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»Eine breit dahinflutende, schmerzlich schöne Elegie vom Leben dieser unserer eigenen Zeit, von Hoffnungen, Leiden und Illusionen.« Karl Korn in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Drei Generationen einer rheinischen Architektenfamilie werden sich an diesem 6. September 1958 versammeln, um den achtzigsten Geburtstag ihres Oberhauptes zu feiern. Heinrich Fähmel hatte 1907 den Auftrag erhalten, die Abtei St. Anton zu erbauen. Sein Sohn Robert – er spielt täglich von halb zehn bis elf im Hotel Prinz Heinrich Billard – hat als Sprengmeister der Wehrmacht diese Abtei in den letzten Kriegstagen zerstört. Der Enkel Joseph wird am Wiederaufbau beteiligt. In den Gesprächen Roberts mit dem Hotelboy, in Rückblenden und Erinnerungen seines Vaters verknüpfen sich Vergangenheit und Gegenwart, werden die Situationen der einzelnen Zeitabschnitte deutlich.Der Grundkonflikt, den Böll dabei mit der Symbolik vom »Lamm« und vom »Büffel« thematisiert, ist der Konflikt zwischen den selbständig denkenden und handelnden einzelnen und der opportunistischen Mehrheit. Informieren Sie sich auch über das größte editorische Unternehmen in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch: Heinrich Böll, Werke 1 - 27 Kölner Ausgabe
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Seitenzahl: 434
Heinrich Böll
Roman
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Über Heinrich Böll
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Heinrich Böll, geboren am 21. Dezember 1917 in Köln, gestorben am 16. Juli 1985 in Kreuzau (Kreis Düren).
Heinrich Böll war Sohn eines Tischlers und Holzbildhauers, in dessen Hause in Köln ab 1933 Zusammenkünfte verbotener katholischer Jugendverbände stattfanden. Nach einem gerade begonnenen Studium der Germanistik und klassischen Philosophie wurde Böll 1939 zur Wehrmacht eingezogen. Er desertierte 1944 und kehrte 1945 aus der Kriegsgefangenschaft nach Köln zurück, wo er sein Studium wieder aufnahm und in der Schreinerei seines Bruders arbeitete. Ab 1947 publizierte er in Zeitschriften und wurde 1951 für die Satire Die schwarzen Schafe mit dem Preis der Gruppe 47 ausgezeichnet.
Fortan war er als freier Schriftsteller tätig. Außerdem übersetzte er, gemeinsam mit seiner Frau Annemarie, englische und amerikanische Literatur (u. a. George Bernard Shaw und Jerome D. Salinger).
Als Publizist und Autor führte Heinrich Böll Klage gegen das Grauen des Krieges und seiner Folgen, polemisierte er gegen die Restauration der Nachkriegszeit und wandte er sich gegen den Klerikalismus der katholischen Kirche, aus der er 1976 austrat.
In den 60er und 70er Jahren unterstützte er die Außerparlamentarische Opposition. 1983 protestierte er gegen die atomare »Nachrüstung«. Insbesondere engagierte sich Böll für verfolgte Schriftsteller im Ostblock (Reisen in die UdSSR und CSSR). Der 1974 aus der UdSSR deportierte Alexander Solschenizyn war zunächst Bölls Gast. Ab 1976 gab er, gemeinsam mit Günter Grass und Carola Stern, die Zeitschrift L 76. Demokratie und Sozialismus heraus. Der Verband deutscher Schriftsteller wurde 1969 von ihm mitbegründet, und er war Präsident des Internationalen PEN-Clubs (1971-74).
Böll erhielt zahlreiche Auszeichnungen, so den Georg-Büchner-Preis (1967), den Literatur-Nobelpreis (1972) und die Carl-von-Ossietzky-Medaille (1974).
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»Eine breit dahinflutende, schmerzlich schöne Elegie vom Leben dieser unserer eigenen Zeit, von Hoffnungen, Leiden und Illusionen.« Karl Korn in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Drei Generationen einer rheinischen Architektenfamilie werden sich an diesem 6. September 1958 versammeln, um den achtzigsten Geburtstag ihres Oberhauptes zu feiern. Heinrich Fähmel hatte 1907 den Auftrag erhalten, die Abtei St. Anton zu erbauen. Sein Sohn Robert – er spielt täglich von halb zehn bis elf im Hotel Prinz Heinrich Billard – hat als Sprengmeister der Wehrmacht diese Abtei in den letzten Kriegstagen zerstört. Der Enkel Joseph wird am Wiederaufbau beteiligt. In den Gesprächen Roberts mit dem Hotelboy, in Rückblenden und Erinnerungen seines Vaters verknüpfen sich Vergangenheit und Gegenwart, werden die Situationen der einzelnen Zeitabschnitte deutlich.Der Grundkonflikt, den Böll dabei mit der Symbolik vom »Lamm« und vom »Büffel« thematisiert, ist der Konflikt zwischen den selbständig denkenden und handelnden einzelnen und der opportunistischen Mehrheit.
Informieren Sie sich auch über das größte editorische Unternehmen in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch: Heinrich Böll, Werke 1-27 Kölner Ausgabe
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
An diesem Morgen war Fähmel zum ersten Mal unhöflich zu ihr, fast grob. Er rief sie gegen halb zwölf an, und schon der Klang seiner Stimme verhieß Unheil; diese Schwingungen waren ihr ungewohnt, und gerade weil seine Worte so korrekt blieben, erschreckte sie der Ton: alle Höflichkeit war in dieser Stimme auf die Formel reduziert, als wenn er ihr statt Wasser H2O angeboten hätte.
»Bitte«, sagte er, »nehmen Sie aus Ihrem Schreibtisch die kleine rote Karte, die ich Ihnen vor vier Jahren gab.« Sie zog mit der rechten Hand ihre Schreibtischschublade auf, schob eine Tafel Schokolade, den Wolllappen, das Messingputzmittel beiseite, nahm die rote Karte heraus. »Bitte, lesen Sie mir vor, was auf der Karte steht.« Und sie las mit zitternder Stimme: »Jederzeit erreichbar für meine Mutter, meinen Vater, meine Tochter, meinen Sohn und für Herrn Schrella, für niemanden sonst.«
»Bitte, wiederholen Sie den letzten Satz«, und sie wiederholte: »Für niemanden sonst.« »Woher wußten Sie übrigens, daß die Telefonnummer, die ich Ihnen gab, die des Hotels ›Prinz Heinrich‹ war?« Sie schwieg. »Ich möchte betonen, daß Sie meine Anweisungen zu befolgen haben, auch wenn sie vier Jahre zurückliegen… bitte.«
Sie schwieg.
»Dummes Stück…« Hatte er das ›Bitte‹ diesmal vergessen? Sie hörte Gemurmel, dann eine Stimme, die ›Taxi‹ rief, ›Taxi‹, das amtliche Tuten, sie legte den Hörer auf, schob das Kärtchen auf die Mitte des Schreibtisches, empfand beinahe Erleichterung; diese Grobheit, die erste innerhalb von vier Jahren, war fast wie eine Zärtlichkeit.
Wenn sie verwirrt war oder des bis aufs äußerste präzisierten Ablaufs ihrer Arbeit überdrüssig, ging sie hinaus, das Messingschild zu putzen: ›Dr. Robert Fähmel, Büro für statische Berechnungen, nachmittags geschlossen‹. Eisenbahndämpfe, der Schleim der Auspuffgase, Straßenstaub gaben ihr täglich Grund, den Wollappen und das Putzmittel aus der Schublade zu nehmen, und sie liebte es, diese Putzminuten auf eine viertel, eine halbe Stunde auszudehnen. Drüben im Haus Modestgasse 8 konnte sie hinter staubigen Fenstern die stampfenden Druckereimaschinen sehen, die unermüdlich Erbauliches auf weißes Papier druckten; sie spürte das Beben, glaubte sich auf ein fahrendes oder startendes Schiff versetzt. Lastwagen, Lehrjungen, Nonnen; Leben auf der Straße, Kisten vor Gemüseläden: Apfelsinen, Tomaten, Kohl. Und am Nebenhaus, vor Gretzens Laden, hängten zwei Lehrjungen gerade den Keiler auf, dunkles Wildschweinblut tropfte auf den Asphalt. Sie liebte den Lärm und den Schmutz der Straße. Trotz stieg in ihr hoch, und sie dachte an Kündigung; in irgendeinem Dreckladen arbeiten, in einem Hinterhof betrieben, wo Elektrokabel, Gewürze oder Zwiebeln verkauft wurden, wo schmuddelige Chefs mit herunterhängenden Hosenträgern und Wechselsorgen zu Vertraulichkeiten neigten, die man dann wenigstens hätte abweisen können; wo man um die Stunde, die man wartend beim Zahnarzt verbrachte, zu kämpfen hatte; wo für die Verlobung einer Kollegin Geld gesammelt wurde, Geld für einen Haussegen oder ein Buch über die Liebe; wo die schmutzigen Witze der Kollegen einen daran erinnerten, daß man selbst rein geblieben war. Leben. Nicht diese makellose Ordnung, nicht diesen Chef, der makellos gekleidet und makellos höflich war – und ihr unheimlich; sie witterte Verachtung hinter dieser Höflichkeit, die er jedem, mit dem er zu tun hatte, zuteil werden ließ. Doch mit wem, außer ihr, hatte er schon zu tun? Soweit sie zurückdenken konnte, hatte sie ihn nie mit jemandem sprechen sehen – außer mit seinem Vater, seinem Sohn, seiner Tochter. Niemals hatte sie seine Mutter gesehen, die lebte irgendwo in einem Sanatorium für Geistesgestörte, und dieser Herr Schrella, der noch auf der roten Karte stand, hatte niemals nach ihm verlangt. Sprechstunden hielt Fähmel nicht ab, Kunden, die telefonisch anfragten, mußte sie bitten, sich schriftlich an ihn zu wenden.
Wenn er sie bei einem Fehler ertappte, machte er nur eine wegwerfende Handbewegung, sagte: »Gut, dann machen Sie es noch einmal, bitte.« Das geschah selten, denn die wenigen Fehler, die ihr unterliefen, entdeckte sie selbst. Das ›Bitte‹ jedenfalls vergaß er nie. Wenn sie ihn darum bat, gab er ihr frei, für Stunden, für Tage; als ihre Mutter starb, hatte er gesagt: »Dann schließen wir das Büro für vier Tage… oder möchten Sie lieber eine Woche?« Doch sie wollte keine Woche, nicht einmal vier Tage, nur drei, und selbst die wurden ihr in der leeren Wohnung zu lang. Zur Seelenmesse und zur Beerdigung erschien er natürlich in vollendetem Schwarz, erschienen sein Vater, sein Sohn, seine Tochter, trugen alle riesige Kränze, die sie eigenhändig am Grab niederlegten, lauschten der Liturgie; und sein alter Vater, den sie mochte, flüsterte ihr zu: »Wir Fähmels kennen den Tod, stehen auf vertrautem Fuß mit ihm, liebes Kind.«
All ihren Wünschen um Vergünstigungen kam er widerstandslos entgegen, und so fiel es ihr im Laufe der Jahre immer schwerer, ihn um eine Gunst zu bitten; er hatte die Arbeitszeit mehr und mehr herabgesetzt; im ersten Jahr hatte sie noch von acht bis vier gearbeitet, aber nun war ihre Arbeit schon seit zwei Jahren so rationalisiert, daß sie gut von acht bis eins getan werden konnte, ihr sogar noch Zeit blieb, sich zu langweilen, die Putzminuten auf halbe Stunden auszudehnen. Kein Wölkchen mehr auf dem Messingschild zu entdecken! Seufzend schraubte sie die Flasche mit dem Putzmittel zu, faltete den Lappen; immer noch stampften die Druckereimaschinen, druckten unerbittlich Erbauliches auf weißes Papier, immer noch blutete der Keiler. Lehrjungen, Lastwagen, Nonnen: Leben auf der Straße.
Auf dem Schreibtisch die rote Karte; seine makellose Architektenschrift: ›… für niemanden sonst‹. Die Telefonnummer, die sie mühsam, in langweiligen Stunden, über ihre Neugier errötend, identifiziert hatte: Hotel ›Prinz Heinrich‹. Der Name hatte ihrer Witterung neue Nahrung gegeben: was tat er morgens zwischen halb zehn und elf im Hotel ›Prinz Heinrich‹? Eisige Stimme am Telefon: ›Dummes Stück‹. Hatte er wirklich nicht ›bitte‹ dazu gesagt? Der Stilbruch stimmte sie hoffnungsvoll, tröstete sie über die Arbeit, die auch ein Automat hätte ausführen können.
Zwei Musterbriefe, die in vier Jahren nicht geändert worden waren, die sie schon in den Durchschlägen ihrer Vorgängerin entdeckt hatte: einen für die Kunden, die Aufträge erteilen: ›… danken wir Ihnen für Ihr Vertrauen, das wir durch rasche und korrekte Erledigung des Auftrages rechtfertigen werden. Hochachtungsvoll‹; der zweite Brief, der zu schreiben war, wenn sie die statischen Unterlagen an die Kunden zurückschickte: ›Anbei die gewünschten Unterlagen für das Bauvorhaben X. Das Honorar in Höhe von Y bitten wir auf unser Bankkonto zu überweisen. Hochachtungsvoll.‹ Blieben freilich für sie gewisse Variationen; für X hatte sie einzusetzen: Haus für einen Verleger am Waldrand, Haus für einen Lehrer am Flußufer, Bahnüberführung Hollebenstraße. Für Y das Honorar, das sie nach einem einfachen Schlüssel selbst errechnen mußte.
Blieb noch der Briefverkehr mit seinen drei Mitarbeitern: Kanders, Schrit und Hochbret. Denen mußte sie die Aufträge in der Reihenfolge ihres Eintreffens zuschicken. »Damit«, so hatte Fähmel gesagt, »die Gerechtigkeit ihren automatischen Verlauf nimmt und das Glück eine repräsentative Chance hat.« Kamen die Unterlagen zurück, mußte das, was Kanders errechnet hatte, Schrit; was Hochbret errechnet hatte, Kanders; was Schrit errechnet hatte, Hochbret zur Überprüfung zugeschickt werden. Karteien waren zu führen, Spesenrechnungen zu buchen, Zeichnungen zu fotokopieren und von jedem Bauvorhaben eine Fotokopie in doppelter Postkartengröße für sein Privatarchiv herzustellen; – aber die meiste Arbeit bestand im Frankieren: immer wieder die Rückseite des grünen, des roten, des blauen Heuss übers Schwämmchen gezogen, die Marke sauber in die rechte obere Ecke des gelben Umschlags geklebt; sie empfand es schon als Abwechslung, wenn mal ein brauner, ein violetter, ein gelber Heuss darunter war.
Fähmel hatte sich zum Prinzip gemacht, nie länger als eine Stunde pro Tag im Büro zu verbringen; er schrieb seinen Namen unters Hochachtungsvoll, unter Honoraranweisungen. Kamen mehr Aufträge, als er in einer Stunde hätte bewältigen können, lehnte er die Annahme ab. Für diese Fälle gab es hektographierte Zettel mit dem Text: ›Infolge Arbeitsüberlastung sehen wir uns leider gezwungen, auf Ihren geschätzten Auftrag zu verzichten. Gez. F.‹
Nicht ein einziges Mal, wenn sie ihm morgens zwischen halb neun und halb zehn gegenübersaß, hatte sie ihn bei intimen menschlichen Verrichtungen gesehen; beim Essen, Trinken; niemals einen Schnupfen an ihm bemerkt; errötend dachte sie an intimere Dinge als diese; daß er rauchte, war kein Ersatz für das Vermißte: zu makellos war die schneeweiße Zigarette, nur die Asche, die Stummel im Aschenbecher trösteten sie: das war wenigstens Abfall, bewies, daß Verbrauch stattgefunden hatte. Sie hatte schon bei gewaltigen Chefs gearbeitet, Männern, deren Schreibtische wie Kommandobrücken waren, deren Physiognomie Furcht einflößte, doch selbst diese Großen hatten irgendwann einmal eine Tasse Tee, einen Kaffee getrunken, ein belegtes Brot gegessen, und der Anblick essender und trinkender Gewaltiger hatte sie immer in Erregung versetzt: da krümelte Brot, blieben Wurstpellen übrig und speckige Schinkenränder, mußten Hände gewaschen, Taschentücher gezogen werden. Versöhnliches zeigte sich hinter Stirnen aus Granit, die über ganze Armeen befahlen, Münder wurden in Gesichtern abgewischt, die einstmals, in Bronze gegossen, auf Denkmalsockeln späteren Geschlechtern von ihrer Größe künden würden. Fähmel, wenn er um halb neun aus dem Hinterhaus kam, brachte keine Frühstücksspuren mit, war – wie es einem Chef geziemt hätte – weder nervös noch gesammelt; seine Unterschrift, auch wenn er vierzigmal seinen Namen unters Hochachtungsvoll zu schreiben hatte, blieb leserlich und schön; er rauchte, unterschrieb, blickte selten einmal in eine Zeichnung, nahm Punkt halb zehn Mantel und Hut, sagte: »Bis morgen dann« und verschwand. Von halb zehn bis elf war er im Hotel ›Prinz Heinrich‹ zu erreichen, von elf bis zwölf im Café Zons, erreichbar nur für ›seine Mutter, seinen Vater, seine Tochter, seinen Sohn – und Herrn Schrella‹ – ab zwölf beim Spaziergang und um eins traf er sich mit seiner Tochter im ›Löwen‹ zum Mittagessen. Sie wußte nicht, wie er seine Nachmittage, seine Abende verbrachte, wußte nur, daß er morgens um sieben der heiligen Messe beiwohnte, von halb acht bis acht mit seiner Tochter, von acht bis halb neun allein frühstückte. Immer wieder war sie überrascht über die Freude, die er zeigte, wenn sein Sohn sich anmeldete; immer wieder öffnete er dann das Fenster, blickte die Straße hinunter bis zum Modesttor, Blumen wurden gebracht, eine Haushälterin für die Dauer des Besuchs engagiert; die kleine Narbe über seinem Nasenbein wurde rot vor Erregung, Reinemachefrauen bevölkerten das düstere Hinterhaus, förderten Weinflaschen zutage, die im Flur für den Altwarenhändler bereitgestellt wurden; immer mehr Flaschen sammelten sich, wurden erst in Fünfer- dann in Zehnerreihen aufgestellt, da die Länge des Flures nicht ausreichte; dunkelgrüner, starrer Staketenwald, dessen Spitzen sie errötend, sich der unziemlichen Neugier bewußt, zählte: zweihundertundzehn Flaschen, leergetrunken zwischen Anfang Mai und Anfang September, mehr als eine Flasche täglich.
Niemals roch er nach Alkohol, seine Hände zitterten nicht. Der dunkelgrüne, starre Wald wurde unwirklich. Hatte sie ihn tatsächlich gesehen, oder existierte er nur in ihren Träumen? Weder Schrit noch Hochbret oder Kanders hatte sie je zu Gesicht bekommen; die hockten weit entfernt voneinander in kleinen Nestern. Nur zweimal hatte einer beim anderen Fehler entdeckt: als Schrit die Basierung des städtischen Schwimmbades falsch errechnete, was von Hochbret herausgefunden wurde. Sie war sehr aufgeregt gewesen, aber Fähmel hatte sie nur gebeten, ihr die Rotstiftnotizen an den Rändern der Zeichnung als die von Schrit und die von Hochbret zu identifizieren, und zum ersten Mal wurde ihr klar, daß auch er offenbar vom Fach war: eine halbe Stunde lang hatte er mit Rechenschieber, Tabellen und gespitzten Bleistiften an seinem Schreibtisch gesessen, dann gesagt: »Hochbret hat recht, das Schwimmbad wäre spätestens in drei Monaten zusammengesackt.« Kein Wort des Tadels für Schrit, keins des Lobes für Hochbret, und als er – dieses eine Mal – das Gutachten selbst unterschrieb, lachte er; sein Lachen war ihr so unheimlich wie seine Höflichkeit.
Der zweite Fehler war Hochbret unterlaufen, bei der Berechnung der statischen Unterlagen für die Eisenbahnüberführung an der Wilhelmskuhle, und diesmal war es Kanders, der den Fehler entdeckte, und wieder sah sie Fähmel – zum zweiten Mal innerhalb von vier Jahren – rechnend am Schreibtisch sitzen. Wieder mußte sie ihm Hochbrets und Kanders Rotstiftnotizen identifizieren; dieser Zwischenfall gab ihm die Idee ein, den verschiedenen Mitarbeitern verschiedene Farben vorzuschreiben: Kanders rot, Hochbret grün, Schrit gelb.
Langsam schrieb sie, während ein Stück Schokolade in ihrem Munde zerging: ›Wochenendhaus für eine Filmschauspielerin‹, schrieb, während das zweite Stück Schokolade in ihrem Mund zerging: ›Erweiterungsbau der Societas, die Gemeinnützigste der Gemeinnützigen‹. Immerhin unterschieden sich die Kunden noch durch Name und Adresse voneinander, gaben die beigelegten Zeichnungen ihr das Gefühl, an Wirklichem teilzuhaben; Steine und Kunststoffplatten, Eisenträger, Glasziegel, Zementsäcke, die waren vorstellbar, während Schrit, Kanders und Hochbret, obwohl sie täglich deren Adresse schrieb, unvorstellbar blieben. Sie waren nie im Büro gewesen, riefen nie an, schrieben nie. Ohne Kommentar schickten sie ihre Berechnungen und Unterlagen zurück. »Wozu Briefe?« hatte Fähmel gesagt, »wir wollen doch hier keine Bekenntnisse sammeln, wie?«
Manchmal nahm sie das Lexikon aus dem Bücherregal, schlug die Namen der Orte auf, die sie täglich auf Briefumschläge schrieb: Schilgenauel, 87 Einwohner, davon 83 röm.-kath., berühmte Pfarrkirche aus dem 12. Jh. mit dem Schilgenaueler Altar. Dort wohnte Kanders, dessen Personalien die Versicherungskarte preisgab: siebenunddreißig Jahre alt, ledig, röm. kath… Schrit wohnte hoch im Norden, in Gludum, 1988 Einwohner, davon 1812 ev., 176 röm.-kath., Marinadenindustrie. Missionsschule. Schrit war achtundvierzig, verh., ev., 2 Kinder, davon 1 über achtzehn. Hochbrets Wohnort brauchte sie nicht nachzuschlagen, er wohnte in einem Vorort, in Blessenfeld, nur fünfunddreißig Omnibusminuten entfernt, und oft kam ihr der törichte Gedanke, ihn einmal aufzusuchen, sich seines Vorhandenseins zu versichern, indem sie seine Stimme hörte, ihn sah, seinen Händedruck spürte, doch sein geringes Alter, er war erst zweiunddreißig, und die Tatsache, daß er ledig war, hielt sie von solcher Intimität zurück. Obwohl das Lexikon Kanders und Schrits Wohnorte beschrieb, wie auf einem Ausweis die ausgewiesene Person beschrieben wird, Blessenfeld ihr vertraut war, blieben die drei ihr unvorstellbar, wenn sie auch monatlich Versicherungsbeträge für sie überwies, Postanweisungen ausfüllte, Zeitschriften und Tabellen an sie verschickte; sie blieben so unwirklich wie dieser Schrella, der auf der roten Karte stand, für den er immer erreichbar war, der aber in vier Jahren nicht einmal versucht hatte, ihn zu erreichen.
Sie ließ die rote Karte, die zur Ursache seiner ersten Grobheit geworden war, auf dem Tisch liegen. Wie hatte der Herr geheißen, der gegen zehn ins Büro gekommen war und Fähmel dringend, dringend, sehr dringend zu sprechen verlangte? Groß war er gewesen, grauhaarig, mit leicht gerötetem Gesicht, roch nach exquisiten Spesenmahlzeiten, trug einen Anzug, der nach Qualität geradezu stank; Macht, Würde und herrischen Charme hatte der Herr auf eine Weise vereint, die ihn unwiderstehlich machte; in seinem Titel, den er lächelnd hinmurmelte, hatte es nach Minister geklungen – Ministerialrat, -direktor, -dirigent, und als sie leugnete, Fähmels Aufenthalt zu wissen, schoß er’s heraus, rasch, legte ihr dabei die Hand auf die Schulter: »Nun, schönes Kind, sagen Sie schon, wo ich ihn finden kann«, und sie gab es preis, wußte nicht, wie es geschehen konnte, es ruhte so tief in ihr, das Geheimnis, das ihre Witterung so eingehend beschäftigte: Hotel ›Prinz Heinrich‹. Da wurde etwas von Schulkamerad gemurmelt, von einer Angelegenheit, die dringend, dringend, sehr dringend sei, etwas von Wehr, etwas von Waffen; er hinterließ, nachdem er gegangen war, ein Zigarrenaroma, das eine Stunde später noch Fähmels Vater zu einem aufgeregten Schnuppern veranlaßte.
»Mein Gott, mein Gott, muß das ein Kraut gewesen sein – ein Kraut!« Der Alte schnupperte an den Wänden entlang, schob seine Nase dicht über den Schreibtisch, setzte seinen Hut auf, kam nach wenigen Minuten mit dem Geschäftsführer des Zigarrenladens zurück, in dem er schon seit fünfzig Jahren kaufte, und sie standen beide eine Weile schnuppernd in der Tür, gingen im Büro hin und her wie aufgeregte Hunde, der Geschäftsführer kroch unter den Schreibtisch, wo offenbar eine ganze Rauchwolke sich erhalten hatte, stand auf, klopfte sich die Hände ab, lächelte triumphierend und sagte: »Ja, Herr Geheimrat, das war eine Partagas Eminentes.«
»Und Sie können mir die besorgen?«
»Sicher, ich habe sie vorrätig.«
»Wehe Ihnen, wenn das Aroma nicht das gleiche ist, das ich hier gerochen habe.«
Der Geschäftsführer schnüffelte noch einmal, sagte: »Partagas Eminentes, dafür laß ich mich köpfen, Herr Geheimrat. Vier Mark pro Stück. Möchten Sie welche?«
»Eine, lieber Kolbe, eine. Vier Mark, so hoch war der Wochenlohn meines Großvaters, und ich respektiere die Toten, hab meine Sentimentalitäten, wie Sie wissen. Mein Gott, dieses Kraut schlägt die zwanzigtausend Zigaretten tot, die mein Sohn hier schon geraucht hat.« Sie empfand es als hohe Ehre, daß der Alte seine Zigarre in ihrer Gegenwart rauchte; er lehnte sich zurück im Sessel seines Sohnes, der zu groß für ihn war; sie schob ihm ein Kissen in den Rücken, hörte ihm zu, während sie der makellosesten aller Beschäftigungen nachging: frankieren. Langsam die Rückseite des grünen, des roten, des blauen Heuss übers Schwämmchen gezogen, sauber in die rechte obere Ecke von Briefumschlägen geklebt, die nach Schilgenauel, Gludum und Blessenfeld reisen würden. Exakt, während der Alte einem Genuß frönte, den er seit fünfzig Jahren vergebens gesucht zu haben schien.
»Mein Gott«, sagte er, »jetzt weiß ich endlich, was eine Zigarre ist, liebes Kind. Mußte ich so lange darauf warten, bis zu meinem achtzigsten Geburtstag – – nun, lassen Sie, regen Sie sich doch nicht auf, natürlich, heute werd ich achtzig – – also, Sie waren’s nicht, die die Blumen im Auftrag meines Sohnes für mich bestellt hat? Schön, danke, später über meinen Geburtstag, ja? Ich lade Sie herzlich zur Feier heute abend im Café Kroner ein – – aber sagen Sie mir, liebe Leonore, warum hat man mir in den fünfzig Jahren, genaugenommen sind’s einundfünfzig Jahre – – die ich bei denen kaufe, nicht einmal eine solche Zigarre vorgelegt? Bin ich etwa geizig? Ich bin’s nie gewesen, Sie wissen es. Ich habe meine Zehner-Zigarren geraucht, als ich jung war, Zwanziger, als ich ein bißchen mehr Geld verdiente, und dann Sechziger, jahrzehntelang. Sagen Sie mir, liebes Kind, was sind das für Leute, die mit so einem Ding für vier Mark im Mund über die Straße gehen, in ein Büro kommen, wieder hinaus, als ob’s ein Zigarillo für einen Groschen wäre? Was sind das für Leute, die zwischen Frühstück und Mittagessen dreimal den Wochenlohn meines Großvaters verrauchen, ein Aroma hinterlassen, daß einem alten Mann wie mir die Spucke wegbleibt und ich wie ein Köter schnüffelnd hier im Büro meines Sohnes herumkrieche? Wie? Schulkamerad von Robert? Ministerialrat, -direktor, -dirigent – oder gar Minister? Den müßte ich doch kennen. Wehr? Waffen?«
Und plötzlich der Schimmer in seinen Augen, als wenn eine Klappe gefallen wäre: der Alte sank zurück ins erste, dritte oder sechste Jahrzehnt seines Lebens, begrub eins seiner Kinder. Welches? Johanna oder Heinrich? Über welchen weißen Sarg warf er Erdkrumen, streute er Blumen? Waren die Tränen, die in seinen Augen standen, die Tränen des Jahres 1909, in dem er Johanna begrub, des Jahres 1917, in dem er an Heinrichs Grab stand, oder waren sie aus dem Jahr 1942, in dem er die Nachricht von Ottos Tod erhielt? Weinte er an der Pforte des Irrenhauses, in dem seine Frau verschwunden war? Tränen, während die Zigarre in sanftem Kräuseln verrauchte, sie waren aus dem Jahr 1894; er begrub seine Schwester Charlotte, für die er Goldstück um Goldstück sparen wollte, auf daß es ihr besser gehe; der Sarg rutschte an den knirschenden Seilen hinunter, während die Schulkinder sangen: ›Türmer, wohin ist die Schwalbe entflohen?‹; zirpige Kinderstimmen drangen in dieses makellos eingerichtete Büro, und die Greisenstimme sang es über ein halbes Jahrhundert hinweg; nur dieser Oktobermorgen des Jahres 1894 war wirklich: Dunst über dem Niederrhein, Nebelschwaden zogen tanzende Schleifen über Rübenäcker, in Weidenbäumen schnarrten die Krähen wie Fastnachtsklappern, während Leonore einen roten Heuss übers nasse Schwämmchen zog. Dreißig Jahre bevor sie geboren war, sangen Bauernkinder: ›Türmer, wohin ist die Schwalbe entflohen?‹ Grüner Heuss, übers Schwämmchen gezogen. Vorsicht, Briefe an Hochbret liefen unter Ortstarif.
Wenn es über ihn kam, sah der Alte wie blind aus; sie wäre gern rasch ins Blumengeschäft gelaufen und hätte ihm einen hübschen Strauß gekauft, aber sie hatte Angst, ihn allein zu lassen; er streckte seine Hände aus, vorsichtig schob sie ihm den Aschenbecher näher, und er nahm die Zigarre, steckte sie in den Mund, blickte Leonore an und sagte leise: »Glaub nicht, daß ich verrückt bin, Kind.«
Sie hatte ihn gern, er kam regelmäßig ins Büro, holte sie ab, damit sie sich an ihren freien Nachmittagen seiner nachlässig geführten Bücher erbarme, drüben auf der gegenüberliegenden Straßenseite, hoch über der Druckerei, wo er im ›Atelier seiner Jugend‹ hauste; dort bewahrte er Dokumente auf, die von Steuerbeamten geprüft worden, deren Reihengräber schon verfallen waren, bevor sie schreiben lernte; englische Pfundguthaben, Dollarbesitz, Plantagenanteile in El Salvador; dort oben kramte sie in staubigen Abrechnungen, entzifferte handgeschriebene Kontoauszüge von Banken, die längst liquidiert waren, las in Testamenten, in denen er Kinder mit Legaten bedacht hatte, die er nun schon um vierzig Jahre überlebte. ›Und soll meinem Sohne Heinrich die Nutznießung der beiden Gutshöfe Stehlingers Grotte und Görlingers Stuhl ausschließlich vorbehalten bleiben, denn ich habe in seinem Wesen jene Ruhe, ja Freude am Wachstum der Dinge beobachtet, die mir die Voraussetzung für das Leben eines Landwirts zu sein scheinen…‹ »Hier«, schrie der Alte, fuchtelte mit der Zigarre in der Luft, »hier hab ich meinem Schwiegervater das Testament diktiert, am Abend, bevor ich ausrücken mußte; ich diktierte es, während der junge da oben schlief; er begleitete mich am nächsten Morgen noch zur Bahn, küßte meine Wange – Mund eines siebenjährigen Kindes –, aber niemand, Leonore, niemand nahm je meine Geschenke an, alle fielen sie an mich zurück: Güter und Bankkonten, Renten und Mietzins. Ich konnte nie schenken, nur meine Frau konnte es, und ihre Geschenke wurden angenommen – und wenn ich neben ihr lag, nachts, hörte ich sie oft murmeln, lange, sanft wie Wasser floß es aus ihrem Mund, stundenlang: wozuwozuwozu…«
Wieder weinte der Alte, diesmal in Uniform, Pionierhauptmann der Reserve, Geheimer Rat, Heinrich Fähmel, auf Sonderurlaub, um seinen siebenjährigen Sohn zu begraben; die Kilbsche Gruft nahm den weißen Sarg auf: dunkles, feuchtes Gemäuer und frisch wie Sonnenstrahlen die goldenen Ziffern, die das Todesjahr auswiesen: 1917. Robert, in schwarzem Samt gekleidet, wartete in der Kutsche draußen…
Leonore ließ die Briefmarke, violett diese, fallen; sie getraute sich nicht, den Brief an Schrit zu frankieren; ungeduldig schnaubten die Kutschpferde vor dem Friedhofstor, während Robert Fähmel, zwei Jahre alt, die Zügel halten durfte: schwarzes Leder, brüchig an den Rändern, und das frische Gold der Ziffer 1917 glänzte heller als Sonnenschein…
»Was treibt er, was macht er, mein Sohn, der einzige, der mir blieb, Leonore? Was macht er morgens von halb zehn bis elf im ›Prinz Heinrich‹; er durfte zusehen, wie den Pferden der Futtersack vorgebunden wurde – was treibt er? Sagen Sie’s mir doch, Leonore!« Zögernd nahm sie die violette Marke auf, sagte leise: »Ich weiß nicht, was er dort tut, wirklich nicht.«
Der Alte nahm die Zigarre in den Mund, lehnte sich lächelnd im Sessel zurück – als wäre nichts gewesen. »Was halten Sie davon, wenn ich Sie fest für die Nachmittage engagiere? Ich hole Sie ab. Wir würden mittags miteinander essen, und von zwei bis vier, oder bis fünf, wenn Sie wollen, helfen Sie mir, bei mir da oben Ordnung zu machen. Was halten Sie davon, liebes Kind?« Sie nickte, sagte: »Ja.« Noch traute sie sich nicht, den violetten Heuss übers Schwämmchen zu ziehen, ihn auf den Umschlag an Schrit zu kleben: ein Postbeamter würde den Brief aus dem Kasten nehmen, die Maschine würde stempeln: 6. September 1958, 13 Uhr. Da saß der Alte, er war wieder am Ende seines achten, am Anfang seines neunten Jahrzehnts angekommen.
»Ja, ja«, sagte sie.
»Ich darf Sie also als engagiert betrachten?«
»Ja.«
Sie blickte in sein schmales Gesicht, in dem sie seit Jahren vergeblich Ähnlichkeit mit seinem Sohn suchte; nur Höflichkeit schien eine verbindende Fähmelsche Familieneigenschaft zu sein; bei dem Alten war sie umständlicher, verziert, war Höflichkeit alten Schlags, fast Grandezza, nicht höfliche Mathematik wie bei seinem Sohn, der Trockenheit kultivierte, nur im Schimmer seiner grauen Augen ahnen ließ, daß er zu weniger trockenen Liebenswürdigkeiten fähig gewesen wäre. Der Alte benutzte sein Taschentuch wirklich, kaute an seiner Zigarre, sagte ihr manchmal Nettigkeiten über ihre Frisur, ihren Teint; sein Anzug zeigte wenigstens Spuren von Verschleiß, die Krawatte war immer etwas schief gebunden, Tuscheflecken hatte er an den Fingern, Radierkrümel auf den Rockaufschlägen, Bleistifte, harte und weiche in der Westentasche, und manchmal nahm er ein Blatt Papier aus dem Schreibtisch seines Sohnes, kritzelte rasch einen Engel hin, ein Gotteslamm, einen Baum, das Porträt eines draußen vorübereilenden Zeitgenossen. Manchmal auch gab er ihr Geld, Kuchen zu holen, bat sie, eine zweite Kaffeetasse anzuschaffen, und machte sie glücklich, weil sie den elektrischen Kocher endlich für jemand anderen als sich selbst einstöpseln konnte. Das war Büroleben, wie sie’s gewohnt war: Kaffee kochen, Kuchen kaufen und was erzählt bekommen, das seine richtige Reihenfolge hatte: von den Leben, die da hinten im Wohnflügel gelebt, von den Toden, die da gestorben worden waren. Jahrhundertelang hatten die Kilbs dort hinten Laster und Licht gesucht, Sünde und Heil, waren Kämmerer, Notare, Bürgermeister und Domherren geworden; dort hinten war noch etwas von den strengen Gebeten späterer Prälaten in der Luft; die düsteren Laster jungfräulich gebliebener Kilbinnen und die Bußübungen frommer Jünglinge, in diesem dunklen Haus da hinten, in dem jetzt an den stillen Nachmittagen ein blasses, dunkelhaariges Mädchen seine Schularbeiten machte und auf seinen Vater wartete. Oder war er nachmittags zu Hause? Zweihundertundzehn Flaschen Wein, leergetrunken zwischen Anfang Mai und Anfang September. Trank er sie allein, mit seiner Tochter, oder mit Gespenstern? Vielleicht mit diesem Schrella, der nie versucht hatte, ihn zu erreichen? Unwirklich alles, weniger wirklich als das aschblonde Haar der Bürokraft, die vor fünfzig Jahren hier an ihrem Platz gesessen und Notariatsgeheimnisse gehütet hatte.
»Ja, da saß sie, liebe Leonore, genau an der Stelle, wo Sie jetzt sitzen, sie hieß Josephine.« Hatte er auch der Nettigkeiten über ihr Haar, ihren Teint gesagt? Lachend zeigte der Alte auf den Wandspruch, der über dem Schreibtisch seines Sohnes hing, einziges Überbleibsel aus vergangener Zeit, weiß auf Mahagoni gemalt: Voll ist ihre Rechte von Geschenken. Sinnspruch Kilbscher wie Fähmelscher Unbestechlichkeit. »Meine beiden Schwäger hatten keine Lust an der Juristerei, die letzten männlichen Nachkommen des Geschlechts, den einen zog’s zu den Ulanen, den anderen zum Nichtstun, aber beide, der Ulan und der Nichtstuer sind am gleichen Tag, im gleichen Regiment, beim gleichen Angriff gefallen, bei Erby le Huette ritten sie ins Maschinengewehrfeuer, löschten den Namen Kilb aus, trugen Laster, die wie Scharlach blühten, ins Grab, ins Nichts, bei Erby le Huette.«
Glücklich war der Alte, wenn er Mörtelspuren an den Hosenbeinen hatte und sie bitten konnte, diese Spuren zu entfernen. Oft trug er dicke Zeichenrollen unter dem Arm, von denen sie nie wußte, ob er sie nur seinem Archiv entnommen hatte oder zu wirklichen Aufträgen unterwegs war. Er schlürfte den Kaffee, lobte ihn, schob ihr den Kuchenteller zu, zog an seiner Zigarre. Andacht kehrte auf sein Gesicht zurück. »Schulkamerad von Robert? Den müßte ich doch kennen. Schrella hieß er bestimmt nicht? Sind Sie sicher – nein, nein, der würde ja niemals solche Zigarren rauchen, welch ein Unsinn. Und Sie haben ihn ins ›Prinz Heinrich‹ geschickt? Das wird aber Krach geben, liebe Leonore, Stunk. Er liebt es nicht, wenn man seine Kreise stört, mein Sohn Robert. Der war schon als Junge so: liebenswürdig, höflich, intelligent, korrekt, aber wenn’s über bestimmte Grenzen ging, kannte er keinen Pardon. Der wäre nicht vor einem Mord zurückgeschreckt. Ich hatte immer ein wenig Angst vor ihm. Sie auch? Aber Kind, der wird Ihnen doch deshalb nichts tun, seien Sie vernünftig. Kommen Sie, gehen wir essen, feiern ein wenig Ihr neues Engagement und meinen Geburtstag. Machen Sie keinen Unsinn. Wenn er am Telefon schon geschimpft hat, ist’s ja vorüber. Schade, daß Sie den Namen nicht behalten haben. Ich wußte gar nicht, daß er mit ehemaligen Schulkameraden Umgang pflegt. Los. Kommen Sie. Heute ist Samstag, und er hat nichts dagegen, wenn Sie ein wenig früher Schluß machen. Ich verantworte das schon.«
Es schlug zwölf von Sankt Severin. Sie zählte rasch die Briefumschläge, dreiundzwanzig, raffte sie zusammen, hielt sie fest. War er wirklich nur eine halbe Stunde bei ihr gewesen? Eben fiel der zehnte der zwölf fälligen Schläge.
»Nein, danke«, sagte sie, »ich zieh den Mantel nicht an und, bitte, nicht in den ›Löwen‹.«
Nur eine halbe Stunde; die Druckereimaschinen stampften nicht mehr, aber der Keiler blutete noch.
Das war für den Portier schon Zeremonie geworden, fast Liturgie, ihm in Fleisch und Blut übergegangen: jeden Morgen Punkt halb zehn den Schlüssel vom Brett zu nehmen, die leichte Berührung der trockenen, gepflegten Hand zu spüren, die den Schlüssel entgegennahm; ein Blick in das strenge, blasse Gesicht mit der roten Narbe über dem Nasenbein; dann nachdenklich, mit einem winzigen Lächeln, das nur seine Frau hätte bemerken können, Fähmel nachzublicken, der die einladende Geste des Liftboys ignorierte und, wenn er die Treppe hinaufging, mit dem Schlüssel zum Billardzimmer leicht gegen die Messingstäbe des Geländers schlug: fünfmal, sechsmal, siebenmal klang es auf, wie von einem Xylophon, das nur einen einzigen Ton hatte, und eine halbe Minute später kam dann Hugo, der ältere der beiden Boys, fragte: »Wie immer?«, und der Portier nickte, wußte, daß Hugo ins Restaurant gehen, einen doppelten Cognac, eine Karaffe Wasser holen und bis elf verschwunden sein würde, im Billardzimmer oben.
Der Portier witterte Unheil hinter dieser Gewohnheit, morgens zwischen halb zehn und elf in Gesellschaft immer desselben Boys Billard zu spielen; Unheil oder Laster; gegen Laster gab es einen Schutz: Diskretion; die hatte ihren Preis, ihre Kurve, Diskretion und Geld waren voneinander abhängig, wie Abszisse und Ordinate; wer hier ein Zimmer bekam, kaufte diskrete Gewissen; Augen, die sahen und doch nichts sahen, Ohren, die hörten und doch nicht hörten; gegen Unheil aber gab es keinen Schutz: er konnte nicht jeden potentiellen Selbstmörder vor die Tür weisen, denn potentielle Selbstmörder waren sie alle; das kam sonnengebräunt mit Filmschauspielergesicht, sieben Koffern, nahm lachend den Zimmerausweis in Empfang, und sobald die Koffer gestapelt waren, der Boy das Zimmer verlassen hatte, zog’s die geladene, schon entsicherte Pistole aus der Manteltasche und knallte sich eins vor den Kopf; das kam wie aus Gräbern dahergeschlichen, mit goldenen Zähnen, goldenem Haar, in goldenen Schuhen, grinste wie ein Skelett; Gespenster auf der vergeblichen Suche nach Lust, bestellten Frühstück für halb elf aufs Zimmer, hängten den Zettel ›Bitte nicht stören‹ draußen an die Klinke, türmten Koffer von innen vor die Tür und schluckten die Giftkapsel, und lange bevor erschrockene Zimmermädchen Frühstückstabletts fallen ließen, raunte es im Haus: ›Auf Zimmer 12 liegt eine Tote‹, raunte schon nachts, wenn verspätete Bargäste auf ihre Zimmer schlichen und das Schweigen hinter der Tür von Zimmer zwölf ihnen unheimlich war; es gab solche, die das Schweigen des Schlafs vom Schweigen des Todes zu unterscheiden wußten. Unheil: er witterte es, wenn er Hugo eine Minute nach halb zehn mit dem großen Cognac, der Wasserkaraffe ins Billardzimmer hinaufgehen sah.
Um diese Zeit konnte er den Boy schlecht missen; Hände knäuelten sich auf seiner Theke, rechnungsheischende, Prospekte einsammelnde Hände, und er ertappte sich immer wieder dabei, daß er um diese Zeit – wenige Minuten nach halb zehn – anfing, unhöflich zu werden; jetzt ausgerechnet zu dieser Lehrerin, der achten oder neunten, die nach dem Weg zu den römischen Kindergräbern fragte; ihre rote Gesichtshaut ließ auf ländliche Herkunft schließen, Handschuhe und Mantel nicht auf Einkünfte, wie sie bei den Gästen des ›Prinz Heinrich‹ vorauszusetzen waren, und er fragte sich, wie sie in den Pulk aufgeregter Ziegen hineingeraten sein mochte, von denen keine es für nötig befunden hatte, nach dem Zimmerpreis zu fragen, oder würde sie, die jetzt verlegen an ihren Handschuhen zerrte, das deutsche Wunder vollbringen, für das Jochen zehn Mark Prämie ausgesetzt hatte: »Zehn Mark zahle ich dem, der mir einen Deutschen nennt, der nach dem Preis für irgend etwas gefragt hat.« Nein, auch sie würde ihm die Prämie nicht einbringen; er zwang sich zur Ruhe, erklärte ihr freundlich den Weg zu den römischen Kindergräbern.
Die meisten verlangten gerade nach dem Boy, der nun für eineinhalb Stunden im Billardzimmer bleiben würde, wollten alle von ihm ihre Koffer in die Halle, zum Autobus der Fluggesellschaft, zu Taxis, an den Bahnhof gebracht haben; mißlaunige Globetrotter, die in der Halle auf ihre Rechnung warteten, über Startzeiten und Ankunftszeiten von Flugzeugen sprachen, wollten von Hugo Eis für ihren Whisky, von ihm Feuer für ihre Zigaretten, die sie unangezündet im Munde hängen ließen, um Hugos guten Drill auf die Probe zu stellen; nur Hugo wollten sie mit lässigen Händen Dank winken, nur wenn Hugo da war, zuckten ihre Gesichter in geheimnisvollen Spasmen; ungeduldig waren diese Gesichter, deren Besitzer es kaum erwarten konnten, ihre schlechte Laune in ferne Erdteile zu tragen, sie waren startbereit, um in persischen oder oberbayrischen Hotelspiegeln den Grad der Gegerbtheit ihrer Haut festzustellen. Schrille Weiberstimmen schrieen nach Liegengelassenem; »Hugo, mein Ring«, »Hugo, meine Handschuhe«, »Hugo, mein Lippenstift«, erwarteten alle, daß Hugo zum Aufzug flitzen, lautlos nach oben fahren und auf Zimmer 19, Zimmer 32, Zimmer 46 nach Ring, Handtasche, Lippenstift fahnden würde; und die alte Musch brachte ihren Köter an, der gerade Milch geschleckt, Honig gefressen, Spiegeleier verschmäht hatte und nun spazierengeführt werden mußte, damit er an den Pfosten von Verkaufsbuden, an parkenden Autos, haltenden Straßenbahnen seine hündische Notdurft verrichte und seinen absterbenden Geruchssinn erneuere; offenbar konnte nur Hugo des Hundes seelischer Situation gerecht werden: und schon hatte die Oma Bleesiek, die jedes Jahr für vier Wochen herüberkam, ihre Kinder und die stetig wachsende Zahl ihrer Enkel zu besuchen, schon hatte sie, kaum angekommen, nach Hugo gefragt: »Ist er noch da, das Jüngelchen mit dem Ministrantengesicht, der schmale und so blasse, rotblonde, der immer so ernsthaft dreinblickt?« Hugo soll ihr beim Frühstück, während sie Honig schleckte, Milch trank und Spiegeleier nicht verschmähte, aus der Lokalzeitung vorlesen; verzückt blickte die Alte auf, wenn Straßennamen fielen, die ihr aus der Kinderzeit noch vertraut waren: Unfall am Ehrenfeldgürtel. Raubüberfall an der Friesenstraße. »So lange Zöpfe hab ich gehabt, als ich dort Rollschuh lief – so lang, mein Junge.« Zart war die Alte, zäh – kam sie nur Hugos wegen über den großen Ozean geflogen? »Wie?« sagte sie enttäuscht, »Hugo ist erst nach elf frei?«
Mit mahnend erhobenen Händen stand der Busfahrer der Fluggesellschaft in der Drehtür, während an der Kasse noch die Preise für komplizierte Frühstücke errechnet wurden; da saß der Kerl, der ein halbes Spiegelei verlangt hatte, empört aber die Rechnung zurückwies, auf der ihm ein ganzes berechnet worden war; noch empörter das Angebot des Geschäftsführers, ihm das halbe Spiegelei zu erlassen, zurückwies, eine neue Rechnung verlangte, auf der ihm ein halbes berechnet werden mußte. »Ich bestehe drauf.« Der reiste wohl nur um die Welt, um Belege vorweisen zu können, auf denen halbe Spiegeleier berechnet waren. »Ja«, sagte der Portier, »die erste Straße links, die zweite rechts, dann wieder die dritte links, und dann sehen gnädige Frau schon das Schild: Zu den römischen Kindergräbern.« Endlich konnte der Fahrer der Busgesellschaft seine Fahrgäste einsammeln, endlich schienen sämtliche Lehrerinnen auf den rechten Weg gebracht, sämtliche fetten Köter zum Pissen geführt. Aber immer noch schlief der Herr auf Zimmer elf, schlief schon seit sechzehn Stunden, hatte das Schild draußen an die Tür gehängt: ›Bitte nicht stören‹. Unheil, auf Zimmer elf oder im Billardzimmer; die Zeremonie inmitten des idiotischen Aufbruchsgewimmels: Schlüssel vom Brett nehmen, Berührung der Hand, Blick in das blasse Gesicht, auf die rote Narbe über dem Nasenbein, Hugos ›Wie immer?‹, sein Nicken: Billard von halb zehn bis elf. Aber noch hatte der interne Nachrichtendienst des Hotels nichts Unheilvolles oder Lasterhaftes berichten können: der spielte tatsächlich von halb zehn bis elf Billard, allein, nippte an seinem Cognac, am Wasserglas, rauchte, ließ sich von Hugo aus dessen Kindheit erzählen, erzählte Hugo aus seiner eigenen Kindheit, duldete sogar, daß Zimmermädchen oder Reinmachefrauen, auf dem Weg zum Wäscheaufzug, an der offenen Zimmertür stehenblieben, ihm zuschauten, blickte lächelnd vom Spiel auf. Nein, nein, der ist harmlos.
Jochen humpelte aus dem Aufzug, hielt einen Brief in der Hand, den er jetzt kopfschüttelnd hochhob. Jochen, der hoch oben unter dem Taubenschlag hauste, neben seinen gefiederten Freunden, die ihm Botschaften aus Paris und Rom, Warschau und Kopenhagen brachten; Jochen in seiner Phantasieuniform, die etwas zwischen Kronprinz und Unteroffizier darstellte, war kaum zu klassifizieren: ein bißchen Faktotum und ein bißchen graue Eminenz, Vertrauter von allen, vertraut mit allem, nicht Portier und nicht Kellner, weder Geschäftsführer noch Hausdiener, und doch, von allem, sogar vom Kochen verstand er etwas; von ihm stammte das geflügelte Wort, immer dann ausgesprochen, wenn moralische Bedenken gegen Gäste laut wurden: »Was würde uns der Ruf der Diskretion nützen, wenn die Moral intakt wäre – was nutzt Diskretion, wenn es nichts mehr gibt, das diskret behandelt werden muß?«; etwas Beichtvater, etwas Geheimsekretär, etwas Zuhälter; Jochen, mit rheumagekrümmten Fingern, öffnete grinsend den Brief.
»Die zehn Mark hättest du sparen können, ich hätte dir tausendmal mehr – und unentgeltlich – erzählen können als dieser kleine Schwindler hier. Auskunftsbüro Argus. ›Anbei die gewünschte Auskunft über Herrn Architekten Dr. Robert Fähmel, wohnhaft Modestgasse 8. Dr. Fähmel ist zweiundvierzig Jahre alt, verwitwet, zwei Kinder. Sohn: 22, Architekt, nicht hier wohnhaft. Tochter 19: Schülerin. Vermögen des Dr. F.: erheblich. Mütterlicherseits mit den Kilbs verwandt. Nichts Nachteiliges zu erfahren.‹« Jochen kicherte: »Nichts Nachteiliges zu erfahren! Als ob über den jungen Fähmel je etwas Nachteiliges zu erfahren gewesen wäre, und über den wird es niemals etwas Nachteiliges zu erfahren geben. Das ist einer von den wenigen Menschen, für die ich jederzeit meine Hand ins Feuer legen würde, hörst du, hier meine alte, korrupte, rheumaverkrümmte Hand. Mit dem kannst du den Jungen getrost allein lassen, der ist nicht von der Sorte – und wenn er von der Sorte wäre, würde ich nicht einsehen, daß man ihm nicht gestattet, was man schwulen Ministern gestattet – aber der ist nicht von der Sorte, der hat schon mit zwanzig ein Kind gehabt, von der Tochter eines Kollegen, vielleicht erinnerst du dich an ihn, den Schrella, der einmal ein Jahr hier gearbeitet hat. Nein? Du warst wohl damals noch nicht hier. Ich sag dir nur: laß den jungen Fähmel in Frieden Billard spielen. Feine Familie. Wirklich. Rasse. Ich hab seine Großmutter noch gekannt, seinen Großvater, seine Mutter und seine Onkel; die haben hier vor fünfzig Jahren schon Billard gespielt. Die Kilbs, das weißt du wohl nicht, wohnen seit dreihundert Jahren in der Modestgasse, wohnten – es gibt keine mehr. Seine Mutter ist übergeschnappt, hatte zwei Brüder verloren, und drei Kinder waren ihr gestorben. Sie kam nicht drüber weg. Das war eine feine Frau. Eine von den Stillen, weißt du. Die aß nicht einen Krümel mehr, als es auf Lebensmittelkarten gab, nicht ’ne Bohne, und gab auch ihren Kindern nicht mehr. Verrückt. Sie schenkte alles weg, was sie extra bekam, und die bekam viel: die besaßen Bauernhöfe, und der Abt von Sankt Anton, da unten im Kissatal, der schickte ihr Butter in Fässern, Honig in Krügen, schickte ihr Brot, aber sie aß nichts davon und gab ihren Kindern nichts davon; die mußten das Sägemehlbrot essen und gefärbte Marmelade drauf, während ihre Mutter alles wegschenkte; sogar Goldstücke teilte sie aus; ich hab’s selber gesehen, wie sie – das muß sechzehn oder siebzehn gewesen sein – mit den Broten und dem Honigkrug aus der Haustür kam. Honig 1917! Kannst du dir das vorstellen? Aber ihr habt ja alle kein Gedächtnis, könnt euch nicht vorstellen, was das bedeutete: Honig 1917 und Honig im Winter 41/42, und wie sie zum Güterbahnhof lief und drauf bestand, mit den Juden wegzufahren. Verrückt. Sie sperrten sie ins Irrenhaus, aber ich glaub nicht, daß sie verrückt ist. Das ist eine Frau, wie du sie nur im Museum auf den alten Bildern sehen kannst. Für deren Sohn laß ich mich in Stücke schneiden, und wenn der nicht aufs Zuvorkommendste bedient wird, gibt es Krach hier in der Bude, und wenn fünfundneunzig alte Weiber nach Hugo fragen, und er will den Jungen bei sich haben, dann kriegt er ihn. Auskunftsbüro Argus. Diesen Idioten zehn Mark zu zahlen. Du bringst wohl noch fertig, mir zu sagen, daß du seinen Vater nicht kennst, den alten Fähmel, wie? Gratuliere, du kennst ihn also und bist nie auf die Idee gekommen, daß es der Vater von dem sein könnte, der oben Billard spielt. Nun, den alten Fähmel kennt ja wohl jedes Kind. Der kam hier vor fünfzig Jahren mit ’nem gewendeten Anzug von seinem Onkel an, hatte ein paar Goldstücke in der Tasche – und hat hier, hier im ›Prinz Heinrich‹ schon Billard gespielt, da wußtest du noch nicht, was ein Hotel ist. Ihr seid Portiers! Laß den da oben mal in Ruhe. Der macht keinen Unsinn, richtet keinen Schaden an, der wird höchstens mal überschnappen auf die stille Tour. Der war der beste Schlagballspieler, der beste Hundertmeterläufer, den wir hier in der Stadt je gehabt haben, der war zäh, und wenn es drauf ankam, hart; der konnte Unrecht nicht ertragen, und wenn du Unrecht nicht ertragen kannst, bist du bald in der Politik drin; mit neunzehn war er drin; den hätten sie geköpft oder für zwanzig Jahre eingesperrt, wenn er ihnen nicht durchgegangen wäre. Ja, guck mich nur an; er kam davon und blieb drei oder vier Jahre draußen – ich weiß nicht genau, was da los war, hab’s nie erfahren, ich weiß nur, daß der alte Schrella drin verwickelt war, auch die Tochter, mit der er dann später das Kind hatte; er kam zurück, und sie rührten ihn nicht an; er wurde Soldat bei den Pionieren, ich seh ihn noch vor mir, wenn er in seiner Uniform mit der schwarzen Paspelierung in Urlaub kam. Guck mich nicht so blöde an. Ob der mal Kommunist war? Ich weiß nicht, ob er’s war – aber wenn schon: jeder anständige Mensch ist das mal gewesen. Los, geh frühstücken, ich werd mit den alten Ziegen schon fertig.«
Unheil oder Laster; sie lagen in der Luft, aber Jochen war immer zu harmlos gewesen, hatte nie Selbstmord gewittert und es nie geglaubt, wenn verstörte Gäste die Stille des Todes hinter verschlossenen Zimmertüren von der Stille des Schlafs zu unterscheiden gewußt hatten; der tat korrupt und gerieben und glaubte doch an die Menschen.
»Na, meinetwegen«, sagte der Portier, »ich geh zum Frühstück. Daß du nur niemand zu ihm raufläßt, da legt er Wert drauf. Hier.« Er legte Jochen die rote Karte auf die Theke: ›Zu sprechen nur für meine Mutter, meinen Vater, meine Tochter, meinen Sohn und Herrn Schrella – für niemanden sonst.‹
Schrella? dachte Jochen erschrocken, lebt der denn noch? Den haben sie doch damals umgebracht – oder hatte er einen Sohn?
Dieses Aroma schlug alles tot, was in der Halle in den letzten vierzehn Tagen geraucht worden war, dieses Aroma trug man vor sich her wie eine Standarte: hier komm ich, der Bedeutende, der Sieger, dem keiner widersteht; einsneunundachtzig, grauhaarig, Mitte vierzig, Anzugstoff: Regierungsqualität; so waren Kaufleute, Industrielle, Künstler nicht gekleidet, das war beamtete Eleganz, Jochen roch es; das war Minister, Gesandter, unterschriftsträchtig mit fast gesetzlicher Kraft; das drang ungehindert durch gepolsterte, stählerne, blecherne Vorzimmertüren, räumte mit seinen Schneepflugschultern alle Hindernisse weg, strahlte liebenswürdige Höflichkeit aus, der man doch anmerkte, daß sie angelernt war, ließ der Oma den Vortritt, die eben ihren ekligen Köter wieder aus Erichs, des zweiten Boys, Hand entgegennahm, half sogar dem grabentstiegenen Skelett das Treppengeländer erreichen und umfassen. »Gern geschehen, gnädige Frau.«
»Nettlinger.«
»Womit kann ich dienen, Herr Doktor?«
»Ich muß Herrn Dr. Fähmel sprechen. Dringend. Sofort. Dienstlich.«
Kopfschütteln, sanfte Verneinung, während er mit der roten Karte spielte. Mutter, Vater, Sohn, Tochter, Schrella. Nettlinger nicht erwünscht.
»Aber ich weiß, daß er hier ist.«
Nettlinger? Hab ich den Namen nicht schon mal gehört? Das ist so ein Gesicht, bei dem mir was einfallen müßte, was ich nicht vergessen wollte. Ich habe den Namen schon gehört, vor vielen Jahren, und mir damals gesagt: den mußt du dir merken, vergiß ihn nicht, aber nun weiß ich nicht mehr, was ich mir merken wollte. Auf jeden Fall: Vorsicht. Dir würde speiübel, wenn du wüßtest, was der alles schon gemacht hat, du würdest bis an dein seliges Ende nicht aufhören können zu kotzen, wenn du den Film ansehen müßtest, den der am Tag des Gerichts vorgespielt bekommt: den Film seines Lebens; das ist so einer, der Leichen die Goldzähne ausbrechen, Kindern das Haar abschneiden läßt. Unheil oder Laster? Nein, Mord lag in der Luft.
Und diese Leute wußten nie, wann ein Trinkgeld angebracht war; nur daran konnte man Klasse erkennen; jetzt wäre der Augenblick vielleicht für eine Zigarre gewesen, aber nicht für Trinkgeld, und keinesfalls für ein so hohes: den grünen Zwanziger, den er grinsend über die Theke schob. Wie dumm die Leute sind. Kennen nicht die primitivsten Gesetze der Menschenbehandlung, nicht die einfachsten Gesetze der Portierbehandlung; als wenn im ›Prinz Heinrich‹ ein Geheimnis überhaupt zu verkaufen wäre; als wenn ein Gast, der vierzig oder sechzig fürs Zimmer zahlt, um einen grünen Zwanziger zu haben wäre; zwanzig von einem Unbekannten, dessen einziger Ausweis seine Zigarre und sein Anzugstoff ist. Und so was wurde dann Minister, vielleicht Diplomat und kannte nicht einmal das kleine Einmaleins der schwierigsten aller Künste, der Bestechung. Betrübt schüttelte Jochen den Kopf, ließ den grünen Schein unberührt. Voll ist ihre Rechte von Geschenken.
Kaum zu glauben: dem grünen Schein wurde ein blauer hinzugelegt, das Angebot auf dreißig erhöht, eine dicke Wolke Partagas-Eminentes-Duft in Jochens Gesicht gepustet.
Blas du nur, puste mir nur deinen Viermarkzigarrenrauch ins Gesicht, und leg noch ’nen violetten Schein hinzu. Jochen ist nicht zu kaufen. Nicht für dich und nicht für dreitausend; ich hab nicht viele Menschen in meinem Leben gemocht, aber den Jungen hab ich gern. Pech gehabt, Freund mit dem gewichtigen Gesicht, mit der unterschriftsträchtigen Hand, eineinhalb Minuten zu spät gekommen. Du müßtest doch riechen, daß Geldscheine hier das am wenigsten Angebrachte sind, bei mir. Ich hab sogar einen Vertrag in der Tasche, notariell bestätigt, daß ich auf Lebenszeit mein Kämmerchen da oben unterm Dach bewohnen, meine Tauben halten darf; ich kann mir zum Frühstück, zum Mittagessen aussuchen, worauf ich Lust habe, und krieg noch einhundertundfünfzig Mark monatlich bar in die Hand gedrückt, dreimal soviel, wie ich wirklich für meinen Tabak brauche; ich hab Freunde in Kopenhagen, in Paris und Warschau und Rom – und wenn du wüßtest, wie Brieftaubenleute zusammenhalten –, aber du weißt ja nichts, glaubst nur zu wissen, daß man mit Geld alles erreichen kann; das sind so Lehren, wie ihr sie euch selbst erteilt. Und natürlich, Hotelportiers, die tun um Geld alles, verkaufen dir ihre eigene Großmutter für einen violetten Fünfziger. Nur eins darf ich hier nicht, Freund, eine einzige Ausnahme hat meine Freiheit: ich darf hier unten, wenn ich Portierdienst tue, nicht meine Pfeife rauchen, und diese Ausnahme bedaure ich heute zum ersten Mal, sonst würde ich deiner Partagas Eminentes meinen schwarzen Krausen entgegenpusten. Du kannst mich – deutlich und klar ausgesprochen – ein paar hundert- und siebenundzwanzigmal am Arsch lecken. Den Fähmel verkauf ich dir nicht. Der soll ungestört von halb zehn bis elf da oben Billard spielen, obwohl ich Besseres für ihn zu tun wüßte; nämlich: an deiner Stelle im Ministerium zu sitzen. Oder zu tun, was er in seiner Jugend getan hat: Bomben zu werfen, um Drecksäcken wie dir den Hosenboden einzuheizen. Aber bitte, wenn er von halb zehn bis elf Billard spielen will, so soll er, und ich bin dazu da, dafür zu sorgen, daß niemand ihn stört. Und jetzt kannst du die Geldscheine wieder wegnehmen und die Platte putzen, und wenn du jetzt noch einen Geldschein hinlegst, weiß ich nicht, was passiert. Ich hab Taktlosigkeiten mit dem Schaumlöffel gefressen und Geschmacklosigkeiten zentnerweise mit duldender Miene über mich ergehen lassen, hab Ehebrecher und Schwule hier in meine Liste eingetragen, wildgewordene Ehefrauen und Hahnreie abgewimmelt – und glaub nicht, daß mir das an der Wiege gesungen worden ist. Ich war immer ein braver Junge, war Meßdiener, wie du es bestimmt warst, und hab im Kolpingsverein die Lieder vom Vater Kolping und vom heiligen Aloisius gesungen; da war ich zwanzig und tat schon sechs Jahre in dieser Bude Dienst. Und wenn ich den Glauben an die Menschheit nicht verloren habe, dann nur, weil es ein paar gibt, die wie der junge Fähmel und seine Mutter sind. Steck dein Geld weg, nimm die Zigarre aus dem Mund, mach eine höfliche Verbeugung vor einem alten Mann wie mir, der mehr Laster gesehen hat, als du dir träumen läßt, laß dir von dem Boy da hinten die Drehtür aufhalten und verschwinde.
»Hab ich recht gehört? Du willst den Geschäftsführer sprechen?«
Da lief er rot an, wurde ganz blau vor Wut – verflucht, hab ich wieder laut gedacht und dich möglicherweise gar laut geduzt; das wäre natürlich peinlich, ein unverzeihlicher Fehler, denn Leute wie Sie, die duze ich nicht.
Was ich mich unterstehe? Ich bin ein alter Mann, fast siebzig, hab laut gedacht; ich bin ein bißchen verkalkt, vertrottelt und stehe unter dem Schutz des Paragraphen einundfünfzig, freß hier mein Gnadenbrot. Wehr und Waffen? Die haben mir noch gefehlt. Zum Geschäftsführer bitte links herum, dann zweite Tür rechts, Beschwerdebuch in Saffian gebunden. Und solltest du je hier Spiegeleier bestellen, und sollte ich gerade in der Küche sein, wenn die Bestellung durchkommt, dann werde ich mir eine Ehre daraus machen, dir höchstpersönlich in die Pfanne zu spucken. Dann bekommst du meine Liebeserklärung in natura, mit zerschmolzener Butter vermischt. Gern geschehen, gnädiger Herr.
»Ich sagte ja schon, mein Herr. Hier links herum, dann zweite Tür rechts, die Geschäftsführung. Beschwerdebuch in Saffian gebunden. Sie möchten angemeldet werden? Gern. Vermittlung. Bitte den Herrn Direktor für Portier. Herr Direktor, ein Herr – wie war doch der Name? Nettlinger, Verzeihung, Dr. Nettlinger möchte Sie dringend sprechen. In welcher Angelegenheit? Beschwerde über mich. Ja, danke. Der Herr Direktor erwartet Sie. Jawohl, gnädige Frau, heute abend Feuerwerk und Aufmarsch, die erste Straße links, dann die zweite rechts, wieder die dritte links, und Sie sehen schon das Schild: Zu den römischen Kindergräbern.