Der Manndecker - Jörg Menke-Peitzmeyer - E-Book

Der Manndecker E-Book

Jörg Menke-Peitzmeyer

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Beschreibung

Einmal nach Bottrop und zurück, bitte! Kurz vor seinem fünfzigsten Geburtstag liegt Achims Eheleben in Scherben. Der Kontakt zu seinem erwachsenen Sohn ist eingeschlafen und seine Karriere als Schauspieler ist mehr Erinnerung als Realität. Er zieht mit dem Solo-Comedyprogramm "Der Manndecker", das die Geschichte eines alternden, aus der Zeit gefallenen Fußballers erzählt, noch einmal über die Dörfer. Seine Gage verzecht er an den Tresen der Vereinsgaststätten, in denen er auftritt, kaum jemals vor mehr als einer Handvoll Zuschauer. Doch dann engagiert ihn der BVB für seine Saisonabschlussfeier. Und auch in Sachen Liebesleben hält die Reise einiges bereit. Nimmt für Achim doch noch alles eine unerwartete Wendung?

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Der Manndecker

Der Autor

Jörg Menke-Peitzmeyer, 1966 in Westfalen geboren, studierte Schauspiel und Literarisches Schreiben. Er lebt als freier Autor für Dramatik und Prosa in Berlin und Istanbul. Der Manndecker ist nach Billy the Beast sein zweiter Roman.

Das Buch

Achim Flessenkemper ist Ende 40 und erfolglos. Privat wie beruflich. Seine erste Ehe wurde geschieden, seine zweite steckt in der Krise, und die Beziehung zu seinem Sohn existiert eigentlich nicht. Mit seinem Soloprogramm »Der Manndecker« tingelt er durch die westfälische Provinz und spielt in den Gaststätten von so illustren Fußballvereinen wie dem TuS Lohne vor wenig mehr als einer Handvoll Zuschauern. Kein Wunder, dass er notorisch pleite ist. Und auch sonst lässt er kaum eine Möglichkeit aus, sich noch tiefer in den Schlamassel hineinzureiten. Doch dann kollidiert er auf der Landstraße beinahe mit Julia, Fußballspielerin und erfolgreiche Betreiberin eine Kuhkuschelfarm für emotional ausgemergelte Manager – ein harmloser Unfall, aber eine folgenschwere Begegnung, die Achims Leben auf den Kopf stellen wird.

Jörg Menke-Peitzmeyer

Der Manndecker

Roman

Ullstein

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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage September 2019© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019Umschlaggestaltung: semper smile, MünchenTitelabbildung: © Bob Thomas / Getty ImagesE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comAlle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-8437-2024-3

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Inhalt

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

Prolog

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Anmerkungen

Empfehlungen

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Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Prolog

Widmung

Mit besonderem Dank an J. Gerth

1

»Wissen Sie, wo ich das Fußballspielen gelernt habe?«

Die sechs Zuschauer, die sich im Hinterzimmer der Goldenen Sonne eingefunden hatten, sahen aus, als würde sie nichts auf der Welt weniger interessieren. Wobei einer von ihnen auch noch auf die Uhr guckte. Dabei hatte ich gerade erst begonnen.

»Da kommen Sie nie drauf.«

An guten Tagen ein Satz, der das Publikum in kollektive Atemlosigkeit versetzte. Aber hier machte es keinen Sinn, die Leute länger auf die Folter zu spannen. Vor allem, wenn sie gar nicht drauflagen.

»Im Hühnerstall.«

Jemand gluckste wie ein Huhn. Ich wusste nicht, ob er sich über mich lustig machen oder bloß einen Kommentar abgeben wollte. Dabei brannte an dieser Stelle auch schon mal die Hütte. Zum Beispiel, wenn ein Verein sein hundertjähriges Jubiläum feierte und schon drei Tage vorher mit dem Saufen angefangen hatte. Ich nahm den Ball, den ich erst am Nachmittag im einzigen Sportgeschäft der Kreisstadt gekauft hatte, und jonglierte ihn auf meinen Oberschenkeln. In dem Moment kam die Kellnerin mit einem Tablett herein, auf dem zehn frisch gezapfte Biere standen. Zehn Biere für sechs Leute. Ich versuchte, mich auf den Ball zu konzentrieren. Nach der achten Berührung sprang er mir weg und hüpfte von der Bühnenkante auf das Tablett. Da waren’s nur noch drei. Die anderen sieben Biere ergossen sich über die schneeweiße Schürze der Kellnerin. Auf einen Schlag hatte ich das Publikum. Die Leute sahen mich an wie einen Zauberer, der gerade einen unglaublichen Trick vollführt hatte.

»Geht auf meine Rechnung«, sagte ich und wusste, dass ich damit gerade gut die Hälfte meiner Abendgage verprasste. Schließlich wurde ich nach Einnahmen bezahlt.

»Die Schürze auch?«, fragte die Kellnerin zurück. Das Blinzeln in ihren Augen verriet mir, wie der Abend enden würde. Und das war genau das, was ich brauchte, um die Vorstellung durchzustehen.

»Da staunen Sie, was?«, gab ich jetzt Vollgas. »Ich meine, das hätten Sie doch jetzt nicht gedacht, dass ich als Manndecker mit dem Ball umgehen kann, oder? Ich kann Ihnen da noch ganz andere Sachen zeigen. Hab ich alles im Hühnerstall gelernt. Waren Sie schon mal in einem Hühnerstall? Wissen Sie, wie’s da aussieht?«

Stille. So als hätte ich sie gefragt, ob sie schon mal im Weißen Haus gewesen wären. Dabei war mir das Dorf beim Durchfahren vorgekommen wie ein einziger großer Bauernhof.

»Vier Meter lang, drei Meter breit, vorne das Stroh, hinten die Hühner und ringsherum alles voller Eier. Da werden Sie schon von den äußeren Umständen zur Technik gezwungen. Und dann erst die Luft. Luft ist gar kein Ausdruck. Da will jeder Atemzug gesetzt sein. Da ist Ökonomie gefragt. Absolute Selbstbeherrschung. Sonst kippen Sie da um. Und von den Viechern ganz zu schweigen. Was glauben Sie, was die für ’ne Angst gehabt haben am Anfang. Die sind herumgeflattert, als würden die jeden Augenblick ans Messer geliefert. Aber da unsereins ja tierlieb ist, war auch von der Seite höchste Konzentration gefordert. Aber allerhöchste Konzentration. Und wenn ich mal so ’n Ding getroffen hab, so ’n Huhn, dann bin ich zur Strafe fünf Runden um den Stall gelaufen. Und hab noch zehn Klimmzüge an der Teppichstange gemacht. Und dann bin ich wieder rein in den Stall, es besser machen.«

An dieser Stelle atmete ich einmal tief durch. Ich wusste, die Leute fraßen mir aus der Hand. Nach und nach fixierte ich jeden Einzelnen von ihnen, bevor ich weitersprach.

»Am Schluss haben die keinen Mucks mehr gemacht. Die haben in Ruhe ihre Eier gelegt, während ich trainiert habe. So sicher haben die sich gefühlt. Weil mir der Ball wie Mist an den Füßen geklebt hat.«

Mit einem Male hatte ich das Gefühl, als sei ich tatsächlich in einem Hühnerstall. Nur dass ich anstatt Fußball Theater spielte. Aber die Zuschauer machten auch keinen Mucks.

»Und als ich dann zum BVB gewechselt bin, in der B-Jugend, da sind die alle eingegangen, die Hühner. Die haben regelrecht die Flügel hängen lassen. Da konnte mein Vater noch so ’n teures Spezialfutter kaufen. Die haben gewusst, so etwas erleben die nie wieder, in ihrem ganzen Hühnerleben nicht. Und dann haben sie natürlich keinen Sinn mehr darin gesehen, Eier zu legen. Wenn Sie so wollen, bin ich Deutschlands erster und letzter Hühnerstallfußballer.«

Ich holte mir den Ball zurück und jonglierte ihn wieder auf meinen Oberschenkeln. Diesmal kam ich auf achtzehn Berührungen. Wie gesagt, ich war in Topform.

2

»Bärbel, hol noch mal ein westfälisches Gedeck für unseren Hühnerstallfußballer!«, rief Anke, die einzige Frau aus dem Publikum, verheiratet mit Uwe, der mir gerade den Arm um die Schultern legte.

»Sach ma, Pelle«, lallte er, »wat ich imma scho ma wissen wollte: Wie kann sich bloß ein einzelner Kerl so viel Text merken?«

»Ach«, sagte ich, während ich mein siebtes oder achtes Glas vom Tresen nahm, »man darf bloß nicht zu viel saufen. Prost!«

Ich hatte gerade den letzten Schluck genommen, als eine schon reichlich betagte Funktionärsgestalt aus dem Hinterzimmer kam, alte Schule, mit Anzug, Schlips und Kragen und einer Vereinsnadel am Revers.

»Achtung, der GV!«, raunte Uwe.

»GV?«

»Der Große Vorsitzende.«

Der GV gab mir die Hand.

»Herr Flessenkemper«, räusperte er sich, »meinen ganz herzlichen Dank im Namen des gesamten Vereins TuS Kappelstedt für diese gelungene und überaus humorvolle Darbietung.«

Das mochte ich an meiner Tournee über die westfälischen Dörfer. Dass ich noch mal einen Blick werfen konnte auf eine untergehende Spezies von Vereinsmeiern. Denn meistens stand ich nachher nicht nur mit Fußballern, sondern auch mit der Freiwilligen Feuerwehr, dem Schützenverein oder der Soldatenkameradschaft am Tresen. Sie rührten mich zu Tränen. Vor allem, wenn ich schon richtig was getankt hatte.

»Besonders die Stelle mit dem Hühnerstall. Einfach köstlich.«

Dann überreichte er mir einen Umschlag. Ich war betrunken genug, um gleich reinzuschauen, vor aller Augen.

»Aber es waren doch SECHS Zuschauer«, protestierte ich angesichts der gerade mal fünfzig Euro.

Der GV sah Uwe und Anke an.

»Uwe ist Ehrenmitglied. Unser bester Torschütze aller Zeiten. Der hat natürlich freien Eintritt. Nebst Gattin.«

Ich steckte den Umschlag ein. Aber der GV war noch nicht fertig.

»Tut mir leid, aber wir hatten auch mit mehr Zuschauern gerechnet. Vor allem die Frauen sind zu Hause geblieben. Der Manndecker – wer weiß, was die sich gedacht haben. Wir sind hier immer noch eine ziemlich katholische Gegend.«

Das werden wir ja sehen, dachte ich, denn in dem Moment kam Bärbel mit der nächsten Runde rein.

»Geht auf mich«, sagte ich zu ihr, und diesmal, das konnte ich förmlich sehen, war das Blinzeln in meinen Augen. Da klingelte mein Handy. Ich brauchte nicht aufs Display zu sehen, um zu wissen, wer da anrief. Ein telepathischer Weckruf von Susanne, meiner Frau, den ich stets überhörte.

Die Tür ging auf, und zwei Polizisten kamen rein.

»Nabend«, sagte der gute der beiden.

»Nabend, Wolfgang«, erwiderte die Goldene Sonne im Chor.

»Wir suchen einen Mann«, sagte der andere Polizist, der auch gut aussah, wenn auch nicht unbedingt optisch. »Circa eins fünfundsiebzig groß, um die fünfzig, der halb nackt durchs Dorf rennt, sich mit Erde beschmiert und kleine Kinder erschreckt.«

»Einen Exorzisten«, sagte sein Kollege.

»Exhibitionisten«, verbesserte ihn Bärbel mit einem heimlichen Seitenblick auf mich.

»Oder so«, sagte der Polizist.

Es war so still wie zuvor in der Hühnerstallszene. Alle sahen mich an. Und ich, ich sah auf das Plakat, das neben dem Tresen hing: »Der Manndecker – eine theatralische Halbzeit aus dem Leben eines Profis«, darunter ein Foto von mir im völlig verdreckten BVB-Trikot.

»Wat?«, sagte der gute Polizist und schaute den GV an. »Sach bloß, dat soll auch noch Kunst sein?«

3

Es lag am Bett, ich schwöre es. Es war einfach nicht für Sex gemacht. Wer in der Goldenen Sonne übernachtete, der tat das, weil er keine andere Wahl, eine Autopanne, vier Promille im Blut oder was weiß ich hatte, nur keinen neben, unter oder auf sich liegen, so wie ich gerade. Wahrscheinlich war ich der erste Gast, der hier jemals Sex hatte. Oder es zumindest versuchte. Irgendwann musste ich aufgeben. Auf der Raufaser am Boden, der einzigen Alternative, hätte ich mir den Rücken aufgerissen.

»Tut mir leid«, flüsterte ich.

»Hattest ein schweres Spiel heute«, sagte Bärbel in Zimmerlautstärke. »Mein Manndecker.«

Dann gab sie mir einen Kuss, der eine Spur zu zärtlich war für das, was wir hier miteinander veranstalteten. Oder suchte sie in diesem Zimmer etwa die große Liebe?

Und nun? Reden? Worüber? Die Inneneinrichtung? Das Theater? Also über den ehemaligen jugendlichen Liebhaber des Bochumer Schauspielhauses, der jetzt sein Geld damit verdiente, dass er in den schmuddeligen Hinterzimmern von Vereinskneipen vor sechs Leuten einen alternden Fußballer mimte? Ich wusste, Sex war nicht nur gut fürs Immunsystem, er verhinderte auch das Bohren in alten Wunden. Wenn er sie auch nicht gerade heilte.

»Wenn ich mich umlege, geht’s vielleicht.«

Umlegen? Wovon, um Himmels willen, sprach sie? Wollte sie sich erschießen? Oder meinte sie bloß, dass sie sich umdrehte? Und was vor allem sollte dann gehen? Ich hatte doch gerade erst die weiße Fahne gehisst.

Sie machte tatsächlich eine Kehrtwende um hundertachtzig Grad. Das Bett ächzte und knarrte dabei wie eine alte Katze mit Bronchitis. Nach ungefähr zwei Minuten lag ihr Kopf an meinen Füßen. Und meiner an ihren. Was jetzt endgültig nicht mehr ging, war klar. Es sei denn, sie wollte an meinem großen Zeh nuckeln. Nur was stattdessen gehen sollte, das war überhaupt nicht klar.

»Wird ’ne kurze Nacht, das sage ich dir gleich«, sagte sie. »Wenn hier um sieben die Kirchenglocken läuten, dann machste kein Auge mehr zu. Also schlafen wir besser gleich. Nacht.«

Dann küsste sie mir die Füße. Kein Scheiß jetzt. Eine Kellnerin, die mir die Füße küsste. Auch wenn sie dabei nicht weinte und mir die Füße mit ihren Haaren trocknete wie einst Maria Magdalena dem Heiland, kam ich mir wie Jesus vor. Der GV hatte recht gehabt. Das Sauerland war immer noch eine ziemlich katholische Gegend.

4

Es waren nicht die Kirchenglocken, die mich weckten. Es war der Hahn. Ich wusste nicht, war das jetzt ein gutes oder ein schlechtes Zeichen. War ich vor den Kirchenglocken aufgewacht, oder hatte ich sie überhört und meinen Rausch ausgeschlafen? Wer stand hier eigentlich früher auf, die Hähne oder die Küster? Aber ich vermutete, dass auch im Sauerland die Kirchenglocken inzwischen nicht mehr von Hand bedient wurden. Als ich mich zehn Sekunden später von der rechten auf die linke Seite drehen wollte, war die Antwort allerdings klar. Mein Kopf war so schwer, dass ich meine Füße gegen die Bettkante drücken musste, um ihn langsam hochzuhieven.

Da war doch noch was? Oder vielmehr wer? Zumindest letzte Nacht. So viel Restalkohol konnte ich also nicht mehr im Blut haben, dass mir die eine Hälfte des Bettes nicht verwaist vorgekommen wäre. In neun von zehn Fällen war mir so was recht, aber jetzt hätte ich schon ganz gerne jemanden losgeschickt, um mir ein Glas Wasser zu holen.

Es kam mir so vor, als wollte mich der Hahn anfeuern, denn als er nach fünf Minuten immer noch nicht aufgehört hatte zu krähen, stand ich auf. Doch anstatt ein Glas Wasser zu trinken, nahm ich meinen Fußball aus der Tasche und warf ihn durch das offene Fenster nach dem Hahn. Danach war Ruhe. Nicht das erste Mal, dass ich dachte, ich hätte besser Handballer werden sollen, vielleicht wären dann am letzten Abend mehr als sechs Leute gekommen.

Ich hatte meinen Spind noch im Hinterzimmer der Goldenen Sonne. Allerdings waren sowohl die Vorder- als auch die Hintertür verschlossen, und um zu klingeln, war es noch zu früh. Also machte ich mich an dem Fenster neben der Hintertür zu schaffen, das halb offen stand. Meine Künstlerhände kamen mir zu Hilfe, als ich das Fenster von außen öffnete, um mich dann an der braunroten Backsteinwand hochzuziehen. Ich drehte mich dabei kurz um, doch der Einzige, der mich beobachtete und dabei langsam auf mich zukam, war der Hahn. Es lag jetzt an ihm, ob ich heil aus der Nummer rauskommen würde, mein Hintern jedenfalls war die ideale Zielscheibe für den Fall, dass er sich rächen wollte. Aber er ließ mich gewähren. Drinnen war ein Waschbecken, groß genug, um meinen Kopf unter den Wasserhahn zu halten, und, Leute, tat das gut. Konstantin Wecker hat mal behauptet, besoffen zu pissen wäre das beste Gefühl der Welt, und ich muss zugeben, es ist nicht das schlechteste. Aber auf einen bis zum Anschlag verkaterten Schädel einen Strahl kaltes Wasser laufen zu lassen, kann da locker mithalten.

Es hätte noch Stunden so weitergehen können, aber ich bin erstens katholisch aufgewachsen und zweitens auf dem Land, und da verschwendet man auch mit knapp fünfzig kein Wasser, selbst wenn man noch so verkatert ist. Und wie zur Bekräftigung des leichten Schuldgefühls, das sich bereits in mir eingeschlichen hatte, fingen in diesem Augenblick die Kirchenglocken an zu läuten, und zwar mit einer Kraft, dass ich glaubte, die Wassertropfen in dem Becken erzittern zu sehen.

Ich schlich mich durch einen kleinen Gang auf die Bühne im Hinterzimmer und packte die herumliegenden Requisiten – Mullbinden, eine ausgequetschte Voltaren-Tube, die Schienbeinschoner – in die Sporttasche, die unter der Bierbank lag, hängte sie mir über die Schulter und hievte den gelb-schwarz gestrichenen Spind auf meinen Rücken. Wobei ich mit seinen Füßen eine kleine Ansammlung von Pokalen abräumte, die auf dem Regal an der Wand standen. Das Zerspringen des Glases übertönte einen Moment lang die Kirchenglocken, die sich mit dem wiedereinsetzenden Krähen des Hahnes zu einem ganz speziellen sauerländischen Sound vermischt hatten. Die Insignien der ruhmreichen Vereinsgeschichte des TuS Kappelstedt in nur einer Sekunde zerschlagen, ein Scherbenhaufen vor meinen für einen Manndecker viel zu zierlichen Füßen. Falls der Wirt noch nicht aufgewacht war, dann allerspätestens jetzt. Ich hatte genau zwei Möglichkeiten. Entweder ich kehrte das Zeug auf, oder ich sah zu, dass ich Land gewann. Im ersten Fall hätte es so ausgesehen, als hätte ich die Pokale geklaut, im zweiten, als hätte ich sie zerstört. Ich entschied mich ausnahmsweise mal für die Wahrheit, ließ die Scherben liegen und trug den Spind Richtung Wohntrakt, in der Hoffnung, dass ich unbemerkt durch die Vordertür entkommen könnte.

Er stand im Schlafanzug auf halber Höhe der Treppe, die offenbar vom Flur zu den Schlafzimmern führte, als mich sein Blick traf. Ich erkannte ihn sofort. Offenbar war er der Sohn des Hauses. Und obwohl diesmal seine Mutter nicht in der Nähe war, konnte ich die Frage von seinen Augen ablesen: Mama, was macht der Mann da mit dem Spind auf dem Rücken morgens um halb sieben in unserm Flur?

5

Ich war nicht nur fußballerisch aus der Zeit gefallen – welche Mannschaft spielt heutzutage noch mit Manndeckern, die letzte, die mir einfällt, war der SC Paderborn unter Stefan Effenberg gegen RB Leipzig in der Saison 2015/2016 –, sondern auch als Autofahrer. Ich hatte immer noch kein Navigationsgerät. Dafür jede Menge ausgedruckter Routenplaner-Seiten auf meinem Beifahrersitz, in denen ich jetzt hilflos herumwühlte, um den Weg nach Sichtrop, meiner nächsten Destination, zu finden, während oben auf dem Dach der Spind munter hin- und herrutschte.

Klar hatte ich auch ein Handy, inzwischen sogar eines, mit dem ich online gehen konnte, aber das war so wie mit den E-Books, ich brauchte Papier, das Geräusch von Seiten, die umgeschlagen werden, ich musste immer auch blättern, um etwas zu kapieren, blättern und fragen, zum Beispiel den Bauern, der seine Schafe über die Bundesstraße trieb und dabei nicht die geringste Eile zu haben schien.

Gut möglich, dass er wusste, wie man nach Sichtrop kommt, aber mit seinem Hirtenstab fuchtelte er so wild in der Landschaft herum, dass Sichtrop überall hätte sein können und ich schon fürchtete, er wolle mich am Ende noch damit aufspießen. Also nutzte ich die Zeit, um die Routenplaner-Seiten in aller Ruhe zu studieren, während die Autofahrer hinter mir ein wildes Hupkonzert veranstalteten. Auch im beschaulichen Sauerland hatte man jetzt offenbar keine Zeit mehr.

Es war eine dieser Neubausiedlungen, wie ich sie aus meinem Heimatdorf zwischen Soest und Lippstadt kannte, neun, zehn zumeist zweistöckige Klinkerbauten am Ortsausgang, vor denen um diese Zeit die Zweitwagen der Hausfrauen und Mütter standen, Corsas, Polos und Fiestas, vor einem parkte auch eine riesige Familienkutsche, ein Sharan BlueMotion. Von so einem hatte ich geträumt, als ich die Manndecker-Tournee vor Jahren begonnen hatte, ein Auto, in dem man auch schlafen kann, notfalls zu zweit. Genau neben diesem Wagen parkte ich und stieg aus.

»Hab ich das bestellt?«, fragte mein Kunde, ein großer, schlanker Mann um die vierzig, der so aussah, als hätte er die ganze Nacht vor einem Computerspiel verbracht, mit Blick auf die Weinkiste, die ich zwischen meinen Beinen abgestellt hatte.

»Vor drei Wochen«, sagte ich.

»Da hatte ich auch noch Arbeit.«

»Zwölf Flaschen Burgunder, Jahrgang 99«, begann ich die Verhandlungen, »acht Euro die Flasche, praktisch geschenkt.«

Er sah mich an, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Sieben«, sagte ich. Was meinem Gegenüber aber immer noch nicht die geringste Bewegung entlockte.

Dafür machte ich jetzt ein Gesicht, als wäre das mein letztes Angebot. Sieben Euro die Flasche, das entsprach der Gage einer Vorstellung vor nicht mal zehn Zuschauern, kein Wunder, dass ich auf keinen grünen Zweig kam. Dabei war das Sauerland mal meine beste Einnahmequelle gewesen, viel besser als das Münsterland. Vom Ruhrpott ganz zu schweigen.

Als ich bei fünf angekommen war, sah mich der Mann auf einmal so traurig an, dass ich zusammenzuckte. Dabei wusste ich nicht, wem seine Trauer galt, ihm, der sich nicht mal eine Flasche für fünf Euro leisten konnte, oder mir, der einen Burgunder 99 hier für fünf Euro die Flasche verscherbelte, weil er Angst haben musste, sonst nicht mal den Sprit bis nach Hause bezahlen zu können. Wir fixierten uns wie bei einem Duell, nur dass wir nicht mit Waffen, sondern mit Blicken schossen. Wem hier zuerst die Tränen kämen, der würde umfallen. Doch so weit wollte ich es nicht kommen lassen. Ich nickte ihm zu, schulterte meine Kiste und war schon auf dem Treppenabsatz, als er sagte: »Ein Weintrinker im Sauerland. Kein Wunder, dass ich arbeitslos bin.«

6

Ich hatte so richtig aufgedreht, den Motor und die Lautsprecher, Rammstein bei hundertvierzig Stundenkilometern auf der B 55 von Oedingen nach Elspe, als mir ein Trecker entgegenkam. An sich kein Problem, ich fuhr einen Golf 3, keinen Geländewagen, und die Bundesstraßen sind auch im Sauerland nicht schmaler als im Rest der Republik. Aber da waren rechts die Schafe auf der Weide, die meine Aufmerksamkeit erregten, und als ich den Blick wieder auf die Straße richtete, war auf einmal so wenig Platz zwischen dem Trecker und meinem Golf, dass ich nur mit einer scharfen Drehung nach rechts eine Karambolage verhindern konnte. Woraufhin ich recht unsanft im Straßengraben landete und mein in hohem Bogen vom Dach geflogener Spind beinahe ein Schaf getötet hätte.

Das Schaf schien es nicht weiter zu kümmern, dafür aber den Typen hinterm Steuer des Treckers, der seinen Kopf in den Armen verbarg, als Reaktion auf seine Kollision mit einem Verkehrsschild. Erst als ich auf ihn zugehumpelt kam, erkannte ich, dass der Typ eine Frau war. Und was für eine. Ihre Fingernägel hatten die gleiche Farbe wie das Blut, das mir von der Schläfe aufs Hemd tropfte.

»Alles klar?«

Sie hob langsam den Kopf.

»Sie können einem vielleicht einen Schrecken einjagen.«

Und Sie einem erst, dachte ich, denn ihr Blick aus den dunklen, fast schwarzen Augen fuhr mir in die Glieder. Einen Moment musste ich mich am Führerhaus des Treckers festhalten.

»Können wir das ohne Polizei regeln?«, versuchte ich, mich schließlich auf das Wesentliche zu konzentrieren.

»Ich fürchte, dazu ist es zu spät«, sagte sie und sah an mir vorbei auf die Bundesstraße, auf der bereits ein Polizeiwagen heranfuhr.

Keine Ahnung, wo der so schnell herkam, vielleicht wurde ich ja seit gestern Abend beschattet, eine Theorie, die beim Anblick der beiden Beamten augenblicklich vom Hirngespinst zur Gewissheit mutierte, the good and the good cop, das sauerländische Sonderkommando für Exorzisten. Wahrscheinlich kamen sie gerade vom letzten Tatort, dem Hinterzimmer der Goldenen Sonne, wo der Wirt über den zersprungenen Vereinstrophäen in Tränen ausgebrochen war. Und sie legten auch gleich mächtig los.

»Erst kleine Kinder erschrecken, dann noch einen Unfall verursachen«, sagte der eine.

»Seit Sie in der Gegend sind, ist die Kriminalitätsrate um zweihundert Prozent gestiegen«, der andere.

»Sie können froh sein, dass wir Sie nicht blasen lassen, so wie Sie aussehen.«

Warum eigentlich nicht? Genossen Künstler hier etwa mildernde Umstände? Ich fand das geradezu diskriminierend, obwohl sie dabei waren, mir den Arsch zu retten, ich war mir nämlich nicht so sicher, ob ich Alkohol noch so schnell abbaute wie früher, als ich nach solchen After-Show-Partys direkt nach Hause gefahren war. Aber ich wollte als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft anerkannt sein, anstatt wie ein Kind behandelt zu werden, bloß weil ich mich von Berufs wegen verkleidete und anderen etwas vorspielte. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich hätte mich freiwillig zur Alkoholprobe gemeldet.

»Kommt ihn auch so teuer genug zu stehen.«

Ich verstand nicht viel von landwirtschaftlichen Nutzfahrzeugen, aber der Trecker sah nicht gerade so aus, als wäre er besonders demoliert worden. Eine Delle links, ein zersprungener Scheinwerfer rechts, der aber so aussah, als hätte es ihn schon vorher erwischt, ebenso wie die verbogene Leitersprosse. Aber dafür war es ein Trecker, kein Kleinwagen, ich als Besitzer wäre jedenfalls beleidigt gewesen, wenn ein Polizist versucht hätte, mich wegen solcher Kleinigkeiten zu einer Anzeige zu bewegen.

Die Frau führte derweil im Hintergrund eine Art Pantomime auf, so als übersetzte sie den beiden Dorfsheriffs meinen erbarmungswürdigen Zustand in Gebärdensprache. Vielleicht bedeuteten ihre leicht ins Dramatische ausufernden Bewegungen ja Folgendes: Seht ihr denn nicht, bei dem Typen ist nichts zu holen, der ist so arm dran, dass er jetzt bis nach Hause laufen muss, wo immer das ist, denn sein Nummernschild ist so verbeult, dass man beim besten Willen nicht erkennen kann, wo er herkommt, jedenfalls nicht aus dieser Gegend, also lasst ihn einfach laufen. Es zeigte Wirkung, aber vielleicht waren die beiden Cops auch einfach nur eifersüchtig auf mich, vor allem der eine, der nicht ganz so in Fremdwörtern Bewanderte, denn er meinte:

»Am besten, Sie lassen sich in dieser Gegend nicht mehr blicken.«

»Geht nicht«, sagte ich. »Ich hab morgen noch einen Auftritt hier.«

»Und wo?«, fragte der andere.

»In Lohne, bei Olpe.«

»Bei Stratmann oder bei Rita Funke?«

»Stratmann.«

Wobei ich hoffte, dass sich hinter Stratmann auch eine Frau verbarg. Derweil kam die Frau aus dem Trecker mit einem Abschleppseil auf mich zu. Zeit, sie mir mal in aller Ruhe anzuschauen. Zwei Köpfe kleiner als ich, langes dunkelbraunes Haar, ein kleiner Nasenhöcker, schmale Schultern, schmale Taille, sodass ich mich fragte, wie sie einen Bauernhof stemmen wollte. Jedenfalls klebte unter ihren knöchelhohen Trekkingschuhen ordentlich Kuhmist.

»Ich zieh Sie raus.«

Ich war erleichtert, ich meine, sie hätte ja auch sonst was mit dem Seil anstellen können, so nach dem Motto: Bevor wir uns hier ellenlang mit Versicherungen und Schadensersatz herumschlagen, lasst uns dem Kerl gleich die Schlinge um den Hals legen.

»Künstler müsste man sein«, sagte der Exorzist, als die Frau das Seil an meinem Wagen befestigte, aus dem hinten durch den aufgesprungenen Kofferraum der Wein wie Blut tropfte, direkt vor ihre Füße, und ich weiß noch genau, wie erstaunt sie mich ansah bei dem Wort Künstler.

7

Dass der Motor meines Golfs unverwüstlich war, war mir klar, aber dass sich die äußerste Stabilität dieses Modells auch auf Karosserie und Unterbau erstreckte, war dann doch eine Überraschung, als ich keine fünfzehn Minuten später wieder hinterm Lenkrad saß, das Seitenfenster geöffnet, während mich meine Unfallpartnerin besorgt ansah. Man hätte meinen können, sie hätte die Beinahe-Kollision verursacht. Höchste Zeit, die Sache mal klarzustellen.

»Und Sie sind sicher, dass alles okay ist?«

»Ach, die kleine Schramme.«

Ich sah rüber zum Trecker.

»Keine Sorge, das ist ein John Deere.Die warten nur darauf, mal aus der Spur zu fliegen, damit sie ihrem Ruf gerecht werden.«

Schien so, als wären wir Seelenverwandte, der Trecker und ich.

»Ich mache mir mehr Sorgen um Sie.«

»Ach, die große Schramme«, versuchte ich einen Witz, der aber irgendwo zwischen den Schafen hängen blieb, die inzwischen Zutrauen zu meinem Golf gefasst zu haben schienen, jedenfalls schnupperten zwei davon am Kofferraum herum, wer weiß, was ihnen der Schäfer sonst so alles einträufelte. Während ein anderes Schaf mich ansah, als hielte es auch das Blut an meiner Schläfe für Wein.

»Sind Sie wirklich Künstler?«

Ich griff ins Handschuhfach und holte eine Postkarte hervor. Vorne drauf ich in voller BVB-Montur, hinten drauf die Spieltermine. Etwas selbstbewusstere Kollegen hätten dazu auch Autogrammkarte gesagt.

»Der Manndecker«, las sie und sah mich mit einem seltsamen Lächeln an. »Ich spiel im Sturm.«

Dann wedelte sie mir mit der Karte einen Abschiedsgruß zu und stiefelte davon. Ihr rechtes Hosenbein war hochgerutscht und gab den Blick auf eine ziemlich elastische, braun gebrannte Wade frei. Ich glaubte ihr aufs Wort.

8

Ich sah ihn schon von Weitem. Das heißt, ich sah nicht ihn, ich sah den Rauch seiner Zigarette, eine Prima, die klassische russische Arbeiter- und Soldatenzigarette, mit der er seine Zeichen in die Welt blies: Holt mich hier raus, Leute, aus meiner Dreizimmerwohnung, weg von den Serien, meiner Alten mit dem Nagelstudio und den Erinnerungen an den Osten, wo ich noch wer war, wenn auch nur ein Dispatcher.

Ich parkte meinen demolierten Wagen direkt vorm Haus. Kaum hatte ich die Tür zugeschlagen, sah ich, wie er sich oben über die Balkonbrüstung beugte.

»Na, meen Kleener«, sagte er und besah sich den Wagen. »Biste im Suff in den Hühnerstall gerast?«

»Halt die Klappe. Hilf mir lieber, das Ding in den Keller zu tragen.«

Hätte es irgendwo einen Korb gegeben, so wie im Orient, den man aus dem Fenster lässt, um von unten das Brot, die Zeitung oder was auch immer einzuholen, er hätte sich reingesetzt und nach unten befördern lassen. So aber stand er eine knappe Viertelstunde später völlig außer Atem unten auf der Matte. In der Zwischenzeit hätte ich den Spind auch dreimal alleine runterbringen können, aber manchmal vermisste ich ihn wirklich, Olaf, meinen Nachbarn aus Berlin-Oberschöneweide. Ihn und das gemeinsame Bier, wenn ich von meinen Abstechern nach Hause kam und wir den Spind endlich in der hintersten Ecke des Heizungskellers verstaut hatten.

»Haste keinen schönen Burgunder?«

Ich öffnete zwei Flaschen Brinkhoffs und gab ihm eine.

»Dann isses also kein Blut, was da draußen an deinem Kofferraum klebt?«

»Leider nicht.«

»Und das da?« Olaf deutete auf meine Schläfe. »Ist das wenigstens Blut?«

»Leider ja. Prost.«

Ich stieß mit ihm an und nahm einen tiefen Schluck. Und dann sagte erst mal keiner von uns was. Was heißt hier erst mal. Mindestens zehn Minuten lang war nichts anderes zu hören als das Knacken in den Heizungsrohren und das eine oder andere Auto, das draußen durch die Kösterstraße fuhr. Andere gingen für so was in den Zendo oder fuhren übers Wochenende aufs Land, Olaf und ich gingen in den Heizungskeller. Sogar im Frühling.

Als ich gerade die nächsten beiden Flaschen geköpft hatte, sagte er: »Ich muss dir was zeigen.«

»Heute nicht mehr.«

»Da fällste vom Glauben ab.«

9

Soest ist ja eher protestantisch, aber das hier sah aus wie der Altar einer Barockkirche, nur in Silber, und als könnte er meine Gedanken lesen, sagte Olaf: »Da möchte man sich am liebsten niederknien, was?« Aber da konnte ich immer noch nicht glauben, dass es sich bei dem, was da auf seiner Küchenanrichte stand, um eine Espressomaschine handelte.

»Aber Olaf«, stammelte ich, als ich es endlich kapiert hatte, »die kostet doch bestimmt –«

»Schwiegervatter hat ’ne gute Rente«, unterbrach er mich. »Und irgendwas muss man doch davon haben, dass Heidi ihm ständig den Arsch abwischt. Prost!«

Ich fragte mich, ob er sie überhaupt schon mal benutzt oder ob er sie als Skulptur vorgesehen hatte. Aber dann stand er auf, öffnete den Küchenschrank und nahm eine Packung mit Pads heraus. Ich mag ja keinen Espresso, aber auf den hier war ich gespannt.

Zehn Minuten später sah es auf dem Fußboden von Olafs Küche kaum anders aus als im Kofferraum meines Wagens, nur dass die Flüssigkeit hier braun statt rot war. Irgendwas hatten wir falsch gemacht, Olaf und ich, ich konnte nur nicht genau sagen, was. Na ja, was Olaf anging, so war ich soeben Zeuge der überschüssigen Energie eines seit mehr als zehn Jahren arbeitslosen Mannes geworden, der versucht hatte, eine Espressomaschine in Gang zu setzen. Hätte man ihm eine Arbeit gegeben, dann hätte er das Ding mit links bedient. Beziehungsweise erst gar nicht gekauft. So wie ich den Wein, wenn man mir eine vernünftige Rolle gegeben hätte. Und so nahm ich wenigstens die beiden Espressotassen von der Anrichte und goss sie mit Brinkhoffs voll.

»Prost, Olaf!«

»Prost, meen Kleener!«, sagte er und stieß mit mir an. »Auf die italienischen Momente im Leben!«

10

Als ich gegen acht Uhr die Stufen zu unsrer Wohnung hochging, schwankte ich bedenklich. Ich hatte schon Bier aus Schnapsgläsern getrunken, aus Kaffeetassen, Zahnputzbechern, Blumenvasen und was weiß ich nicht alles, aber das hier war neu gewesen, so neu, dass ich es lange Zeit nicht hatte fassen können und uns immer wieder nachgeschenkt hatte, bis sogar Olaf irgendwann abgewinkt hatte, und das wollte was heißen bei einem, der Trinken zu einer Art Arbeitsbeschaffungsmaßnahme gemacht hatte. Es dauerte eine Weile, bis ich den Schlüssel fand, was mir aber nichts nützte, da offenbar von innen auch einer steckte, jedenfalls kriegte ich die Tür nicht auf. Susanne hatte mich wohl noch nicht zurückerwartet, was ich jetzt so oder so deuten konnte. Entweder sie hatte geglaubt, dass ich erst morgen zurückkommen würde, weil ich den freien Tag zwischen den beiden Vorstellungen im Sauerland verbringen würde. Oder sie war sauer, dass ich nicht schon gestern zurückgekommen war. Ich weiß, andere Paare kommunizieren über so was, aber dazu hätte ich mich festlegen müssen, und festlegen, na ja, sagen wir es mal vorsichtig, gehört nicht gerade zu meinen Stärken, es kann ja immer ein Abenteuer dazwischenkommen. Und genau deswegen musste ich jetzt auch klingeln. Die ein, zwei Minuten, die vergingen, bis ich leise Schritte im Flur hörte, nutzte ich dazu, mir ein Pfefferminzbonbon einzuwerfen. Fühl dich wohl mit Krügerol, wie mir Olaf, der mich mit diesen Ostbonbons versorgte, bei jeder Gelegenheit mit seiner Alkoholfahne ins Ohr blies.

Susanne sah mich mit einer Bitterkeit an, dass mir beinahe das Krügerol im Hals stecken geblieben wäre.

»Jetzt klingelste schon wie ein Fremder.«

Ich trat ein. Im Flur standen sechs, sieben Schuhpaare sorgfältig aufgereiht, die nur den einen Schluss zuließen: Ich war mitten in Susannes Yogaabend geplatzt.

Die Einzige, die mich halbwegs freundlich begrüßte, war Elisabeth, die Katze ohne Schwanz, die wir vor fünf Jahren auf der Straße aufgelesen hatten. Wir hatten lange gedacht, jemand hätte ihr den Schwanz abgeschnitten, bis wir im Internet auf eine Katzenart gestoßen waren, die quasi ohne Schwanz geboren wird. Seitdem dachten wir nicht mehr, dass Elisabeth traumatisiert war, wenn sie einem plötzlich ins Gesicht sprang, sondern dass es einfach ihr Charakter war. Wenn Susanne so was wie Elisabeths Mutter war, dann war ich ihr Onkel, der Typ, der immer dann abhaut, wenn es langweilig zu werden droht, weshalb er sein Leben lang eine Attraktion bleibt, viel zu distanziert, um jemals richtig wütend zu werden, geschweige denn sich in die Erziehung einzumischen. Wobei sich Elisabeth auch von einem zuverlässigeren Typen als mir niemals hätte zähmen lassen. Wie dem auch sei, jetzt strich sie mir um die Beine, streckte ihren Rücken, sträubte ihr Fell und fiepte dabei, was ich als eine eindringliche Aufforderung zum Streicheln ansah, der ich unter diesen Umständen nur zu gerne nachkam, vor allem, als ich von Susanne hörte: »Du bist doch wohl in diesem Zustand nicht gefahren.«

»War noch bei Olaf. Er hat mir seine neue Espressomaschine gezeigt.

»Espresso.«

Es war nicht mal eine Frage, einfach ein Wort, das sie in den Raum stellte, wie ein Ding, an dem ich mich stoßen sollte. Manchmal bestand unsere ganze Kommunikation nur daraus, dass sie wiederholte, was ich sagte, nicht alles, sondern nur bestimmte Wörter, Wörter, die sie anzweifelte, indem sie sie wiederholte, sodass bald jedes Gespräch einer Enttarnung gleichkam, bis ich nackt dastand: ein Lügner, auch wenn ich die Wahrheit sagte. Warum bloß, dachte ich in solchen Momenten, war sie MTA und nicht Rechtsanwältin geworden, mit dieser Strategie hätte sie jeden Prozess gewonnen.

Ich öffnete den Kühlschrank. Das Licht fiel auf Susannes blau-rot gestreifte Socken, in denen sie hinter mir stand. Am großen Zeh war ein kleines Loch, durch das etwas dunkelrote Farbe schimmerte. Sie hatte sich also die Fußnägel lackiert, und es lief mir ein Schauer über den Rücken, als ich dachte, dass ich nicht hätte sagen können, wann sie das zum letzten Mal getan hatte.

Als ich mir ein Bier und ein Stück Fleischwurst aus dem Kühlschrank geholt hatte, waren die Füße verschwunden und hatten Elisabeths grau-schwarzen Pfoten Platz gemacht, sodass ich noch mal in den Kühlschrank griff und eine Packung Whiskas herauszog. Ich riss sie mit meinen Zähnen auf, wobei sich für einen Moment der Geruch des Katzenfutters mit dem Aroma von Krügerol zu einem so ekelhaften Geschmack vermischte, dass ich mich beinahe auf den Küchenboden übergeben hätte. So schaffte ich es gerade noch zur Spüle, wo es dann aber kein Halten mehr gab. Wein auf Bier, das rat ich dir, aber Whiskas auf Krügerol, du spinnst wohl. Ich ließ Wasser über die Kotze laufen und entsorgte die etwas größeren Stücke im Mülleimer, an denen Elisabeth mehr Interesse zeigte als an ihrem Whiskas, das ich kurz darauf in ihren Napf füllte. Ich weiß, ich hätte auf die Weise meine Spuren verwischen können, aber so weit kommt’s noch, dass ich unsere Katze meine Kotze fressen lasse.

Und da saßen wir nun beide in der Küche, Elisabeth vor ihrem Napf, ich am Küchentisch, und schaufelten unser Abendbrot in uns rein. Ich hörte sie schmatzen, mich rülpsen, ein kleines Konzert der Ausgestoßenen, die man an diesem Abend nicht ins Wohnzimmer gelassen hatte. Am liebsten hätte ich sie jetzt auf den Arm genommen, aber das machte man nicht mit Elisabeth, zumindest nicht, wenn man keine Kratzspuren im Gesicht haben wollte. Also ließ ich sie in aller Ruhe aufessen, bis ich aufstand und wieder nach draußen ging, in der einen Hand die Bierflasche, in der anderen die Fleischwurst, zwei Reliquien, mit denen ich meine Prozession durchs Treppenhaus antrat. Zwar war ich gerade erst nach Hause gekommen, aber was hieß unter diesen Umständen schon zu Hause, auf alle Fälle nicht unsere Wohnung.

Mein Ziel war der kleine Garten hinterm Haus, aber dazu musste ich erst mal unbemerkt an Olafs Wohnungstür vorbeikommen. Obwohl ich seine Wohnung erst vor einer halben Stunde verlassen hatte, war ich mir sicher, dass seine Kraft, allein zu sein, bereits wieder aufgebraucht war. Und so war es dann auch: Kaum hatte ich die erste Stufe betreten, hörte ich, wie unten in seiner Wohnung der Fernseher ausging. Und mit jedem Schritt, den ich die Treppe hinunterging, machte er einen Schritt auf seine Wohnungstür zu, ein unsichtbares Ballett, das wir nun schon seit Jahren aufführten, genauer gesagt seit dem Tag, an dem er in dieses Haus gezogen war. Nur dass ein Ballett eigentlich kein Wettkampf war, unser Tanz aber schon, wenn auch ein unausgesprochener. Wenn er mich abfing, hatte er gewonnen – mindestens ein Bier mit mir in seiner Wohnung –, wenn es mir gelang, mich an seiner Wohnungstür vorbeizuschleichen, ich, nämlich meine Ruhe. Aber darauf wollte ich es diesmal gar nicht erst ankommen lassen. Wenige Schritte vor seiner Wohnungstür machte ich im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Absatz kehrt und ließ mich einfach auf der nächstbesten Stufe nieder. Natürlich hätte er jetzt aus seiner Wohnung herauskommen können, aber dann hätte er zugeben müssen, dass er mir auflauerte, und auch wenn Olaf seit mehr als zehn Jahren arbeitslos war, diesen Reststolz hatte er sich bewahrt. Nicht dass ich Angst gehabt hätte, dass er mir die Fleischwurst aufaß, aber es gab Situationen, da wollte ich einfach allein sein.

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Prolog

Steht ein Mann in voller BVB-Montur – kurze Hose, Trikot, Stutzen – auf einem Acker am Rande eines Dorfes und beschmiert sich von oben bis unten mit Erde. Kommt eine Frau mit ihrem Sohn an der Hand vorbei. Fragt der Junge: »Mama, was macht der Mann da?« Sagt der Mann: »Den letzten Dreck.«