Bindungstraumatisierungen bei Kindern und Jugendlichen - Nicole Vliegen - E-Book

Bindungstraumatisierungen bei Kindern und Jugendlichen E-Book

Nicole Vliegen

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Beschreibung

Kinder und Jugendliche, die von ihren frühen Bindungspersonen traumatisiert worden sind, erleben Beziehungen als bedrohlich und fragil. Wer im späteren Leben dieser Kinder für sie sorgt und ihnen neue Bindungsmöglichkeiten bietet, wird mit den weitreichenden Auswirkungen des frühen Bindungstraumas konfrontiert: Regulierungs- und Bindungsprobleme, negative Bilder vom Selbst und von Anderen, Symbolisierungs- und Verarbeitungsprobleme und Identitätsverwirrung. Das vorliegende Buch gibt mit Beispielen aus einer traumasensiblen Therapiepraxis wertvolle Anregungen, wie man in neuen Bindungssituationen mit diesen Verletzungen umgehen kann. Pflege- und Adoptiveltern, Pädagogen, Lehrer, Erzieher, Psychotherapeuten sowie andere Begleitpersonen finden in diesem Buch wichtige Perspektiven und Handlungsempfehlungen für die Betreuung dieser Kinder.

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Die Autor*innen

Prof. Dr. Nicole Vliegen ist als psychodynamisch ausgerichtete Kinderpsychotherapeutin im Arbeitsbereich Klinische Psychologie der Universität Leuven tätig. Sie lehrt an der Universität Leuven im Bereich der psychoanalytischen Therapie und ist akademische Leiterin der postgradualen Ausbildung für psychoanalytische Kinder- und Jugendtherapeut*innen sowie akademisch Verantwortliche der Kinder- und Jugendtherapie am universitären Praxiszentrum ›Praxis P‹ in Leuven. Sie ist Leiterin des Forschungsprogramms zu komplexen Traumata und Bindungstraumatisierungen bei Pflege- und Adoptivkindern und des Ausbildungsinstituts RINO-Flandern, mit dem Fokus auf die psychische Gesundheit in der frühen Kindheit.

Prof. Dr. Eileen Tang ist Postdoc im Arbeitsbereich Klinische Psychologie der Universität Leuven. In ihrer Forschung widmet sie sich der Entwicklung von Pflege- und Adoptivkindern mit komplexen Traumatisierungen. Als psychoanalytische Psychotherapeutin ist sie im Therapiezentrum Praxis P der Fakultät Psychologie und Pädagogische Wissenschaften der Universität Leuven wirksam und lehrt überdies psychodynamische Psychotherapie an der Fakultät der Psychologie und Erziehungswissenschaften der Freien Universität Brüssel.

Prof. Dr. Patrick Meurs ist Direktor am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt/Main. Hier leitet er die Forschung zu Prozessen und Effekten der psychoanalytischen Kindertherapie und zur Entwicklung von Kindern und Jugendlichen mit Migrations- oder Fluchthintergrund. Er ist Leiter der Fachgruppe Psychoanalyse der Universität Kassel und lehrt am Institut für Erziehungswissenschaften psychoanalytische Entwicklungspsychologie und Kinderpsychotherapie. Zudem ist er akademischer Verantwortlicher für psychoanalytische Ausbildungen in Kassel und Leuven und praktizierender psychoanalytischer Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche. Er ist auch Mitglied des Scientific Board des Frankfurter IDeA-Zentrums (Individual Development and Adaptive Education of Children at Risk).

Nicole Vliegen/Eileen Tang/Patrick Meurs

Bindungstraumatisierungen bei Kindern und Jugendlichen

Ein Leitfaden für Betreuungspersonen

Übersetzt von Corinna Poholski/ Constanze Rickmeyer/Judith Lebiger-Vogel

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

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Aus dem Flämischen übersetzt von: Corinna Poholski, Constanze Rickmeyer und Judith Lebiger-Vogel

Flämische Originalausgabe:Van kwetsuur naar litteken. Hulpverlening aan kinderen met complex trauma.

Alle Rechte vorbehalten

© 2017 Nicole Vliegen, Eileen Tang, Patrick Meurs

Illustrationen: Mark Borgions

Für die deutschsprachige Ausgabe:

1. Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-037186-6

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-037187-3

epub:     ISBN 978-3-17-037188-0

mobi:     ISBN 978-3-17-037189-7

 

Inhalt

 

 

 

Vorwort von Dr. phil. Marianne Rauwald

Vorwort der Autor*innen zur deutschen Version

Vorwort von Dr. med. Peter Adriaenssens

Danksagung der Autor*innen und Anerkennung

Einleitung

Entwicklung im Schatten eines komplexen Traumas

Einleitung

1   Außergewöhnliche Kinder, außergewöhnlicher Versorgungsbedarf

1.1   Jedes Kind ist anders

1.2   Kinder mit Gebrauchsanweisung

1.3   Über das frühe Trauma nachdenken können und dürfen

1.4   Definition der Traumatisierung

1.5   Die komplexe Traumatisierung

1.6   Von der Verletzung zur Narbe

2   Ein kurzer Einblick in die Entwicklungspsychologie

2.1   Ein von Fürsorge abhängiges und sozial orientiertes Kleinkind

2.2   Von der gemeinsamen Regulierung am Anfang des Lebens zur späteren Selbstregulierung

2.3   Der Aufbau von Erinnerungen und dem Gefühl einer eigenen Lebensgeschichte

2.4   Was passiert, wenn Kinder nicht beruhigt und getröstet werden?

2.5   Die Bedeutsamkeit davon, den Kontakt wieder herzustellen

2.6   Komplexes Trauma: Ein Rucksack voll überwältigender Erlebnisse

2.7   Wie frühe Stresserfahrungen die Gehirnentwicklung beeinflussen

2.8   Jedes Kind ist einzigartig: Die Symphonie der Entwicklung eines Kindes

3   Die Relevanz der Bindungsentwicklung für den Aufbau der Persönlichkeit

3.1   Von der Regulierung bis zur Bindung

3.2   Bindungsentwicklung als ein lebenslanger Prozess von Wachstum und Reifung

3.3   Die versorgende Person: Von einer sicheren Basis zum Hafen, der Erholung bietet

3.4   Eine sichere Bindungsbeziehung als Grundlage für eine gesunde emotionale Entwicklung

3.5   Bindung im Kontext eines komplexen Traumas: Entwurf einer inneren Welt voller Angst und Misstrauen

3.6   Eine neue Landkarte?

4   Notwendigkeit reflektierender und haltender Eltern und Umgebungen

4.1   Über die eigene Innenwelt nachzudenken, wird innerhalb einer »normalen« Familienkonstellation erlernt

4.2   Mentalisierung: ein Psy-Wort für den sorgsamen Umgang mit Kindern

4.3   Eltern wird man ohne Ausbildung oder Gebrauchs- anweisung: Auf der Suche nach einem Kompass

4.4   Ein Kind findet sich in den Spiegeln, die versorgende Personen ihm vorhalten

4.5   Kinder mit einem komplexen Trauma sind schwerer zu lesen

4.6   Die elterliche Mentalisierung unter Druck

4.7   Wie hält man als Eltern dann im Sturm noch den Kurs?

4.8   »Außergewöhnlich gute Eltern« gesucht: Verletzte Kinder benötigen Eltern mit besonders ausgeprägten Reflexions- fähigkeiten

4.9   It takes (more than) a village to raise a child (with complex trauma): Ein traumasensitiver Kontext für Eltern

4.10 Traumasensible Hilfestellung

Behandlung: Von der Verletzung zur Narbe

Einleitung

Ein Beratungsrahmen, ein dreiteiliges Angebot

Kinderpsychotherapie im Therapiezimmer: spielen, malen und erzählen

Was Psychotherapie bei Kindern mit einem komplexen Trauma bedeutet

5   Das Spielzimmer als Ort des sich Wiederfindens

5.1   Spielen, Malen und Erzählen bei Kindern mit einem komplexen Trauma

5.2   Narrative Entwicklung: die ersten Geschichten im Leben sind »Co-Constructions« (gemeinsame Konstruktionen)

5.3   Wenn die bisherigen Erfahrungen zu intensiv sind und zu früh auftreten, um in Worte gefasst zu werden

5.4   Traumatrigger: Traumaspuren als Störsender beim Spielen, im Verhalten und in der Kommunikation

5.5   Spielen ist wichtig, um zu wachsen und zu verarbeiten

5.6   Auf der Suche nach Wörtern und Bildern

5.7   Eine Schublade, eine Schachtel und ein Zeichenblock als »Container« für Erfahrungen

5.8   Regisseur der eigenen Geschichte werden: Das Spielen und Erzählen als Wiederholen, Meistern und ›In-den-Griff- bekommen‹

5.9   Gemeinsam Sprache und Bilder für Erfahrungen in der Psychotherapie finden

5.10 Zum Abschluss dieses Kapitels

6   Von der emotionalen Achterbahnfahrt zu neuen Erfahrungen der Regulierung

6.1   Das Regulationssystem von Kindern mit einem komplexen Trauma: Eine Innenwelt, die schnell dereguliert ist

6.2   Hypervigilanz und erhöhte Stressempfindlichkeit: Die biopsychosoziale Falle

6.3   Das Kontinuum der Erregung bei Kindern mit einem komplexen Trauma

6.4   Traumatrigger – Reize, die an das Trauma erinnern

6.5   Erste Hilfe bei Störungen: Co-regulierende Erwachsene, die tief durchatmen und ruhig nachdenken

6.6   Bilder, Worte und Sprache als Grundlage für Regulierung und Kontrolle

6.7   Vom »Eigenbrötler« bis zum »Ausflippen«: Metaphern, die helfen, sich selbst zu verstehen

6.8   Über Löwen, Rehe und Kaninchen: Die Beute eines primitiven fight-, flight- oder freeze-Modus

6.9   Wiederherstellung des Körpervertrauens

6.10 »Stop and rewind«: Von fight, flight und freeze zum gemeinsamen Spielen, Sprechen und Nachdenken

6.11 Abschließend

7   Inseln des Vertrauens in einer Erfahrungswelt unzuverlässiger Versorgung

7.1   Komplexes Trauma ist auch ein »Bindungstrauma«: Eine innere Welt, die auf einem grundlegenden Gefühl des Misstrauens beruht

7.2   Internale Arbeitsmodelle: Ein »Skript« für Beziehungen – eine Landkarte der sozialen Welt

7.3   Das Spielzimmer als Labor für soziale und emotionale Erfahrungen/Entwicklung

7.4   Brückentester: Die Kraft von und der ewige Kampf mit einer tief verwurzelten Verlassensangst

7.5   Intermezzo

7.6   The witching hour: Gelegentlich überwältigt von grausigen »Hexen«-Gefühlen gegenüber anderen

7.7   »Gespensterstunde-Erfahrungen im Kleinen«

7.8   Außen wütend, Innen zerbrechlich: Wutanfälle als Tarnung der Angst

7.9   Sich verstecken, um gefunden zu werden: Erstes vorsichtiges Vertrauen

7.10 Im Spielzimmer noch mehr Wechselseitigkeit und Vertrauen üben

7.11 Zum Abschluss des 7. Kapitels

8   Ein Selbstnarrativ aufbauen und sich in neuen sozialen Beziehungen engagieren als Fundament der eigenen Identität

8.1   Das komplexe Trauma, der Bindungsabbruch und die Identitätsentwicklung: In einem Labyrinth aus schwierigen Erfahrungen kann man sich auch selbst verlieren

8.2   Eine betäubte Innenwelt: Niemand weiß, wie lange Sprösslinge auf Regen warten können

8.3   Die Quelle der Vitalität anbohren und den Keim unter einer Kappe schützen

8.4   Verliert man sich selbst, verliert man den inneren Kompass

8.5   Kollidieren mit neuen Bezugspersonen und Konflikte suchen, um ein Selbstgefühl neu aufzubauen und Keime eines inneren Kompasses (wieder) zu finden

8.6   Identitätsentwicklung: Schrittweise ein neues Narrativ mit verschiedenen Versionen oder Kapiteln des Selbst entwickeln

8.7   Eine Lebensgeschichte mit Lücken, Sprüngen und Inkonsistenzen

8.8   Trauer und Verlust betrifft mehr als nur eine versorgende Person

8.9   Die unvermeidlichen Seelennarben als Teil des Selbst akzeptieren

8.10 Zum Abschluss

Als Fazit: Ein Zehn-Punkte-Programm für eine traumasensible Gesellschaft

Literatur

 

Vorwort von Dr. phil. Marianne Rauwald

 

 

 

Seit Erscheinen des DSM-5 haben wir die Möglichkeit, auch komplexe Verläufe einer Posttraumatischen Belastungsstörung zu diagnostizieren, die in Erwartung stehende ICD-11 wird die Diagnose einer Komplexen Traumatisierung als eigene Einheit aufnehmen und so der Erfahrung Rechnung tragen, dass gerade frühe und wiederholte im Bindungskontext erfahrene traumatische Erlebnisse bei den betroffenen Kinder langfristig kognitive, affektive und psychosoziale Beeinträchtigungen in unterschiedlicher Weise und Ausprägung bedingen können. Kinder, die häufig in ihrer nächsten Umgebung, in ihrer Familie, dort, wo sie Halt, Schutz und Geborgenheit erfahren sollten, zutiefst verletzt wurden, erfahren nahe Bindungen als Ort oft permanent drohender Gefahr, vor der es kaum einen Schutz gibt. Sie reagieren darauf abhängig von Alter und individuellen Faktoren sehr unterschiedlich mit aggressivem Verhalten, Rückzug und depressiver Entwicklung oder auch mit nach außen gezeigter auffälliger Unauffälligkeit, dies oft zum Schutz ihrer Eltern.

Kinderschutz und Jugendhilfe haben sich zur Aufgabe gemacht, Kindern in Not, Kindern, die in ihren Herkunftsfamilien unerträgliche Erfahrungen machen mussten, zu helfen. Mit Angeboten der ambulanten Hilfen versuchen sie, gefährdeten Kindern wie auch solchen, die bereits Beeinträchtigungen in ihrer bisherigen bio-psycho-sozialen Entwicklung erfahren mussten, zu helfen. In anderen Fällen kommt es zu einer Herausnahme und stationären Unterbringung betroffener Kinder in Einrichtungen, Wohngruppen oder auch Pflege- und Adoptivfamilien. Es besteht die Hoffnung, dass Kinder in dieser neuen Umgebung nun die Voraussetzung für eine gesunde und freie Entwicklung erfahren.

Immer wieder jedoch kommt es auch unter den neuen Lebensbedingungen zu schwierigen Entwicklungen und Situationen, die gerade die betreuenden Adoptiv- oder Pflegeeltern vor große Herausforderungen stellen und sie oft bis an die Belastungsgrenze bringen. Manchmal scheint schon eine Eingewöhnung schwierig, häufiger treten Konflikte und Verhaltensauffälligkeiten erst nach Monaten oder Jahren auf. Gerade Entwicklungskrisen wie Pubertät und Adoleszenz stellen für einige diese Kinder risikobehaftete Schritte dar und gehen oft mit aufwühlenden Erfahrungen einher – für sie selbst ebenso wie für ihre nahe Umgebung. Manchmal zeigen Kinder und Jugendliche dieses herausfordernde Verhalten hauptsächlich in den Familien, in denen es zu unerträglichen Streitigkeiten und zunehmend gegenseitigem Misstrauen und beiderseitigen Vorwürfen kommt, während die Schule oder die soziale Umgebung weiterhin freundliche, interessierte und aufgeschlossene jungen Menschen wahrnimmt. Bisweilen scheinen betroffene Kinder und Jugendliche nach einem hoffnungsvollen Start alle Brücken hinter sich abbrechen zu wollen und sich – kaum erreichbar für ihre Familien – über autoaggressive oder dissoziale Tendenzen einer positiven Entwicklung zu verschließen. Neben dem so ausgedrückten Leid der Kinder gehen derartige Entwicklungen für ihre Eltern bzw. Betreuungspersonen mit gravierenden Enttäuschungen, Verunsicherungen und häufig mit schwer aushaltbaren Schuld- und Versagensgefühlen einher. Eltern ebenso wie das professionelle Hilfesystem stehen dann oft ratlos einer destruktiv erlebten Entwicklung gegenüber, die hilfreiche Angebote auszuhebeln scheint und die Helfer hilflos zurückzulassen scheint.

Das vorliegende Buch zeigt, dass die Autor*innen bereits lange aus ihrer praktischen Arbeit und aus der begleitenden Forschung heraus die besondere Entwicklung von Kindern, die früh im Leben unter traumatischen Bedingungen aufwachsen mussten, in den Fokus ihrer Aufmerksamkeit gestellt haben. Im Zentrum ihres Verständnisses, das sie vor allem in der intensiven gemeinsamen therapeutischen Arbeit mit betroffenen Kindern und ihren Bezugspersonen entwickelt haben, stehen die belasteten Bindungserfahrungen dieser Kinder, die alle zumindest einen, oft mehrere Bindungsabbrüche erlebt haben. Es sind gerade diese erlebten Bindungsabbrüche, die als tiefe Erschütterung kindlichen Vertrauens und überdauernde Verunsicherung ihres Selbstverständnisses und Selbstgefühls verinnerlicht werden und in kritischen Momenten immer wieder neu aktiviert werden.

Lebendig und einfühlsam vermittelt der vorliegende Band anhand zahlreicher Vignetten und Erfahrungen aus kindertherapeutischen Behandlungen wie über ein genaues und einfühlsames Zuhören und eine zuverlässige Begleitung ihrer jungen Klient*innen sowie über offene und vertrauensvolle Gespräche mit ihren aktuellen Bezugspersonen, wie Pflege- oder Adoptiveltern aber auch Betreuer*innen in Hilfeeinrichtungen, ein vertieftes Verständnis des Erlebens, der Sorgen und Verhaltensweisen betroffener Kinder und Jugendlicher möglich wird. Anhand ihrer Erfahrungen aus der therapeutischen Begleitung betroffener Familien verdeutlichen die Autor*innen, wie die erlebten frühen Verletzungen dieser Kinder und Jugendlichen, die oft jenseits eines sprachlichen Zugangs tief in der sich entwickelnden kindlichen Persönlichkeit verankert sind, von hier aus die weitere Entwicklung und besonders das weitere Beziehungserleben nachhaltig beeinflussen. Die weitreichenden Folgen früh erlebter Erfahrungen von fehlender emotionaler Verfügbarkeit, grenzüberschreitendem Verhalten, Missbrauch oder Vernachlässigung äußern sich dann oftmals in überdauernden Schwierigkeiten der Emotionsregulierung, des Selbstgefühls, der Identitätsentwicklung und vor allem auch in ihrem späteren Bindungsverhalten.

Die Autor*innen des vorliegenden Bands machen deutlich, wie sehr gerade in diesen Krisen die früh erlebten traumatischen Bindungserfahrungen und vor allem Bindungsabbrüche neu inszeniert werden. Sie öffnen einen Blick in die Welt dieser früh verletzten Kinder und zeigen, wie über ein traumasensibles Verständnis der Verhaltens- und Erlebensweisen ein neuer Zugang zu Kindern und Jugendlichen möglich wird. Sie geben Eltern, Pflege- und Adoptiveltern, Begleitpersonen, Erzieher*innen, Pflegediensten, und auch Pädagog*innen und Therapeut*innen Hilfen an die Hand, mit den Herausforderungen, die das frühe Schicksal der in ihrer Obhut aufwachsenden Kinder und Jugendlichen an sie stellt, umzugehen.

Ich wünsche allen Lesern, vor allem den Eltern, Pflege- und Adoptiveltern und Betreuer*innen unter ihnen, die in ihrem Alltag und Zusammenleben mit betroffenen Kindern, täglich die Herausforderungen meistern müssen, die in den frühen Verletzungen der Kinder ihre Wurzeln haben, dass sie beim Lesen über ein vertieftes Verständnis der inneren Welt ihrer Kinder in ihrem Optimismus und ihrer Hoffnung, dass die neue Stabilität, Sicherheit und Liebe, die sie diesen Kindern geben, eine heilsame Wirkung zeigen wird, bestärkt werden.

Marianne Rauwald

Dr. Phil. Dipl.-Psychologin, Psychoanalytikerin;

Leiterin des Instituts für Trauma-Bearbeitung und Weiterbildung,

Frankfurt-am-Main

 

Vorwort der Autor*innen zur deutschen Version

 

 

 

In der internationalen Traumaliteratur unterscheidet man man-made und nature-made Traumata, wobei innerhalb der man-made Traumata Traumatisierungen durch die meist nahen Bindungspersonen eine besondere Position eingeräumt worden ist. Wenn traumatische Erfahrungen im sehr jungen Alter und innerhalb des engsten Fürsorgekontexts des Kindes auftreten, spricht man von komplexen Traumatisierungen (Herman, 1992; Solomon & Heide, 1999; Weinberg, 2005 und 2010; Zorzi, 2019), Entwicklungstraumatisierungen (van der Kolk, 2005; Garbe, 2015; siehe auch: Schmid, Petermann & Fegert, 2013) oder Bindungstraumatisierungen (Osofsky, 2004; Brisch, 2012 und 2016). Diese Traumatisierungen können in bestimmten Fällen lange andauern und aus einem Zusammenwirken von Vernachlässigung, Gewalt und Missbrauch entstehen. Nicht selten führen sie auch zu einer zeitlichen Unterbrechung oder einem endgültigen Abbruch der frühesten Bindungsbeziehungen. Aufgrund der enormen Komplexität dieser Traumatisierungen und/oder deren Potenzial, in neuen Bindungssituationen ›nachträglich‹ re-inszeniert zu werden, spricht man in der Psychotraumatologie von einer ›mehrfach komplexen Traumatisierung‹ (multiple complex trauma, van der Kolk, 2005).

In der deutschsprachigen Fachliteratur haben die Richtungen der Psychotraumatologie und der Bindungsforschung in den letzten Jahren näher zueinandergefunden (siehe: Brisch & Hellbrügge, 2003; Brisch, 2016). Die trauma-therapeutische Perspektive ist u. a. von Weinberg (2005, 2010, 2015) und Rauwald (2013) ausgearbeitet worden. Auch der Prävention dieser Traumata in der Eltern-Kind-Beziehung oder der Prävention der intergenerationalen Weitergabe von Bindungstraumatisierungen wurde bereits mehrfach Aufmerksamkeit gewidmet (siehe u. a. Franz & West-Leuer, 2008; Quindeau & Rauwald, 2016; Leuzinger-Bohleber & Lebiger-Vogel, 2016). Unter anderem hat die entwicklungsneurologische und -psychologische Forschung zu den Effekten von frühkindlichen Traumatisierungen deutlich hervorgebracht, wie wichtig die Trias ›Traumaforschung und -therapie‹, ›Bindungsforschung und bindungsorientierte Therapie‹, ›Entwicklungstrauma und entwicklungsorientierte Kindertherapie‹ ist und wie eng diese drei Forschungs- und Praxisfelder verknüpft sind (siehe u. a. Krüger & Reddemann, 2004; Brisch, 2016; Wöller, 2016).

Mit dem vorliegenden Buch widmen wir der bedeutenden Teilperspektive der Fürsorge für komplex traumatisierte Kinder besondere Aufmerksamkeit. In der Betreuung von neuen Bindungspersonen wie z. B. Pflege- oder Adoptiveltern oder Betreuer*innen in Heimen, Schulen, Jugendvereinen, Initiativen des ›begleiteten selbstständigen Wohnens‹, usw. bemerken wir, wie konflikthaft die Betreuung dieser komplex traumatisierten Kinder sein kann. Immerhin besteht das Risiko, das neue Bindungsbeziehungen, die diesen Kindern wichtige Entwicklungschancen bieten, erneut unter enormen Druck geraten und abgebrochen werden müssen. Die Begleitung der neuen Bindungspersonen von komplex traumatisierten Kindern stand bis heute weniger im Fokus. Bisher behandelten die Publikationen zum Thema komplexes Trauma oder Bindungstrauma in besonderer Weise das schmerzvolle Schicksal dieser Kinder oder die Besonderheiten dieser children-at-risk. Später ist dann die Zerrüttung oder der Abbruch der Bindung und das Entwicklungstrauma, das damit einhergehen kann, beschrieben worden. Beforscht wurden auch die Eltern, die als primäre Bindungspersonen zu Täter*innen geworden sind (Brisch, 2016). In der (system)therapeutischen Literatur wurde beschrieben, wie man nach einem komplexen Trauma mit den ›Eltern, die Täter*innen geworden waren‹ arbeiten kann, damit die elterliche Position besser hergestellt werden kann (siehe: Sells & Souder, 2018). Aber schrittweise wurde auch deutlich, dass die Therapeut*innen dieser komplex traumatisierten Kindern immer mehr mit den neuen Bindungspersonen arbeiten mussten (Pflege- und Adoptiveltern) und dass die Traumadynamik auch die Erzieher*innen, Lehrer*innen, Sozialarbeiter*innen und andere Betreuer*innen in Pflegeeinrichtungen erreichte. So wurde deutlich, dass es eines Leitfadens bedarf, der die neuen Bindungspersonen und Hilfeleistenden hinsichtlich eines traumasensiblen Umgangs mit diesen Kindern unterstützt. Ohne Leitfaden geraten diese Betreuer*innen allzu oft in eine Pattsituation mit diesen Kindern. Im vorliegenden Buch wird die Quintessenz einer traumasensiblen Betreuung dieser Kinder in (Pflege-)Familien, Heimen, Schulen, Therapien und Gesellschaft verdeutlicht. Das ist aktuell ein wichtiges Thema, weil zu den bindungstraumatisierten Kindern nicht nur die ›klassischen‹ Pflege- und Adoptivkinder zählen, sondern auch eine Untergruppe von geflüchteten Kindern und Minderjährigen (Rauwald, 2013 und 2016). Wie kann man im Schatten des Bindungstraumas und der Bindungsabbrüche diese Kinder und Jugendliche betreuen? In unserem Buch verdeutlichen wir, was ein traumasensibler Umgang mit Kindern und Jugendlichen beinhaltet; wir beschreiben Hintergründe dieser traumasensiblen Arbeit sowie Perspektiven auf und Handlungsempfehlungen für die Betreuung.

Bei einer Fremdunterbringung oder in verschiedenen Formen der Pflegefürsorge können bindungstraumatisierte Kinder vor den Folgen ihrer early adversity geschützt werden. Jedoch ist damit die Wirkung des Bindungstraumas nicht aufgehoben, da diese Kinder ihre traumatisierende Bindungsgeschichte in sich bzw. in ihr körperliches, persönliches und relationales Funktionieren aufgenommen haben. Bei einer Teilgruppe der bindungstraumatisierten Kinder besteht das Risiko, dass das erlebte Trauma in der Pflege- oder Adoptivfamilie reaktiviert oder re-inszeniert wird, was dann zu einer neuen potenziellen Bruchlinie innerhalb eines vielversprechenden neuen Kontextes führen kann. Pflege- oder Adoptiveltern, aber auch Lehrkräfte, Familienbegleiter*innen, Erzieher*innen und andere Betreuer*innen werden in dem Moment auf eine harte Probe gestellt, sobald sie die unerträglichsten Anteile der Traumata dieser Kinder sowie ihr Misstrauen zu spüren bekommen. Manche Betreuer*innen fühlen sich dann zu einer Gegenreaktion getrieben, wodurch das bindungstraumatisierte Kind sich vernachlässigt, abgewiesen oder verlassen fühlt und die befürchtete Wiederholung des Traumas sich zu realisieren scheint. Andere Betreuer*innen werden ratlos und fühlen sich in dieser Traumadynamik gefangen, worauf sie nicht vorbereitet waren. Diese Traumadynamik ist manchmal so ausgeprägt, dass die Betreuer*innen sehr stark betroffen sind und nicht selten einem Burn-out nahekommen, was die Bedeutsamkeit einer indirekten oder sekundären Traumatisierung (Keilson, 1979) hervorhebt.

Die Autor*innen, die dieses Buch konzipiert haben, sind berufsbedingt in Deutschland und Belgien tätig. Der Hintergrund, vor dem sie das Verhalten und die kognitiven Schwierigkeiten der früh bindungstraumatisierten Kinder betrachten, ist psychodynamisch. Frühe Bindungstraumatisierungen beeinflussen neuropsychologische Reaktionsmuster und implizite unbewusste Vorstellungen von Beziehungen. Sowohl auf neuropsychologischer sowie psychodynamischer Ebene hat sich das frühe Trauma tief eingeprägt. Das Trauma kann sich folglich in einer neuen Bindungssituation manifestieren, da mit einem verzweifelten Versuch, etwas vom Trauma zu kommunizieren, das Risiko einhergeht, die neuen Beziehungen mit der waltenden Dynamik unter Druck zu setzen und in bestimmten Fällen ein neuer Abbruch der Bindung droht.

Obwohl das frühe Bindungstrauma chronologisch vorbei ist und der Vergangenheit angehört, lebt es dynamisch aktiv weiter im Unbewussten, in tief eingeschliffenen Stressreaktionen und verzeichneten Bindungsrepräsentanzen, deren Wirkung außerhalb der Möglichkeiten der Regulierung und kognitiver Kontrolle dieser Kinder besteht. In diesem Zustand sind diese Kinder für ein neues entwicklungsförderndes Angebot nicht gut erreichbar. Aus unserer psychodynamischen Perspektive beschreiben wir, wie diese Kinder neue Regulierungsfähigkeiten lernen können, wie sie ein Narrativ aufbauen, das ihnen mehr Chancen bietet, ihre Mentalisierungsfähigkeiten zu vergrößern, und wie sie im Spielen und Sprechen im Therapiezimmer an ihrem Selbstwert und Identitätsgefühl arbeiten können. Regulierung, bindungsorientierter Beziehungsaufbau, Identitätsbildung, und sich in symbolisierender Körperarbeit, im Symbolspiel, im Gespräch und während des Geschichtenerzählens ausdrücken zu lernen, werden in dieses Buch als therapeutische Ziele beschrieben. Dieses Buch ist ein Buch zu komplex traumatisierten Kindern, jedoch ist es geschrieben für deren Sorgepersonen, Betreuer*innen und Netzwerke.

Eine zentrale Dynamik bestimmter bindungstraumatisierter Kinder ist die des Rückzugs bzw. des auf Distanz-Bleibens, um sich vor neuen Bindungstraumatisierungen schützen zu können. Diese Kinder können in einer neuen Pflegesituation unerreichbar erscheinen und lassen sich nicht selten nur schwer dazu aktivieren bzw. motivieren, Beziehungen einzugehen. Wenn sie letztendlich in Beziehung treten und eine neue Bindung entstehen könnte, sind sie schon bald überaktiviert, übererregt; es wird ihnen zu viel. Diese raschen Verschiebungen zwischen ›zu weit weg‹ und ›zu nah‹, ›zu wenig‹ und ›zu viel aktiviert‹, deuten darauf hin, dass ›der wirksame Rahmen‹ dieser Kinder eher schmal ist (a small window of tolerance). Gerade deshalb gilt bei der Betreuung dieser Kinder die goldene Regel: first regulate, then relate, then reason! (Perry, 2016, in: Vliegen, Tang & Meurs, 2017). Beim Regulieren zu helfen, bedeutet, dass die Betreuer*innen für das Kind die Spannung einer neuen Bindung auf einem optimalen, jedoch schwierig zu bestimmendem Niveau halten. Nur auf dem optimalen, aber flüchtigen Niveau des Arousal wird es möglich, bei diesen Kindern anzuknüpfen und in Kontakt zu bleiben. Die Erwartungen, die mit neuen Bindungsbeziehungen einhergehen, die Vertiefung des Kontakts, die Besprechung von schwierigeren Aspekten der Beziehung und die Verarbeitung der schmerzhaften Vergangenheit wird nur möglich sein, wenn man beachtet, dass die Spannung immer in diesem schmalen Bereich des affektiv Erträglichen bleibt. Die Betreuer*innen dieser Kinder wissen, wie schwierig diese Aufgabe ist, gerade weil die mit Trauma verbundene Dynamik des Streits, des Rückzugs, des Abbrechens, der Unerreichbarkeit oder der Überforderung, des Masochismus, usw. das Kind sehr leicht aus dem schmalen optimalen Bereich des window of tolerance wirft. Unser Buch richtet sich an die mutigen Betreuer*innen, wie z. B. die Pflege- oder Adoptiveltern, die im Schatten der unsagbaren, undenkbaren, unvorstellbaren Bindungstraumata und Bruchlinien der ihnen anvertrauten Kinder arbeiten und dabei das Beste geben. Mit diesem spezifischen Fokus auf neue Bindungspersonen, Pflegeleistende und Betreuer*innen hoffen wir, die Autor*innen des vorliegenden Buches, eine Lücke in der bindungsorientierten Traumaliteratur zu schließen.

Mit unserem Buch schließen wir außerdem an eine wachsende Aufmerksamkeit in der internationalen Fachliteratur für das Thema multiple complex trauma, breakdown of attachment relationships, looked- after and adopted children (LAAC), foster care after attachment trauma, children at risk, children with early adversity an, die sowohl in der psychoanalytischen Literatur (z. B. Mortensen & Grünbaum, 2010; Lanyado, 2010, 2013 und 2019) als auch in der breiteren klinisch-psychologischen Literatur (z. B. Cooper & Redfern, 2016; de Thierry, 2017; Hughes, Golding & Hudson, 2017; Gordon, 2018; McLean, 2019; Saint Arnauld & Sinha, 2019; Naish, Dillon & Mitchell, 2020; Norris & Rodwell, 2020; Rocha et al., 2020; Jones, 2021) und in der Therapieforschung zur seelischer Entwicklung von Kindern und Jugendlichen nach frühen stressvollen Lebenserfahrungen (z. B. Grünbaum & Mortensen, 2018) deutlich wird. In dieser Perspektive kann auch das Leipziger Forschungsprojekt AMIS / AMIS II (Leitung: von Klitzing und White, ab 2012): Analysing pathways from childhood maltreatment to internalizing symptoms and disorders in children and adolescents) erwähnt werden, genau wie die Forschungsprojekte des Frankfurter Sigmund-Freud-Instituts in Zusammenarbeit mit dem IDeA-Zentrum: BAPAS – Bindungstrauma bei Adoptiv- und Pflegekindern: Eine psychoanalytische Therapiestudie (Lebiger-Vogel, Rickmeyer & Meurs, 2020) und MUKI – ›Mutige Kinder‹: Untersuchung emotionaler Erwartungs- und Bewertungsprozesse bei komplex traumatisierte Kindern im Alter von 8 bis 12 Jahren (Hug, Fischmann & Meurs, 2019). Diese deutschen Studien schließen sich gleichartigen Projekten in anderen Ländern an, so wie am University College London (Child Psychotherapy with looked after and adopted children, von: Robinson, Luyten & Midgley, 2021), am Yale Child Study Center (Developing more resilience in children after life-diminishing hardship, Mayes, 2019), und die seit 2008 in Belgien durchgeführte Leuven Adoption Study (Casalin et al., 2011; Luyten et al., 2020; Nijssens, et al., 2020; Malcorps, Vliegen et al., 2021).

 

Vorwort von Dr. med. Peter Adriaenssens

 

 

 

In den vergangenen Jahren wurden erhebliche Fortschritte im Bereich der Forschung und Behandlung komplexer Traumata erzielt. In diesem Buch wurden viele dieser neuen Erkenntnisse in einer sich integrierenden Perspektive zusammengeführt, wobei der Schwerpunkt auf Adoptiv- und Pflegekindern liegt, die oftmals vielfältige traumatische Erfahrungen in Form von bedrohten oder abgebrochenen Bindungsbeziehungen erlitten haben. Komplexe traumatische Belastungsstörungen stellen insofern eine große Herausforderung dar, als mit ihnen einhergehende klinische Symptome zu einer Vielzahl von Schwierigkeiten führen können, wie z. B. Traumatrigger, Bindungsdefizite, das Vermeiden von Augenkontakt, Hyperaktivität, pathologische und perverse Verhaltensweisen bis hin zu Suchtproblemen und Selbstverletzungen. Um betroffenen Kindern eine trauma-spezifische Betreuung oder Behandlung zur Verfügung stellen zu können, ist es wichtig, neuste Erkenntnisse zu bündeln und verständlich zu machen.

Die Autor*innen des Buches veranschaulichen, dass es sich beim Verstehen komplex traumatisierter Kinder nicht einfach um das Lösen eines intellektuellen oder kognitiven Puzzles handelt. Dass wir heute von einem komplexen Trauma als Dysfunktion sprechen, bei dem bestimmte biologische und psychologische Mechanismen versagen, ist ein erster und wichtiger Schritt im Verstehen der Entstehungsgeschichte traumatischer und stressbezogener Störungen. ›Shell shock‹, ›Combat Shock‹, ›Kriegsneurose‹: im zwanzigsten Jahrhundert wechselten die Begriffe, die die schwerwiegenden Auswirkungen von Gewalt, Missbrauch und Krieg darstellen sollten, einander ab. Nach dem Vietnamkrieg stellten Psychotherapeut*innen bei Soldaten nach ihrer Entlassung aus dem Militärdienst traumabezogene Symptome fest. Sie nannten dies das Post Vietnam Syndrom und verbanden es mit traumatischen Kriegserlebnissen. Weder die Militärverwaltung, noch die Krankenkassen teilten jedoch diese Einsicht. Für sie handelte es sich dabei um Störungen, die schon zuvor vorhanden gewesen wären und sich jetzt erst bemerkbar machen würden. Die Forschenden blieben jedoch bei ihren Erkenntnissen und verglichen die Erfahrungen der Soldaten mit traumatisierenden Erfahrungen von Überlebenden des Holocausts oder Opfern von Vergewaltigung. Dieselbe Debatte ist nun im Zusammenhang mit Traumatisierungen bei Geflüchteten erneut entfacht: Auch ihre Symptome sind oftmals nicht nur auf die Erfahrungen vor der Flucht zurückzuführen. Nachdem man die verschiedenen Biografien auf Gemeinsamkeiten hin analysierte, erkannte man, dass das posttraumatische Belastungs-Syndrom (PTBS) eine universelle Antwort auf bedrohliche und überwältigende Ereignisse ist, die außerhalb normaler Lebenserfahrungen auftreten und innerpsychisch nicht zu bewältigen sind. Während man zuerst annahm, dass das PTBS nur bei einer geringen Anzahl von Personen auftritt, beschrieben Forscher*innen und Therapeut*innen ein klinisches Bild, das die herkömmlichen konkreten Beispiele und Situationen überstieg, sodass das PTBS von da dann als objektive Tatsache anerkannt wurde. Ein komplexes Trauma schreibt sich tief in den Entwicklungsverlauf ein. Es handelt sich dabei sowohl um einen beschreibenden als auch um einen erklärenden Begriff, der sich darauf bezieht, wie chronische traumatische Erfahrungen und/oder Verluste und Abbrüche in Bindungsbeziehungen, die oftmals bereits in jungen Jahren eintreffen und nicht bewältigt werden können, zu einem Spektrum an Symptomen führen können.

Personen mit einem Trauma konfrontieren uns mit schwierigen Begriffsbestimmungen: Was ist eine Tatsache, die man als Trauma ansehen kann? Welche Bedeutung trägt die Zeit im Lebenslauf? Liegt das Trauma nur in der Vergangenheit und wie kann man erklären, dass die Spuren des Traumas in neuen Bindungsbeziehungen von Pflege- und Adoptivkindern aktiviert oder reinszeniert werden können? Und was bedeutet die An- oder Abwesenheit eines Symptoms? In unserer Arbeit mit Adoptiv- und Pflegekindern stießen die Autor*innen dieses Buches auf verschiedene Schwierigkeiten: So haben die meisten traumatisierten Kinder in ihrer individuellen Lebensgeschichte einen Bindungsabbruch oder eine deutliche Bruchlinie in wichtigen Bindungsbeziehungen erlebt, ein schreckliches Erlebnis, das eingemauert oder abgespaltet worden ist, jedoch in dem Gesamtbild einen Platz finden muss. Die Autor*innen erkannten dies und wollen versuchen, das komplexe Thema so weit wie möglich zu ordnen und eine Übersicht zu geben. Ihre Offenheit gegenüber diesem komplizierten klinischen Bild entwickelte in ihnen eine Sensibilität für das Spezifische des komplexen Traumas des Kindes sowie für das Risiko, dass das ursprüngliche Trauma auch spätere bessere Beziehungen überschatten kann bzw. wiederholt wird und bei Pflegepersonen zu sekundären oder indirekten Traumatisierungen führen kann. Die Autor*innen gehen dabei auf schwierige und komplexe Fälle ein und zeigen damit auf, dass die spezifische Diagnose ›komplex Trauma‹ nicht länger als Fiktion der Psychotherapeut*innen abgetan und geringgeschätzt werden darf.

Das vorliegende Buch soll Bezugspersonen als Unterstützung dienen, verletzten Kindern und Jugendlichen zu begegnen, die oftmals unsichtbar bleiben oder missverstanden werden und demzufolge keine ausreichende Hilfe erhalten. Es ist nicht einfach, mit jemandem zusammenzuarbeiten, der misstrauisch ist, Widerstand gegenüber jedem Erwachsenen zeigt und nur unregelmäßig zu Terminen erscheint. Dieses Buch soll nicht nur Kliniker*innen/Therapeut*innen, sondern auch Pflegeeltern, Adoptiveltern und anderen Begleitpersonen in Pflegeheimen oder anderen familienvertretenden Organisationen eine solide Grundlage für die Arbeit mit komplex traumatisierten Kindern und Jugendlichen bieten, indem es Zusammenhänge zwischen Klinik und Forschung herstellt und einen aktuellen Überblick über die Neurobiologie des Traumas, die Bindungs- und Entwicklungspsychologie, die psychosozialen Mechanismen liefert und das, was heute im Kontext von Behandlungsmethoden gilt als evidenzbasiert, zur Diskussion stellt. Auf diese Weise beleuchtet das vorliegende Buch jenen Weg, der sich zwischen den als Hindernis darbietenden Bäumen hindurchschlängelt und zeigt, wie wichtig es ist, die Bäume vielmehr als Wegweiser für eine diagnostische Sichtweise anzuerkennen, die als Ankerpunkte für den Therapieprozess zu verstehen sind. Je mehr sich Berater*innen oder Therapeut*innen auf ein solides Fachwissen verlassen können, desto deutlicher können sie das Kind/den Jugendlichen einschätzen und folglich eine entsprechende Behandlung anbieten.

Es ist unsere Aufgabe, durch Fortschritte in der Beschreibung, Diagnose, Erklärung und Behandlung von Komplextraumatisierungen das Leiden, den Verlust an Fähigkeiten und den Verlust der Selbstregulierung zu begrenzen. Das ist es, was dieses Buch relevant macht. Zudem ist es wichtig, dass die Forschung deutlich zeigt, dass die Nutzung dieser Erkenntnisse das Potenzial hat, das Wiederauftreten eines Traumas zu vermeiden oder die Auswirkungen der traumabezogenen Schwierigkeiten im Leben zu mindern. Deshalb sollten Pflege- und Adoptiveltern, Erzieher*innen, Begleiter*innen und Psychotherapeut*innen den Inhalt dieses Buch kennen.

Letztendlich ist das Buch eine Hommage an viele Klient*innen, Pflege- und Adoptivkinder sowie deren Familien. Die Autor*innen wurden davon inspiriert, was sie von den Kindern gelernt haben und zwar insbesondere von der Erfahrung, dass sich Betroffene und ihre Pflege- und Adoptivfamilien von chronischen und den mehrfach traumatischen Erfahrungen der Vergangenheit erholen können und dass ihnen im Hier und Jetzt spezifische Hilfen bereitstehen.

Prof. Dr. Peter Adriaenssens

Psychiater für Kinder und Jugendliche;

Vertrauensarzt für Betroffene von Missbrauch, Misshandlung und

Traumatisierung

Universitätsklinik Gasthuisberg, Katholische Universität Leuven/Vertrauens- zentrum Kindermisshandlung

 

Danksagung der Autor*innen und Anerkennung

 

 

 

Unser größter Dank gilt allen Kindern, die es sich getraut haben, ihre verletzliche und verletzte Innenwelt zu zeigen und uns als Therapeut*innen daran teilhaben ließen, um uns mit ihnen innerhalb des Praxiszentrums PraxisP der Fakultät für Psychologie und Erziehungswissenschaften an der Universität Leuven (Belgien) auf einen gemeinsamen Weg zu begeben.

In diesem Buch werden die betroffenen Kinder Petra, Luke, Maya oder Veronika, usw. genannt. Diese Namen sind selbstverständlich nicht die wirklichen Namen der Kinder. Umso wirklicher sind jedoch die beschriebenen Schwierigkeiten und Entwicklungsprobleme, denen diese Kinder in ihrem Leben ausgesetzt waren. Wir haben von ihnen – durch Versuch und Irrtum – gelernt, unsere klinischen und theoretischen Fähigkeiten weiter zu verfeinern, bis sie zu dem wurden, was wir in diesem Buch zu ›komplexen Traumata und Bindungsabbrüchen‹ zusammenführen.

Unser Dank gilt gleichermaßen allen (Pflege- oder Adoptiv-)Eltern, die an diesem Projekt mitgewirkt haben: den Eltern, die uns konsultierten und uns die Möglichkeit gaben, sich an der Suche nach den oft sehr verletzlichen und schmerzhaften Themen zu beteiligen, mit denen sie in ihrer Elternschaft konfrontiert werden. Darüber hinaus sind es die Eltern, die Teile dieses Buches lasen, mit darüber nachdachten, auf Lücken oder Nuancen hinwiesen und Beispiele gaben. Für diese Kinder und ihre Eltern, aber auch für andere, die eine ähnliche Phase des Übergangs in ihrem Leben bewältigen, wurde dieses Buch geschrieben.

Vielen Dank auch an ›Christiana‹, die nach einem Artikel in der belgischen Zeitung »De Standaard« uns ein Stück Lebensgeschichte erzählt hat (Kap. 1) und somit auf die Langzeitfolgen von frühen Bindungsabbrüchen hinwies.

Ein großer Dank gilt auch unseren Kolleg*innen Kris Breesch, Anny Cooreman, Jos Corveleyn und Catherine Maes, die als enge und befreundete Kolleg*innen sowie Adoptiv- oder Pflegeeltern dem Projekt wertvolle Gedanken hinzugefügt haben. Wir danken auch Erik De Belie für seine konstruktiven Kommentare aus einer pädagogisch-psychotherapeutischen Perspektive.

Unser Dank gilt auch Stefanie Hesemans, die sich engagiert, den mit diesem Buch eingeschlagenen Weg fortzusetzen. Stefanie befragte Eltern und coachte Studierende beim Schreiben und Analysieren von Interviewdaten, sie las und kommentierte und hielt – sehr sorgfältig und gewissenhaft – viele wichtige Fäden zusammen. Lieve Van Lier hielt an unzähligen Ideen fest, um sicherzustellen, dass diese Arbeit die Form erhält, die sie jetzt hat.

Unser Dank gilt auch allen Kolleg*innen aus dem Bereich der Psychologie und Psychotherapie des psychodynamischen PraxisP-Teams und der Leuvener Adoption Study (LAS). Denn diese Arbeit ist das Ergebnis jahrelanger Zusammenarbeit und eines gemeinsamen Nachdenkens über die immer bessere Abstimmung unserer Pflegeangebote auf die Bedürfnisse gefährdeter Kinder und ihrer Eltern: Eva Bervoets, Dries Bleys, Sara Casalin, Ilse Declippeleer, Saskia Malcorps, Let Moustie, Liesbet Nijssens, Femke Permentier, Hilde Seys, Ann Van de Vel, Camille Van Havere, Yannic Verhaest, Ann-Sofie Viaene und Sus Weytens. Ein besonderer Dank geht an unseren Kollegen Prof. Dr. Patrick Luyten, der uns immer wieder ermutigte und mit großer Anteilnahme unser Interesse daran teilt, was die Kinderentwicklung und Erziehung so besonders und bisweilen auch kompliziert macht.

Wir danken unseren Kolleg*innen von RINO Flandern für ihre unentwegte Unterstützung bei einem erneuten Projekt, sowie dem ›Dr. Pierre Vereecken Fund‹, der uns die Möglichkeiten bot, diese wichtige klinische Thematik auch von der Forschungsseite aus weiterzuentwickeln.

Ein großes Dankeschön gilt auch unseren Kolleg*innen des Leuven Centers for Irish Studies, unter Leitung von Hedwig Schwall, ganz besonders für den herzlichen Empfang und den fortwährenden freundlichen Schreibplatz.

Und – last but not least – danken wir Nancy Derboven vom Pelckmans Pro Verlag, die mit vollem Enthusiasmus hinter unserem Vorhaben stand, selbst in Momenten, als dies noch nicht viel mehr als ein Traum war sowie Hanna Maes und Mark Borgions, die dem Traum seine Form und seinen Realitätsbezug verliehen.

Ein besonderer Dank gilt dem Kohlhammer Verlag (Stuttgart), der uns immer ermutigt hat, an einer deutschen Version des flämischen Buches weiterzuarbeiten. Wir danken auch an unseren Kolleg*innen des Sigmund-Freud-Instituts für ihre Hilfe bei der deutschen Übersetzung und/oder ihre präventive und therapeutische Arbeit mit oder ihre Forschung zu komplex traumatisierten Kindern oder zu Trauma im Allgemeinen: Corinna Poholski (Koordinatorin der Übersetzungsarbeit), Dr. Constanze Rickmeyer, Dr. Nora Hettich, Dr. Judith Lebiger-Vogel, Patrick Stier, Sima Saligheh, Tom Degen, Felicitas Hug, Prof. Dr. Tamara Fischmann, Dr. Kurt Grünberg, Prof. em. Dr. Marianne Leuzinger-Bohleber, Hauke Witzel, Raem Abd-al-Majeed, Magdalena Kuhn, Simon Arnold, Andreas Jensen, Rana Zokaï. Vielen Dank auch an Johannes Vogel. Wir bedanken uns auch herzlich bei den Leitungskollegen von Patrick Meurs am Sigmund Freud Institut Frankfurt, Prof. Dr. Vera King und Prof. Dr. Heinz Weiß sowie bei den Kollegen des Scientific Board des IDeA-Zentrums in Frankfurt.

Das Aufschreiben all dieser erworbenen Einsichten und Erkenntnisse hat uns reicher gemacht. Wenn das Wissen zunimmt, vertieft sich das Staunen, sagt Charles Morgan.

Nicole Vliegen, Eileen Tang und Patrick Meurs

Herbst 2020

 

Einleitung

 

 

 

Celine ist jetzt 13 Jahre alt. Sie ist seit mehr als 10 Jahren bei uns. Allmählich bekomme ich eine Vorstellung davon, was mit ihr los ist, obwohl ich weiterhin das Gefühl habe, dass ich meine anderen (also meine biologisch eigenen) Kinder besser ›lesen‹ und verstehen kann. (…) Meine anderen Kinder sagten bei einem Streit nie: »Ich gehe weg, du bist nicht meine Mutter! Du hast mir nichts zu sagen. Warum wolltest du mich überhaupt? Du siehst mich so oder so nicht gern.«

Mama von Celine1

Dieses Buch richtet sich an die Eltern, Pflegepersonen, Erzieher*innen, Betreuer*innen und Therapeut*innen von Adoptiv- und Pflegekindern mit einem komplexen Trauma2 (Herman, 1992), die wir in der psychotherapeutischen Praxis kennenlernen. Diese Kinder sind oft bei Sozial- und Therapiediensten angemeldet, weil der Umgang mit ihnen so kompliziert und schwierig ist. Das Handbuch soll ihre Pflege- oder Adoptiveltern, Erzieher*innen und Betreuer*innen dabei unterstützten, diesen Kindern dabei zu helfen, ohne sich wiederholende Probleme und ohne gravierende Beeinträchtigungen aufgrund ihrer traumatischen Erfahrungen aufzuwachsen. Entwicklungsaufgaben, die bei anderen Kindern »natürlicher« verlaufen oder nur als »kleinere Hindernisse« im Wege stehen, können von diesen Bindungs- oder komplex traumatisierten Kinder manchmal als unüberwindbare Hürde erlebt werden oder sogar zum Stillstand in ihrer Entwicklung führen. Im Zusammenhang mit diesen Kindern werden häufig Begriffe wie »Entwicklungsstörungen«, »Verhaltensstörungen« oder »Bindungsstörungen« verwendet. Diese Diagnosen kommen nicht von ungefähr und sind auch nicht immer ungerechtfertigt. Wichtig ist jedoch, dass sie nicht als das Ergebnis und Ende eines Beratungsprozesses verstanden werden, sondern als Beginn eines Beratungsangebots, das die festgefahrenen Entwicklungen wieder in Gang bringt. Schließlich sind die Schwierigkeiten dieser Kinder oft das Ergebnis von meist frühen traumatischen Erfahrungen und Bindungsabbrüchen.

Unter sich ändernden Umständen oder in einem neuen familiären Kontext mit neuen Bindungsmöglichkeiten werden diese bisherigen Erfahrungen nicht immer als (noch) relevant erkannt, jedoch wirken sie sich immer wieder auf die Entwicklung des Kindes im Hier und Jetzt aus. Betroffene Kinder und ihre Eltern benötigen daher eine ›traumasensitive‹ (trauma-informed context, Osofsky, 2011) Umgebung mit viel Verständnis und professionellem Wissen.

Mit diesem Buch wollen wir das bestehende Wissen zu diesem Thema, welches aus einer Vielzahl von wissenschaftlichen Quellen und klinischen Erfahrungen gewonnen wurde, mit Pflege- oder Adoptiveltern, Begleiter*innen und Therapeut*innen teilen. Als Erstes möchten wir aktuelle Erkenntnisse aus internationalen Fachzeitschriften und Handbüchern beschreiben, welche uns dazu inspiriert haben, nach Wegen zu suchen, um mit diesen Kindern in Kontakt zu kommen. Literaturangaben und Inspirationsquellen, die unser Denken und unsere Arbeit mit diesen Kindern und ihrer Umwelt beeinflusst haben, sind in der Literaturliste3 zu finden. Wir beschreiben, wie wir diese empirisch und theoretisch fundierten Erkenntnisse in unsere Praxis integrieren und stellen Gedanken und Werkzeuge, Handlungsempfehlungen und Behandlungsprinzipien für den Umgang mit diesen Kindern bereit, um ihre Entwicklungschancen zu verbessern. Zudem gründet unser Wissen auf empirischen Untersuchungen, die wir seit mehreren Jahren mit adoptierten Kindern und ihren Familien durchführen und zwar sowohl im Rahmen der Leuven Adoption Study (LAS; www.leuvense-adoptiestudie.be), als auch in weiteren Untersuchungen, in denen wir Eltern und ihre Kinder zu verschiedenen Aspekten ihrer sozialen und emotionalen Erfahrungen befragt haben. Drittens wurden wir durch die klinische Praxis im Therapiezentrum PraxisP – dem Praxiszentrum der Fakultät für Psychologie und Erziehungswissenschaften an der KU Leuven (Belgien) – inspiriert welches für uns ein kontinuierlicher Experimentierraum und eine herausfordernde Lernumgebung darstellt und uns davor schützt, ›Wissenschaftler*innen in einem Elfenbeinturm‹ zu werden.

Mit diesem Buch wollen wir in erster Linie dazu beitragen, eine Unterstützungsbasis für ein verständnisvolles und traumasensitives Vorgehen mit diesen Kindern und ihren Eltern zu schaffen. Wir hoffen mit diesem Buch, die Hemmschwelle für Beratung und Unterstützung dieser Familien verringern zu können.

Der Druck, der derzeit auf »guter und kompetenter Elternschaft« lastet, erhöht manchmal die Angst, eine Beratung aufzusuchen oder sich spezifische Hilfe zu suchen. Michelle, die Mutter einer Adoptivtochter mit ernsthaften Schwierigkeiten, wagt es erst nach mehreren Gesprächen der Beraterin zu sagen, wie sehr ihre Tochter sie manchmal »provoziert« und wie sie sie schon mal »hart angepackt« hat.

Sie scheint davon auszugehen, für ihre Schwierigkeiten in der Erziehung verurteilt zu werden, während gerade diese Mutter für ihre unendliche Geduld, die sie im Umgang mit ihrem bedürftigen Kind zeigt, Verständnis und Unterstützung verdient. Wir möchten das Wissen, das wir sowohl im Rahmen der Begleitung von komplex traumatisierten Kindern als auch in der Vielzahl an Gesprächen mit deren Betreuern*innen, Erziehern*innen und Beratern*innen erhalten haben, an diejenigen zurückgeben, die es so dringend benötigen: Die Kinder, die sich aufgrund schwerwiegender beziehungstraumatischer Verletzungen durch das Leben kämpfen und die Umgebung der Kinder, die Möglichkeiten für eine gute Entwicklung versucht zu bieten.

Das Schreiben eines Buches über solch ein komplexes Thema ähnelt einem Seiltanz: Auf der einen Seite möchten wir das, was wir von und über diese Kinder und ihre Familien gelernt haben, weitergeben, auf der anderen Seite möchten wir, dass jedes Elternteil sein Kind weiterhin in seiner Einzigartigkeit sehen kann und nicht als ein Kind, das in eine bestimmte Schublade passt oder einfach ein Diagnose-Etikett aufgedrückt bekommt. Wir wollen nicht, dass Adoptivkinder oder Pflegekinder durch dieses Buch einfach das neue Label »traumatisiert« bekommen. Wenn wir von Bindungstraumatisierungen oder komplexen Traumatisierungen sprechen, dann nur, weil dieses Konzept auf spezifische, bislang noch nicht richtig verstandene Phänomene hinweist.

Das Etikett, damit habe ich auch Schwierigkeiten. Das löst gemischte Gefühle aus. In gewisser Hinsicht tut es gut, zu begreifen, dass das Verhalten von Lucas häufiger und auch bei anderen vorkommt, das gibt einem Halt. Aber man möchte auch die Einzigartigkeit seines Kindes sehen und kein aufgeklebtes Etikett.

Mama von Lucas