Ein Jahr hat keine Zeit - Heinrich Böll - E-Book

Ein Jahr hat keine Zeit E-Book

Heinrich Böll

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Beschreibung

»Herr Hauptmann, ach, o halten Sie doch jetzt die Fresse, in diesem Augenblick ertrag' ich Unsinn nicht!« – Heinrich Bölls lyrisches Werk. Wenn man an Heinrich Böll denkt, denkt man an Prosa. Und doch hat er zeitlebens auch Lyrik geschrieben, von den jungen Jahren an bis ins hohe Alter. Die Gedichte sind kein Nebenprodukt seines Schreibens, sondern wichtiger Werkbestandteil. Diese bibliophile Ausgabe macht sie zum ersten Mal sorgsam ediert verfügbar. Böll als Lyriker entdecken, heißt, einen Autor in seiner Stimmfindung erleben. Angefangen bei den ersten lyrischen Gehversuchen, in denen deutlich sein früher Lektürekanon mitschwingt (und sich alles ordentlich reimt!), über freie Klangexperimente wie dem Gedicht »Preußentum« (1938), das seinen Gegenstand in eine absurd-militaristische Lautfolge zerlegt – »Ra Ta, / Tra Ra / Ra Ta Ta! […] Romm, Bomm, Bomm …« – bis zu den späteren Texten, aus denen ein Böll spricht, den man im Ohr zu haben meint: mit all seinem warmen und doch immer scharfzüngigen Humor, seiner gelassenen Menschenfreundlichkeit, seiner politischen Wachsamkeit. Die Veröffentlichung einer so umfassenden Auswahl mit teils unveröffentlichtem Material ist eine Premiere. Und ein Geschenk für alle, die Böll bereits gut kennen oder auch über die kurze Form neu kennenlernen möchten.

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Seitenzahl: 100

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Heinrich Böll

Ein Jahr hat keine Zeit

Gedichte

Herausgegeben von René Böll, Gabriele Ewenz und Jochen Schubert

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Heinrich Böll

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

<Mir träumte heut>

Faksimile zu »<Mir träumte heut>«

Traum im Wald

<Was ist mir die Sonne>

Vagabunden

<Du alte stille Gasse>

<Ihr vielen Unbekannten>

<Ich rufe Euch, Ihr Brüder>

<O Tod, Du anmutiger Mörder>

Beethoven

Faksimile zu »Beethoven«

<Die junge Mannschaft>

<Ich liebe euch, ihr Abgeglittenen>

Das Kreuz

Der Vagabund

Klage eines Verkommenen

Die Arbeiterfrage

Hermann der Kirchenvorstand

Klage einer jungen Dirne

Phantasie

Gericht über das Märchen

<Ich sah eine Flamme schlagen>

<Unsere Zivilisation stinkt>

Madrigal auf den 9. November

Faksimile zu »Madrigal auf den 9. November«

Spaziergang am Rhein

<Die Straße ist lang>

<Blauer Mantel>

<Tandaradei>

Et verbum caro factum est …

Unsere Zeit

Menuett von Mozart

Preußentum

Klarer Wintertag

Dämmerung am Rhein

Der Leutnant

Musik

Faksimile zu »Musik«

Beethoven

Junge Dirne

Lied eines armen Soldaten

Frühling

Gruß

<Brumm, Bienchen>

Mutter

Engel

Meine Muse

später herz später

Für Peter Huchel

Köln I

Köln II

Aufforderung zum »Oho«-Sagen

Gib Alarm!

Köln III

sieben Jahre und zwanzig später

Sie kamen

Für Hans Werner Richter (und Toni natürlich)

Für Walter Warnach zum 70. Geburtstag

Für Beuys zum 60.

Faksimile zu »Für Beuys zum 60.«

Für Helmut Heißenbüttel

<Nie vergessen>

Dem Freund zum Gedenken

<Warum, Walter>

Für Alexander S. zum 65. Geburtstag

Ein Jahr

Faksimile zu »Ein Jahr«

Mutlangen

Für Peter-Jürgen Boock

Versunken die Stadt

Faksimile zu »Versunken die Stadt«

Friedensbandit

Ernesto Cardenal zum 60. Geburtstag

<Für Karl Krolow zum 70. Geburtstag>

Frei nach B.B.

Für Samay

Gedicht für H. G. Adler zum 75. Geburtstag

Anhang

Zu dieser Ausgabe

Abkürzungen

Vom »punktuellen Zünden der Welt im Subjekt«

Anmerkungen

Abbildungsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

<Mir träumte heut>

1936

Mir träumte heut: ich läge

auf einem Hügelberg,

auf grünen Wiesenmatten

beseelt geschützt, doch Zwerg.

Ich blickte froh zur Sonne

sah gern hinab ins Tal …

doch leis, ganz still sich schleichend

stieg in mir eine Qual.

Die Sonne sauste abwärts

und schwüler Dämmer rings,

ich schrie wohl vor Entsetzen,

denn höhnend kalt und scharf

entstand im Rund ein Echo,

das hart sich auf mich warf.

Und glucksend, lüstern glucksend

entstand im Tal ein Brei …

er hebt sich langsam höher

und wieder hallt ein Schrei …

er nähert sich so zotig, so frech,

und ich schaudre, schaudre, jammre

und immerzu nickt er,

ich seh nicht Baum und Wiese,

nur Grau und schwülen Dunst,

ich sinke, schon klebt ziehend

mir dicker Schleim am Fuß

mir ekelt so zum Sterben,

und nirgendsher ein Gruß …

Da plötzlich gellt ein Donner,

ein Blitz erhellt das Grau …

und oben hoch am Himmel …

ich schau, schau, schau,

da blitzet groß und leuchtend

und siegend über Schmutz

ein Kreuz, ein Kreuz erleuchtet,

nun wußt’ ich, wo mein Schutz.

Ich wachte aus dem Träumen

und Alltag sah mich an

und ich neigte mich wachend dem Kreuze

und fing mein Tagwerk an.

Inhaltsverzeichnis

Faksimile zu »<Mir träumte heut>«

Inhaltsverzeichnis

Traum im Wald

1936

Als das Mädchen unter den dunklen Bäumen herschritt,

da kam ihm ein seltsames Sehnen.

Der Juniduft war so zaubernd süß

und sie mußte sich zitternd lehnen

an einen der moosigen Stämme …

… sie träumte von einem Koboldreich,

von dämmrigen, schimmernden Tälern,

von Felsengewölben, bläulich-zart,

von plaudrigem, lockrem Erzählen …

und von heiteren Küssen

auf willigen Mund

und von wohligem, mildem Umarmen

und betörendem Singen aus Elfenmund

und verwirrendem Klingen von Geigen

und über den weichen Rasen schritt

ein nebliger Prinzenreigen …

… sie nickte allen so freundlich zu,

doch die andern lächeln so schwächlich,

und als sie ein wenig näher gerückt,

ist das Lächeln ein Grinsen, gebrechlich …

und die Augen der Prinzen sind geiles Glas

nicht brennende Punkte des Geistes …

da packt sie von hinten ein wüster Arm,

sie wendet sich schreiend,

erwacht aus dem Traum

und sie sieht, daß ein Ast von dem Erdenbaum

um ihren Leib sich gebogen.

Ihr Kopf ist schwer von nebligem Dunst,

ihre Zunge klebt von der Schwüle

und sie atmet begierig die Waldesluft,

die herrliche, süße Kühle.

Sie schreitet ernst aus dem dunklen Wald,

denkt prüfend zurück an das Träumen,

an der zarten, brüchigen Wesen Reich

an der Sinne betörendes Schäumen.

An den dumpfen, lächelnden, leidlosen Schein

weitab von jeglicher Freude,

an der Prinzenaugen zitternden Schleim

an das laue, verführende Treiben.

Sie kennt das wahre, ewige Sein

in des Kreuzes leidender Lehre,

die voll von göttlicher Freude ist

und voll von der Wahrheit Schwere.

Und in Demut ward ihre Seele bereit,

die Bürde Gottes zu tragen

und sie fleht um Kraft wegen Wahrheitsmord

gegen Schwäche, weiches Verzagen …

Wo das rauschende Korn den Wald berührt,

wo die Helle das Dunkel besiegt,

wo die staubige Straße ins Weite führt,

da stand das alte Kreuz …

Und das Mädchen zuckte jubelnd hin,

ihre Hände sich schlossen zum Beten

und Du Schöpfer, ewiges Wort, vernimm

von der Menschheit verzweifelt Erflehtem …

Inhaltsverzeichnis

<Was ist mir die Sonne>

1936

Was ist mir die Sonne, der Regen der Wind,

seh ich die Sterne? Wenn wir beieinander sind.

Ich sehe nichts als Dich und dein Gesicht

ich fühle mich als Gott und Satan hör ich nicht

Ich spüre meiner Adern junges Blut

und ohne Grenze wächst mir starker Mut.

Du bist das einzigste Geschöpf der Erde,

das mich noch hören lässt das: Werde, Werde.

Und mich nicht treibet zu dem Lass Dich, Stirb.

Das mich nicht fühlen lässt das Töte Dich, Verstirb.

Du warst die einzige, die ich nicht aus dem Herzen strich.

Doch, Gott, was red ich viel herum, Du warst katholisch.

Inhaltsverzeichnis

Vagabunden

1936

Man sieht sie immer langsam durch die Gassen gehen

oder da und dort an alten Gebäuden stehn.

Sie reden immer wenig, denken sicher viel

ihr einziges Festes, ist ein unbestimmtes Ziel.

Sie sprechen kaum von Gott, sie glauben ihn nur

und überall finden sie leise seine Spur

Und ob sie alt und ob sie jung,

immer sind sie scheinbar schlaff und doch voller Schwung,

immer ist ihr Auge kühn und voller Mut

und tief im Herzen sind sie alle gut.

Und werden sie alt, dann sterben sie jung irgendwo

Warum? Warum dies alles? Ich glaube, Gott liebt es so.

Inhaltsverzeichnis

<Du alte stille Gasse>

1936

Du alte stille Gasse

in unsrer lauten Stadt

du weißt, wie oft ein Jüngling

in dir gestanden hat.

Du weißt, wie oft ihm wurde

das Herz so leidvoll schwer

du weißt, des Lebens Bürde

sie quälte ihn so sehr.

In dir, du stille Gasse,

aus schöner, alter Zeit

da ging ich manche Stunde

die Liebste war so weit.

Ich stand vor ihrem Hause

und wußte nichts zu tun

als ihrer zu gedenken

in ihrem Geist zu ruhn.

Inhaltsverzeichnis

<Ihr vielen Unbekannten>

1936

Ihr vielen Unbekannten,

Du leidbeladene Schar

Ich lieb Euch, nie Genannte,

Auch mir ist Leid so nah.

Ihr tausende, Ungezählte

Du schmerzenstaubes Heer

vom Leid so schwer Gequälte

ich liebe Euch so sehr.

Ihr leidet um die Wahrheit,

um Eurer Keuschheit Hort,

Ihr leidet um die Klarheit

um Gottes wahres Wort.

Ich freue mich, Ihr Lieben.

Ich freue mich auf den Tod

nur er kann uns befreien,

zerreissen all’ die Not.

O, selig, die da leiden,

die leiden um das Wort

O, selig, die Befreiten

befreit vom Wahrheitsmord.

Ich schenk Euch meine Tränen

ganz Euer ist mein Sinn,

ich schenk Euch mein Sehnen,

bei Euch ist nur Gewinn.

Und lasst uns weiter glauben,

O, lasst uns bleiben rein,

uns immer soll im Herzen,

nur Gottes Klarheit sein.

Inhaltsverzeichnis

<Ich rufe Euch, Ihr Brüder>

1936

Ich rufe Euch, Ihr Brüder,

Gequälte aller Welt

Ihr Schwestern, zitternde Blumen,

in Gottes weitem Feld.

Ihr mir geehrten Kämpfer

um eine andre Zeit,

die ohne jede Grenze,

die Gottes-Ewigkeit.

Ich lieb Euch mit der Seele,

mit Leib und Herz und Blut,

und wenn die anderen quälen,

ich weiß, Ihr seid mir gut.

Inhaltsverzeichnis

<O Tod, Du anmutiger Mörder>

1937

O Tod, Du anmutiger Mörder

ich lade Dich jubelnd ein

mir zum herrlichen Himmelreich

ein sanfter Mittler zu sein

O trenne das Wahre vom Fleisch,

ersticke des Blutes Lauf

und ich schwinge die brennende Seele

zu Gottes Höhen hinauf.

Inhaltsverzeichnis

Beethoven

1937

Wenn mir des Lebens Mut gebrach

wenn zitternd ich nach Satan rief,

daß er mir helfe, diesen quälenden Funken,

der sich Leben nennt, zu löschen,

wenn ich in Wahn verrannt

und hilfesuchend schrie,

Du warst mir Freund und lehrtest mich

so klar wie nie ein Mensch,

daß Gott da sei und jenes andere Leben,

das Tausende gequälte Erdenjahre wert.

Du lehrtest mich, daß Kreuz die Hilfe sei.

Du lehrtest mich, wenn Bürgergeist mich

wie ein feiger Dieb beschleichen wollte,

daß Gott um Lohn zu lieben

größte Lauheit sei.

So hilf mir fernerhin, so heiß zu sein wie Du,

nicht lau, nicht kalt:

nicht schwülig-schleimig-wagnerisch

nicht phrasig-halb.

Inhaltsverzeichnis

Faksimile zu »Beethoven«

Inhaltsverzeichnis

<Die junge Mannschaft>

1937

Die junge Mannschaft

unserer ersten Kaste

gibt sich ein Sommergartenfest

bei bunter Lampen Licht.

Organisator war der Sohn

des Fabrikanten jener Soßenpaste,

die unseren Armen

schon seit Jahren in den Därmen sticht.

Die Alten ließen »junges Blut« gewähren

denn pubertäre

Geilheit muß – Hygiene! – schnell heraus

und allzu faule Drüsen aufzupeitschen

gab man zu Anfang

einen Schärfe-Schmaus

und morgen torkeln schon die Jungen

wie alte Schleimer müd nach Haus!

Inhaltsverzeichnis

<Ich liebe euch, ihr Abgeglittenen>

1937

Ich liebe euch, ihr Abgeglittenen …

ihr berufslosen Herumtreiber,

ihr Bettler, Strolche, verpönte Künstler,

lieber eure schmutzigen Kleider,

eure zerfetzten Gewänder,

eure wüsten, stoppeligen,

kühnen Männergesichter

als die feisten sauberen Bürger.

Möget ihr schwachen Mutes sein,

lieber euch, die ihr nichts erreicht,

als die sicheren Kalten …

ihr seid demütig …

Lieber euch, ihr Dirnen,

als die vielen, heimlich lockenden

anständigen Weiber, die die Ehe

mehr entweihen als ihr,

die ihr euch sicherlich heimlich

für schlecht haltet …

Gräßlich, hinter die Maske

dieser Ruhigen zu schauen …

herrlich in euren Lumpen

und hinter euren geschmückten Fratzen

Gold zu entdecken …

ihr seid ohne den Haß, der den

Bürgern ekelhaft scharf

wie Fuchsenpisse aus dem Maule spritzt …

Ihr Könige und Fürsten des Elends,

lieber den Hunger als Bruder und ständigen Freund

als die triefende Tagespresse.

Wehe allen, die euch peitschen und höhnen …

für jeden Pfennig, den sie mehr lieben als euch,

werden Türme der Qual auf sie niederbrechen.

Wehe allen, die sich mehr dünken als ihr.

Für jeden Zoll, den sie sich höherschätzen,

werden sie peintriefende Jahrhunderte stöhnen.

Du Heer von Zöllnern und Dirnen

nähere dich dem Kreuze …

kommt aus euren Straßengräben,

aus Wäldern, Asylen, Bordellen,

aus schmutzigen Kneipen, schwülen Spelunken

ihr seid ebenso wert der Wahrheit

wie alle …

Euch liebe ich.

Inhaltsverzeichnis

Das Kreuz

1937

Kein Flammenzeichen, kein Feuersignal

… zwei schlichte Balken, kein Brüllfanal …

keine grölende Menge, kein flatterndes Tuch

… zwei schlichte Balken, ein kleines Buch …

kein mordendes Messer, kein Feindesblut

... Brot und Wein, ein ewiges Gut

Inhaltsverzeichnis

Der Vagabund

1937

Wie oft griff man mich auf

wenn ich in süßem Rausch

am Wegrand schlief

wenn mir im Traum

aus schöner Zeit

die süße Stimme rief

»Papiere, Hund, verfluchter Lump«

ein Schnauzbart über mir

der mich mit seinen Füßen weckt …

und immer wieder werd ich,

weil ich namenlos,

in ein bepißtes und bekacktes Loch gesteckt.

Ich suche Tabak, Schnaps und Wein

in dem milden, süßen Bett

ich mich begierig wühle

und morgens früh geschieht es mir wohl oft,

daß ich in meiner halb erstarrten Hand

des Rosenkranzes harte Perlen fühle

Auf dem öden Vorortfriedhof einer großen Stadt

da ist im weißen Stein mein Name eingeprägt

Das ist das einzige Dokument

das meinen Namen trägt

Da liegt mein junges Weib,

die dunkle Straßenpflanze

ihr Bein fault unter jenem Grab