Billy - das Buch - Billy-Luise Sauerampfer - E-Book

Billy - das Buch E-Book

Billy-Luise Sauerampfer

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Beschreibung

Wer bin ich? Warum bin ich hier? Wie ist das mit der Liebe? Was suche ich? Mich. Aber wer ist das? Ich möchte meinen Gedanken die Chance geben, andere Menschen zu erreichen und die anzusprechen, die sich angesprochen fühlen. Eine Autobiographie voller literarischer Mittel und Bezüge.

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INHALT

VORWORT

INTRO

ZIEL

WO KOMME ICH HER?

GLÜCKSSCHMIEDE

WAS ICH BISHER GELERNT HATTE

MEHR GESCHICHTEN

AUSREISSEN?

DAS LEBEN DAMALS

WAS BRAUCHT DER MENSCH?

ZUKUNFT?

RAUSSCHMISS

AUSGERISSEN UND AUFGEFANGEN

ERWACHSEN

TRAUMVERWIRKLICHUNG

BERLIN

DAS ERSTE MAL

AUF DEN HUND GEKOMMEN

BONNYS RANCH

VERRÜCKTE

DIE WELT UND IHRE KRANKHEITEN

IDEALE

NARRENHÄNDE BESCHMIEREN TISCH UND WÄNDE

ÄNGSTE UND TRÄUME

FREE BILLY

ALLES FLIESST

EINE VERHÄNGNISVOLLE BEGEGNUNG

ZWEI SCHRITTE ZURÜCK

BEWEGGRÜNDE

SYMPTOME

MERKWÜRDIG

LIEBESGESCHICHTEN UND DEREN AUSWÜCHSE

ICH HABE MICH VERSTECKT

HEUTZUTAGE

BLIND VOR LIEBE

SCHATTENARBEIT

HAUSAUFGABEN

DAMALS

ZEITSPRUNG

WAS GOTT AUF ERDEN GESCHAH

ZUHAUSE?

15.08.2022: EINBRÜCHE SIND EINBRÜCHE

HELDEN

UMDENKEN

03.01.2023: AUF EIN NEUES

LOVEPARADE ...

13.08.1996 ...

HIN UND WEG

THE DARK SIDE OF THE MOON

DAS LEBEN IST EIN SCHELM

STUFEN

STERBEBEGLEITUNG

LEBENSLUST

REISEN

GEDICHTE, WORTSCHWALL, ERNSTES, WUT UND HUMOR

DIE REISE

KOMMEN UND GEHEN

LANGEWEILE

ZAUBERN

ICH

MONDENKINDER

LIEBE

HEIRATSANGRAG

HOCHACHTUNGSVOLLE VERNEIGUNG

HEUTE UND JETZT

DER WEG ZUM ZIEL

SEIN

DER BUSCH

NACHWORT

VORWORT

Ich schreibe Tagebuch, seit ich 14 Jahre alt bin.

Die Fragen, die mich umtreiben, sind nicht neu: Wer bin ich? Wofür bin ich hier? Wie ist das mit der Liebe? Warum habe ich – wie viele andere –das Gefühl, noch nicht gefunden zu haben, was ich suche? Was suche ich? Mich. Aber wer ist das? Diese meine Suche wird hier beschrieben und wenn jemandem etwas bekannt vorkommt, habe ich schon gewonnen, Leid, Freud oder Erkenntnis geteilt.

Die Kriege, die da draußen toben, toben auch in meinem Innern. Lange krankte ich an der Welt, so wie die Welt an uns Menschen erkrankt ist. Ich möchte Frieden und Heilung finden in mir selbst. Ich bin auf dem Weg, nicht frei von Fehlern. Gäbe es die nicht, hätte ich ja nichts mehr zu lernen. Ich bin ein Sammelsurium aus Zitaten. Vielleicht wird jemand eines Tages mal Spaß daran haben, mich zu zitieren.

Völker haben verschiedene Sprachen. Warum sollten sie nicht auch ihren Göttern unterschiedliche Namen geben? Warum streiten wir über so klitzekleine Unterschiede, obwohl uns ein Schicksal eint? Die Erde ist in einem beklagenswerten Zustand. Und mit ihr alle Lebewesen, die wir noch nicht ausgerottet haben. Ich möchte irgendetwas tun, außer Kippen und Müll zu beseitigen.

Etwas, das hilft, in den Köpfen ein Licht aufgehen zu lassen. Zuallererst in meinem!

Und lieben will ich! Zeigen, wie steinig der Weg dahin sein kann - und auch schön.

INTRO

Ich möchte mich kennenlernen. Ich möchte mich verstehen. Ich möchte mich lieben.

Was habe ich gespeichert, was habe ich vergessen, was gar verdrängt, wo bin ich verzogen worden, wo habe ich mich selbst umzingelt, verwickelt; und wie entwickle ich mich jetzt? Wer ist ICH? Billy werde ich genannt und so lasse ich mich nennen, seit ich 18 war. Es war an der Zeit, sich festzulegen, bevor ich mich im Fluss der sich verändernden Namen verlieren könnte: Duckerchen, Bienchen, Spinette, Homi, Omi, Nettchen, Annettchen, Nettilein.

Für Verschiedene bin ich Verschiedene. Habe ich ein Allerweltsgesicht? Oder warum werde ich so oft verwechselt?

Ich glaube wie Albert Einstein, dass nichts verloren geht auf dieser Welt, dass Energien sich umwandeln, dass die Zeit eine Illusion ist. C. G. Jung und seine Idee vom universellen Unterbewusstsein scheint mir plausibler zu sein als alles, was ich bisher über verschiedene Götter gehört habe.

Wer ist ICH?

Ein Nichts, ein ALLEINS, ein Tröpfchen im Meer, ein Körnchen des Staubes einer ätherischen Wolke im All, ein Pups des Weltgeistes oder auch ein Atemzug?

Es kommt mir vor, als wäre ich ein Radio, dessen Antenne mal die eine, mal die andere Frequenz empfängt. Ich drehe also am Rädchen und was ich höre, ist ein Chorus aller Geister, die ich rief. Als ob alles, was gedacht wurde, gedacht wird, gedacht werden wird, vorhanden ist im Äther und im richtigen Moment als Inspiration in meinen Geist fährt, zum Ohrwurm wird, einem Lied, einem Gedicht oder auch mal einem Bild. Wer spricht aus meinem Munde?

ZIEL

Dieses Buch ist ein Versuch, mich als ein Teil von allem zu begreifen, aber auch, mich einzugrenzen, abzugrenzen als ein eigenes Individuum. Verstehen will ich, die Wahrheit finden, die Quintessenz.

Mir ist sehr wohl bewusst, dass ein jedes Wesen seine ganz eigene Wirklichkeit erlebt, dass sich für jeden Einzelnen Wahrheit aus den Wahrnehmungen der Sinnesorgane und der subjektiven Deutung dieser ergibt. Alles meine Meinung.

Und auch wieder nicht, denn aus mir sprudeln Sätze anderer Geister, die ich als richtig für mich abgespeichert habe.

WO KOMME ICH HER?

Meine Eltern lernten sich an der Deutschen Hochschule für Körperkultur in Leipzig kennen. Sie wurden beide Lehrer, zogen zusammen und heirateten.

Am 7.1.1964 wurde Peter geboren und ich gesellte mich am 4.1.1967 dazu. Vater, Mutter, Brüderchen und Schwesterchen und noch die Oma väterlicherseits wohnten im Haus.

Meine Eltern sind beide 1940 geboren worden, im Zweiten Weltkrieg. Vaters Vater war kämpfen, dann in Gefangenschaft, kam sehr krank wieder und starb, als mein Vater 17 Jahre alt war. Oma versuchte dreimal, sich das Leben zu nehmen. Mein Vater rettete sie jedes Mal. Diese Geschichte schicke ich voraus, damit man versteht, warum er so ein »harter Hund« geworden ist, so ein strenger Trainer. Zur Erweckung des Selbsterhaltungstriebes bekam ich sehr früh eine besondere Lektion. Ich muss damals etwas über ein Jahr alt gewesen sein. Der Vater zog mich, meine kleinen Füße in der Hand, rückwärts bäuchlings durch die Ostsee. »Die Kleine wird schon lernen, den Kopf über Wasser zu halten«, soll er auf Mutters Entrüstung geantwortet haben. Er hat mich dadurch sicher in Todesangst versetzt.

Denk ich an mich als kleines Kind, sehe ich mich oft allein mit meinem Bruder. Er war der Wichtigste, der Liebste für mich, mein Freund, mein Beschützer. Ihn wollte ich heiraten, wenn ich groß wäre. Mit meinem Geburtstag musste ich immer drei Tage warten, bis auch Peter Geburtstag hatte. Dann wurden wir gleichzeitig gefeiert. Einmal bekamen wir die Personenwaage aus dem Bad geschenkt und sprangen auf ihr herum, bis sie kaputt war. Interessant ist, dass er lieber meine Puppe haben wollte, und ich bekam seine Autos. Er, der Umsichtige, ich, die Wilde. Ich sehe uns auf dem Dachboden vor Vaters Arbeitszimmer oder im Garten spielen, im Wohnzimmer an der heißen Ofentür Plastiktrinkröhrchen schmelzend verschrumpeln lassen. Bei Letzterem verbrannte ich mir einmal die Finger. Peter muss sechs Jahre alt gewesen sein und war so schlau, eine Kartoffel aufzuschneiden und sie mir auf die schmerzende Stelle zu drücken. Es half. Auch, weil ich ihm glaubte.

Dann erkrankte Peter an Leukämie und wurde nach Berlin in die Charité gebracht. Kam er mal zu Besuch nach Hause, war er aufgedunsen vom Cortison, schwach und traurig. 1971 starb er im Krankenhaus, als ich vier Jahre alt war.

Sein Tod läutete den Anfang vom Ende unserer Familiengeschichte ein. Meine Mutter stürzte in eine tiefe Trauer, während mein Vater aktiver denn je war. Sie konnten einander keinen Trost spenden Ich erfuhr erst von meiner Oma, was passiert war. Die Eltern gingen getrennte Wege und ich war das übrig gebliebene Kind und eben nicht das Kind, das jetzt so fehlte. Also begann ich mir zu wünschen, auch an Krebs zu sterben, damit meine Eltern dann an meinem Grab bereuen würden, mich nicht beachtet zu haben.

Später erfuhr ich, dass es im Westen schon eine Möglichkeit gab, diese Sorte Krebs zu heilen. Damals fing ich an, Grenzen zu verfluchen. Alles sollte für alle sein. Ich war allein, enttäuscht von der Welt und auch von den Menschen. Das soll kein Jammerbuch werden –ach, ich Arme. Nein! Jede Krise bietet Chancen und ein jeder trägt sein Kreuz. Ich fand Lösungswege, schaffte mir meine eigene Welt, redete weiterhin im Geist mit meinem Bruder, fand Freunde in Steinen, Pflanzen und Tieren. Und doch glaubte ich noch fast alles, was man mir als wahr verkaufen wollte. Fast! Ihr sagt, das sei rot und jenes blau. Woher weiß ich, ob ich euer Blau nicht rot sehe?

Als ich fünf war, versprach mir einer der ältesten Schwimmer unserer Stadt, dass ich einen Esel bekomme, wenn ich ihm Platz in unserem Schuppen verschaffte und mich auch gut um das Tier kümmerte. Natürlich versprach ich das und setzte alles in Bewegung dafür. Als ich später verkündete, ich sei so weit, das Tier könne jetzt kommen, wurde ich ausgelacht, weil ich so dumm war, den Großen zu glauben. Vor Enttäuschung schockiert, sagte ich: »Ihr seid ja alle hohle Vögel.« Erwachsene sind Leute, denen man nicht trauen kann. Sie tun anderes, als sie sagen und sagen nicht, was sie denken. Wer weiß, was sie wirklich denken. Sie reden jedenfalls massig belangloses Zeug, was nichts mit ihnen oder mir zu tun hat.

In meiner Welt ist Blau nicht nur Blau, sondern Nummer 5, und die Farbe des Himmels und des Meeres –bewirkt bei mir so etwas wie Seligkeit. Ich kann selbst denken, was ich will. Ich bin eben anders. Tod ist relativ. Wahr ist, was ich wahrnehme.

Nachts traf ich mich mit meinem Bruder. Es spielte sich so ab: Ich schlafe ein, träume, dass ich aufstehe, ans Fenster unseres Kinderzimmers gehe und da sehe ich ihn schon kommen, den Gartenweg entlang, er tritt unter mein Fenster, so dass wir uns gut sehen können. Auge in Auge und da fällt kein Wort. Wir schauen uns nur an und alles ist klar, war klar und wird klar sein.

GLÜCKSSCHMIEDE

Als meines Glückes Schmied (verzeiht, die Genderei liegt mir nicht) suchte ich mir nicht gerade den leichtesten Weg zum Lernen. Fünf oder sechs Jahre alt war ich, als ein Sangesgenosse meiner Mutter, nebenbei ein begnadeter Pianist, betrunken in meinem Bett landete und dort Dinge mit mir anstellte. Fast schweigt des Dichters Höflichkeit. Eine große Hand über Mund und Nase, Atemnot, eingesperrt unter der Bettdecke, Platzangst und ein Riesenschwanz in meiner Hand. Schock, Scham, Ekel, Abscheu!

Und ausgerechnet ihn mochte ich so besonders gern, weil er mit seinen traurigen russischen Melodien zu erfassen schien, wie es mir ging. Oder ebenso traurig war wie ich. Wie bekommt man das unter einen Hut? Als Kind sowieso nicht, und ich arbeite noch immer daran.

Mein Bruder und Beschützer war tot, für mich jedoch nicht gestorben. Mit ihm besprach ich weiterhin die Dinge des Lebens, verdrängte wohl auch und tat, als wäre nichts gewesen. Um hier mal vorzugreifen: In meinem weiteren Leben bin ich immer wieder in ähnliche Situationen geraten. Die mir am liebsten waren, entpuppten sich als die schlimmsten.

Damals also wollte ich lieb sein und ließ mir nichts anmerken. Mein Vater belehrte mich ja: »Ein Indianer kennt keinen Schmerz.« Morgens, noch vor seinem Unterricht fuhr er mich ins Schwimmstadion und ließ mich die Fünfzig-Meter-Bahn schwimmen. Er saß derweil am Ziel mit der Stoppuhr in der Hand. Und ich war nie schnell genug für ihn, auch wenn ich besser und besser wurde. Ein Trainer eben, ein Ehrgeizerwecker. In jener Zeit nannte er mich »Bienchen«. Vielleicht, weil ich so emsig war und oft vor mich hin summte.

Bald bekam ich einen anderen Trainer, schwamm im Lehrschwimmbecken der Ersten Oberschule, in die ich mit sechs Jahren eingeschult wurde. Unterricht, Training, neue Leute. Flötenunterricht kam auch noch dazu. Ich war gut beschäftigt.

»Du warst immer das gute Kind«, sagt meine Mutter heute noch. Unauffällig, keine Last.

Ich sprach mit ALLEM, mit Steinen, Tierchen und hatte mal jemand etwas verlegt oder verloren, rief ich das Ding einfach beim Namen und fand es nicht selten auch. Sehr oft fand ich aus dem Nest gefallene Küken oder sonstige hilfsbedürftige Wesen, die ich nach Hause brachte, um sie aufzupäppeln oder gesundzupflegen und sie dann wieder freizulassen. Ich weiß, wie man Vögel zum Fliegen bringt.

Manchmal ging meine Tierliebe auch nach hinten los. So brachte ich Froschlaich in einem Glas in mein Zimmer und schaute gespannt der Entwicklung zu. Als die Quappen zu kleinen Fröschchen wurden, nahm ich eine Babybadewanne und baute darin ein Biotop, halb Wasser, halb Land. Vormittags war ich in der Schule, danach brachte ich einmal einen Freund mit, um ihm die ganze Pracht zu zeigen. Wir liefen über den schwarzweißen Teppich auf die Wanne zu, die sich auf dem Fensterbrett befand. Mussten aber feststellen, dass die meisten Tiere ausgebüxt waren –und nicht nur das! Wir hatten einige von ihnen auf dem Weg durch das Zimmer zertreten. Oh je! Die Überlebenden wurden eingesammelt und in die Heimat gebracht.

Die geborene Helferin, die es nur manchmal übertrieb.

Liebe kann lebensgefährlich sein.

Ich bekam einen Wellensittich. Bubi durfte von Anfang an frei in der Wohnung umherfliegen, hatte einen großen Ast in meinem Zimmer, den Käfig als Futterstätte oder auch als Schlafzimmer. Wenn in der Küche Wasser lief, kam er herbeigeflogen. Und wenn man dann die Hände mit Wasser darin zu einer Wanne formte, nahm er gerne ein Bad.

Mein Vater, der Vogel und ich pfiffen übrigens auf die gleiche Weise, so dass man nie wusste, wer diesmal tönte.

Nach einem dieser Vogelbäder fiel mir auf, dass ein Vogel nass nicht fliegt, er saß ganz ruhig auf meiner Schulter. Das wollte ich der Welt zeigen, ging raus auf die Straße und demonstrierte jedem, der hinschaute, wie treu mir mein Vogel war. Ich hatte aber nicht bedacht, dass der Gute ja auch mal trocken würde. So geschehen, flog er mir einfach davon auf Nachbars große Linde. Vater besorgte eine Leiter und über diese stiegen wir in das Geäst des Baumes, pfiffen und lockten. Je höher wir stiegen, desto weiter entschwand das geliebte Tier, bis wir nicht mehr folgen konnten. Drei Tage später erfuhren wir, Bubi sei auf dem Käfig eines am Fenster stehenden Papageien gelandet, wir dürften ihn abholen. Das war noch einmal gutgegangen.

Immer wenn es plätscherte, kam das Tier herbei. So auch bei einem musikalischen Stelldichein meiner Mutter mit Freunden in unserem Wohnzimmer. Der Vogel fing an, Wodka zu saufen, flog von Glas zu Glas, nippte hier und da, bis er alle Hemmungen verlor. Er sang und sprach alles, was er so auf Lager hatte.

Sein Ende war tragisch. Ich saß an meinem Schreibtisch, Gesicht zur Wand, hinter mir der große Ast, der Bubi jetzt als Abflugrampe diente. Von dort aus flog er direkt gegen die Wand und fiel nach unten auf meine Hausaufgaben. Warum nur?

Er lebte zwar noch, aber der untere Teil des Schnabels war abgebrochen und hing lose herab. Der Tierarzt machte mir keine Hoffnung, gab dem Tier Vitamintropfen, um überhaupt etwas zu tun. Der Tod kam zeitnah und brachte Erlösung.

Die Schulzeit … Sieben war ich, als meine Eltern sich scheiden ließen. Für mich war es eher eine Erleichterung, so musste ich keine Streitereien mehr mit anhören. Der Vater zog aus und meine Mutter blieb mit mir und meiner Oma in dem Haus wohnen.

Bald schleppte ich einen weißen Spitzwelpen an. Gegenüber dem Vorbesitzer hatte ich gelogen, meine Eltern würden es erlauben. Somit stellte ich meine Mutter vor vollendete Tatsachen.

»Das geht auf keinen Fall, was bildest du dir denn ein, bring den Hund dahin zurück, wo du ihn herhast.« Und dann gleich: »Ach, gib ihn mal her, ist der süß.« Ihres Zeichens Zwilling, konnte sie in Windeseile ihre Meinung ändern. Wie schön, jetzt hatte ich also ein Wesen, das mir wichtig war und um das ich mich kümmern konnte. Leider nicht sehr lange.

Ich weiß nicht mehr, wie alt ich war, als ich aus einem Ferienlager heimkehrte und meine Mutter mir entgegenkam: »Dein Hund ist überfahren worden, aber er lebt noch.«

Was das hieß, erlebte ich prompt danach. Der Tierarzt hatte bei ihm eine Gehirnerschütterung diagnostiziert. Ich wagte zu hoffen, dass alles wieder gut würde, hatte gerade einen Einführungskurs in Erster Hilfe hinter mir und blieb mit dem kranken Tier zu Hause, während meine Mutter unterrichten musste. Ein schreckliches Drama. Stundenlang beobachtete ich dieses elende Leiden und konnte es nicht lindern. Manchmal war das Ende nah, Stille im Raum, da beatmete ich Trolli und er, beziehungsweise sie, lebte noch etwas weiter, jaulte, schrie und quälte sich. Es lief Blut aus den Ohren. Wäre ich schlauer gewesen, hätte ich den Schädelbruch erkannt und nicht das Leiden noch verlängert.

Bruder tot, Vogel tot, Hund tot, die Fröschlein nicht zu vergessen!

Lag es an mir, dass mir die, an die ich mein Herz hängte, wieder entschwanden?

Ich bekam dann einen neuen Hund: Herr Lehmann oder auch Trolli genannt.

Nachts kommunizierte ich weiterhin mit meinem Bruder, am Tage war ich in dieser Welt mit Schulfreunden, nachmittags dreimal pro Woche in der Trainingsgruppe. Am Wochenende fanden oft Wettkämpfe statt. Bis ich zwölf war, ging das so weiter.

Mein Vater verbrachte manchmal Teile der Schulferien mit mir. Einmal radelten wir in die Hohe Tatra, hundert Kilometer täglich.

Mit zwölf erzählte ich meiner Mutter von dem Übergriff in der frühen Kindheit und sie meinte nur: »Du spinnst!«

Von da an hörte ich auf, das gute Kind zu sein. Meine mir oft selbstaufgebürdete Schuld wich einer Wut, statt AFN-Love-Songs hörte ich AC/ DC. Mit dreizehn log ich, ich würde mit einer Freundin ins Kino gehen und dann bei ihr schlafen. In Wahrheit klaute ich mir von Mutter und Großmutter alkoholische Getränke, mischte sie in einem Marmeladenglas und trank mir mit der Freundin Mut an. Dann tigerten wir zusammen zur Disco.

Das Leben ist Veränderung. Hier startete eine Revolte, man nennt sie auch Pubertät.

WAS ICH BISHER GELERNT HATTE

Das Leben ist grausam. Das erste Ereignis in diesem »Film« war die Geburt. Ich kann mich nicht daran erinnern, aber da ich inzwischen auch zwei Kinder geboren habe, denke ich, dass es ein Trauma gewesen sein muss. Raus aus der sicheren Einheit, aus dem warmen Mutterschoß. Jene, die mir eben noch Heimat war, schreit nun vor Schmerzen. Und dann schaut man sich später um und versucht, sich in dieser Familie sicher zu fühlen, Vertrauen aufzubauen.

Vertrauen kann lebensgefährlich sein, das brachte mein Vater mir bei, als er mich als Baby rückwärts durch die Meeresfluten zog. Gewalt von einem Liebsten schien in Ordnung zu sein. Warum nannte er mich »Duckerchen«, der Vater? Vielleicht, weil ich mich extra klein machte, bescheiden und unauffällig verhielt, um nicht in den Fokus zu geraten, nicht in Gefahr.

Geliebte verlassen dich, auch wenn du meinst, sie zu brauchen.

Mittlerweile hatte mein Vater scheinbar eine neue Frau und ein anderes Kind gefunden.

Familien sind nicht unzerstörbar, Mitglieder austauschbar.

Der Tod ist nicht das Ende. Acht Jahre hatte ich mit meinem Bruder, nachdem er gestorben war, noch kommuniziert.

Nett ist, wer es anderen recht macht und die eigenen Bedürfnisse ignoriert. Dazu folgende Geschichte. Ich muss etwa sieben gewesen sein. Mutter hatte Besuch im Wohnzimmer gleich nebenan. Ich war schon zum Schlafen verdonnert, konnte es aber nicht, da mich höllische Ohrenschmerzen plagten. Es war eine Mittelohrvereiterung, wie sich später herausstellte. Aus zweierlei Gründen traute ich mich nicht, um Hilfe zu bitten: »Ein Indianer kennt keinen Schmerz.« Und: »Wenn Erwachsene sich unterhalten, sind Kinder still.« Da hatte ich schon ausreichend gelernt, um meinem Namen Annette alle Ehre zu machen!

MEHR GESCHICHTEN

Die Chronologie lässt zu wünschen übrig, man möge mir verzeihen. Es ergibt sich, dass ich noch einmal zu einer bestimmten Zeit zurückkehre, weil mir immer wieder noch etwas einfällt.

Als der Vater ausgezogen war, ich der Mann im Hause, schippte ich zentnerweise die Kohlen in den Keller, fegte den Hof, das Treppenhaus und wischte die 64 Stufen wie selbstverständlich.

Ich war ein gutes Kind und fleißig. Natürlich wollte ich es allen recht machen, damit ich Wertschätzung erhielt.

Ich hatte gelernt, dass man durch sportliche Leistung, harte Arbeit und zurückhaltendes Benehmen Anerkennung erobern kann.

Anfang dreizehn hörte ich auf, mit meinem Bruder zu »chatten«. Krise!

Es gefiel mir ganz und gar nicht, so allein zu sein. Also streckte ich meine Fühler aus, ob es hier auf Erden einen Freund für mich geben könnte.

Einen Sommer lang –in einem Ferienlager –hatte ich einen Schwarm und war seine Squaw. Zuneigung bedeutete zu dieser Zeit ständiges aneinander Denken und nix weiter als unschuldiges Wimperngeklimper.

Mit vierzehn eroberte ich meinen ersten Freund durch Blicke im Schultreppenhaus und einen Zettel mit einer zarten Botschaft, den ich einem Freund von ihm gab: »Wollen wir mal gemeinsam ins Kino?« Ich hatte Glück. Der, an dem ich interessiert war, interessierte sich auch für mich. Wir machten Ausflüge mit seiner Simson S 50, tanzten bei »Woman« von John Lennon eng umschlungen.

Vielleicht suchte ich doch mehr meinen Bruder in ihm, während er mit seinen erwachenden Instinkten nach einem Weibchen Ausschau hielt. Der Arme! Es ging nicht gut und ich beendete die Sache. Aus seinem Abschiedsbrief erinnere ich mich besonders an folgende Passage: »Und immer, wenn ich dich küssen wollte, haben die Mücken dich gepiekt oder sonst was kam dazwischen.«

Es war einfach alles nicht so märchenhaft (»… und dann erkannten sie sich und lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage«), wie ich mir das erträumt hatte. Ich war lange zurückhaltend, gerne ein guter Freund. Meine Jungfräulichkeit wollte ich nur dem einen schenken, mit dem ich dann für immer zusammenbleiben würde.

Ich hatte auch Mutters Ratschläge im Kopf: »Die Männer wollen alle nur das Eine. Schon beim ersten Mal kann man schwanger werden. Enthaltsamkeit ist das beste Verhütungsmittel.«

Ich trennte mich, fand den Nächsten, der Sex wollte, und trennte mich wieder.

Mit vierzehn fing ich an, zu bluten.

AUSREISSEN?

Meine Mutter stellte einen Ausreiseantrag, wofür ich auch auf anderen Ebenen »bluten« musste. Ich werde nie vergessen, wie das war, als unser aller Schuldirektor in unsere Klasse kam.

»Wie ihr vielleicht schon wisst, hat die Mutter von Annette einen Ausreiseantrag gestellt. Und es ist ja wohl klar, dass der Staat solche Leute nicht mehr fördert.«

Ich wurde zum heißen Eisen. Ein jeder, der studieren oder sonst irgendwie vorankommen wollte, wägte ab, ob es nicht besser wäre, mich zu meiden. Schon wieder wurde ich so behandelt, als hätte ich mir Schuld aufgeladen. Aber was hatte ich denn getan? Ich war das Kind einer Mutter, die sich beim Trampen in einen Mann verknallt hatte, der bei den Vereinten Nationen arbeitete, im Bereich Wasser und Energie. Er war Diplomat und deshalb bezichtigte man meine Mutter der Spionage. Was für eine Fehleinschätzung der Situation! Die beiden Menschen liebten sich nur. In der Folge wurde ich vom Staatssicherheitsdienst zum Verhör abgeholt, dort mit einer Lampe geblendet. Meine Mutter hatte mich bereits vorbereitet: »Stell dich einfach doof.« Das schaffte ich.

Von vielen gemieden, stets wachsam, nichts Staatsfeindliches in der Öffentlichkeit zu sagen, lebte ich weiter mein Leben, ging brav zur Schule. Trainierte, tummelte mich mit Freunden an der Kiesgrube und verbrachte die Sommerferien wie jedes Jahr an der Ostsee. Ich verliebte mich auch wieder und nahm Reißaus, sobald mir jemand an die Wäsche wollte, trennte mich oder wurde verlassen. Zum Glück müssen wir nicht alles in allen Einzelheiten betrachten.

DAS LEBEN DAMALS

Was dachte ich? Das Leben muss doch mehr zu bieten haben. Geburt, Kinderkrippe, Kindergarten, Schule, Ausbildung, dann lebenslang im gleichen Beruf arbeiten, heiraten, Kinder bekommen, als Rentner die Enkel hüten oder gleich ab ins Altersheim. Keine verlockenden Aussichten. Alles durchorganisiert, damit man ja nicht vom Wege abkommt. Als Scheidungskind war ich schon früh der Meinung, dass ich sicher nicht heiraten würde. Obwohl ich schon damals (wie auch heute noch) heulen musste, wenn im Film zwei sich endlich fanden.

Darüber hinaus hasste ich es, im Erdkundeunterricht von der großen weiten Welt da draußen zu hören und zu wissen, dass wir in diesem kleinen Staat eingesperrt waren. Und nicht nur das! Es war klar, dass wir beobachtet und bespitzelt wurden. Und es konnte praktisch jeder sein, der dich für einen politischen Witz bei der Stasi ankackte, um dadurch vielleicht einen Studienplatz zu ergattern oder andere Annehmlichkeiten. Wir wurden also nicht nur in der Bewegungsfreiheit eingeschränkt, auch das freie Denken oder Sprechen war verboten.

Entsprechend musste man sich zwei Meinungen zulegen, die offizielle und die eigene. Wie sich das auf das Miteinander der Menschen auswirkte, kann man sich denken. Freunde mussten gut gewählt sein (Holzauge sei wachsam, Big Brother is watching you).

Andererseits gab es auch viel Gutes im Osten. Wir hatten immer genug zu essen. Der Mangel an diesem oder jenem bewirkte, dass getauscht wurde. »Hey, haste ’nen gebrauchten Autoreifen? Könnte dir dafür ein Pfund Westkaffee anbieten und meine Hilfe sowieso jederzeit.« Ein bisschen ging das in die Richtung von der Idee des Kommunismus: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen. Was du hast, brauche ich, dafür helfe ich dir bei dem, was du nicht kannst. Bleibt die Frage, wenn jeder alles hätte und nichts und niemanden mehr bräuchte, wo wir dann hinkämen. Vielleicht wäre es wunderbar. Man könnte aus reiner Zuneigung den Umgang miteinander pflegen. Es gäbe keinen Neid mehr, keine Abhängigkeiten, keine Verlustangst, keine Eifersucht, keine Gewalt und keinen Krieg.

Aber dann stellt sich gleich die Frage, was denn der Mensch überhaupt braucht. Die Antwort: Nicht mehr als ein Tier; denn wir sind ja Tiere. Angeblich vernunftbegabt! Er braucht ein sicheres Heim, Futter, Wasser, ein Gegenüber, welches ihn oder sie wertschätzt und respektiert. Und auch Lust hat, im Namen der Liebe die Hüllen fallen zu lassen und auf Teufel komm raus »Umgang« zu haben. Um dann vielleicht aus dieser Liebe zwischen zweien aus dem DU und ICH ein WIR werden zu sehen, in das sich ein Kind einnisten möchte.

Schweife ich ab?

WAS BRAUCHT DER MENSCH?

Und was kann ich für die Welt tun? Im Moment nicht mehr, als mein Leben zu betrachten, zu verstehen, wo meine Schwächen und meine Stärken liegen.

Für Kinder wurde auf jeden Fall gesorgt im Osten. Talente wurden erkannt und gefördert, ob sprachlich, musikalisch, sportlich oder sonst wie. Ich lernte Flöte spielen, hatte Klavierunterricht, lernte Russisch schon in der dritten Klasse, sang im Schulchor. Tischtennis lernte ich auch, war kurzzeitig in einem Handballverein aktiv. Fußball spielte ich beim Trockentraining des Schwimmclubs. Heute favorisiere ich immer noch alle möglichen Spiele, bei denen Körpereinsatz gefordert ist. Solche, bei denen man am Tisch sitzen muss, mag ich nicht. Ebenso wenig, anderen beim Spielen zuzusehen, womöglich vor der Glotze mit einem Kasten Bier als Gesellschaft und einem Trainingsanzug als sportlicher Note.

Für die Ferien wurde ebenfalls vom Staate vorgesorgt. Hatten die Eltern keine Zeit, schickte man die Kinder in Trainings- oder Ferienlager.

Mit sechzehn trat ich der Gesellschaft für Sport und Technik bei, machte einen Motorradführerschein für 3,50 Mark Jahresbeitrag. Außerdem wurde ich Mitglied der Funkengarde und legalisierte auf diese Weise meine nächtlichen Ausflüge. Man stelle sich vor, in dem Alter sollte ich um 22 Uhr zu Hause sein, während meine zwei Jahre jüngere Freundin bis Mitternacht Freigang hatte. Um dieses Thema gab es Ärger, seitdem ich dreizehn war. Da hatte ich schon die Angewohnheit, Diskotheken zu besuchen, von denen es damals bei uns reichlich gab. Es war eine Zeit, in der ein Tanzwilliger oder eine Tanzwillige sich noch jemanden wählen und höflich auffordern konnte: »Darf ich bitten oder wollen wir erst tanzen?«

Mensch, ich besuchte sogar die Tanzschule. Das gehörte zum guten Ton. Hier lernte ich Walzer, Charleston, Foxtrott, Cha-Cha-Cha und mehr. Auf dem Abschlussball sah ich meinen Vater das erste Mal schön beschwipst. Lustig war das, den Chef mal außer Kontrolle zu erleben.

Meine Güte, was für ein aktives Leben war das, denke ich heute.

Mit sechzehn hatte ich Abschlussprüfungen und meisterte sie ganz gut, da ich mich am Tage vor der Klausur auf den Hosenboden setzte und den Stoff auf die Quintessenz reduziert aufschrieb. Ich lerne am besten beim Schreiben. Das verlangsamt das Denken und die Botschaft hat Zeit, sich in die Hirnwindungen zu schrauben.

ZUKUNFT?

Da ich ein großes Interesse für Steine hegte, wollte ich Geologin werden. Das Abitur war angestrebt, durfte ich aber nicht machen. Die Zeit der Bewerbungen brachte mir eine Ablehnung nach der anderen. Das war klar, wegen unseres Ausreiseantrags. Ich konnte froh sein, dass eine Firma sich erbarmte und ich eine Lehre als Textilfacharbeiterin beginnen durfte.

Bis dahin ging ich eisern zum Schwimmtraining. Hier wurde mir Verwandtschaft im Westen zum Karrierehemmer, für eine Sportschule wurde ich nicht zugelassen.

Mein Vater fällt mir ein. Er wäre gern Weltmeister in irgendetwas gewesen oder wollte seine Kinder diesen Traum erfüllen sehen. Er hat seine Welt auf vielen Ebenen mit Bravour gemeistert, nur am Ende fühlte er sich nicht genug geehrt. Ich sehe ihn im Geist noch vor mir im Altersheim vor der Glotze die Sender durchsuchend, wo denn jetzt seine Ehrung gezeigt wird. Ein Jammer. Alzheimer hatte seinen Kopf schon verwirrt.

Siebzehn Jahre alt. Ich lernte meinen Stoff während der Lehre so schnell, dass man mir anbot, die Prüfung eher abzulegen. Aber Vater Staat war wieder einmal bestens informiert und warf Steine in den Weg. Plötzlich wurde die Ausreise genehmigt, nach zwei Jahren, in denen meine Mutter alle Hebel in Bewegung gesetzt hatte. Sie hatte sich an Amnesty International und Rechtsanwalt Vogel gewandt, der uns dann wohl auch freikaufte.

RAUSSCHMISS

Ich hatte damals Dienst in der Textilfabrik, bewachte drei Webstühle, verknotete zerrissene Fäden und reparierte sonstige Schäden. Dabei musste ich achtsam sein, hin- und herspringen zwischen den Webstühlen und den Fehler am besten schon erkennen, bevor er passierte. Es war reichlich laut bei der Arbeit, aber ich hatte einen Weg gefunden, mit dem Lärm umzugehen.

Ich tanzte den Rhythmus der Maschinen und wurde dabei erwischt, vom Chef höchstpersönlich: »Was glauben Sie, was Sie da tun? Was erlauben Sie sich, hier einfach so herumzutanzen? Was ist denn das für eine Arbeitseinstellung!«

Zur Sache! Es war der 20. August 1984, da kamen zwei Typen von der Staatssicherheit zu meinem Arbeitsplatz. Sie flankierten mich links und rechts, führten mich aus dem Betrieb, streng darauf bedacht, dass ich keinen Kontakt zu meinen Kollegen bekam. Man brachte mich bis nach Hause. Dort instruierte man uns, am nächsten Tag das Land zu verlassen, und verbot uns, irgendjemandem irgendetwas zu erzählen. Wir wurden für den Nachmittag noch einmal einbestellt, auf dass man uns feierlich aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen konnte.

Ich hatte keine Wahl. Dabei war es, abgesehen von den Repressalien dieses Systems, derzeit ein schönes Leben in meiner Heimat. Ich hatte meiner Meinung nach die große Liebe gefunden, großartige Freunde und durfte mittlerweile so oft und so lange tanzen gehen, wie ich wollte. Das Training hatte ich aufgegeben. Ich schwamm jetzt nackt und freiwillig in der Kiesgrube.

Ich würde alles verlieren, den Vater, die Oma, den Hund, Freunde, mein Zuhause. Und es sah so aus, als wäre es ein Abschied für immer.

21.08.1984: Um 15.24 Uhr verließen meine Mutter, mein fünfzehn Jahre jüngerer Halbbruder und ich Finsterwalde und all das, was bis dahin für Heimat gestanden hatte.

Vorher besuchte ich noch meinen damaligen besten Freund. Wir fanden »Fame –Der Weg zum Ruhm« im TV, träumten von grenzenlosen Zeiten, lachten und weinten und gaben uns nebenbei die Kante.

Auf dem Weg ins Auffanglager Gießen mussten wir am Hauptbahnhof Frankfurt/ Main umsteigen, kamen an einem Obststand vorbei und flippten schier aus, meine Mutter und ich. All diese Farben, Obst- und Gemüsesorten, die wir noch nie gesehen hatten.

AUSGERISSEN UND AUFGEFANGEN

Bizarr war der Wechsel von Ost nach West. Schmückten eben noch die roten Parolen auf Riesentransparenten die Landschaft: »Wir für unser sozialistisches Vaterland gemeinsam gegen den Imperialismus«, drückte sich die westliche Ideologie so aus: »Marlboro. Die große Freiheit«. Auf einem Pferd sitzend, Hintergrund Wüste, rauchte ein kerniger Typ eine Zigarette und war auf der Stelle aller Sorgen enthoben. Was für ein Quatsch! Hier wurde das Volk also auch verblödet. Nur irgendwie bunter.

Über Gießen gelangten wir nach Schwaikheim im Schwabenland, ein Örtchen, in dem es sehr viel ruhiger war als in Finsterwalde. Meine ersten Freunde in der Fremde waren türkische Jungs, die mir das Billard spielen beibrachten.

Meine Mutter hatte weiterhin das Sagen und fand, dass ich in diesem Land der unbegrenzten Möglichkeiten versuchen sollte, das Abitur nachzuholen, um doch noch »Jemand« oder »Etwas« zu werden. Ich kam mit fast achtzehn Jahren in eine zehnte Klasse und fühlte mich dort sehr deplatziert. Das Gute: Ich durfte mit zu einer Klassenfahrt nach Edinburgh –meine erste Reise im Westen.

Da auch meine Mutter sich im Schwabenland nicht wohlfühlte, zogen wir nach Westberlin. Bei einem befreundeten Pfarrer kamen wir in dessen großer Wohnung im Wedding unter. Hier arbeitete ich als Putzkraft der Ostergemeinde. Bald fanden wir eine eigene Wohnung am Hansaplatz und ich versuchte noch mal, was »Anständiges« zu werden, ich bewarb mich um eine Ausbildung zur Fremdsprachensekretärin.

Wieder fühlte ich mich nicht am richtigen Ort. Die Mädels um mich herum waren geschminkt, schick angezogen und so ganz anders als ich. Ich bemühte mich trotzdem. Erst als ich wiederholt und mit unterschiedlichen Beschwerden krank wurde, erlaubte ich mir, »aus persönlichen Gründen« diese Lehre hinzuschmeißen.

ERWACHSEN

Achtzehn Jahre jung im Westen Berlins. Das »Sound« in der Kurfürstenstraße war mein erstes Tanzlokal. Ich staunte nicht schlecht, als ich bemerkte, dass dort viele für sich allein tanzten. Einer sogar vor einem Spiegel –ganz selbstverliebt. Andere Länder, andere Sitten.