Billy the Beast. Ein Traum von einem Tiger - Jörg Menke-Peitzmeyer - E-Book
SONDERANGEBOT

Billy the Beast. Ein Traum von einem Tiger E-Book

Jörg Menke-Peitzmeyer

0,0
8,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Bert ist dick. Sogar sehr dick. Stolze 101 Kilo bringt er auf die Waage. Alles nervt. Gut, dass es Günther Jauch gibt: Bei seiner Lieblingssendung kann Bert ungestört von zu Hause mit raten. Doch dann ändert sich alles: Bert wird das Maskottchen einer Eishockeymannschaft und als "Billy the Beast" im Tigerfell berühmt. Die Pfunde purzeln, eine glücklichere Welt unterhalb der 100-Kilo-Grenze scheint möglich. Aber bald kommt die Millionenfrage: "Wie erobert man das Herz einer Cheerleaderin?" Der Zusatzjoker muss her …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jörg Menke-Peitzmeyer

Ein Traum von einem Tiger

Roman

Ullstein

Die Arbeit des Autors an diesem Roman wurde vom Deutschen Literaturfonds Darmstadt gefördert.

Die Handlung und alle handelnden Personen dieses Romans sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

Wir wählen unsere Bücher sorgfältig aus, lektorieren sie gründlich mit Autoren und Übersetzern und produzieren sie in bester Qualität.

Hinweis zu Urheberrechten

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten.Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Widergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem Buch befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

ISBN 978-3-8437-1473-0

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © masterfile/©1507kotCopyright-Nachweise verwendeter Liedtextzitate:Kapitel 22: Klaus Hoffmann: Einer gibt’s dem anderen, Indigo 2008Kapitel 34: Rainald Grebe: Brandenburg, Studio Wong 2005Kapitel 61: Tim Toupet (Hans Georg Wagner): Tote Enten, Extreme Sound Recordings 2014

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

1

Springen oder nicht springen, das war hier die Frage. Was heißt hier springen. Wie zwei Kartoffelsäcke, die man aus dem Keller hievt, einen nach dem andern, stellte ich meine Beine auf die Waage. 101 Kilo. Leute, ich bin sechzehn.

»Beeeeeeeeeeeeeert!«

Um es gleich zu sagen: Meine Mutter ist kein Sesamstraßen-Fan. Ich heiße so, weil mein Opa schon so heißt. Bert Stutenkemper. Weshalb mein Opa mich auch Junior nennt.

»Kommeeeeeeeeee!«

Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte es riechen müssen. Speck, Weißkohl, Sauerkraut, das macht meine Mutter nicht für mich. Nicht an einem Montagmorgen um halb sieben. Und auch sonst nicht.

»Zieh dir was Richtiges an.«

Woher zum Teufel wusste sie das? Sie hatte mich nicht mal angesehen, als ich in Jogginghosen in die Küche gekommen war.

»Hab heut Sport.«

»Aber erst in der fünften und sechsten Stunde.«

Ich warf einen Blick in die Pfanne. Es sah aus, als hätte jemand reingekotzt, ehrlich.

»Was ’n das?«

»Bigos.«

Ich hatte ihn nicht gesehen. Dabei hatte er die ganze Zeit am Küchentisch gesessen.

»Bert, das ist Maciej. Maciej, das ist Bert.«

Ich sah ihn mir nicht näher an. Es lohnte nicht. Drei, vier Monate blieben die Typen im Schnitt, länger nicht. Meistens Osteuropäer, Serben, Tschechen, auch schon mal ein Albaner. Dieser hier schien Pole zu sein, auf seinem linken Oberarm prangte ein Anker aus den Buchstaben PW, das Symbol der polnischen Widerstandsbewegung im Zweiten Weltkrieg, auch Kotwica genannt. Woher ich so was weiß? Darauf kommen wir noch früh genug.

Dann stand der Typ auf, griff mit seiner bloßen Pranke in die Pfanne und zog ein Stück Speck heraus. Und er sagte es auch noch, »Speck«, so als wäre ich begriffsstutzig oder so. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, tätschelte er mir dabei den Bauch. Ich hätte fast gekotzt, auf nüchternen Magen.

Meine Mutter füllte die Teller, einen großen, einen mittleren und einen kleinen. Meine Mutter ist das genaue Gegenteil von mir, schlank wie ’ne Tanne, man könnte meinen, ich würde ihr alles wegfressen. Dabei bekam ich nur den mittleren Teller.

»Iss«, sagte sie.

»Hab kein Hunger.«

»Wär das erste Mal.«

Es wäre der ideale Moment gewesen, um eine neue Diät zu beginnen. Ich brauchte den Typen nur anzusehen, und mir verging der Appetit. Aber ich hatte die Rechnung ohne meine Mutter gemacht.

»Na los«, sagte sie. »Sonst kippste nachher beim Sport noch um.«

Das war allerdings ein Argument. Ich tauchte meinen Löffel in die Pampe. Wenn ihr mich fragt, es fehlte ein Schuss Rotwein.

2

Eine halbe Stunde später – ich hatte den ganzen Teller leergegessen und mir inzwischen was ›Richtiges‹ angezogen – eine Jeans mit der Oberweite 36 und ein XXL-T-Shirt –, fragte mich meine Mutter, ob ich das Geld hätte.

»Welches Geld?«

»Für den Ausflug.«

Scheiße. Den hatte ich völlig vergessen. Beziehungsweise verdrängt. Oder wie würdet ihr das nennen, wenn man weiß, dass man eines Tages sterben muss, aber trotzdem weiter zur Schule geht?

»Wehe, ich finde wieder was unter deinem Bett.«

Das klingt jetzt so, als meinte meine Mutter Pornos. Sie sprach aber von Twix. Die pflege ich für gewöhnlich unterm Bett aufzubewahren. Auch darauf kommen wir noch früh genug.

Dann ging sie in die Küche und kam mit einem Zwanzigeuroschein zurück, den sie mir in die Hose stopfte.

»Sag bloß, die ist dir jetzt auch schon wieder zu eng.«

Man könnte meinen, meine Mutter liebt mich irgendwie.

Manchmal denke ich, alles im Leben ist vorherbestimmt. Oder wie erklärt ihr euch, dass ich nicht mal eine Viertelstunde später auf meinem Schulweg an einer Apotheke mit einer kleinen Messingwaage im Schaufenster vorbeikam, über der in großen orangenen Lettern der Slogan GO SLIM prankte? Auf jeder Seite der Waage lagen ungefähr zehn Pillen. Diätpillen. Zum Aktionspreis von 19,90 Euro. Ich trat ein.

Drinnen war eine lange Schlange. Man hätte meinen können, die standen alle wegen der Pillen an. Dabei war ich der einzige Fette. Ich dachte, ich käme mit Zeichensprache durch, als ich endlich dran war, aber der Apotheker war schlimmer als meine Deutschlehrerin.

»Können Sie nicht sprechen?«, fragte er mich, nachdem ich den Zwanzigeuroschein auf den Tresen gelegt und mehrmals Richtung Schaufenster geschielt hatte. Währenddessen hatte sich hinter mir längst eine neue Schlange gebildet, so dass es auch eine ganze Menge Leute mitbekamen, dass ich eine Packung von den scheiß Diätpillen wollte.

»Go slim«, brüllte ich durch den Laden. Dabei brauchte der Typ bloß unter die Theke zu greifen, um mir die Packung auf den Tresen zu legen.

»Und viel trinken«, gab er mir noch mit auf den Weg.

Ich sagte nichts. Ich steckte die zehn Cent Wechselgeld ein, drehte mich um und quetschte mich an der Schlange vorbei. Er wartete, bis ich an der Tür war. Erst dann rief er mir hinterher.

»Wasser!«

3

»Einen roten Teufel, bitte«, sagte ich und legte das Zehncentstück auf den Tresen.

Die gute alte Frau Wegener aus dem Späti in der Eisenacher sah mich traurig an. »Sag bloß, du bist wieder auf Diät?«, seufzte sie. »Was ist es denn diesmal?«

Ich zeigte ihr die Packung. Frau Wegener war meine Süßigkeiten-Dealerin. Vor ihr hatte ich keine Geheimnisse.

»Na, dann kann ich meinen Laden ja bald dicht machen«, sagte sie und brachte mir einen roten Beelzebub aus Weingummi.

Ich hätte ihr gerne mein Leid mit dem polnischen Widerstandskämpfer geklagt, aber ich musste mich beeilen. Die Viertelstunde in der Apotheke hatte mich in Verzug gebracht. Es ist schon schlimm genug, mit 101 Kilo jeden Tag in die Schule zu gehen, da muss man nicht auch noch zu spät kommen.

Kam ich dann aber doch. Zum Glück hatte der Unterricht noch nicht angefangen.

»Laura, du sammelst das Geld für den Ausflug ein«, schrie Frau Westhoff, unsere Klassenlehrerin, gerade durch den Raum, als ich mich durch die Tür quetschte.

Als Laura vor mir stand, musste ich passen. Wenn ich sie gewesen wäre, wäre ich einfach weitergegangen. Aber sie machte ein Fass auf.

»Fatburger is pleite.«

»Dem müssen Sie bei McDoof auflauern, wenn Sie an seine Kohle wollen«, sagte jemand aus der letzten Reihe.

Den Rest erspar ich euch. Die Sprüche wurden wirklich nicht besser. Das war manchmal schlimmer als die Beleidigungen, die sie enthielten.

»Bring’s morgen mit«, flüsterte ich.

Frau Westhoff hatte ihren Sensiblen. Kam auch schon mal vor. Jedenfalls sagte sie nichts. Sie ging gleich zu der Karte der Freiheit über. Die hing seit einer Woche im Klassenzimmer an der Wand. Die freien Länder dunkelgrün, die halbfreien hellgrün, die unfreien rosa. Mein Platz war direkt neben den USA. Ein satter dunkelgrüner Fleck. Entweder der Typ, der die Karte entworfen hatte, hatte keine Ahnung von Politik, oder er wollte uns verarschen.

4

Ich saß alleine am Tisch in der Mensa und studierte die Packungsbeilage der Diätpillen, als sie kamen. Kevin, Orhan und Tom. Die hießen wirklich so. Nicht dass ihr denkt, ich wollte die Sache irgendwie zuspitzen oder so. Der Spross einer aus dem Friedrichshain rübergezogenen alleinerziehenden Mutter, der Türke und der Eingeborene. Jedenfalls kenne ich ziemlich viele Jungs aus Schöneberg, die Tom heißen. Der liebe Gott hatte sie alle drei in meine Klasse geschickt. Wie gesagt, es ist alles vorherbestimmt.

»Na Fatburger, was vertickerst’n da?«

»Speed?«

»Ecstasy?«

»Oder Viagra?«

Kevin riss mir die Packungsbeilage aus den Händen, während Orhan und Tom so laut grölten, als wären sie die Lachkonserve einer amerikanischen Sitcom.

»Lies vor.«

Kevin reichte den Zettel an Tom weiter. Dem blieb augenblicklich das Lachen im Hals stecken.

»Zur Gewichtsrerereduk –«

Ich hätte mich freuen können. Aber was ich empfand, war Mitleid. Selbst wenn einer beim Versuch, mich zu mobben, anfängt zu stottern, tut er mir leid. Einmal Opfer, immer Opfer.

»Mann, das sind Diätpillen«, sagte Orhan.

»Also, ich weiß nicht«, meinte Kevin und warf sich eine Pille ein, »mich machen die Dinger irgendwie aggressiv.« Dabei rückte er so nah an mich heran, dass ich es wahrscheinlich mit der Angst zu tun kriegen sollte. Aber irgendwie machen mich Mensen immer ruhig. Mensen und Fast-Food-Läden, Imbisse, Supermärkte, Spätis etc. Jedenfalls hätte ich Kevin beinahe angegrinst. Und das wäre dann wahrscheinlich wirklich gefährlich geworden. Wobei Kevin auf einmal anderes im Sinn hatte.

»Hey, Sascha!«, rief er einem Typen aus der Zwölften zu, der gerade im Anmarsch war. »Was zum Draufkommen gefällig?«

Die Augen des Typen glänzten sofort, als Kevin ihm die Pillen hinhielt.

»Go slim«, las er. »Kenn ich gar nicht.«

Ich fragte mich, wer hier die größere Niete in Englisch war, der, der die Pillen vertickerte, oder der, der sie kaufte.

»Dann wirste sie kennenlernen«, sagte Kevin. »Zehn Euro das Stück.«

Wie bei dem Tor von Mario Götze im WM-Finale, wo Ballannahme und Verwertung eine Bewegung waren, gab der Typ Kevin einen Zehner und warf die Pille ein. Manche Leute werfen ihr Talent zum Fenster raus, wenn ihr mich fragt. Es war nicht das erste Mal, dass ich mir Überwachungskameras auf dem Schulgelände wünschte. Vor allem nicht, als Kevin mir auch noch mit dem Zehner vor der Nase rumwedelte.

5

Fünfte und sechste Stunde Sport. Wollt ihr’s wirklich wissen? Oder können wir direkt zu mir nach Hause? Okay, weil ihr mir immerhin bis hierher gefolgt seid. Basketball. Ihr müsst euch das ungefähr so vorstellen: Erst mal bin ich der Letzte in der Umkleidekabine. Meine Mutter lässt mich ja nicht direkt im Sportzeug in die Schule gehen, von wegen die Form wahren und so, als wäre einer wie ich nicht schon längst aus der Form gelaufen. Und mich bereits in der Pause auf dem Klo umziehen, wie ich das früher gemacht hab, ist spätestens seit der Achten nicht mehr möglich, weil jetzt die halbe Klasse dort raucht. Also komme ich erst in die Halle, wenn die Teams schon gewählt sind. Nicht dass ich nicht sowieso der Letzte wäre, aber so schlage ich zwei Fliegen mit einer Klappe: Niemand sieht mir beim Umziehen zu, und ich kann’s auf mein Zuspätkommen schieben, dass ich als Letzter zugeteilt werde. Dann komme ich eine Ewigkeit nicht an den Ball. Wer will mich schon anspielen. Erst kurz vor Schluss, wenn die Konzentration bei den anderen nachlässt, springt ein Ball auf mich zu, den ich einfach annehmen MUSS. Das Problem ist dann, dass ich ihn nicht mehr loswerde. Wer will mir den Ball schon wegnehmen. Dazu müsste man mich ja berühren. »Das is wie in ’ne feuchte Muschi fassen«, hat Kevin mal gesagt. Er muss es wissen. Wobei er irgendwie schon recht hat, ich schwitze wirklich wie ’ne Sau. Mehr aus Angst davor, was jetzt passiert, als vom Rumlaufen. Was heißt hier Rumlaufen. Ich trabe höchstens über das Feld, und das auch noch am Rand, man könnte mich also für irgend so ’n fetten Masseur halten oder so. Was mache ich jetzt mit dem Ball? Abnehmen will ihn mir keiner, angespielt werden von mir will aber auch so recht keiner. Also werfe ich. Einmal habe ich unseren Lehrer getroffen, Leimeier. Dabei war der gar nicht in der Halle. Der saß an seinem Tisch in dem kleinen Kabuff neben dem Verschlag mit den Turnmatten und schrieb irgendwas in das Klassenbuch, als ihn mein Ball traf. Ihr zielt auf den Korb und trefft euren Lehrer, der gar nicht in der Halle ist. Und zwar völlig unabsichtlich. Reicht das? Kann ich jetzt endlich nach Hause? Oder muss ich euch auch noch erzählen, dass ich natürlich immer der Letzte bin, der nach dem Sport aus der Umkleidekabine kommt, dass ich mich erst umziehe, wenn alle anderen schon weg sind?

Bin mit Maciej in der Stadt, stand auf dem Zettel, der auf dem Küchentisch lag. Essen steht im Kühlschrank. Sind zu Günther Jauch zurück. Kuss, Mama.

Ich nahm den Topf mit dem Bigos aus dem Kühlschrank schleppte ihn ins Bad und kippte das Zeug ins Klo. Wie gesagt, jahrelanges Gemobbtwerden hatte mein Mitgefühl sprießen lassen wie eine ganze Pilzplantage, weshalb es kein Wunder war, dass mir auch das Bigos irgendwie leidtat.

Wisst ihr, was ein Twix ist? Ein Schokoriegel, schon klar. Aber ich meine, ist es wirklich EIN Schokoriegel? Besteht ein Twix nicht genau genommen aus ZWEI Schokoriegeln? Weshalb das so wichtig ist? Na ja, wenn ihr grad das Mittagessen habt ausfallen lassen und eure Deutschlehrerin euch dazu verdonnert hat, ein Buch zu lesen mit dem Titel Nach dem Unglück schwang ich mich auf, breitete meine Flügel aus und flog davon, und ihr wisst, dass unter eurem Bett schätzungsweise fünfzig bis sechzig Schokoriegel lauern – und das, wenn man davon ausgeht, dass ein Twix nur EIN Schokoriegel ist –, dann ist das keine ganz so unbedeutende Frage. Denn wenn ihr euch sagt ›Einmal ist keinmal‹ und ihr glaubt, dass ein Twix aus ZWEI Schokoriegeln besteht, dann könnt ihr auch nur einen davon essen. Wenn ihr aber glaubt, dass ein Twix EIN Schokoriegel ist und euch sagt ›Einmal ist keinmal‹, dann habt ihr gleich ein ganzes Twix gegessen. Und jetzt denkt mal einen Schritt weiter. ›Auf einen Bein kann man nicht stehen‹. Wenn ihr euch das sagt, dann habt ihr danach entweder ein oder zwei Twix gegessen. Und dann denkt noch mal einen Schritt weiter. ›Aller guten Dinge sind drei‹. Oder ›Vier gewinnt‹. Oder ›Es ist fünf vor zwölf‹. Eigentlich die ideale Steilvorlage, um mit der Fresserei aufzuhören. Wenn ich nicht so gut in Mathe wäre und nicht wüsste, dass Sechs eine vollkommene Zahl ist. Also eine Zahl, bei der die Summe der echten Teiler, also die Zahlen, die kleiner sind als die Zahl selbst und durch die Zahl teilbar sind, genauso groß sind wie die Zahl selbst. Also Drei plus Zwei plus Eins gleich Sechs. Oder ist das ein Buch mit sieben Siegeln für euch? Dann ruft bloß nicht ACHTung, denn dann seid ihr schon bei wie vielen Schokoriegeln? Also, ich weiß nicht, wo ihr seid, aber ich bin bei sechzehn, denn für mich ist ein Twix EIN Schokoriegel. Mahlzeit.

6

Der Typ sah mich an, als hätte ich sein ganzes Geld geklaut. Dabei hatte ich bloß sein Bigos ins Klo gekippt.

»Warum du nicht fett?«, fragte er meine Mutter.

»Warum wohl nicht«, sagte die und legte dabei ihre rechte Hand auf die Innenseite seines linken Oberschenkels. Ich hätte kotzen können, wenn ich das nicht schon längst getan hätte. Nach dem elften Twix war mir nämlich noch eingefallen, dass Jesus zwölf Jünger gehabt hatte. Und das war genau das eine zu viel gewesen. Wenn ihr mich fragt, hatte Judas mich verraten.

Derweil stellte Günther Jauch folgende Frage in unser Wohnzimmer:

»Wie heißt das erste Buch des Alten Testaments? A Judas Priest, B Deep Purple, C Genesis oder D Black Sabbath?«

Da klingelte das Telefon. Hatte meine Mutter sich etwa als Telefonjoker gemeldet? Kannte sie die arme Frau, die gegenüber von Günther Jauch saß und so aussah, als wäre sie noch nie zur Musik von Phil Collins eine Kaufhaustreppe hochgefahren?

»Ausgerechnet jetzt«, sagte meine Mutter und stand auf. In der Tür drehte sie sich noch mal um und flötete Maciej die Lösung zu, so als wäre ER im Fernsehen. »Ceeeeeeee.«

Jetzt war ich mit dem Typen alleine. Und keine Chance, sich mit der nächsten Frage über die peinliche Stille hinwegzuhelfen. Nicht nur der armen Frau auf dem Bildschirm brach der Schweiß aus. Da kam Maciej auf einmal mit ’ner Flasche Schultheiß rüber.

»Pivo?«, fragte er und hielt mir die Pulle hin.

Ich reagierte nicht einmal.

»Komm. Groß Junge, stark Junge.«

Die Frau wollte einloggen. D. Könnt euch ja vorstellen, wie groß mein Mitleid mit ihr war. Allerdings war ich da nicht allein, auch Günther Jauch brach es das Herz, weshalb er der Frau Another day in paradise vorsummte, obwohl das eigentlich ’ne Solonummer von Phil Collins ist, woraufhin sie C drückte. So einen Günther Jauch hätte ich jetzt auch gebraucht, auch wenn’s bei mir nur um zwanzig und nicht um 32.000 Euro ging. Maciej riss es derweil zu einem weiteren kläglichen Versuch hin, sich bei mir einzuschleimen.

»Klug Frau dein Mutter.«

Wie aufs Stichwort kam die zurück.

»Was hast du mit den zwanzig Euro gemacht?«, blaffte sie mich an.

»W-w-was?«, stammelte ich. Ja, es gibt durchaus auch Situationen, in denen es mir die Sprache verschlägt. Vor allem wenn offenbar zur Sendezeit von Wer wird Millionär? meine Klassenlehrerin bei uns zu Hause anruft.

»Sie hat gesagt, dass du heute schon wieder das Geld für den Ausflug nicht mitgebracht hast. Also ich frage dich noch mal: Was hast du mit den zwanzig Euro gemacht?«

»Die – hat man mir geklaut.«

Was ja irgendwie stimmte. Also jetzt nicht das Geld, aber das, was ich mir dafür gekauft hatte.

»Wer?«

»Weiß nicht.«

Auch das stimmte, denn war es jetzt Kevin oder Tom oder Orhan gewesen, der mir die Pillen geklaut hatte? Oder etwa alle drei? Ich wusste es wirklich nicht. Aus irgendeinem Grund war es mir wichtig, dass ich meine Mutter nicht anlog.

»Ich glaub dir kein Wort. Wehe, ich finde wieder was unter deinem Bett.«

Ich lehnte mich entspannt auf dem Sofa zurück. Da konnte sie lange suchen. Ich hatte die restlichen Twix in die Mülltonne geworfen. Ich meine, zwölf Stück in einer halben Stunde, das war selbst mir noch nicht passiert. Das Zeug war schlimmer als Heroin für mich. Derweil stellte Günther Jauch die nächste Frage in unser Wohnzimmer.

»Welches der folgenden Sprichwörter stammt ursprünglich aus dem Lateinischen? A Lügen haben kurze Beine, B Voller Bauch studiert nicht gern, C Hochmut kommt vor dem Fall oder D Wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her?«

Diesmal ging’s um 64.000 Euro. Vielleicht kam meine Mutter deswegen so schnell zurück.

»Ich frage dich zum letzten Mal: Was hast du mit den zwanzig Euro gemacht?«

»Ich – ich –«

Ich wollte es ihr gerade sagen, da griff Maciej in seine Gesäßtasche, zückte sein Portemonnaie und legte einen Zwanzigeuroschein auf den Couchtisch, direkt auf die Hörzu. Ihr hättet mal sein Gesicht sehen sollen. Als hätte er soeben eine Bombe entschärft, und zwar in der allerletzten Sekunde. Ich glaube, er hatte da was falsch verstanden. Was mich betraf, so hatte er gerade eine Bombe gezündet. Es bedeutete nämlich, dass ich an dem Ausflug teilnehmen musste.

PS: Die richtige Antwort war übrigens B. Plenus venter non studet libenter. Aber das hätte ich euch auch gleich sagen können.

7

»Hast du dir schon die Zähne geputzt?«, fragte meine Mutter, nachdem ich mir gerade die Zähne geputzt hatte und ins Bett gestiegen war. In der Hand hielt sie eine Tafel Ritter Sport, Vollmilch-Nuss. Sie brach sie wie ein Pastor das Brot, wobei ich die größere Hälfte bekam. Dann setzte sie sich auf die Bettkante.

»Tut mir leid, dass ich vorhin so wütend war.«

»Schon okay«, sagte ich, wobei ich so laut schmatzte, dass sie mich wahrscheinlich gar nicht verstand.

»Ich mein’s doch nur gut.«

Fragt mich nicht, wie oft ich das schon gehört habe. Aber wenn’s dafür ’ne Tafel Ritter Sport gibt, geht’s.

»Wie findest du eigentlich Maciej?«

Besser, ich sagte jetzt nichts, vielleicht hatte sie ja noch eine zweite Tafel, ihr wisst ja, einmal ist keinmal. Und eine Tafel Ritter Sport ist wirklich EINE Tafel Ritter Sport.

»Dass er dir das Geld gegeben hat. Diesmal ist es was Festes, das spür ich.«

»Hast du bei Sergej auch gesagt. Und Tomas.«

»Tomaz«, verbesserte mich meine Mutter, stand von der Bettkante auf, löschte das Licht und ging aus dem Zimmer.

8

Also, die Bombe. Ich saß mal wieder allein im Bus. Um es gleich zu sagen: Ich bin der ohne Freunde. Es gab da zwar ein Mädchen in unserer Klasse, Natalie, 79/80 Kilo würde ich schätzen, klingt erst mal nicht viel, aber wenn sich die Hälfte davon um die Hüften verteilt, wird’s kritisch. Jedenfalls warf mir Natalie ab und zu einen Blick zu, der wohl bedeuten sollte: ›Ich versteh dich‹, aber ich hatte kein Interesse an einer Version von Zwei Fette gegen den Rest der Welt, ich wollte die Sache für mich alleine regeln. Mal abgesehen davon, dass Natalie ständig mit Güliz zusammenhing, die die beste Figur von allen Mädchen in der Klasse hatte. Die beiden gingen nicht mal alleine aufs Klo, so als würde man da operiert oder so was, und das kam mir dann so offensichtlich vor, das schrie dermaßen nach betreutem Leben, dass ich dachte: Fett und Freund fängt zwar beides mit f an, aber das tun ’ne Menge andrer Wörter auch, Fußball, zum Beispiel, und so wenig wie ich mir vorstellen konnte, dass ich jemals ein Tor schießen würde, so wenig glaubte ich daran, dass jemand mein Freund sein wollte. Ich meine, ein echter Freund und keiner, für den ich irgend so ein Projekt war, an dem er mal seine soziale Ader ausprobieren konnte.

Seit mir meine Mutter bei asgoodasnew ein gebrauchtes iPhone gekauft hatte, brauchte ich wenigstens nicht mehr so einen vorsintflutlichen mp3-Player mit mir rumzuschleppen, um Musik zu hören, auch wenn die Argusaugen* von KOT – Kevin, Orhan und Tom, ich fand, das kürzte die drei nicht nur ab – das Gerät als ein iPhone 4 identifiziert hatten, womit man sich zwar ihrer Meinung nach technisch gesehen nicht mehr in der Steinzeit, aber längst noch nicht im 21. Jahrhundert befand. Jedenfalls zeigten sie jetzt nicht mehr mit dem Finger auf mich, wenn ich die Kopfhörer aufsetzte. In der Zwischenzeit hatte ich auch ein Verfahren perfektioniert, bei dem ich mir ungesehen M&Ms aus meiner Hosentasche in den Mund stopfen konnte: Ich täuschte einen Schnupfen vor, zog ein Tempotaschentuch hervor, in das ich beim Rauspulen ein, zwei M&M’s einwickelte, und schob sie mir anschließend in den Mund, während ich mir gleichzeitig die Nase putzte. Wobei ich die Dinger auch schon knackte, so dass beim anschließenden Verstauen der Tempo-Packung in meiner Hosentasche niemand bemerkte, dass ich aß. So brachte ich mich zwar um den Genuss des Essens, aber wer sagt denn, dass es mir beim Essen um Genuss ging. Überstehen, das war alles.

Aber ich überstand die Fahrt trotzdem nicht. Zumindest nicht unbeschadet. Als wir nach zwei Stunden endlich angekommen waren, war der Sitz unter mir schweißnass. Ich sah es erst, als ich aufgestanden war. Und da war es schon zu spät. Denn da sahen es alle anderen auch.

»Ey, Fatburger hat sich eingepisst!« Kevin.

»Der hat ’nen Schwanz im Arsch!« Orhan.

»Ja, aber ist das jetzt seine Pisse oder sein Sperma?« Tom.

Nee, KOT, hätte ich fast gesagt.

Kurz darauf stand die halbe Klasse vor dem riesigen Schweißfleck auf meinem Sitz wie vor einer prähistorischen Ausgrabung. Vielleicht war sie das ja auch. Vielleicht hatten unsere Vorfahren ja tatsächlich einen Schwanz im Arsch gehabt.

»Aber wieso stinkt das dann nicht?«

Laura hatte ein Faible für Logik, sie stand auf Eins in Mathe.

»Ach, was, Bert hat seine Wasserflasche verschüttet, stimmt’s?«

Manchmal wäre es mir wirklich lieber gewesen, Frau Westhoff hätte sich eingereiht in den Chor der Mobber, anstatt hier mit noch so gut gemeinter Hausfrauenlogik die Pogromstimmung anzuheizen.

»Es stinkt nicht, weil Fatburgers Pisse aus dem Arsch kommt.«

Seltsame Logik, die Orhan da anwandte. Was sogar Tom auffiel.

»Müsste es dann nicht erst recht stinken?«

Die diskutierten hier allen Ernstes, wie es riechen müsste, wenn man aus dem Arsch pisst. Die konnten sich nicht vorstellen, dass das Schweiß war, dass ich geschwitzt hatte, und zwar nicht nur weil ich so fett war, sondern weil ich Schiss hatte, Schweißschiss von mir aus, und zwar vor dem, was jetzt auf mich zukam. Es war das, was immer auf mich zukam AN TAGEN WIE DIESEN – das Lied von den Toten Hosen hatte auf der Hinfahrt gefühlte zwanzig Mal aus den Lautsprechern gedröhnt, während meine Hosen langsam, aber sicher nass geworden waren.

Diesmal ging die Reise nach Irrlandia, dem Mitmachpark im Spreewald. Wie der Name schon sagt: Wer immer auf die Idee gekommen war, einen Haufen pubertierender Zehntklässler in eine Art Knautschzone für Babys zu verfrachten, der musste ein komplett Irrer sein. Hopseburg, Indianertipis, MausOleum (Ha-ha-ha), ja sogar ein Mini-Riesenrad mit Elternantrieb ließen mich augenblicklich sowohl an dem Verstand der Betreiber als auch an dem von Frau Westhoff zweifeln, wobei es dazu nicht erst diesen Ausflug gebraucht hätte. Und Ponykutschen gab’s selbstverständlich auch, eine stand direkt neben der Wasserbombenwurfanlage.

Ich versuchte erst mal, mich unsichtbar zu machen, was mit 101 Kilo natürlich Wasser auf die Mühlen des Rutschenparadieses war. Die Rutschen waren so was wie die Attraktion in Irrlandia, riesige Edelstahlschlangen, die sich aus dem Maul dreier Türme züngelten. Vielleicht dachte Frau Westhoff, dass ich nicht auf die Rutschen passte, jedenfalls hatte sie nichts dagegen, dass ich draußen blieb, außer dass sie mir ihr übliches »Auch wenn’s schön wäre, wenn du dich von dir aus etwas mehr einbringen würdest, Bert« mit auf den Weg zur Frittenbude gab, die allerdings noch geschlossen hatte.

Bei der Sommerrodelbahn gab’s aber kein Zurück mehr. Ich MUSSTE auf den Spreewald-Bob. Das war so ein gelbes Gerät mit Rückenlehne, Sicherheitsgurt, Bremsen und so ’n Zeugs, auf dem man mit bis zu vierzig Sachen durch den Spreewald bretterte. Als ich die Bremsen losließ, ging mein Bob dermaßen ab, dass ich fast auf den Wagen vor mir geknallt wäre, in dem zwei Mädchen saßen. Die sahen mich an, als wäre das volle Absicht gewesen, als hätte ich auch nur die geringste Alternative gehabt, die taten so, als wäre ich schlank. Also hielt ich mich fortan zurück, auch wenn es mich durchaus gereizt hätte, den Geschwindigkeitsrekord zu brechen, was mit meinen 101 Kilo sicherlich ein Kinderspiel gewesen wär, ich hätte bloß den Fuß von der Bremse nehmen müssen. Dafür hatte ich dann auf einmal Tom im Nacken. Der schob mich jetzt quasi vor sich her durch den Spreewald. Also musste ich die Bremse wohl oder übel doch lösen, zumindest etwas. Aber was heißt bei mir schon ›etwas‹? Den Rest könnt ihr euch denken, oder? Na ja, vielleicht nicht ganz. Ich knallte erst auf die beiden Mädchen drauf, was nicht weiter schlimm gewesen wäre, wenn ich vorher den Sicherheitsgurt vernünftig um meinen Bauch gekriegt hätte. So aber haute es mich aus dem Spreewald-Bob direkt in den Spreewald hinein, wo ich erst mal ein gutes Stück bergab rutschte und mir im wahrsten Sinne des Wortes den Arsch aufriss. Man hätte meinen können, mir wären auf einen Schlag fünfzig Hämorrhoiden geplatzt, so sehr blutete ich. Erst Schweiß, dann Blut. Jetzt fehlten nur noch die Tränen. Aber die verkniff ich mir eisern.

Ich überlegte eine Weile, ob ich nicht fortan im Wald leben sollte, so wie dieser Junge Ray, der angeblich nicht mal wusste, aus welchem Land er kam, als er eines Tages plötzlich völlig verwahrlost in Berlin aufgetaucht war. Im Wald verlor man bestimmt auch an Gewicht. Und ich hatte noch nie gehört, dass Rehe, Wildschweine oder Ameisen einen mobben. Aber da hatte mich auch schon einer dieser Aufseher entdeckt.

»SAG MAL, BIST DU VÖLLIG ÜBERGESCHNAPPT!!!«, brüllte er mich an.

Dann lief ich los, eine Blutspur hinter mir herziehend wie ein angeschossenes Wild. Das Blut tropfte direkt auf meine Hand, mit der ich den abgerissenen Hosenlappen auf meinen Arsch drückte. Ich kam ungefähr zehn Meter weit, dann fiel ich wieder hin. So ging das in einer Tour, bis ich unten auf eine Terrasse stolperte, auf der zum Glück ein Imbiss stand. Von wegen Pflaster, Mullbinde oder Desinfektionsmittel, ich wusste, was mir half.

»Einmal Pommes rot-weiß«, sagte ich, so als wäre ich hier im Ruhrpott und nicht mitten im brandenburgischen Wald. »Und ’ne Currywurst, XL.«

»Sieben achtzig«, sagte die Verkäuferin.

»Ich denke, hier ist alles umsonst.«

»Die Fahrgeschäfte, der Rest nicht.«

Nur wo war mein Portemonnaie? Ich musste es im Wald verloren haben. Und da ich auch keine M&M’s mehr hatte, stand ich auf einmal völlig ohne Medikamente da. Und das mit aufgerissenem Arsch.

»Du blutest«, sagte die Verkäuferin, so als wäre ich blind. »Frag mal da vorne, die haben vielleicht Verbandszeug.«

Sie zeigte auf einen Holzwagen, der hinter der Terrasse stand. Wieso sollten die da Verbandszeug drin haben? Und wer waren ›die‹ überhaupt?

Ich klopfte erst mal an, so als wäre ich in einer Lage, in der ich mir Höflichkeit leisten konnte. Aber als ich ungefähr einen weiteren Liter Blut verloren und noch immer keiner geöffnet hatte, drückte ich auf die Klinge und trat ein.

Der Gestank war bestialisch. Wie in einem Pumakäfig. Als wäre ich je in einem drin gewesen. Aber ihr wisst, was ich meine. Ich wär am liebsten sofort wieder rausgegangen, da hörte ich eine Stimme sagen: »Meine Klimaanlage ist ausgefallen. Ich krieg keine Luft mehr.«

»Scheißteil«, sagte ein anderer. »Bringt eh keine Abkühlung.«

Und dann war da noch ein Dritter, der sich etwas älter anhörte. »Nur am Jammern. Dabei solltet ihr froh sein. Wo verdient man schon mal fünfzehn Euro die Stunde. Und wie die Kinder euch lieben.«

»Lieben?«, schrie der, dessen Klimaanlage ausgefallen war, jetzt beinahe. »Riech mal! Riecht so Liebe?«

Ich konnte nicht sehen, was der Ältere riechen sollte, da ich immer noch in einer Art Vorraum stand, direkt vor einer zweiten Tür, hinter der sich die drei befanden. Aber dafür konnte ich es riechen, durch den Pumakäfiggestank hindurch wehte eine andere, mir nur allzu vertraute Brise durch den Holzwagen.

»Oh Gott, die haben dich angepisst.«

»Ja, für fünfzehn Euro die Stunde lass ich mich anpissen.«

»Und was willste jetzt machen?«

»Was soll ich schon machen? Weitermachen, was ’n sonst.«

Damit wurde der Türgriff bewegt. Reflexartig ergriff ich die Flucht, indem ich den anderen Türgriff bewegte und zusah, dass ich aus dem Kabuff kam. Ich schaffte es gerade noch um die Ecke, als die drei aus der Tür kamen.

Der eine sah aus wie ein Fuchs, der andere wie ein Wolf und der dritte wie eine Maus. Sofort stürzte sich eine Schulklasse auf sie. Die drei rannten los. Nur eines der Kinder aus der Klasse lief nicht hinterher, sondern drehte sich zu mir um.

»Und?«, fragte es. »Was bist du für’n Maskottchen?«

* 32.000-Euro-Frage bei Wer wird Millionär?: Woher stammt der Ausdruck ›Argusaugen‹? A Von dem Schmetterling Argus-Bläuling? B Von dem Mount Argus auf der Antarktischen Halbinsel? C Von dem Riesen Argos aus der griechischen Mythologie? Oder D Von dem isländischen Wort ›Argur‹?

9

Die Federkernmatratze im Bett meiner Mutter quietschte wie ein abgestochenes Schwein, als ich meinen Computer hochfuhr. Der war übrigens auch von asgoodasnew. Wahrscheinlich wie der Typ, mit dem meine Mutter gerade Sex hatte. Ich nahm mal an, dass es immer noch dieser Maciej war, die Geräusche, die der Typ machte, klangen jedenfalls nicht anders als das, was er beim Verschlingen des Bigos von sich gegeben hatte. Wenn er gewusst hätte, auf welche Idee er mich mit seinen zwanzig Euro gebracht hatte.

Schon der erste Klick war ein Volltreffer. »Egal ob Bär, Bücherwurm, Krokodil, Löwe, Ritter, Tiger oder Drache: Ihre Aufgabe als Maskottchen liegt darin, die Besucher bzw. Fans bestmöglich zu unterhalten, Zeit zu überbrücken und für gute Stimmung zu sorgen.« Von fünfzehn Euro die Stunde war da allerdings nicht die Rede. Von Geld war bei der XXL-Agentur, wie sie sich nannte, überhaupt nicht die Rede. Allerdings auch nicht von bestialischem Gestank und Angepisstwerden. Aber ich brauchte eine neue Jeans, sechzig oder hundertzwanzig Twix, je nachdem, und die zwanzig Euro von dem polnischen Widerstandskämpfer wollte ich auch nicht auf mir sitzen lassen. Gestank war ich gewöhnt, und angepisst würde ich demnächst sowieso, so wie ich Kevin, Orhan und Tom kannte. Und wo konnte einer wie ich schon arbeiten, ohne aufzufallen. Ja, ohne gesehen zu werden! Also schrieb ich mir die Adresse ab, steckte mir zwei Ohropax in die Ohren und ging ins Bett. Meins federte auch ohne Sex, wenn ich mich bloß umdrehte.

10

»Soldaten?«, säuselte die Frau, die mich an eine Klassenlehrerin aus einem Milf-Porno erinnerte, den ich mal im Internet gesehen hatte, ins Telefon. »Natürlich verleihen wir auch Soldaten. Was hätten Sie denn gern? Also, wir haben da ein paar Landser aus dem Zweiten Weltkrieg, Charlie aus Vietnam, den Al-Qaida-Look, jede Menge Taliban-Kaftane.«

Ob ich hier wirklich richtig war?

»Schweinebucht? Das sagt mir jetzt nichts.«

»Kuba-Krise einundsechzig«, flüsterte ich ihr zu.

»Ach so, Sie meinen die Kuba-Krise einundsechzig. Klar haben wir das. – Selbstverständlich. – Geht in Ordnung. – Auf Wiederhören.«

Sie sah mich an, als hätte ich ihr gerade das Leben gerettet. Aber irgendwie auch, als wäre ihr ein schlankerer Typ dabei lieber gewesen.

»War neulich die 32.000-Euro-Frage bei Günther Jauch«, stammelte ich zur Entschuldigung für meine Allgemeinbildung. Dabei war’s die 64.000-Euro-Frage gewesen. Ich machte mich eben immer ein Stück kleiner. Kleiner, nicht schlanker.

Da kam ein Typ in einem marineblauen Anzug herein, dem das schon angegraute Brusthaar unter dem strahlend weißen Hemd hervorquoll, obwohl seine Haare dunkelbraun leuchteten. Er trug eine ockergelbfarbene Brille und brüllte durch das ganze Foyer, so als sei die Klassenlehrerin schwerhörig: »DIE ICE TIGERS SUCHEN EIN NEUES MASKOTTCHEN FÜR DIE PLAYOFFS!« Dann fiel sein Blick auf mich. »Was bist du denn? Mensch oder Maskottchen?«

»Randolph!«, sagte die Klassenlehrerin wie zu einem vorlauten Schüler. Immerhin hatte sie mir einen fetten Auftrag zu verdanken, im wahrsten Sinne des Wortes.

»Sorry«, sagte Randolph. »Aber ich seh schon überall Maskottchen. Gestern Abend hatte meine Tochter einen Schlafanzug mit so kleinen Kühen vorne drauf, da hätte ich sie fast zur Grünen Woche geschickt. Was willst du?«

Er sah mich an, als hätte ich nur diese eine Antwort.

»Ich – ich wollte …«, stammelte ich.

»Er sucht einen Job«, sagte die Klassenlehrerin.

»Tut mir leid«, sagte Randolph. »Aber wir haben keine Elefantenkostüme.

»Randolph!«.

Langsam kam ich mir wirklich vor wie in der Schule. Randolph war eindeutig der Klassenclown. Vielleicht ging ja gleich der Porno los.

»Is doch wahr«, sagte er. Wir sind die XXL- und nicht die XXXXL-Agentur. Soll ich etwa ’ne Näherin einstellen, wenn ihm das Fell einreißt?«

»Meine Mutter ist Schneiderin«, sagte ich.

Moment mal, wer suchte hier eigentlich einen Job? Und dass meine Mutter ständig meine Knöpfe annähen musste, machte sie noch lange nicht zur Schneiderin. Aber irgendwas musste ich schließlich sagen, sonst hätte Randolph seine Stand-up-Comedy fortgesetzt. Ich kenne solche Typen.

»Du suchst also einen Job?«

Ich nickte.

»Als was? Als Fotomodell für eine dieser Vorher-Nachher-Diäten? Tut mir leid, aber wir sind keine Werbeagentur.«

Ich sag’s ja. Ich kenne solche Typen.

»Als Maskottchen.«

Er sah mich von oben bis unten an, so als hätte er nicht sofort gemerkt, dass ich fett bin. »Wenn wir mal ein Rhinozeros brauchen, so eins in Originalgröße, dann ruf ich dich an.«

Dann beugte er sich über ein paar Papiere, die auf dem Empfangstresen lagen. Ich wollte schon wieder gehen, da meinte die Klassenlehrerin: »Wie wär’s denn mit Billy the Beast?«

»Der olle Tiger?« Randolph sah nicht mal auf. »Den bucht doch schon lange keiner mehr.«

»Grad heute Morgen hatte ich einen Anruf vom Autohaus Wiemer. Die machen am Samstag ihr Frühlingsfest.« Dabei zwinkerte sie mir zu, dass ich endgültig wünschte, ich wär in einem dieser Milf-Pornos. »Und für Samstag hätte ich sonst keinen.«

Randolph seufzte so tief, dass die Blätter vom Tresen flogen. Dann ging er zu einer Tür am anderen Ende des Raumes. Bevor er sie öffnete, drehte er sich nach mir um. »Was is?«, fragte er. »Suchste nun ’nen Job oder nicht?«

11

Es war Liebe auf den ersten Blick. Er hing über einer Wäscheleine in der äußersten Ecke der Asservatenkammer, hinter Füchsen, Mäusen, Kängurus, Giraffen, was weiß ich: ein völlig ausgeleierter, ausgewaschener, fransiger Tiger.

»Darf ich vorstellen«, sagte Randolph. »Billy the Beast. Ein Relikt aus dem letzten Jahrtausend. Auch noch bekannt unter dem Namen Esso-Tiger. Das Esso-Emblem mussten wir ihm rausoperieren. Danach ist er nie wieder auf die Beine gekommen. Der ist inzwischen so ausgeleiert, der müsste selbst dir passen.«

Tat er auch. Wenn auch nur gerade so.

»Wie eine zweite Haut«, sagte Randolph, nachdem ich in das Kostüm geschlüpft war. Was heißt hier geschlüpft. Es war ein Kampf gewesen, Mensch gegen Tier, den ich bloß deshalb gewonnen hatte, weil das Tier tot war. Beziehungsweise nie gelebt hatte.

»REGEL NUMMER EINS«, bellte Randolph, als wären wir auf einem Exerzierplatz. »SPRECHEN IST UNPROFESSIONELL! VERSTANDEN?«

»Ja.«

»HALT DIE FRESSE! REGEL NUMMER ZWEI: NIMM NIEMALS DEN KOPF AB!«

Das erübrigte sich wahrscheinlich sowieso, immerhin hatte es fast eine Viertelstunde gedauert, bis ich das Ding draufgekriegt hatte.

Möchten Sie gerne weiterlesen? Dann laden Sie jetzt das E-Book.