiff“:
Adi Hessberger versteht die Welt nicht mehr. Sina Fröhlich liegt schon so lange im Koma, dass die Ärzte nur noch wenig Hoffnung haben. Kollegen seiner Abteilung verschwinden spurlos, eine Demonstration auf dem Wilhelmsplatz wegen des Offenbacher Biers eskaliert, es gibt Tote und Verletzte. Das Polizeipräsidium Südosthessen taumelt führungslos von einem Schreckensszenario ins nächste. Stehen Offenbacher Polizisten auf der Abschussliste eines Wahnsinnigen?
Der Kriminalhauptkommissar steckt – genau wie sein Lieblingsverein Kickers Offenbach – in einer schweren Krise. Die Ereignisse in diesem ungleichen Kampf gegen einen Mörder, der scheinbar keinerlei Spuren hinterlässt, bringen die Polizei und auch die Offenbacher Bürger an ihre psychischen Belastungsgrenzen.
EINS
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
SECHS
SIEBEN
ACHT
NEUN
ZEHN
ELF
ZWÖLF
DREIZEHN
VIERZEHN
FÜNFZEHN
SECHZEHN
SIEBZEHN
ACHTZEHN
NEUNZEHN
ZWANZIG
EINUNDZWANZIG
ZWEIUNDZWANZIG
DREIUNDZWANZIG
VIERUNDZWANZIG
FÜNFUNDZWANZIG
SECHSUNDZWANZIG
SIEBENUNDZWANZIG
ACHTUNDZWANZIG
NEUNUNDZWANZIG
DREISSIG
EINUNDDREISSIG
ZWEIUNDDREISSIG
DREIUNDDREISSIG
VIERUNDDREISSIG
FÜNFUNDDREISSIG
SECHSUNDDREISSIG
SIEBENUNDDREISSIG
ACHTUNDDREISSIG
NEUNUNDDREISSIG
VIERZIG
EINUNDVIERZIG
ZWEIUNDVIERZIG
DREIUNDVIERZIG
DANK
Der Autor
Lieblingsorte von Adi Hessberger:
Der Tod war hier schon längst zu Hause, doch das konnten die Bewohner nicht wissen. So lebten sie arglos und unbeschwert, bis sich die Büchse der Pandora durch einen unglücklichen Zufall öffnete …
Es war ein Tag für dunkle Vorahnungen. Die alten Mauern der Friedberger Burg lagen in dichtem Nebel und es herrschte eine gespenstische Stille. Die Straßen waren menschenleer.
Ein paar Gehminuten entfernt lag die kleine Pension der Witwe Walburga Steiner, die gerade dabei war, das Abendbrot für ihre Pensionsgäste vorzubereiten. Heute sollte es Frikadellen mit selbst gemachtem Kartoffelsalat geben. Nachdem alles hergerichtet war, deckte sie den Tisch. Die meisten Gäste nahmen am Abendessen teil, bis auf einen, der lieber allein blieb.
Die resolute Hausherrin hatte schon viele Pensionsgäste kommen und gehen sehen, ihr waren die unterschiedlichsten Marotten ihrer Gäste durchaus vertraut. Doch dieser Gast war anders. Geheimnisvoll, düster und unnahbar waren wohl die zutreffendsten Eigenschaften, mit denen man ihren Dauermieter beschreiben konnte. Als er vor einigen Monaten wie aus dem Nichts aufgetaucht war, hatte er gesundheitlich schwer angeschlagen gewirkt. Er war ein Eigenbrötler, der darauf bestand, seine Wäsche selbst zu waschen. Einmal hatte sie durch Zufall gesehen, dass er ein T-Shirt in die Waschtrommel steckte, das blutverschmiert aussah. Inzwischen wirkte ihr Gast deutlich gesünder, dennoch blieb er allen gemeinsamen Veranstaltungen fern und sie war nicht sicher, ob die anderen Gäste ihn überhaupt schon mal zu Gesicht bekommen hatten.
Doch jetzt hatte sie keine Zeit, ihre Gedanken den Gästen zu widmen. Sie musste noch ein Geschenk für ihre Lieblingsenkelin einpacken. Ein verklärtes Lächeln zog über das Gesicht der 60-jährigen Oma, als sie an die fünfjährige Sophie dachte. Das Mädchen war wirklich ihr Ein und Alles und über die wunderschöne Porzellanpuppe würde sie sich ganz bestimmt riesig freuen. Bevor sie sie in Geschenkpapier verpackte, wickelte sie die Puppe zum Schutz in eine alte Zeitung ein. Plötzlich stutzte sie, das Bild auf der schon einige Monate alten Titelseite kam ihr bekannt vor. Sie strich das Papier glatt und begann zu lesen. Dabei runzelte sie besorgt die Stirn. Und plötzlich fiel ihr ein, woran das Foto sie erinnerte. Sie ging zum Regal und holte sich den Schlüssel mit der Nummer sieben. Da sie genau wusste, dass der Mieter vor einer Stunde aus dem Haus gegangen war, nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und schloss seine Zimmertür auf. Vorsichtig sah sie sich in dem Zimmer um. Der Hund lag friedlich auf seiner Decke und wedelte im Liegen mit dem Schwanz, ohne irgendwelche Anstalten zu machen, aufzustehen. Nachdem sie ihn mit einer Streicheleinheit versorgt hatte, schaute sie sich sein Halsband genauer an. „Oh mein Gott!“, war das Einzige, was sie herausbrachte, als sie die Buchstaben las.
Trotz der aufsteigenden Panik wollte sie sich endgültige Gewissheit verschaffen und schaute sich weiter um. Alles wirkte aufgeräumt und akkurat. Die Hosen und Jacken hingen ordentlich auf Bügeln und das Bett war gemacht, vielleicht sogar noch besser, als wenn sie das erledigt hätte. In der einen Ecke des Raums stand eine Reisetasche. Sie war vollständig gepackt, als ob hier jemand mit einer spontanen Abreise rechnete. Doch besonders ins Auge fiel ihr das Schränkchen neben dem großen Bett. Wenn es einen Ort im Zimmer gab, an dem sie Geheimnisse vermutete, dann dort. Mit fieberhafter Anspannung zog sie die knarrende Nachttischschublade auf. Sie war so sehr auf das fixiert, was sie dort sah, dass sie nicht hörte, wie sich die Zimmertür leise öffnete. Plötzlich spürte sie eine Bewegung direkt hinter sich und die Angst schnürte ihr die Kehle zu.
Seit mehr als sieben Monaten lag Sina Fröhlich nach dem Mordanschlag eines Serienmörders im Koma und die Ärzte hatten nur noch wenig Hoffnung, dass sie jemals wieder aufwachen würde. Kriminalhauptkommissar Adi Hessberger kam jeden Tag ins Sana-Klinikum und saß stundenlang an ihrem Bett, hielt ihre Hand und erzählte von dem, was ihm in seinem Alltag so begegnete.
„Weißt du, dass drei ehemalige Funktionäre unseres Vereins sich wegen Insolvenzverschleppung, Bankrott und Steuerhinterziehung vor dem Darmstädter Landgericht verantworten mussten? Am Ende haben sie Geld- und teilweise Bewährungsstrafen erhalten. Ich glaube, es hört niemals auf, dass wir Fans uns Sorgen um unseren OFC machen müssen. Und jetzt ist auch noch unser Präsident zurückgetreten und ich kann mir noch nicht vorstellen, wie wir einen geeigneten Nachfolger finden sollen. Wir bräuchten einen Finanzfachmann, der so viel Kleingeld oder besser Großgeld übrig hat, dass er es in unsere Mannschaft investieren kann. Im Polizeipräsidium gibt es auch Neuigkeiten, denn wir haben neue Kollegen bekommen. Ich bin echt gespannt, ob die ins Team passen.“
Noch immer wachte Hessberger, von Albträumen geplagt, mitten in der Nacht auf, weil ihm die schrecklichen Bilder nicht aus dem Kopf gingen. Immer wieder sah er den Serienmörder vor sich, wie er den Sack mit der bewusstlosen Sina über die Brücke in den Main warf.
Selbst tagsüber beschäftigten ihn die schlimmen Geschehnisse. Es fiel ihm schwer, sich auf die Arbeit zu konzentrieren, und es war inzwischen so weit gekommen, dass Polizeirat Klaus Peter Thalbach darüber nachdachte, Hessberger in Kur zu schicken und im Anschluss eine Versetzung zum Innendienst zu arrangieren. Schon der übermäßige Alkoholkonsum des Kriminalhauptkommissars war Grund genug, drastische Maßnahmen zu ergreifen, aber Thalbach konnte die seelische Verfassung seines Mitarbeiters durchaus nachvollziehen. Die komplette SOKO Bieberer Berg litt noch unter den dramatischen Ereignissen und den schlimmen Dingen, die ihrer Kollegin zugestoßen waren.
Hessberger ging vom Krankenhaus zu seiner Wohnung zurück und dachte dabei über seine augenblickliche Situation nach. Nicht nur der Mordversuch an Sina machte ihm zu schaffen. Sie war viel mehr als eine Kollegin: Sie war die Frau, die er über alles liebte. Vor allem beschäftigte ihn, dass er es nicht fertiggebracht hatte, ihr seine Liebe zu gestehen. Und jetzt würde sie vielleicht nie wieder aufwachen. Dazu kamen die vielen Morde, die der Serienmörder begangen hatte. Eine solche Mordserie hatte es im beschaulichen Offenbach noch nie gegeben. Das Schlimmste daran war für ihn die Tatsache, dass sein Leben nie wieder so schön und unbeschwert sein würde wie vor der grauenhaften Zeit. Er war sich sicher, dass er keinesfalls weiterleben wollte, wenn Sina nicht mehr aufwachte. Sein einziger Halt in dieser schlimmen Phase war seine Liebe zum OFC. Zum Glück hatte er viele Freunde innerhalb der Fanszene, die alles versuchten, um ihn von seinen Ängsten und Depressionen abzulenken.
Die Offenbacher Kickers hatten es leider wieder nicht geschafft, sich aus den Fängen der Regionalliga zu befreien, und so dümpelten sie weiter in der vierten Liga. Auch in der neuen Saison schien der Zug schon abgefahren zu sein, denn Waldhof lag schier uneinholbar mit 11 Punkten Vorsprung auf dem ersten Platz. Und leider hatten ganz andere Vereine die Verfolgerrolle übernommen. Bei diesen vielen schlechten Nachrichten war es kein Wunder, dass Hessberger das eine oder andere Bier benötigte, um mit der unerfreulichen Realität klarzukommen.
Hessberger las die aktuellen Meldungen, aber es war nichts Spektakuläres dabei. Eine Schlägerei in der Karlstraße, ein Brand in einer Shisha-Bar, diverse Fahrzeugdiebstähle und ein festgenommener Drogendealer.
Dann wurde es doch noch interessant, denn der Inhaber der Marke „Offenbacher Bier“ hatte eine Anzeige gegen unbekannt gestellt. Er war in der Nacht von zwei maskierten Schlägertypen bedroht worden und sollte sich „mitsamt seinem Offenbacher Bier verpissen“, so lautete das Originalzitat, andernfalls könne er sich schon mal nach einem guten Unfallarzt umsehen.
Hessberger war bekennender Fan des Offenbacher Biers und konnte auch dessen Hersteller gut leiden. Schon vor dem Angriff war es knüppeldick für den Bierbrauer gekommen. Ein Mitbewerber hatte ihn angezeigt, woraufhin die Frankfurter Rundschau den folgenden Artikel veröffentlichte:
Es war ein Stück lokale Identität und schmeckte vielen Kennern des Gerstensafts seit April 2016. Nun hat ein missliebiger Wettbewerber erreicht, dass das „Offenbacher Bier“ vorerst nicht mehr unter diesem Namen vertrieben werden darf. „Das gilt so lange, bis wir eine Brauerei in Offenbach errichtet haben“, sagt Offenbacher-Bier-Macher Josip Budimir. Der aktuelle Lagerbestand, so betont er, dürfe noch verkauft werden. Bislang wurde das „Offenbacher Bier“ mit seinem mit Eichel und Eichenblättern verzierten roten Etikett in der Arnsteiner Brauerei von Michelsbräu in Babenhausen abgefüllt. Wie Brauer Budimir weiter berichtet, wird es voraussichtlich ab November zunächst ein neues Etikett für den Offenbacher Gerstensaft geben. Gleichzeitig sucht er nach Räumlichkeiten in Offenbach, in denen er eine Brauerei betreiben kann. (mad)
Und jetzt auch noch die Drohungen. Hessberger war schockiert, denn auf sein liebgewonnenes Getränk wollte er keinesfalls verzichten. Schon allein aus diesem Grund freute er sich darauf, den Fall zu übernehmen.
Das Ehepaar aus Seligenstadt konnte sein Glück kaum fassen. Nachdem schon mehrere Jahre ins Land gegangen waren, ohne dass sich ihr größter Wunsch, ein Kind zu adoptieren, erfüllt hatte, hielten sie nun das nur ein paar Wochen alte Baby im Arm.
Sie hatten wenig Kontakt zu ihren Nachbarn. Das lag teilweise daran, dass ihr Haus etwas abgelegen war. Um das Gebäude zog sich eine riesige Steinmauer, die von Efeu überzogen war. Im ersten Moment schien dieser Platz der geeignete Drehort zu sein, um Dornröschen neu zu verfilmen. Ein unheimlicher, aber zugleich magischer Ort. Die Seligenstädter gingen oft an dem Haus vorbei, aber kaum etwas verriet, dass dort jemand wohnte. Nur an manchen Abenden schien es, als fänden hier große Veranstaltungen statt, und dann waren alle Parkplätze im weiteren Umkreis belegt. Doch im Grunde lebten sie unbeobachtet von der Außenwelt und niemand bekam etwas davon mit, was in dem Haus vor sich ging.
Heute war ein wichtiger Tag für Adi Hessberger. Im letzten Heimspiel des Jahres traf sein geliebter OFC auf Astoria Walldorf und erstmals würde er nicht im Block 2 stehen, denn heute war aufgrund einer Einladung ein Sitzplatz inklusive VIP-Raum angesagt. Er schaute auf das Hinweisschild „Block 13 – 8 Süd 2“, hier ging es zur Haupttribüne, ein ungewohnter Platz für ihn. Doch wichtiger schien die Tatsache, dass vorher noch eine Spender-Typisierung für einen schwerkranken, an Blutkrebs leidenden Jungen stattfand. Die gesamte Kickers-Mannschaft, viele Fans und auch Hessberger hatten sich bereiterklärt, diese tolle Aktion zu unterstützen. Er hoffte sehr, dass ein geeigneter Spender dabei sein würde. Nachdem er sich hatte registrieren lassen, ging er in den VIP-Bereich, aß eine Currywurst und trank zwei Pils dazu.
Innerhalb weniger Augenblicke war er umringt von einigen Bekannten, die sich freuten, dass Adi wieder dabei war. „Wie geht es Sina? Warum stehst du heute nicht in Block 2? Was geht da beim Offenbacher Bier ab?“
Geduldig beantwortete Adi ihre Fragen, bevor er sich auf den Weg zu seinem ungewohnten Sitzplatz machte. 0:1 nach 22 Minuten. Das durfte doch nicht wahr sein. „Jetzt reißt den Walldorfern endlich die Ärsche auf!“, schrie er voller Entrüstung, bis er merkte, dass ein paar ältere Fans neben ihm vorwurfsvoll herüberschauten. Es war halt keine gute Idee, sich das Spiel auf der Sitztribüne anzusehen. Ihm fehlten die Bewegungsfreiheit, seine echten Kumpel und das gemeinsame Anfeuern. Nach kurzem Überlegen stand er auf und bahnte sich seinen Weg, leider fast um das ganze Stadion herum, auf die gegenüberliegende Seite zum Fanblock. Unterwegs holte er sich noch ein Bier und auf einmal bekam er wieder richtig Luft und fühlte sich energiegeladen wie schon seit Monaten nicht mehr.
Nach 65 Minuten kam dann endlich die Erlösung in Form des Ausgleichs. Die Nummer 14 des OFC erzielte das 1:1. Jetzt waren die Fans nicht mehr zu halten. Alle sangen: „Jake Hirst is on fire.“ Diese nordirische EM-Fan-Hymne über Will Grigg wurde in Offenbach auf den neuen Publikumsliebling umgeschrieben. Der Stadionsprecher gab den Spielstand durch: „Offenbach eins, Walldorf null, danke – bitte!“ Der Gegner hatte hier immer null Tore, egal, wie es wirklich stand. In der 70. Minute war dann das ganze Stadion aus dem Häuschen, weil Stürmer Florian Treske in seinem Abschiedsspiel den entscheidenden Treffer für den OFC schoss. 5.106 glückliche Zuschauer verließen das Stadion, um mit einem Kaltgetränk den knappen Sieg zu feiern.
Adi ging rüber in die Kultkneipe „Zum Bieberer Berg“ und bekam von Elke direkt ein Schlappeseppel in die Hand gedrückt. Sie lobte ihn für den Sieg, als hätte er selbst eines der Tore erzielt. Trotz der Kälte standen die Menschen draußen im Garten des Lokals und ließen sich Bier und Glühwein schmecken. Irgendwann zählte er die Biere nicht mehr.
Beim Heimweg in den frühen Morgenstunden benötigte er die ganze Breite des Waldwegs. Kurz bevor der Wald in ein Wohngebiet mündete, sah er eine Parkbank, auf die setzte er sich einen Moment. Der Freudenschleier des Sieges zerriss und plötzlich traf ihn seine aktuelle Situation wie ein Vorschlaghammer. Er glaubte, keine Luft mehr zu kriegen, und verlor seine bis dahin mühsam aufrechterhaltene Selbstbeherrschung. Tränen flossen über seine geröteten Wangen. Er weinte so bitterlich, wie er seit seiner Kindheit nicht mehr geweint hatte.
Der Sechzehnjährige wäre im Mittelalter ein guter Folterknecht gewesen. Weder bei seinen Klassenkameraden noch bei den Nachbarn war er besonders beliebt. Schon seit frühester Jugend neigte er zu aggressivem Verhalten und drangsalierte damit sein gesamtes Umfeld. Rücksichtslos war auch seine Fahrweise mit dem Rennrad. Er war ein absoluter Fan hoher Geschwindigkeiten. Natürlich hörte er immer wieder von seinen Eltern, dass er einen Helm tragen solle, aber das war ihm einfach zu uncool. So war er auch heute wieder ohne Kopfschutz unterwegs und es machte ihm großen Spaß, den Wind in seinen Haaren zu spüren. Selbst ohne Tacho konnte man fühlen, dass die Geschwindigkeit locker 50 km/h betrug. Er fuhr am Eis-Kaiser vorbei in Richtung Main und jagte um die Kurve, als plötzlich ein Rentner mit seinem Rollator auftauchte. Geistesgegenwärtig riss er den Lenker herum und prallte ungebremst gegen einen der an der Promenade stehenden Bäume. Im gleichen Augenblick verlor er das Bewusstsein. Der Rentner blieb wie erstarrt stehen, unfähig, nach dem Jungen zu schauen. Ein Spaziergänger, der den Vorfall beobachtet hatte, rief sofort den Rettungswagen und lief dann zu dem bewusstlosen Radfahrer. Bei diesem Anblick kam alles, was er die letzten Stunden gegessen hatte, wieder ans Tageslicht.
Die Arme des Jungen schienen verdreht zu sein, aber viel schlimmer war die Tatsache, dass Wangenknochen, Kiefer und Nase zerschmettert waren. Es war ein grauenvoller Anblick, als die formlose Masse, die kurz vorher ein Gesicht gewesen war, versuchte, einige Laute von sich zu geben, während in der Ferne die näherkommende Sirene zu hören war.
Die Friedberger Polizei bittet die Bevölkerung um ihre Mithilfe. Seit dem 25. November 2018 gilt Walburga Steiner, die Inhaberin einer Friedberger Pension, als vermisst. Zum selben Zeitpunkt ist der Pensionsgast Dirk Maier verschwunden. Sachdienliche Hinweise bitte an die Polizei in Friedberg oder jede andere Polizeidienststelle.
Inzwischen waren einige Tage vergangen, aber noch immer gab es keine Spur von Walburga Steiner, trotz der Vermisstenanzeige, die in der Zeitung erschienen war. Niemand konnte sagen, warum die Pensionsinhaberin spurlos verschwunden war. Genauso dubios war die Tatsache, dass einer ihrer Pensionsgäste nicht mehr auffindbar war. Bei den Ermittlungen stellte sich heraus, dass die im Gästebuch hinterlegte Adresse nicht existierte. Die Friedberger Polizei befragte alle Pensionsgäste, aber die Aussagen waren so unterschiedlich, dass am Ende keine klare Personenbeschreibung herauskam. Nur in einem Punkt gab es Übereinstimmungen: Der Gesuchte hatte einen Hund gehabt, bei dem es sich allem Anschein nach um einen Golden Retriever handelte. Manch einer glaubte, dass Frau Steiner mit ihrem Gast durchgebrannt sei.
Die Polizeistation Friedberg, deren Betreuungsgebiet sich über Bad Nauheim bis nach Echzell erstreckte, war an diesem Montag krankheitsbedingt nicht voll besetzt. Kommissar Peter Nolte saß allein in seinem Büro, das er sich normalerweise mit zwei Kollegen teilte. Nolte verkörperte das, was man als eine Erscheinung bezeichnete, denn er konnte mit seinem Körper einen kompletten Raum verdunkeln. So mancher flüchtende Verdächtige war an ihm im wahrsten Sinne des Wortes abgeprallt. Die Meinungen seiner Kollegen über ihn waren ziemlich einhellig: vorbildlicher Beamter und Einzelgänger, der keinem Zwist aus dem Wege ging.
Der Kommissar blätterte in der Vermisstenakte. Dabei meldete sich sein untrügliches Bauchgefühl, das ihn veranlasste, sich die Pension noch einmal genauer anzusehen. Er konnte im Polizeibericht keinen Hinweis darauf finden, dass auch eine Durchsuchung des Gartengrundstücks stattgefunden hatte. Dies kam ihm merkwürdig vor. Der Familienvater holte sich den Schlüssel der Pension, zog seinen Parka über und machte sich auf den Weg. Er fuhr aus dem Grünen Weg über die Frankfurter Straße Richtung Agentur für Arbeit und weiter über die Kaiserstraße. In Höhe der Augustiner-Schule, die 1543 gegründet worden war und somit zu den ältesten Gymnasien Hessens gehörte, stockte der Verkehr bis zum Fünf-Finger-Platz. Über die Frage, wie dieser Platz zu seinem Namen gekommen sein könnte, kursierten verschiedene Gerüchte. Noltes eigene, leider noch unbestätigte Version lautete wie folgt: Am Gründonnerstag, dem 29. März 1945, begann in den Morgenstunden der Angriff der Amerikaner auf Friedberg und die anschließende Besetzung. Aus der anfänglichen Distanz der Bevölkerung zu den ungeliebten Amerikanern entwickelten sich im Lauf der Jahre deutsch-amerikanische Schmuggelaktivitäten. Es gab in Friedberg einen geeigneten Platz mit vielen Fluchtmöglichkeiten, an dem sich die Schmuggler trafen, um mit Kaffee, Zigaretten, Schokolade, Kaugummis und regionalen Wurstwaren Tauschhandel zu treiben. Am Ende eines solchen Austauschs stand immer eine freundschaftliche Verabschiedung. Das bei den Amis obligatorische „Give me five“ führte dazu, dass die Amerikaner diesen Ort „give me five square“ nannten. Später wurde dieser Begriff von den Friedbergern eingedeutscht zu „Fünf-Finger-Platz“! So oder auch ganz anders könnte es sich zugetragen haben. Doch egal, wie der Lauf der Geschichte wirklich gewesen war, Fakt war, dass Nolte normalerweise bis hierher höchstens zehn Minuten brauchte, aber heute schien jeder, der einen Führerschein hatte, auf der Straße zu sein. Doch dann hatte er plötzlich Glück und fand direkt bei der Pension einen Parkplatz.
Inzwischen gab es dort keine Gäste mehr, denn Walburga Steiner hatte ihr kleines Unternehmen allein geführt. Im Haus durchsuchte er akribisch die verschiedenen Zimmer, ohne etwas Auffälliges zu bemerken. Inzwischen waren schon einige Stunden vergangen und es war Zeit für einen Schluck Kaffee aus seiner mitgebrachten Thermoskanne. Dazu gab es eine selbstgedrehte Zigarette. Er ging in den Garten und genoss die Stille und die glasklare, kalte Luft. Der Garten war nicht besonders groß, aber sehr schön angelegt. Es gab einen eigenen Brunnen, große Steinskulpturen, eine kleine Sitzgruppe aus Holz und am Ende des Gartens stand die obligatorische Gartenhütte, die nie fehlen durfte. Alles war akkurat, fast schon spießig, doch die halb angelehnte Tür des Hüttchens passte nicht ins Bild.
Nolte rauchte noch zu Ende und ging dann auf die Tür zu. Es knarrte ein wenig, als er sie komplett öffnete. Bedingt durch seine Körpergröße musste er sich bücken, um hindurchzugehen. Zuerst sah er gar nichts, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten, doch dann wurde ihm schlagartig klar, dass ihn sein Bauchgefühl wieder einmal nicht getrogen hatte.
Seit Hessberger am Montagmorgen total unterkühlt auf einer Parkbank in der Nähe des Sana Sportparks aufgewacht war, fühlte er sich krank und arbeitsunfähig. Natürlich schämte er sich, dass er als Polizist mit Vorbildfunktion wie ein Penner auf einer Parkbank übernachtet hatte. Es war nur zu hoffen, dass ihn niemand gesehen beziehungsweise erkannt hatte. Aus diesem Grund meldete er sich für den Montag mit Migräne krank und blieb auch den ganzen Tag im Bett.
Am Dienstag war Hessberger wieder im Büro. Polizeirat Klaus Peter Thalbach kaufte ihm die Migränegeschichte, ausgerechnet an einem Montag, nicht ab. Dahinter konnte nur eines von Hessbergers sich häufenden Saufgelagen stecken. Obwohl Thalbach gute Miene zum bösen Spiel machte, wollte er Hessberger zumindest einen Denkzettel verpassen und beorderte ihn zu einer abendlichen Demonstration in der Offenbacher Innenstadt. Hessberger fügte sich in die vergleichsweise geringe Strafe.
Gemeinsam mit einem seiner neuen Kollegen, Kriminalkommissar Bilal Demirkan, machte er sich am späten Nachmittag auf den Weg Richtung Wilhelmsplatz.
Demirkan war der schönste Mann des gesamten Polizeireviers, zumindest sagte er das von sich selbst. Er brauchte jeden Morgen mindestens eine Stunde im Bad, um seine Haare und den Bart zu stylen. Was er von Hessbergers augenblicklichem Aussehen hielt, konnte man an dem geringschätzigen Blick des Südländers ablesen. Der Schwerenöter schleppte jedes Wochenende Mädchen ab, denen er den Himmel auf Erden versprach und dazu die ewige Liebe, zumindest für eine Nacht. Für ihn war es unvorstellbar, dass Hessberger jeden Tag am Bett einer aus seiner Sicht Fast-Toten saß, statt sich eine neue Frau anzulachen. „Du brauchst dringend eine andere Frisur, einen neuen Style und vor allem ein paar Tipps von einem, der sich mit den Weibern auskennt.“
„Und wer soll das sein?“, fragte Hessberger ironisch. Damit war der Redefluss seines Beifahrers fürs Erste gestoppt, doch lange würde es nicht dauern bis zur nächsten Litanei.
Hessberger konzentrierte sich auf den Verkehr und suchte einen Parkplatz möglichst nah am Demonstrationsverlauf. Diesmal war es keine Demo, die auf Krawall hindeutete, denn erstens war sie vorab genehmigt worden und zweitens ging es um Bier, um das Offenbacher Bier. Einige Hundert Einheimische hatten sich zusammengefunden, um gegen das Verbot ihres geliebten Gerstensafts zu demonstrieren. Und das, obwohl es noch nicht mal ein Verbot gegen das Bier selbst gab, nur gegen die Namensgebung. Auf einigen Transparenten konnte man Sprüche lesen wie:
Wir trinken hier
nur Offenbacher Bier
oder
Wir ham kein Strom, wir ham kein Geld, aber das geilste Bier der Welt
Ansonsten schien alles friedlich zu verlaufen und – so empfand es Hessberger – für das Offenbacher Bier konnte man schon mal demonstrieren.
Als die beiden Polizisten sich direkt in die Menschenmenge begaben, hatte Hessberger auf einmal das Gefühl, beobachtet zu werden. Das konnte natürlich daran liegen, dass er eine ganze Menge der Teilnehmer persönlich kannte, dennoch fühlte er, dass irgendetwas nicht stimmte.
Die Polizisten trennten sich, um ein breiteres Spektrum der Veranstaltung abzudecken. Der Wilhelmsplatz war inzwischen so überfüllt, dass die Situation immer unübersichtlicher wurde. Er versuchte, Demirkan auf dem Handy zu erreichen, aber sein türkischer Kollege ging nicht ans Telefon. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, mit nur zwei Beamten vor Ort zu sein.
Es war mittlerweile so eng, dass die ersten Teilnehmer Platzangst bekamen. Hessberger hörte entsetzte Schreie und sah, wie die Masse sich unkontrolliert in Bewegung setzte. Eine Frau stürzte und andere fielen über die am Boden Liegende. Immer mehr Menschen gerieten in Panik, die Situation eskalierte. Er wäre fast über den Haufen gerannt worden bei dem Versuch, sich schützend vor einen Mann zu stellen, der blutend am Boden lag.
Überall wälzten sich Menschen auf dem Platz, während sich die Masse langsam in alle Himmelsrichtungen zerstreute. Der Anbau des Markthauses war verwüstet. Ein paar Tage vorher hatte Hessberger dort noch mit Freunden Glühwein getrunken. Das Offenbacher Denkmal Streichholzkarlche lag zertrümmert auf der Erde. Er konnte nicht fassen, warum auf einmal diese Panik entstanden war.
Die ersten Krankenwagen näherten sich dem verwüsteten Platz. Verzweifelt suchte er nach seinem Kollegen, doch Bilal Demirkan schien wie vom Erdboden verschwunden. Wahrscheinlich war er dabei, Erste Hilfe bei einem der vielen Verletzten zu leisten. Nach Hessbergers Schätzung gab es mindestens 15 bis 20 Verletzte und er hoffte inständig, dass keine Schwerverletzten dabei waren. Erschwerend kam hinzu, dass auch der über die Grenzen Offenbachs hinaus bekannte, an drei Tagen in der Woche stattfindende Wochenmarkt seine Spuren hinterlassen hatte. Die Müllcontainer mit den Überresten des Marktangebots lagen über den ganzen Platz verteilt, ihr Inhalt ergoss sich auf das Pflaster.
Hessbergers Blick fiel auf eine der umgestürzten Tonnen. Direkt dahinter, inmitten eines Bergs von Gemüse- und Obstresten, war ein herausschauender Arm nicht zu übersehen. Als er näher kam, erkannte er den protzigen Siegelring seines Kollegen.
Vorsichtig bewegte sich Kriminalkommissar Peter Nolte in der Gartenhütte auf die Umrisse eines Menschen zu. Der Schein seiner Taschenlampe spiegelte sich im Gesicht einer großen Porzellanpuppe wider. In einem Gartenstuhl saß die vermisste Frau Steiner und hielt die Puppe fast schützend in ihren Armen. Ein leichter Hauch von Verwesung lag in der Luft.
Innerhalb der nächsten halben Stunde wurde dieses fast schon friedlich wirkende Bild von dem eines hoch frequentierten Tatorts abgelöst. Es war nicht einfach, in der engen Hütte nach Spuren zu suchen, zumal es auf den ersten Blick keine ersichtliche Todesursache gab. Immerhin hatte man die Frau jetzt endlich gefunden, auch wenn Nolte sich natürlich gewünscht hätte, sie wäre noch am Leben. Warum sollte jemand diese sympathische Frau umbringen? Wie es aussah, fehlten noch nicht einmal Wertgegenstände, sogar die Kasse der Pension mit mehreren Hundert Euro Bargeld stand noch an ihrem angestammten Platz. Jetzt sollte erst einmal der Gerichtsmediziner die Todesursache feststellen, und vielleicht fanden seine Kollegen verwertbare Spuren oder Fingerabdrücke. Für Nolte war auf jeden Fall Feierabend und er freute sich schon auf eine heiße Dusche nach diesem langen Tag. Dem Mann, der ihn auf dem Heimweg beinahe angerempelt hätte, schenkte er keinerlei Beachtung.
In den folgenden Tagen befragten Nolte und sein Team alle Pensionsgäste und die umliegende Nachbarschaft. Bei den täglich stattfindenden Besprechungen wurden die aktuellen Ermittlungsergebnisse diskutiert. Die Polizisten vermuteten, dass der verschwundene Pensionsgast nicht nur eine imaginäre Adresse, sondern auch einen falschen Namen angegeben hatte.
Die meisten Pensionsgäste hatten diesen Gast nur selten oder überhaupt nicht zu Gesicht bekommen. Aus diesem Grund war das Phantombild nicht aussagekräftig. Bis jetzt ging die Polizei in Friedberg davon aus, dass auch der angebliche Dirk Maier Opfer eines Verbrechens wurde. Falls er unter einem falschen Namen logiert hatte, konnte das ein Indiz dafür sein, dass er sich aus nicht bekannten Gründen verstecken musste. Vielleicht war er ja das Ziel des Mordanschlags gewesen und die Pensionsinhaberin hatte etwas mitbekommen und wurde deshalb ermordet. Warum sollte ein Gast monatelang in der Pension wohnen und dann auf einmal die Inhaberin töten? Zumal auch keine Wertgegenstände und kein Bargeld fehlten. Diese Gründe veranlassten die Friedberger Beamten, auf einen Täter von außerhalb zu schließen.
Die Ärzte taten ihr Bestes, um den Jungen wieder zusammenzuflicken. Beide Arme waren mehrfach gebrochen und die Kreuzbänder des linken Knies gerissen, aber die schlimmsten Verletzungen hatte er im Gesicht erlitten. Nase, Jochbein, Wangenknochen und Schädel waren stark deformiert. Es schien, als wären nur noch die Augen intakt, obwohl sie teilweise zugeschwollen waren. Aufgrund der schweren Kopfverletzungen machte der Arzt den Eltern keine große Hoffnung, dass ihr Sohn die Nacht überleben würde.
Doch er war ein Kämpfer. Es schien, als würde er sich weigern zu sterben. Einige Tage später konnten die Ärzte den Eltern mitteilen, dass ihr Sohn über den Berg war. Ein endloser, schmerzhafter Heilungsprozess schloss sich an, geprägt von vielen plastischen Operationen, um sein Gesicht wenigstens einigermaßen wiederherzustellen.
Bisher hatte ihn der Verband vor den Blicken der Umwelt geschützt, doch nun sollte er abgenommen werden. Vorsichtig entfernte der Arzt die Bandagen. An manchen Stellen zwickte es gehörig, als die Klebestreifen gelöst wurden.
Er ging zusammen mit dem Arzt sehr zögerlich ins Bad, um sich das Ergebnis anzusehen. Als er in den Spiegel blickte, knickten ihm die Beine weg, und hätte ihn der Arzt nicht festgehalten, er wäre wohl ungebremst auf den Fliesenboden geknallt.
Erst Stunden später wagte er sich ohne Verband in das Treppenhaus des Krankenhauses. Seine Eltern kamen die Treppe hochgelaufen und gingen wortlos an ihm vorbei, weil sie ihren eigenen Sohn nicht erkannt hatten.
Hessberger zog seinen Kollegen unter dem Abfallberg hervor. Er fühlte keinen Puls, denn es gab keinen mehr – Kriminalkommissar Bilal Demirkan würde nie wieder über Hessbergers Style lästern. Er war tot. Woran er gestorben war, konnte man auf den ersten Blick nicht erkennen, denn die Menge schien ihn förmlich überrannt zu haben. Es war kein schöner Anblick, und nur sein Siegelring war unbeschädigt geblieben. Auch wenn Hessberger noch nicht lange mit dem Kollegen zusammengearbeitet hatte, fühlte er sich unendlich traurig. Nicht nur wegen Bilals Tod, auch wegen der vielen Verletzten, die an einer ganz normalen Demonstration teilgenommen hatten. Warum war sie am Ende so aus dem Ruder gelaufen?
Sein Kollege, Kriminalkommissar Rüdiger Salzmann, legte ihm die Hand auf die Schulter. „Adi, das ist eine absolute Katastrophe. Wir haben inzwischen vier Tote und mindestens fünfzehn Verletzte abtransportiert und ein paar Menschen werden noch vermisst. Was ist hier bloß passiert?“
Hessberger schaute seinem Kollegen in die Augen. „Ich weiß es nicht. Es war eigentlich total friedlich, aber dann gab es irgendeinen Auslöser, der diese Panik verursacht hat. Wir müssen unbedingt anfangen, die Leute zu befragen, bevor sie sich in alle Winde zerstreut haben.“
Während ein weiterer Verletzter an ihnen vorbeigetragen wurde, kam ein Streifenbeamter auf sie zu. „Wir haben mehrere Zeugen gefunden, die etwas Entscheidendes gesehen haben wollen. Wahrscheinlich möchten Sie die Leute selbst befragen? Alle Personalien habe ich schon aufgenommen.“
Nachdem sie mit einer Reihe von Zeugen vor Ort gesprochen hatten, ergab sich folgendes Bild: Die Zeugen wollten aus der Ferne gesehen haben, wie ein Mann, dessen Gesicht unter einer grauen Kapuze nicht zu erkennen war, auf Kriminalkommissar Demirkan eingestochen hatte. Die umstehenden Menschen, die den Mord aus nächster Nähe mit ansehen mussten, gerieten in Panik und rannten bei ihrer Flucht andere Teilnehmer um. Anscheinend wurde dabei geschrien, dass ein Mörder in der Menge sei, was noch mehr Leute dazu bewegte, panisch davonzurennen. Da immer mehr Menschen am Boden lagen und gleichzeitig viele in Richtung Innenstadt rannten, war das Chaos perfekt.
Hessberger, Salzmann und Thalbach saßen noch spät im Präsidium. An diesem Tag hatte keiner Lust, nach Hause zu gehen. Adis Sekretärin, Selina Djukovic, kurz Seli genannt, versorgte alle mit Kaffee und belegten Brötchen. Sie gingen mehrmals den Verlauf der Demonstration durch. Alle Informationen konnte man auf dem vor ihnen stehenden Flipchart ablesen. Sie fassten die bisherigen Ermittlungsergebnisse kurz zusammen. Ein Unbekannter hatte ihren Kollegen während einer Demonstration ermordet. Dabei kam es zu einer Massenpanik, die dazu führte, dass Menschen starben oder verletzt wurden. Nach dem Täter wurde gefahndet. Außer den Hinweisen, dass ein Vermummter auf ihn eingestochen hatte, fehlte jede Spur.
Jetzt mussten sie die Ergebnisse des gerichtsmedizinischen Instituts abwarten.