Wanderer, kommst du nach Spa ... - Heinrich Böll - E-Book

Wanderer, kommst du nach Spa ... E-Book

Heinrich Böll

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

25 Erzählungen, die zum Besten der deutschen Nachkriegsliteratur gehören. »Da stand er noch, der Spruch, den wir damals hatten schreiben müssen, in diesem verzweifelten Leben, das erst drei Monate zurücklag...« Für Heinrich Böll war es eine Frage der Moral, Krieg und Nachkriegszeit so zu beschreiben, wie sie wirklich waren. Doch er verliert sich nicht in vordergründigem Realismus. Sein Blick dringt in die Tiefe und erfasst in wenigen, scheinbar nebensächlichen Details den Hintergrund jener Jahre, die auch heute noch mehr verdrängt als bewältigt sind. Er schrieb im Namen einer verführten und geschundenen Generation, im Namen der Humanität. So fand das Schicksal jener Jugend, die von der Schulbank in das Grauen des Krieges gestoßen wurde, in der unbestechlichen, prägnanten Darstellung der Titelgeschichte seinen gültigen Ausdruck. Mit diesen 25 Erzählungen ist Heinrich Böll zum Sprecher all derer geworden, die den Stumpfsinn der Uniform und das Elend und die Folgen des Krieges am eigenen Leib gespürt haben. Inhalt:- Über die Brücke (1950)- Kumpel mit dem langen Haar (1947)- Der Mann mit den Messern (1948)- Steh auf, steh doch auf... (1950)- Damals in Odessa (1949)- Wanderer, kommst du nach Spa... (1950)- Trunk in Petöcki (1949).- Unsere gute, alte Renée (1948)- Auch Kinder sind Zivilisten (1948)- So ein Rummel! (1948)- An der Brücke (1949)- Abschied (1948)- Die Botschaft (1947)- Aufenthalt in X (1948)- Wiedersehen mit Drüng (1949)- Die Essenholer (1950)- Wiedersehen in der Allee (1948) - In der Finsternis (1949)- Wir Besenbinder (1948)- Mein teures Bein (1948)- Lohengrins Tod (1948)- Geschäft ist Geschäft (1949)- An der Angel (1948)- Mein trauriges Gesicht (1949)- Kerzen für Maria (1950)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 263

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Heinrich Böll

Wanderer, kommst du nach Spa...

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Heinrich Böll

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Über die BrückeKumpel mit dem langen HaarDer Mann mit den MessernSteh auf, steh doch aufDamals in OdessaWanderer, kommst du nach Spa…Trunk in PetöckiUnsere gute, alte RenéeAuch Kinder sind ZivilistenSo ein Rummel!An der BrückeAbschiedDie BotschaftAufenthalt in XWiedersehen mit DrüngDie EssenholerWiedersehen in der AlleeIn der FinsternisWir BesenbinderMein teures BeinLohengrins TodGeschäft ist GeschäftAn der AngelMein trauriges GesichtKerzen für MariaVerzeichnis der Erstveröffentlichungen
zurück

Über die Brücke

(1950)

Die Geschichte, die ich Ihnen erzählen will, hat eigentlich gar keinen Inhalt, vielleicht ist es gar keine Geschichte, aber ich muß sie Ihnen erzählen. Vor zehn Jahren spielte sich eine Art Vorgeschichte ab, und vor wenigen Tagen rundete sich das Bild…

Denn vor wenigen Tagen fuhren wir über jene Brücke, die einst stark und breit war, eisern wie die Brust Bismarcks auf zahlreichen Denkmälern, unerschütterlich wie die Dienstvorschriften; es war eine breite, viergleisige Brücke über den Rhein, und auf viele schwere Strompfeiler gestützt, und damals fuhr ich dreimal wöchentlich mit demselben Zug darüber: montags, mittwochs und samstags. Ich war damals Angestellter beim Reichsjagdgebrauchshundverband; eine bescheidene Stellung, so eine Art Aktenschlepper. Ich verstand von Hunden natürlich nichts, ich bin ein ungebildeter Mensch. Ich fuhr dreimal in der Woche von Königstadt, wo unser Hauptbüro war, nach Gründerheim, wo wir eine Nebenstelle hatten. Dort holte ich dringende Korrespondenz, Gelder und »schwebende Fälle«. Letztere waren in einer großen, gelben Mappe. Niemals erfuhr ich, was in der Mappe drin war, ich war ja nur Bote…

Morgens ging ich gleich von zu Hause zum Bahnhof und fuhr mit dem Achtuhrzug nach Gründerheim. Die Fahrt dauerte dreiviertel Stunden. Ich hatte auch damals Angst, über die Brücke zu fahren. Alle technischen Versicherungen informierter Bekannter über die vielfache Tragfähigkeit der Brücke nützten mir nichts, ich hatte einfach Angst: die bloße Verbindung von Eisenbahn und Brücke verursachte mir Angst; ich bin ehrlich genug, es zu gestehen. Der Rhein ist sehr breit bei uns. Mit einem leisen Bangen im Herzen nahm ich jedesmal das leise Schwanken der Brücke wahr, dieses schauerliche Wippen sechshundert Meter lang; dann kam endlich das vertrauenerweckende dumpfere Rattern, wenn wir wieder den Bahndamm erreicht hatten, und dann kamen Schrebergärten, viele Schrebergärten und endlich, kurz vor Kahlenkatten, ein Haus: an dieses Haus klammerte ich mich gleichsam mit meinen Blicken. Dieses Haus stand auf der Erde; meine Augen stürzten sich auf das Haus. Das Haus hatte einen rötlichen Bewurf, war sehr sauber, die Umrandungen der Fenster und alle Sockel waren mit dunkelbrauner Farbe abgesetzt. Zwei Stockwerke, oben drei Fenster und unten zwei, in der Mitte die Tür, zu der eine Freitreppe von drei Stufen emporführte. Und jedesmal, wenn es nicht allzusehr regnete, saß auf dieser Freitreppe ein Kind, ein kleines Mädchen von neun oder zehn Jahren, ein spinnendürres Mädchen mit einer großen, sauberen Puppe im Arm, und blinzelte mißvergnügt zum Zuge herauf. Jedesmal fiel ich gleichsam mit meinen Blicken über das Kind, dann stolperte mein Blick ins linke Fenster, und dort sah ich jedesmal eine Frau, die, neben sich den Putzeimer, mühevoll nach unten gebückt war, den Scheuerlappen in den Händen hielt und putzte. Jedesmal, auch wenn es sehr, sehr regnete, auch wenn das Kind nicht dort auf der Treppe saß. Immer sah ich die Frau: einen mageren Nacken, an dem ich die Mutter des Mädchens erkannte, und dieses Hin- und Herbewegen des Scheuerlappens, diese typische Bewegung beim Putzen. Oft nahm ich mir vor, auch einmal die Möbel in Augenschein zu nehmen, oder die Gardinen, aber mein Blick saugte sich fest an dieser mageren, ewig putzenden Frau, und ehe ich mich besonnen hatte, war der Zug vorbeigefahren. Montags, mittwochs und samstags, es mußte jedesmal so gegen zehn Minuten nach acht sein, denn die Züge waren damals furchtbar pünktlich. Wenn der Zug dann vorbeigefahren war, blieb mir nur ein Blick auf die saubere Rückseite des Hauses, die stumm und verschlossen war.

Ich machte mir selbstverständlich Gedanken über diese Frau und dieses Haus. Alles andere am Wege des Zuges interessierte mich wenig. Kahlenkatten – Bröderkotten – Suhlenheim – Gründerheim, diese Stationen bargen wenig Interessantes. Meine Gedanken spielten immer um jenes Haus. Warum putzt die Frau dreimal in der Woche, so dachte ich. Das Haus sah gar nicht so aus, als ob viel dort schmutzig gemacht würde; auch nicht, als ob dort viele Gäste ein- und ausgingen. Es sah fast ungastlich aus, dieses Haus, obwohl es sauber war. Es war ein sauberes und doch unfreundliches Haus.

Wenn ich aber mit dem Elfuhrzug von Gründerheim wieder zurückfuhr und kurz vor zwölf hinter Kahlenkatten die Rückseite des Hauses sah, dann war die Frau dabei, im letzten Fenster rechts die Scheiben zu putzen. Seltsamerweise war sie montags und samstags am letzten Fenster rechts, und mittwochs war sie am mittleren Fenster. Sie hatte das Fensterleder in der Hand und rieb und rieb. Um den Kopf hatte sie ein Tuch von dumpfer, rötlicher Farbe. Das Mädchen sah ich aber bei der Rückfahrt nie, und nun, so gegen Mittag – es muß so kurz vor zwölf gewesen sein, denn die Züge waren damals furchtbar pünktlich – war die Vorderseite des Hauses stumm und verschlossen.

Obwohl ich mich bei meiner Geschichte bemühen will, nur das zu beschreiben, was ich wirklich sah, so sei doch die bescheidene Andeutung gestattet, daß ich mir nach drei Monaten die Kombination erlaubte, daß die Frau wahrscheinlich dienstags, donnerstags und freitags die anderen Fenster putzte. Diese Kombination, so bescheiden sie auch war, wurde allmählich zur fixen Idee. Manchmal grübelte ich den ganzen Weg von kurz vor Kahlenkatten bis Gründerheim darüber nach, an welchen Nachmittagen und Vormittagen wohl die anderen Fenster der beiden Stockwerke geputzt würden. Ja – ich setzte mich hin und machte mir schriftlich eine Art Putzplan. Ich versuchte aus dem, was ich an drei Vormittagen beobachtet hatte, zusammenzustellen, was an den übrigen drei Nachmittagen und vollen Tagen wohl geputzt würde. Denn ich hatte die seltsam fixe Vorstellung, daß die Frau dauernd beim Putzen war. Ich sah sie ja nie anders, immer nur gebückt, mühevoll gebückt, so daß ich sie keuchen zu hören glaubte – um zehn Minuten nach acht; und eifrig reibend mit dem Fensterleder, so daß ich oft die Spitze ihrer Zunge zwischen den zusammengepreßten Lippen zu sehen glaubte – kurz vor zwölf.

Die Geschichte dieses Hauses verfolgte mich. Ich wurde nachdenklich. Das machte mich nachlässig im Dienst. Ja, ich ließ nach. Ich grübelte zuviel. Eines Tages vergaß ich sogar die Mappe »schwebende Fälle«. Ich zog mir den Zorn des Bezirkschefs des Reichsjagdgebrauchshundverbandes zu; er zitierte mich zu sich; er zitterte vor Ärger. »Grabowski«, sagte er zu mir, »ich hörte, Sie haben die ›schwebenden Fälle‹ vergessen. Dienst ist Dienst, Grabowski.« Da ich verstockt schwieg, wurde der Chef strenger. »Bote Grabowski, ich warne Sie. Der Reichsjagdgebrauchshundverband kann keine vergeßlichen Leute gebrauchen, verstehen Sie, wir können uns nach qualifizierteren Leuten umsehen.« Er blickte mich drohend an, aber dann wurde er plötzlich menschlich. »Haben Sie persönliche Sorgen?« Ich gestand leise: »Ja.« »Was ist es«, fragte er milde. Ich schüttelte nur den Kopf. »Kann ich Ihnen helfen? Womit?«

»Geben Sie mir einen Tag frei, Herr Direktor«, bat ich schüchtern, »sonst nichts.« Er nickte großzügig. »Erledigt! Und nehmen Sie meine Worte nicht allzu ernst. Jeder kann einmal etwas vergessen, sonst waren wir ja zufrieden mit Ihnen…«

Mein Herz aber jubelte. Diese Unterredung fand an einem Mittwoch statt. Und den nächsten Tag, Donnerstag, sollte ich frei haben. Ich wollte es ganz geschickt machen. Ich fuhr mit dem Achtuhrzug, zitterte mehr vor Ungeduld als vor Angst, als wir über die Brücke fuhren: Sie war dabei, die Freitreppe zu putzen. Mit dem nächsten Gegenzug fuhr ich von Kahlenkatten wieder zurück und kam so gegen neun Uhr an ihrem Hause wieder vorbei: oberes Stockwerk, mittleres Fenster, Vorderfront. Ich fuhr viermal hin und zurück an diesem Tage und hatte den ganzen Donnerstagsplan fertig: Freitreppe, mittleres Fenster Vorderfront, mittleres Fenster, oberes Stockwerk, Hinterfront, Boden, vordere Stube oben. Als ich zum letzten Male um sechs Uhr das Haus passierte, sah ich einen kleinen gebückten Mann mit bescheidenen Bewegungen im Garten arbeiten. Das Kind, die saubere Puppe im Arm, blickte ihm zu wie eine Wächterin. Die Frau war nicht zu sehen…

Aber das alles spielte sich vor zehn Jahren ab. Vor einigen Tagen fuhr ich wieder über jene Brücke. Mein Gott, wie gedankenlos war ich in Königstadt in den Zug gestiegen! Ich hatte die ganze Geschichte vergessen. Wir fuhren mit einem Zug aus Güterwagen, und als wir uns dem Rhein näherten, geschah etwas Seltsames: Ein Waggon vor uns verstummte nach dem anderen; es war ganz merkwürdig, so als sei der ganze Zug von fünfzehn oder zwanzig Waggons wie eine Reihe von Lichtern, von denen nun eins nach dem andern erlosch. Und wir hörten ein scheußliches, hohles Rattern, ein ganz windiges Rattern; und plötzlich war es, als werde mit kleinen Hämmern unter den Boden unseres Waggons geklopft, und auch wir verstummten und sahen es: nichts, nichts … nichts; links und rechts von uns war nichts, eine gräßliche Leere … ferne sah man die Uferwiesen des Rheines … Schiffe … Wasser, aber der Blick wagte sich gleichsam nicht zu weit hinaus: Der Blick sogar schwindelte. Nichts, einfach nichts! Am Gesicht einer blassen, stummen Bauernfrau sah ich, daß sie betete, andere steckten sich mit zitternden Händen Zigaretten an; sogar die Skatspieler in der Ecke waren verstummt…

Dann hörten wir, daß die vorderen Wagen schon wieder auf festem Boden fuhren, und wir dachten alle das gleiche: die haben es hinter sich. Wenn uns etwas passiert, die können vielleicht abspringen, aber wir, wir fuhren im vorletzten Wagen, und es war fast sicher, daß wir abstürzen würden. Die Gewißheit stand in unseren Augen und in unseren blassen Gesichtern. Die Brücke war ebenso breit wie der Schienenstrang, ja, der Schienenstrang selbst war die Brücke, und der Rand des Wagens ragte noch über die Brücke hinaus ins Nichts, und die Brücke wankte, als wolle sie uns abwippen ins Nichts…

Aber dann kam plötzlich ein solideres Rattern, wir hörten es näher kommen, ganz deutlich, und dann wurde es auch unter unserem Wagen gleichsam dunkler und fester, dieses Rattern, wir atmeten auf und wagten einen Blick hinaus: Da waren Schrebergärten! Oh, Gott segne die Schrebergärten! Aber dann erkannte ich plötzlich die Gegend, mein Herz zitterte seltsam, je näher wir Kahlenkatten kamen. Für mich gab es nur eine Frage: Würde jenes Haus noch dort stehen? Und dann sah ich es; erst von ferne durch das zarte, dünne Grün einiger Bäume in den Schrebergärten, die rote, immer noch saubere Fassade des Hauses, die näher und näher kam. Eine namenlose Erregung ergriff mich; alles, alles, was damals vor zehn Jahren gewesen war, und alles, was dazwischen gewesen war, tobte wie ein wildes, reißendes Durcheinander in mir. Und dann kam das Haus mit Riesenschritten ganz nahe, und dann sah ich sie, die Frau: Sie putzte die Freitreppe. Nein, sie war es nicht, die Beine waren jünger, etwas dicker, aber sie hatte die gleichen Bewegungen, die eckigen, ruckartigen Bewegungen beim Hin- und Herbewegen des Scheuerlappens. Mein Herz stand ganz still, mein Herz trat auf der Stelle. Dann wandte die Frau nur einen Augenblick das Gesicht, und ich erkannte sofort das kleine Mädchen von damals; dieses spinnenartige, mürrische Gesicht, und im Ausdruck ihres Gesichtes etwas Säuerliches, etwas häßlich Säuerliches wie von abgestandenem Salat…

Als mein Herz langsam wieder zu klopfen anfing, fiel mir ein, daß an diesem Tage wirklich Donnerstag war…

zurück

Kumpel mit dem langen Haar

(1947)

Es war merkwürdig: Genau fünf Minuten, bevor die Razzia losging, beschlich mich ein Gefühl der Unsicherheit … ich blickte scheu um mich, ging dann langsam am Rhein vorbei auf den Bahnhof zu, und ich war gar nicht erstaunt, als ich auch schon die kleinen Flitzer mit den rotbemützten Polizisten heranrasen sah, die das Häuserviertel umstellten, absperrten und zu untersuchen begannen. Es ging unheimlich schnell. Ich stand gerade außerhalb des Kreises und steckte mir ruhig eine Zigarette an. Es ging alles so lautlos. Viele Zigaretten flogen auf die Erde. Schade … dachte ich und machte unwillkürlich einen kleinen Überschlag, wieviel bares Geld da wohl auf der Erde lag. Der Lastwagen füllte sich schnell mit denen, die sie geschnappt hatten. Franz war auch dabei … er machte mir von weitem eine hoffnungslose Geste, die so viel bedeuten sollte wie: Schicksal. Einer der Polizisten drehte sich nach mir um. Da ging ich weg. Aber langsam, ganz langsam. Mein Gott, sollten sie mich doch mitnehmen! Ich hatte keine Lust mehr, auf meine Bude zu gehen, so schlenderte ich langsam weiter zum Bahnhof. Ich schlug mit meinem Stock ein kleines Steinchen aus dem Weg. Die Sonne schien warm, und vom Rhein her kam ein kühler, sanfter Wind.

Im Wartesaal gab ich Fritz, dem Kellner, die zweihundert Zigaretten und steckte das Geld in die hintere Tasche. Nun war ich ganz ohne Ware, nur eine Packung für mich hatte ich noch. Dann fand ich im Gedränge schließlich doch noch einen Platz und bestellte mir Fleischbrühe und etwas Brot. Und wieder sah ich von weitem Fritz winken, aber ich hatte keine Lust aufzustehen. Da kam er eilig auf mich zu. Hinter ihm sah ich den kleinen Mausbach, den Schlepper; sie schienen beide ziemlich aufgeregt zu sein. »Mensch, hast du eine Ruhe«, murmelte Fritz, dann ging er kopfschüttelnd weg und machte dem kleinen Mausbach Platz. Der war ganz außer Atem. »Du«, stotterte er … »du … mußt verduften … sie haben deine Bude untersucht und den Koks gefunden … Mensch!« Er verschluckte sich fast. Ich klopfte ihm beruhigend auf die Schulter und gab ihm zwanzig Mark. »Es ist gut«, sagte ich und er trollte davon. Da aber fiel mir noch etwas ein und ich rief ihn zurück. »Hör mal, Heini«, sagte ich, »wenn du die Bücher und den Mantel, die in meiner Bude sind, irgendwo sicherstellen könntest … ich komme in vierzehn Tagen mal wieder vorbei, ja? … was sonst noch von mir ist, kannst du behalten.« Er nickte. Ich würde mich auf ihn verlassen können. Das wußte ich.

Schade … dachte ich wieder … achttausend Mark zum Teufel … nirgendwo, nirgendwo war man sicher…

Ein paar neugierige Blicke streiften mich, während ich mich langsam wieder hinsetzte und gleichgültig nach meiner Tasche griff. Dann schlug das Summen der Menge um mich zusammen, und ich wußte, nirgendwo hätte ich so wunderbar allein sein können mit meinen Gedanken wie hier, mitten im Gedränge und im kreisenden Trubel des Wartesaales.

Mit einem Male spürte ich, daß meine Augen, die, ohne irgend etwas zu sehen, fast automatisch rundgingen, immer am gleichen Fleck haften blieben, als würden sie gegen meinen Willen dort gebannt. Immer wieder im Kreisen meines gleichgültigen Blickes war da eine Stelle, wo sie stockten und dann hastig weiterglitten. Ich erwachte wie aus einem tiefen Schlaf und blickte nun sehend dorthin. Zwei Tische von mir entfernt saß ein junges Mädchen in einem hellen Mantel, mit einer gelblich braunen Mütze auf dem schwarzen Haar und las in einer Zeitung. Ich sah nur ihre etwas zusammengekrümmte hockende Gestalt, ein winziges Stück ihrer Nase und die schmalen, ganz ruhigen Hände. Auch die Beine sah ich, schöne, schlanke und … ja, saubere Beine. Ich weiß nicht, wie lange ich sie angestarrt habe, manchmal sah ich flüchtig die schmale Scheibe ihres Gesichts, wenn sie ein Blatt wendete. Plötzlich hob sie den Kopf und sah mich einen Augenblick voll an, mit großen grauen Augen, ernst und gleichgültig, dann las sie weiter.

Dieser kurze Blick hatte mich getroffen.

Geduldig und doch mit klopfendem Herzen hielt ich sie mit meinen Augen fest, bis sie endlich die Zeitung ausgelesen hatte, sich auf den Tisch stützte und mit einer merkwürdig verzweifelten Geste an ihrem Bierglas nippte.

Nun konnte ich auch ihr ganzes Gesicht sehen. Blaß war sie, ganz blaß, ein schmaler, kleiner Mund und eine gerade, edle Nase … aber die Augen, diese großen, ernsten, grauen Augen! Wie ein Vorhang der Trauer hing ihr das schwarze Haar in langen Locken auf die Schulter.

Ich weiß nicht, waren es zwanzig Minuten, eine Stunde oder mehr, wie lange ich sie anstarrte. Während sie immer unruhiger, immer kürzer mein Gesicht streifte mit ihrem traurigen Blick … es war nicht diese Empörung in ihrem Gesicht, die man sonst bei jungen Mädchen in solchen Fällen findet. Unruhe ja … und Angst.

Ach, ich wollte sie ja gar nicht unruhig und ängstlich machen, aber ich konnte meinen Blick nicht von ihr lassen.

Sie stand schließlich hastig auf, hing sich einen alten Brotbeutel um und verließ schnell den Wartesaal. Ich folgte ihr. Ohne sich umzuwenden, ging sie die Treppe hinauf auf die Sperre zu. Ich hielt sie fest, fest in der Linie meines Blickes, während ich schnell im Vorübergehen eine Bahnsteigkarte löste. Sie hatte einen großen Vorsprung gewonnen, und ich mußte meinen Stock unter den Arm klemmen und ein wenig zu laufen versuchen. Fast hätte ich sie verloren in dem düsteren Schacht, der zum Bahnsteig hochführte. Ich fand sie oben gegen die Reste eines zertrümmerten Wartehäuschens gelehnt. Starr sah sie auf die Schienen. Nicht einmal wandte sie sich um.

Vom Rhein her fuhr ein kühler Wind quer in die Halle. Der Abend kam. Viele Leute mit Packen und Rucksäcken, Kisten und Koffern standen auf dem Bahnsteig mit gehetzten Gesichtern. Sie wandten erschreckt die Köpfe in die Richtung, woher der Wind kam, und fröstelten. Dunkelblau und ruhig gähnte vorne der große Halbkreis des Himmels, vom eisernen Gitterwerk der Halle durchstoßen.

Langsam humpelte ich auf und ab, manchmal mit einem Blick mich der Gegenwart des Mädchens vergewissernd. Aber immer, immer stand sie so da, mit durchgedrückten Beinen an den Mauerrest gestützt, die Augen auf die flache, schwarze Mulde gerichtet, in der der blanke Schienenstrang verlief.

Endlich kroch der Zug langsam rückwärts in die Halle. Während ich der Lokomotive entgegensah, war das Mädchen auf den einfahrenden Zug gesprungen und in einem Abteil verschwunden. Ich sah sie für Minuten nicht mehr in all den Knäueln von drängenden Menschen vor den Abteilen. Bald jedoch entdeckte ich die gelbliche Mütze im letzten Waggon. Ich stieg ein und setzte mich ihr gerade gegenüber, so nahe, daß unsere Knie sich fast berührten. Als sie mich anblickte, ganz ernst und ruhig, nur die Brauen etwas zusammengezogen, da las ich es in ihren großen grauen Augen: sie wußte, daß ich die ganze Zeit über hinter ihr gewesen war. Immer wieder hingen meine Blicke hilflos an ihrem Gesicht, während der Zug in den sinkenden Abend fuhr. Ich brachte kein Wort über meine Lippen. Die Felder versanken, und die Dörfer wurden von der Nacht allmählich eingehüllt. Ich fror. Wo würde ich diese Nacht schlafen, dachte ich … wo einmal wieder nur etwas zur Ruhe kommen. Ach könnte ich doch mein Gesicht in diesen schwarzen Haaren verbergen. Nichts, sonst nichts… Ich zündete mir eine Zigarette an. Da warf sie einen flüchtigen, aber merkwürdig wachen Blick auf die Packung. Ich hielt sie ihr einfach hin und sagte mit rauher Stimme: »Bitte«, und es schien mir, als müsse mein Herz aus dem Halse springen. Sie zögerte eine halbe Sekunde, und ich sah trotz der Dunkelheit, daß sie flüchtig errötete. Dann griff sie zu. Sie rauchte mit tiefen, hungrigen Zügen.

»Sie sind sehr großzügig«, ihre Stimme war dunkel und spröd. Als dann der Schaffner im Nebenabteil zu hören war, warfen wir uns wie auf Kommando zurück und stellten uns schlafend in unseren Ecken. Ich sah jedoch durch meine Lider, daß sie lachte. Ich beobachtete den Schaffner, der mit seiner grellen Lampe die Fahrkarten beleuchtete und zeichnete. Und dann fiel der Schein mir mitten ins Gesicht. Ich spürte an dem Zittern des Lichtes, daß er zögerte. Dann fiel der Schein auf sie. Ach, wie blaß sie war und wie traurig die weiße Fläche ihrer Stirn.

Eine dicke Frau, die neben mir saß, zupfte den Schaffner am Ärmel und flüsterte ihm etwas ins Ohr, von dem ich verstand: »Ami-Zigaretten … schwarz fahren …« Da stieß mich der Schaffner böse in die Seite.

Es war ganz still im Abteil, als ich sie leise fragte, wohin sie fahren wollte. Sie nannte einen Ort. Ich löste zwei Fahrkarten dorthin und zahlte die Strafe. Eisig und verächtlich war das Schweigen der Leute, als der Schaffner gegangen war. Ihre Stimme aber war so seltsam, warm und doch spöttisch, als sie mich fragte:

»Wollen Sie denn auch dorthin?«

»Oh, ich kann ganz gut dorthin fahren. Ich habe ein paar Freunde dort. Eine feste Bleibe habe ich nicht…«

»So«, sagte sie nur … dann sank sie zurück, und in der tiefen Dunkelheit sah ich nur manchmal ihr Gesicht, wenn draußen eine Lampe vorüberhuschte.

Es war ganz finster geworden, als wir ausstiegen. Dunkel und warm. Und als wir aus dem Bahnhof traten, schlief das kleine Städtchen schon fest. Ruhig und geborgen atmeten die kleinen Häuser unter den sanften Bäumen. »Ich begleite Sie«, sagte ich heiser, »es ist so furchtbar finster…«

Da blieb sie plötzlich stehen. Es war unter einer Lampe. Sie blickte mich ganz starr an und sagte mit gepreßtem Mund: »Wüßte ich nur, wohin?« Ihr Gesicht bewegte sich leise wie ein Tuch, worüber der Wind streicht. Nein, wir küßten uns nicht… Wir gingen langsam aus der Stadt heraus und krochen schließlich in einen Heuschober. Ach, ich hatte keine Freunde in dieser stillen Stadt, die mir so fremd war wie alle anderen. Als es kühl wurde, gegen Morgen, kroch ich ganz nahe zu ihr, und sie deckte einen Teil ihres dünnen Mäntelchens über mich. So wärmten wir uns mit unserem Atem und unserem Blut.

Seitdem sind wir zusammen in dieser Zeit.

zurück

Der Mann mit den Messern

(1948)

Jupp hielt das Messer vorne an der Spitze der Schneide und ließ es lässig wippen, es war ein langes, dünngeschliffenes Brotmesser, und man sah, daß es scharf war. Mit einem plötzlichen Ruck warf er das Messer hoch, es schraubte sich mit einem propellerartigen Surren hinauf, während die blanke Schneide in einem Bündel letzter Sonnenstrahlen wie ein goldener Fisch flimmerte, schlug oben an, verlor seine Schwingung und sauste scharf und gerade auf Jupps Kopf hinunter; Jupp hatte blitzschnell einen Holzklotz auf seinen Kopf gelegt; das Messer pflanzte sich mit einem Ratsch fest und blieb dann schwankend haften. Jupp nahm den Klotz vom Kopf, löste das Messer und warf es mit einem ärgerlichen Zucken in die Tür, wo es in der Füllung nachzitterte, ehe es langsam auspendelte und zu Boden fiel…

»Zum Kotzen«, sagte Jupp leise. »Ich bin von der einleuchtenden Voraussetzung ausgegangen, daß die Leute, wenn sie an der Kasse ihr Geld bezahlt haben, am liebsten solche Nummern sehen, wo Gesundheit oder Leben auf dem Spiel stehen – genau wie im römischen Zirkus –, sie wollen wenigstens wissen, daß Blut fließen könnte, verstehst du?« Er hob das Messer auf und warf es mit einem knappen Schwingen des Armes in die oberste Fenstersprosse, so heftig, daß die Scheiben klirrten und aus dem bröckeligen Kitt zu fallen drohten. Dieser Wurf – sicher und herrisch – erinnerte mich an jene düsteren Stunden der Vergangenheit, wo er sein Taschenmesser die Bunkerpfosten hatte hinauf- und hinunterklettern lassen. »Ich will ja alles tun«, fuhr er fort, »um den Herrschaften einen Kitzel zu verschaffen. Ich will mir die Ohren abschneiden, aber es findet sich leider keiner, der sie mir wieder ankleben könnte. Komm mal mit.« Er riß die Tür auf, ließ mich vorgehen, und wir traten ins Treppenhaus, wo die Tapetenfetzen nur noch an jenen Stellen hafteten, wo man sie der Stärke des Leimes wegen nicht hatte abreißen können, um den Ofen mit ihnen anzuzünden. Dann durchschritten wir ein verkommenes Badezimmer und kamen auf eine Art Terrasse, deren Beton brüchig und von Moos bewachsen war.

Jupp deutete in die Luft.

»Die Sache wirkt natürlich besser, je höher das Messer fliegt. Aber ich brauche oben einen Widerstand, wo das Ding gegenschlägt und seinen Schwung verliert, damit es recht scharf und gerade heruntersaust auf meinen nutzlosen Schädel. Sieh mal.« Er zeigte nach oben, wo das Eisenträgergerüst eines verfallenen Balkons in die Luft ragte.

»Hier habe ich trainiert. Ein ganzes Jahr. Paß auf!« Er ließ das Messer hochsausen, es stieg mit einer wunderbaren Regelmäßigkeit und Stetigkeit, es schien sanft und mühelos zu klettern wie ein Vogel, schlug dann gegen einen der Träger, raste mit einer atemberaubenden Schnelligkeit herunter und schlug heftig in den Holzklotz. Der Schlag allein mußte schwer zu ertragen sein. Jupp zuckte mit keiner Wimper. Das Messer hatte sich einige Zentimeter tief ins Holz gepflanzt.

»Das ist doch prachtvoll, Mensch«, rief ich, »das ist doch ganz toll, das müssen sie doch anerkennen, das ist doch eine Nummer!«

Jupp löste das Messer gleichgültig aus dem Holz, packte es am Griff und hieb in die Luft.

»Sie erkennen es ja an, sie geben mir zwölf Mark für den Abend, und ich darf zwischen größeren Nummern ein bißchen mit dem Messer spielen. Aber die Nummer ist zu schlicht. Ein Mann, ein Messer, ein Holzklotz, verstehst du? Ich müßte ein halbnacktes Weib haben, dem ich die Messer haarscharf an der Nase vorbeiflitzen lasse. Dann würden sie jubeln. Aber such solch ein Weib!«

Er ging voran, und wir traten in sein Zimmer zurück. Er legte das Messer vorsichtig auf den Tisch, den Holzklotz daneben, und rieb sich die Hände. Dann setzten wir uns auf die Kiste neben dem Ofen und schwiegen. Ich nahm mein Brot aus der Tasche und fragte: »Darf ich dich einladen?«

»Oh gern, aber ich will Kaffee kochen. Dann gehst du mit und siehst dir meinen Auftritt an.«

Er legte Holz auf und setzte den Topf über die offene Feuerung. »Es ist zum Verzweifeln«, sagte er, »ich glaube, ich sehe zu ernst aus, vielleicht noch ein bißchen nach Feldwebel, was?«

»Unsinn, du bist ja nie ein Feldwebel gewesen. Lächelst du, wenn sie klatschen?«

»Klar – und ich verbeuge mich.«

»Ich könnt’s nicht. Ich könnt nicht auf ’nem Friedhof lächeln.«

»Das ist ein großer Fehler, gerade auf ’nem Friedhof muß man lächeln.«

»Ich versteh dich nicht.«

»Weil sie ja nicht tot sind. Keiner ist tot, verstehst du?«

»Ich versteh schon, aber ich glaub’s nicht.«

»Bist eben doch noch ein bißchen Oberleutnant. Na, das dauert eben länger, ist klar. Mein Gott, ich freu mich, wenn’s ihnen Spaß macht. Sie sind erloschen, und ich kitzele sie ein bißchen und laß mir’s bezahlen. Vielleicht wird einer, ein einziger, nach Hause gehen und mich nicht vergessen. ›Der mit dem Messer, verdammt, der hatte keine Angst, und ich hab immer Angst, verdammt‹, wird er vielleicht sagen, denn sie haben alle immer Angst. Sie schleppen die Angst hinter sich wie einen schweren Schatten, und ich freu mich, wenn sie’s vergessen und ein bißchen lachen. Ist das kein Grund zum Lächeln?«

Ich schwieg und lauerte auf das Brodeln des Wassers. Jupp goß in dem braunen Blechtopf auf, und dann tranken wir abwechselnd aus dem braunen Blechtopf und aßen mein Brot dazu. Draußen begann es leise zu dämmern, und es floß wie eine sanfte graue Milch ins Zimmer.

»Was machst du eigentlich?« fragte Jupp mich.

»Nichts … ich schlage mich durch.«

»Ein schwerer Beruf.«

»Ja – für das Brot habe ich hundert Steine suchen und klopfen müssen. Gelegenheitsarbeiter.«

»Hm … hast du Lust, noch eins meiner Kunststücke zu sehen?« Er stand auf, da ich nickte, knipste Licht an und ging zur Wand, wo er einen teppichartigen Behang beiseite schob; auf der rötlich getünchten Wand wurden die mit Kohle grob gezeichneten Umrisse eines Mannes sichtbar: eine sonderbare, beulenartige Erhöhung, dort wo der Schädel sein mußte, sollte wohl einen Hut darstellen. Bei näherem Zusehen sah ich, daß er auf eine geschickt getarnte Tür gezeichnet war. Ich beobachtete gespannt, wie Jupp nun unter seiner kümmerlichen Liegestatt einen hübschen braunen Koffer hervorzog, den er auf den Tisch stellte. Bevor er ihn öffnete, kam er auf mich zu und legte vier Kippen vor mich hin. »Dreh zwei dünne davon«, sagte er.

Ich wechselte meinen Platz, so daß ich ihn sehen konnte und zugleich mehr von der milden Wärme des Ofens bestrahlt wurde. Während ich die Kippen behutsam öffnete, indem ich mein Brotpapier als Unterlage benutzte, hatte Jupp das Schloß des Koffers aufspringen lassen und ein seltsames Etui hervorgezogen; es war eines jener mit vielen Taschen benähten Stoffetuis, in denen unsere Mütter ihr Aussteuerbesteck aufzubewahren pflegten. Er knüpfte flink die Schnur auf, ließ das zusammengerollte Bündel über den Tisch aufgleiten, und es zeigte sich ein Dutzend Messer mit hörnernen Griffen, die in der Zeit, wo unsere Mütter Walzer tanzten, »Jagdbesteck« genannt worden waren.

Ich verteilte den gewonnenen Tabak gerecht auf zwei Blättchen und rollte die Zigaretten.

»Hier«, sagte ich.

»Hier«, sagte auch Jupp und: »Danke.« Dann zeigte er mir das Etui ganz.

»Das ist das einzige, was ich vom Besitz meiner Eltern gerettet habe. Alles verbrannt, verschüttet, und der Rest gestohlen. Als ich elend und zerlumpt aus der Gefangenschaft kam, besaß ich nichts – bis eines Tages eine vornehme alte Dame, Bekannte meiner Mutter, mich ausfindig gemacht hatte und mir dieses hübsche kleine Köfferchen überbrachte. Wenige Tage, bevor sie von den Bomben getötet wurde, hatte meine Mutter dieses kleine Ding bei ihr sichergestellt, und es war gerettet worden. Seltsam. Nicht wahr? Aber wir wissen ja, daß die Leute, wenn sie die Angst des Untergangs ergriffen hat, die merkwürdigsten Dinge zu retten versuchen. Nie das Notwendige. Ich besaß also jetzt immerhin den Inhalt dieses kleinen Koffers: den braunen Blechtopf, zwölf Gabeln, zwölf Messer und zwölf Löffel und das große Brotmesser. Ich verkaufte Löffel und Gabeln, lebte ein Jahr davon und trainierte mit den Messern, dreizehn Messern. Paß auf…«

Ich reichte ihm den Fidibus, an dem ich meine Zigarette entzündet hatte. Jupp klebte die Zigarette an seine Unterlippe, befestigte die Schnur des Etuis an einem Knopf seiner Jacke oben an der Schulter und ließ das Etui auf seinen Arm abrollen, den es wie ein merkwürdiger Kriegsschmuck bedeckte. Dann entnahm er mit einer unglaublichen Schnelligkeit die Messer dem Etui, und noch ehe ich mir über seine Handgriffe klargeworden war, warf er sie blitzschnell alle zwölf gegen den schattenhaften Mann an der Tür, der jenen grauenhaft schwankenden Gestalten ähnelte, die uns gegen Ende des Krieges als Vorboten des Untergangs von allen Plakatsäulen, aus allen möglichen Ecken entgegenschaukelten. Zwei Messer saßen im Hut des Mannes, je zwei über jeder Schulter, und die anderen zu je dreien an den hängenden Armen entlang…

»Toll!« rief ich. »Toll! Aber das ist doch eine Nummer, mit ein bißchen Untermalung.«

»Fehlt nur der Mann, besser noch das Weib. Ach«, er pflückte die Messer wieder aus der Tür und steckte sie sorgsam ins Etui zurück. »Es findet sich ja niemand. Die Weiber sind zu bange, und die Männer sind zu teuer. Ich kann’s ja verstehen, ist ein gefährliches Stück.«

Er schleuderte nun die Messer wieder blitzschnell so, daß der ganze schwarze Mann mit einer genialen Symmetrie genau in zwei Hälften geteilt war. Das dreizehnte große Messer stak wie ein tödlicher Pfeil dort, wo das Herz des Mannes hätte sein müssen.

Jupp zog noch einmal an dem dünnen, mit Tabak gefüllten Papierröllchen und warf den spärlichen Rest hinter den Ofen.

»Komm«, sagte er, »ich glaub, wir müssen gehen.« Er steckte den Kopf zum Fenster raus, murmelte irgend etwas von »verdammtem Regen« und sagte dann: »Es ist ein paar Minuten vor acht, um halb neun ist mein Auftritt.«

Während er die Messer wieder in den kleinen Lederkoffer packte, hielt ich mein Gesicht zum Fenster hinaus. Verfallene Villen schienen im Regen leise zu wimmern, und hinter einer Wand scheinbar schwankender Pappeln hörte ich das Kreischen der Straßenbahn. Aber ich konnte nirgendwo eine Uhr entdecken.

»Woher weißt du denn die Zeit?«

»Aus dem Gefühl – das gehört mit zu meinem Training.«

Ich blickte ihn verständnislos an. Er half erst mir in den Mantel und zog dann seine Windjacke über. Meine Schulter ist ein wenig gelähmt, und über einen beschränkten Radius hinaus kann ich die Arme nicht bewegen, es genügt gerade