Irisches Tagebuch - Heinrich Böll - E-Book + Hörbuch

Irisches Tagebuch Hörbuch

Heinrich Böll

3,5

Beschreibung

Diese Aufzeichnungen sind eine Hommage an das Land, in das Heinrich Böll 1954 seine erste wirkliche Auslandsreise unternahm und das ihm in den darauffolgenden Jahren mehr und mehr zur Wahlheimat wurde. »Das Geheimnis dieses Buches, des liebenswertesten Buches von Heinrich Böll, ist, daß kaum ein Wort über die verzwickte Ökonomie und die noch verzwicktere Geschichte dieses kleinen Staates gesagt wird und daß dennoch das ganze Irland in diesem Tagebuch eingefangen zu sein scheint.« (Stuttgarter Zeitung). Marcel Reich-Ranicki sieht darin "ein verstecktes Deutschlandbuch, denn mit seinen Reisenotizen strebt Böll eine mittelbare Kritik der einheimischen Verhältnisse an: Irland wird immer wieder als Gegensatz zur Bundesrepublik betrachtet." Das Irische Tagebuch wurde ein wesentlicher Auslöser der Irland-Reisewelle, die wenige Jahre nach seiner Veröffentlichung in Deutschland einsetzte. Informieren Sie sich auch über das größte editorische Unternehmen in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch: Heinrich Böll, Werke 1 - 27 Kölner Ausgabe

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Zeit:3 Std. 33 min

Sprecher:Jerzy May
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Heinrich Böll

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Über Heinrich Böll

Heinrich Böll, geboren am 21. Dezember 1917 in Köln, gestorben am 16. Juli 1985 in Kreuzau (Kreis Düren).

Heinrich Böll war Sohn eines Tischlers und Holzbildhauers, in dessen Hause in Köln ab 1933 Zusammenkünfte verbotener katholischer Jugendverbände stattfanden. Nach einem gerade begonnenen Studium der Germanistik und klassischen Philosophie wurde Böll 1939 zur Wehrmacht eingezogen. Er desertierte 1944 und kehrte 1945 aus der Kriegsgefangenschaft nach Köln zurück, wo er sein Studium wieder aufnahm und in der Schreinerei seines Bruders arbeitete. Ab 1947 publizierte er in Zeitschriften und wurde 1951 für die Satire Die schwarzen Schafe mit dem Preis der Gruppe 47 ausgezeichnet.

Fortan war er als freier Schriftsteller tätig. Außerdem übersetzte er, gemeinsam mit seiner Frau Annemarie, englische und amerikanische Literatur (u. a. George Bernard Shaw und Jerome D. Salinger).

Als Publizist und Autor führte Heinrich Böll Klage gegen das Grauen des Krieges und seiner Folgen, polemisierte er gegen die Restauration der Nachkriegszeit und wandte er sich gegen den Klerikalismus der katholischen Kirche, aus der er 1976 austrat.

In den 60er und 70er Jahren unterstützte er die Außerparlamentarische Opposition. 1983 protestierte er gegen die atomare »Nachrüstung«. Insbesondere engagierte sich Böll für verfolgte Schriftsteller im Ostblock (Reisen in die UdSSR und CSSR). Der 1974 aus der UdSSR deportierte Alexander Solschenizyn war zunächst Bölls Gast. Ab 1976 gab er, gemeinsam mit Günter Grass und Carola Stern, die Zeitschrift L 76. Demokratie und Sozialismus heraus. Der Verband deutscher Schriftsteller wurde 1969 von ihm mitbegründet, und er war Präsident des Internationalen PEN-Clubs (1971-74).

Böll erhielt zahlreiche Auszeichnungen, so den Georg-Büchner-Preis (1967), den Literatur-Nobelpreis (1972) und die Carl-von-Ossietzky-Medaille (1974).

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Über dieses Buch

Diese Aufzeichnungen sind eine Hommage an das Land, in das Heinrich Böll 1954 seine erste wirkliche Auslandsreise unternahm und das ihm in den darauffolgenden Jahren mehr und mehr zur Wahlheimat wurde.

»Das Geheimnis dieses Buches, des liebenswertesten Buches von Heinrich Böll, ist, daß kaum ein Wort über die verzwickte Ökonomie und die noch verzwicktere Geschichte dieses kleinen Staates gesagt wird und daß dennoch das ganze Irland in diesem Tagebuch eingefangen zu sein scheint.« (Stuttgarter Zeitung). Marcel Reich-Ranicki sieht darin »ein verstecktes Deutschlandbuch, denn mit seinen Reisenotizen strebt Böll eine mittelbare Kritik der einheimischen Verhältnisse an: Irland wird immer wieder als Gegensatz zur Bundesrepublik betrachtet.« Das Irische Tagebuch wurde ein wesentlicher Auslöser der Irland-Reisewelle, die wenige Jahre nach seiner Veröffentlichung in Deutschland einsetzte.

 

Informieren Sie sich auch über das größte editorische Unternehmen in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch: Heinrich Böll, Werke 1–27 Kölner Ausgabe

Inhaltsverzeichnis

Irisches Tagebuch

1 Ankunft I

2 Ankunft II

3 Bete für die Seele des Michael O’Neill

4 Mayo – God help us

5 Skelett einer menschlichen Siedlung

6 Ambulanter politischer Zahnarzt

7 Porträt einer irischen Stadt

Limerick am Morgen

Limerick am Abend

8 Als Gott die Zeit machte…

9 Betrachtungen über den irischen Regen

10 Die schönsten Füße der Welt

11 Der tote Indianer in der Duke Street

12 Blick ins Feuer

13 Wenn Seamus einen trinken will…

14 Das neunte Kind der Mrs. D.

15 Kleiner Beitrag zur abendländischen Mythologie

16 Kein Schwan war zu sehen

17 Redensarten

18 Abschied

Dreizehn Jahre später

Nachwort

»…war das nicht ein Prachtbürschchen?«

I. Die Reisen und ›Irischen Impressionen‹ 1954–1956

II. Das Tagebuch

Irisches Tagebuch

Es gibt dieses Irland: wer aber hinfährt und es nicht findet, hat keine Ersatzansprüche an den Autor.

 

Ich widme dieses kleine Buch dem, der mich anregte, es zu schreiben: Karl Korn.

H. B.

1Ankunft I

Als ich an Bord des Dampfers ging, sah ich, hörte und roch ich, daß ich eine Grenze überschritten hatte; eine von Englands lieblichen Seiten hatte ich gesehen: Kent, fast bukolisch – das topographische Wunder London nur gestreift – dann eine von Englands düsteren Seiten gesehen: Liverpool – aber hier auf dem Dampfer war England zu Ende: hier roch es schon nach Torf, klang kehliges Keltisch aus Zwischendeck und Bar, hier schon nahm Europas soziale Ordnung andere Formen an: Armut war nicht nur »keine Schande« mehr, sondern weder Ehre noch Schande: sie war – als Moment gesellschaftlichen Selbstbewußtseins – so belanglos wie Reichtum; die Bügelfalten hatten ihre schneidende Schärfe verloren, und die Sicherheitsnadel, die alte keltisch-germanische Fibel, trat wieder in ihr Recht; wo der Knopf wie ein Punkt gewirkt hatte, vom Schneider gesetzt, war sie wie ein Komma eingehängt worden; als Zeichen der Improvisation förderte sie den Faltenwurf, wo der Knopf diesen verhindert hatte. Auch als Aufhänger für Preisschildchen, als Hosenträgerverlängerung, als Manschettenknopf-Ersatz sah ich sie, schließlich als Waffe, mit der ein kleiner Junge durch den Hosenboden eines Mannes stach: erstaunt war der Junge, erschrocken dann, weil der Mann keinerlei Reaktion zeigte; dann klopfte der Junge vorsichtig mit dem Zeigefinger den Mann ab, um festzustellen, ob er noch lebte: er lebte noch, schlug dem Jungen lachend auf die Schulter.

Immer länger wurde die Schlange vor dem Schalter, wo es den Nektar Westeuropas in großzügigen Portionen um billiges Geld gab: Tee; als wären die Iren bemüht, unbedingt auch diesen Weltrekord, den sie knapp vor England halten, nicht preiszugeben: fast zehn Pfund Tee werden jährlich pro Kopf in Irland verbraucht: ein kleines Schwimmbassin voll Tee also muß in jedem Jahr durch jede irische Kehle laufen.

Während ich langsam in der Schlange vorrückte, blieb Zeit genug, mir die anderen irischen Weltrekorde ins Gedächtnis zu rufen: nicht nur den im Teetrinken hält dieses kleine Land: als zweiten den im Priesternachwuchs (die Erzdiözese Köln etwa müßte fast tausend Neupriester jährlich weihen, um mit einer kleinen Erzdiözese in Irland konkurrieren zu können); als dritten Weltrekord hält Irland den im Kinobesuch (wiederum – wieviel Gemeinsamkeit bei allen Gegensätzen!– knapp vor England); als vierten schließlich einen bedeutsamen, von dem ich nicht zu sagen wage, daß er mit den ersten dreien in ursächlichem Zusammenhang stehe: In Irland gibt es die wenigsten Selbstmörder auf dieser Erde. Noch sind die Rekorde im Whiskeytrinken und im Zigarettenrauchen nicht ermittelt, doch auch in diesen Disziplinen liegt Irland weit vorne, dieses kleine Land, das soviel Bodenfläche wie Bayern, aber weniger Einwohner hat, als zwischen Essen und Dortmund wohnen.

Eine Tasse Tee so um Mitternacht, wenn man fröstelnd im Westwind steht, während der Dampfer sich langsam in die offene See schiebt – dann einen Whiskey oben in der Bar, wo das kehlige Keltisch immer noch, aber nur aus einer einzigen irischen Kehle klang; Nonnen duckten sich im Vorraum der Bar wie großes Geflügel für die Nacht zurecht, warm unter ihren Hauben, ihren langen Habits, zogen ihre langen Rosenkränze ein, wie Taue eingezogen werden, wenn ein Boot abfährt; einem jungen Mann, der mit einem Säugling auf dem Arm an der Bartheke stand, wurde eben das fünfte Glas Bier verweigert, auch seiner Frau, die mit einem zweijährigen Mädchen neben ihm stand, nahm der Kellner das Glas ab, ohne es neu zu füllen; langsam leerte sich die Bar, schon war das kehlige Keltisch verstummt, die Köpfe der Nonnen nickten leise im Schlaf; eine hatte vergessen, ihren Rosenkranz einzuziehen, die dicken Perlen rollten mit der Bewegung des Schiffes hin und her; die beiden mit ihren Kindern auf dem Arm, denen der Trunk verweigert worden war, wankten vor mir, steuerten auf eine Ecke zu, wo sie aus Koffern und Kartons sich eine kleine Burg erbaut hatten: dort schliefen zwei weitere Kinder, zu beiden Seiten an die Großmutter gelehnt, deren schwarzes Umhängetuch Wärme für drei zu bieten schien; der Säugling und das zweijährige Schwesterchen wurden in einen Waschkorb verstaut, zugedeckt, die Eltern verkrochen sich stumm zwischen zwei Koffern, eng aneinandergeschmiegt, und die weiße schmale Hand des Mannes zog einen Regenmantel wie ein Zeltdach über dem Paar zurecht. Stille, nur die Kofferschlösser klirrten leise im Rhythmus des fahrenden Schiffes.

Ich hatte vergessen, mir einen Platz für die Nacht zu sichern, stieg über Beine, Kisten, Koffer; Zigaretten glühten im Dunkeln, ich schnappte aus geflüsterten Gesprächen Brocken auf: »Connemara … keine Chance … Kellnerin in London.« Ich duckte mich zwischen Rettungsboote und Schwimmgürtel, aber der Westwind war scharf und feucht, ich stand auf, wanderte über das Schiff, das mehr einem Auswandererschiff als einem Heimkehrerschiff glich; Beine, glühende Zigaretten, Brocken aus geflüsterten Gesprächen – bis ein Priester mich am Mantelsaum festhielt und lächelnd einlud, mich neben ihn zu setzen; ich lehnte mich zurück, um zu schlafen, aber rechts von dem Priester, unter einer grün-grau gestreiften Reisedecke hervor, sprach eine zarte klare Stimme: »Nein, Father, nein, nein … es ist zu bitter, an Irland zu denken. Einmal im Jahr muß ich ja hinfahren, um meine Eltern zu besuchen, und meine Großmutter lebt auch noch. Kennen Sie die Grafschaft Galway?«

»Nein«, sagte der Priester leise.

»Connemara?«

»Nein.«

»Sie sollten es sich ansehen, und vergessen Sie nicht, auf der Rückfahrt im Hafen von Dublin achtzugeben, was aus Irland exportiert wird: Kinder und Priester, Nonnen und Biskuits, Whiskey und Pferde, Bier und Hunde …«

»Mein Kind«, sagte der Priester leise, »Sie sollten diese Dinge nicht in einem Atem nennen.«

Ein Streichholz flammte unter der grün-grauen Reisedecke auf, ein scharfes Profil wurde für wenige Sekunden sichtbar.

»Ich glaube nicht an Gott«, sagte die zarte klare Stimme, »nein, ich glaube nicht an Gott – warum sollte ich da nicht Priester und Whiskey, Nonnen und Biskuits in einem Atem nennen; ich glaube auch nicht an Kathleen ni Houlihan, an dieses Märchenirland … Ich war Kellnerin in London, zwei Jahre lang: ich hab’ gesehen, wieviel leichte Mädchen …«

»Mein Kind«, sagte der Priester leise.

»… wieviel leichte Mädchen Kathleen ni Houlihan nach London geliefert hat; die Insel der Heiligen.«

»Mein Kind!«

»So nannte mich auch der Pfarrer zu Hause: mein Kind… Er kam mit dem Fahrrad, einen weiten Weg, um uns sonntags die Messe zu lesen, aber auch er konnte nichts dagegen tun, daß Kathleen ni Houlihan ihr Kostbarstes exportierte: ihre Kinder. Gehen Sie nach Connemara, Father – soviel schöne Landschaft auf einmal, mit so wenig Menschen drin, haben Sie sicher noch nie gesehen; vielleicht lesen Sie einmal eine Messe bei uns, dann sehen Sie mich sonntags fromm in der Kirche knien.«

»Aber Sie glauben doch nicht an Gott.«

»Aber denken Sie, ich könnte es mir leisten – und ich würde es meinen Eltern antun –, nicht in die Kirche zu gehen? ›Fromm ist unser gutes Mädchen geblieben – fromm; ein gutes Kind.‹ Und meine Großmutter küßt mich, wenn ich wieder zurückfahre, segnet mich und sagt: ›Bleibe so fromm, wie du bist, mein gutes Kind!‹ … Wissen Sie, wieviel Enkel meine Großmutter hat?«

»Mein Kind, mein Kind«, sagte der Priester leise. Scharf glühte die Zigarette auf, ließ wieder für eine Sekunde das strenge Profil sehen.

»Sechsunddreißig Enkel hat meine Großmutter: sechsunddreißig; achtunddreißig hatte sie: einer ist abgeschossen worden in der Schlacht um England, ein zweiter mit einem englischen U-Boot versenkt worden – sechsunddreißig leben noch: zwanzig in Irland, die anderen …«

»Es gibt Länder«, sagte der Priester leise, »die Hygiene und Selbstmordgedanken exportieren, Atomkanonen, Maschinengewehre, Autos …«

»Oh, ich weiß«, sagte die zarte klare Mädchenstimme, »ich weiß das alles: ich habe selbst einen Bruder, der Priester ist, und zwei Vettern: sie sind die einzigen in der ganzen Verwandtschaft, die ein Auto haben.«

»Mein Kind …«

»Ich versuch’ jetzt, ein wenig zu schlafen – gute Nacht, Father, gute Nacht.«

Die glühende Zigarette flog über die Reling, die grüngraue Decke wurde fest um die schmalen Schultern gezogen, der Kopf des Priesters bewegte sich wie im ständigen Kopfschütteln hin und her; vielleicht war es auch nur der Rhythmus des fahrenden Schiffs, der den Kopf bewegte.

»Mein Kind«, sagte er leise noch einmal, aber er bekam keine Antwort mehr.

Er lehnte sich seufzend zurück, klappte den Mantelkragen hoch; vier Sicherheitsnadeln hatte er als Reserve innen auf dem Revers stecken: vier, die an einer fünften, quergesteckten, hin und her schaukelten unter den leisen Stößen des Dampfers, der in die graue Dunkelheit hinein auf die Insel der Heiligen zufuhr.

2Ankunft II

Eine Tasse Tee, so bei Sonnenaufgang, wenn man fröstelnd im Westwind steht, während die Insel der Heiligen sich noch im Morgendunst vor der Sonne verbarg; auf dieser Insel also wohnt das einzige Volk Europas, das nie Eroberungszüge unternahm, wohl selbst einige Male erobert wurde, von Dänen, Normannen, Engländern – nur Priester schickte es, Mönche, Missionare, die – auf dem seltsamen Umweg über Irland – den Geist thebäischer Askese nach Europa brachten; vor mehr als tausend Jahren lag hier, so weit außerhalb der Mitte, als ein Exzentrikum, tief in den Atlantik hineingerutscht, Europas glühendes Herz… So viele grün-graue Reisedecken waren eng um schmale Schultern gezogen, so viele strenge Profile sah ich und an so manchem hochgeschlagenen Priesterkragen als Reserve die quergesteckte Sicherheitsnadel, an der zwei, drei, vier weitere Nadeln leise baumelten … schmale Gesichter, übernächtigte Augen, im Waschkorb der Säugling, der seine Flasche trank, während der Vater am Teeschalter vergebens um Bier kämpfte. Langsam stach die Morgensonne weiße Häuser aus dem Dunst heraus, ein Leuchtfeuer bellte rot-weiß dem Schiff entgegen, langsam schnaufte der Dampfer in den Hafen von Dun Laoghaire. Möwen begrüßten ihn, die graue Silhouette von Dublin wurde sichtbar, verschwand wieder: Kirchen, Denkmäler, Docks, ein Gasometer: zögernde Rauchfahnen aus einigen Kaminen: Frühstückszeit, für wenige nur: noch schlief Irland, Gepäckträger rieben sich unten am Kai den Schlaf aus den Augen, Taxichauffeure fröstelten im Morgenwind. Irische Tränen begrüßten die Heimat und die Heimkehrenden. Namen flogen wie Bälle hin und her.

Müde taumelte ich vom Schiff in den Zug, aus dem Zug nach wenigen Minuten in den großen dunklen Bahnhof Westland Row, von dort auf die Straße: vom Fensterbrett eines schwarzen Hauses nahm gerade eine junge Frau einen orangefarbenen Milchtopf ins Zimmer; sie lächelte mir zu, und ich lächelte zurück.

Wäre ich von so ungebrochener Naivität gewesen wie der deutsche Handwerksbursche, der in Amsterdam Leben und Tod, Armut und Reichtum des Herrn Kannitverstan erforschte – so wäre ich in Dublin fähig gewesen, Leben und Tod, Armut, Ruhm und Reichtum des Herrn Sorry zu erforschen, denn wen ich auch fragte, nach was ich auch fragte, ich bekam die einsilbige Antwort: Sorry. Nun wußte ich zwar nicht, aber ahnte, daß die Stunden zwischen sieben und zehn Uhr morgens die einzigen sind, in denen die Iren zur Einsilbigkeit neigen, und so entschloß ich mich, meine geringen Sprachkenntnisse nicht anzuwenden, und fand mich betrübt damit ab, nicht so ungebrochen naiv zu sein wie der beneidenswerte Tuttlinger Handwerksbursche in Amsterdam. Wie schön wäre es gewesen, zu fragen: Wem gehören die großen Schiffe da im Hafen?– Sorry. Wer steht so hoch da droben, einsam im Morgennebel auf einer Denkmalssäule? – Sorry. Zu wem gehören diese zerlumpten, barfüßigen Kinder? – Sorry. Wer ist dieser geheimnisvolle junge Mann, der von der hinteren Plattform des Omnibusses aus so täuschend ähnlich ein Maschinengewehr nachahmt – tak tak tak tak – im Morgendunst? – Sorry. Und wer reitet so früh da mit Stöckchen und grauem Zylinder durch Morgen und Wind? – Sorry.

Ich beschloß, mehr meinem Auge als meiner Zunge und dem Ohr der anderen zu vertrauen und mich am Studium der Ladenschilder schadlos zu halten, und da kamen sie als Buchhalter, Wirte, Gemüsehändler auf mich zu: die Joyce und Yeats, McCarthy und Molloy, O’Neill und O’Connor, sogar Jackie Coogans Spuren schienen hierhinzuführen, und ich mußte mich entschließen, mir selbst einzugestehen, daß der Mann so hoch da droben auf der Denkmalssäule, immer noch einsam wirkend in der Morgenkühle, natürlich nicht Sorry hieß, sondern Nelson.

Ich kaufte mir eine Zeitung, eine Zeitschrift, die Irischer Digest hieß, und ließ mich von einem Ladenschild, das Bed and Breakfast reasonable versprach, verführen, »vernünftiges Bett und vernünftiges Frühstück« übersetzte ich mir dieses Versprechen, und entschloß mich zunächst zu einem vernünftigen Frühstück.

Gleicht der kontinentale Tee einem vergilbten Postscheckbrief, so gleicht er auf diesen Inseln westlich von Ostende den dunklen Tönen auf russischen Ikonen, durch die es golden durchschimmert, bevor die Milch ihm eine Farbe ähnlich der Hautfarbe eines überfütterten Säuglings verleiht; auf dem Kontinent serviert man den Tee dünn, aber aus kostbarem Porzellan, hier gießt man aus ramponierten Blechkannen gleichgültig ein Engelsgetränk zu des Fremden Labsal, und spottbillig dazu, in dicke Steinguttassen.

Das Frühstück war gut, der Tee des Ruhmes würdig, und kostenlos hinzu gab es das Lächeln der jungen Irin, die ihn servierte.

Ich blätterte in der Zeitung und fand als erstes einen Leserbrief, der forderte, daß Nelson so hoch da droben gestürzt und durch eine Muttergottesstatue ersetzt werden müsse. Noch ein Brief, der Nelsons Sturz forderte, noch einer…

Acht Uhr war es geworden, Gesprächigkeit flammte auf, bezog auch mich ein: ich wurde mit Worten überschüttet, von denen ich nur ein einziges verstand: Germany. Ich beschloß, freundlich, aber bestimmt, mit der Waffe des Landes, mit dem Sorry zurückzuschlagen, das kostenlose Lächeln der schlampigen Teegöttin zu genießen, bis ein plötzliches Brausen, ein Donnern fast, mich aufschreckte. Konnte der Zugverkehr auf dieser merkwürdigen Insel so lebhaft sein? Das Donnern hielt an, artikulierte sich, der vehemente Einsatz zum Tantum ergo wurde von Sacramentum – veneremur cernui an klar und sauber hörbar, bis zur letzten Silbe ausgesungen klang es über die Westland Row aus der St.-Andreas-Kirche gegenüber, und so, wie die ersten Tassen Tee so gut waren wie die vielen, die ich noch trinken würde – in verlassenen, schmutzigen kleinen Nestern, in Hotels und an Kaminfeuern –, so blieb auch der Eindruck einer überwältigenden Frömmigkeit, wie sie kurz nach dem Tantum ergo die Westland Row überschwemmte: so viele Menschen würde man bei uns nur nach der Ostermesse oder nach dem Weihnachtsgottesdienst aus der Kirche kommen sehen; aber die Beichte der Ungläubigen mit dem scharfen Profil hatte ich noch nicht vergessen.

Acht Uhr morgens war es erst, Sonntag, zu früh noch, den Gastgeber aus dem Schlaf zu wecken: doch der Tee war kalt geworden, im Café roch es nach Hammelfett, die Gäste rafften Kartons und Koffer zusammen, strebten ihren Omnibussen zu. Lustlos blätterte ich im Irischen Digest, übersetzte mir stockend einige Anfänge von Artikeln und Kurzgeschichten, bis eine Einzeilenweisheit auf Seite 23 mich aufmerksam machte: ich verstand den Aphorismus lange, bevor ich ihn mir hatte übersetzen können: unübersetzt, nicht in Deutsch gefaßt und doch verstanden, wirkte er fast noch besser als ins Deutsche übertragen: Die Friedhöfe, stand da, liegen voller Menschen, ohne die die Welt nicht leben konnte.

Diese Weisheit schon schien mir eine Reise nach Dublin wert zu sein, und ich beschloß, sie tief in meinem Herzen zu verschließen, für die Augenblicke, in denen ich mir wichtig vorkommen würde (später erschien sie mir wie ein Schlüssel zu dieser merkwürdigen Mischung aus Leidenschaft und Gleichmut, zu jener wilden Müdigkeit, mit Fanatismus gekoppelten Wurschtigkeit, der ich so oft begegnen sollte).

Kühle, große Villen lagen hinter Rhododendron, hinter Palmen und Oleandergebüsch versteckt, als ich mich entschlossen hatte, trotz so barbarisch früher Zeit den Gastgeber zu wecken; Berge wurden im Hintergrund sichtbar, lange Baumreihen.

Acht Stunden später schon wurde mir von einem deutschen Landsmann kategorisch erklärt: »Hier ist alles schmutzig, alles teuer, und Sie werden nirgendwo eine richtige Karbonade bekommen«, und schon verteidigte ich Irland, obwohl ich erst zehn Stunden im Lande war, zehn Stunden, von denen ich fünf geschlafen, eine gebadet hatte, eine in der Kirche gewesen war, eine mich mit dem Landsmann stritt, der ein halbes Jahr gegen meine zehn Stunden setzte. Ich verteidigte Irland leidenschaftlich, kämpfte mit Tee, Tantum ergo, Joyce und Yeats gegen die Karbonade, die für mich um so gefährlicher war, als ich sie gar nicht kannte (erst als ich längst wieder zu Hause war, mußte ich im Duden nachschlagen, um sie zu identifizieren: Gebratenes Rippenstück las ich dort), dunkel nur ahnte ich, als ich gegen sie kämpfte, daß es ein Fleischgericht sein müsse – aber mein Kampf war vergebens; wer ins Ausland geht, möchte die Nachteile des eigenen Landes – oh, diese Hetze zu Hause! – zwar gern missen, dessen Karbonaden aber mitnehmen; wahrscheinlich wird man nicht ungestraft in Rom Tee trinken, sowenig wie man ungestraft – es sei denn bei einem Italiener – in Irland Kaffee trinkt. Ich gab den Kampf auf, fuhr im Bus zurück und bewunderte die endlosen Menschenschlangen vor den Kinos, deren es reichlich zu geben schien: Morgens, dachte ich, drängen sie sich in und vor den Kirchen, abends offenbar in und vor den Kinos; an einer grünen Zeitungsbude erlag ich wieder dem Lächeln einer Irin, kaufte Zeitungen, Zigaretten, Schokolade, dann fiel mein Blick auf ein Buch, das unbeachtet zwischen Broschüren lag: sein weißer Titel, rotumrandet, war schon beschmutzt, antiquarisch war’s für einen Schilling zu haben, und ich kaufte es. Es war der Oblomow von Gontscharow in englischer Übersetzung. Ich wußte zwar, daß Oblomow runde 4000 Kilometer weiter östlich beheimatet war, ahnte aber auch, daß er nicht schlecht in dieses Land paßte, wo man das Frühaufstehen haßt.

3Bete für die Seele des Michael O’Neill

An Swifts Grab hatte ich mir das Herz erkältet, so sauber war St. Patrick’s Cathedral, so menschenleer und so voll patriotischer Marmorfiguren, so tief unter dem kalten Gestein schien der desperate Dean zu liegen, neben ihm Stella: zwei quadratische Messingplatten, blank geputzt wie von deutscher Hausfrauenhand: die größere für Swift, die kleinere für Stella; Disteln hätte ich haben mögen, hart, groß, langstielig, ein paar Kleeblätter, und noch ein paar dornenlose, milde Blüten, Jasmin vielleicht oder Geißblatt: das wäre der rechte Gruß für die beiden gewesen, aber meine Hände waren so leer wie die Kirche, so kalt und so sauber. Regimentsfahnen hingen nebeneinander, halbgesenkt: rochen sie wirklich nach Pulver? Sie sahen so aus, als röchen sie danach, aber es roch nur nach Moder, wie in allen Kirchen, in denen seit Jahrhunderten kein Weihrauch mehr verbrannt wird; es war mir, als würde mit Eisnadeln auf mich geschossen, ich floh, entdeckte erst am Eingang, daß doch ein Mensch in der Kirche war: die Putzfrau, die mit Lauge den Eingang aufwusch, sie machte sauber, was sauber genug war. Vor der Kathedrale stand ein irischer Bettler, der erste, dem ich begegnete; nur in südlichen Ländern gibt es sonst solche Bettler, aber im Süden scheint die Sonne:

hier, nördlich des 53. Breitengrades, ist Zerlumptheit, Zerrissenheit etwas anderes als südlich des 30. Breitengrades; Regen fällt über die Armut, und Schmutz könnte hier selbst von einem unverbesserlichen Ästheten nicht mehr als malerisch empfunden werden; das Elend hockt hier in den Slums um St. Patrick herum, in manchen Winkeln, manchen Häusern noch so, wie Swift es 1743 gesehen haben mag.

Dem Bettler hingen beide Rockärmel leer vom Körper: schmutzig waren diese Hüllen für Glieder, die er nicht mehr hatte; epileptisches Zucken fuhr ihm gewitterig übers Gesicht, und doch war sein schmales, dunkles Gesicht von einer Schönheit, die in einem anderen als meinem Notizbuch aufgezeichnet werden wird; die Zigarette mußte ich ihm angezündet zwischen die Lippen, Geld ihm in die Rocktasche stecken; es schien mir fast, als statte ich einen Leichnam mit Geld aus. Dunkelheit hing über Dublin: alles, was es zwischen Schwarz und Weiß an grauen Tönen gibt, hatte sich am Himmel sein eigenes Wölkchen ausgesucht, der Himmel war bedeckt wie mit einem Gefieder unzähliger Graus: keine Streifen, kein Fetzchen vom irischen Grün; langsam, zuckend wechselte unter diesem Himmel der Bettler aus St. Patrick’s Park in die Slums hinüber.

In den Slums liegt an manchen Stellen der Schmutz in schwarzen Flocken auf den Fensterscheiben, als sei er absichtlich dagegengeworfen worden, aus Kaminen, aus Kanälen gefischt; aber absichtlich geschieht hier so leicht nichts, und von selbst nicht viel: Trunk geschieht hier, Liebe, Gebet und Fluch, Gott wird heftig geliebt und gewiß ebenso heftig gehaßt.