Binti 2: Heimat - Nnedi Okorafor - E-Book

Binti 2: Heimat E-Book

Nnedi Okorafor

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Beschreibung

Die aufregende Fortsetzung des Hugo- und Nebula-Gewinners Binti von Nnedi Okorafor Vor einem Jahr wurde Binti zur Heldin, weil sie zwei verfeindete Welten versöhnt hat. Und sie hat eine Freundschaft gefunden, wo sie am wenigsten damit gerechnet hätte. Und nun muss sie zusammen mit ihrem Freund Okwu, der Rasser der Medusen angehört, zu ihrem Volk zurückkehren, um ihrer Familie und den Ältesten gegenüberzutreten. Aber Okwu wird seit über hundert Jahren der erste Vertreter seiner Spezies sein, der die Erde betritt und der Allererste, der das in Frieden tut. Können Menschen und Medusen nach Generationen des Krieges jemals lernen, wirklich friedlich zusammenzuleben?

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BINTIHEIMAT

Nnedi Okorafor

Ins Deutsche übertragen vonClaudia Kern

Ebenfalls bei Cross Cult:

LAGUNE

WER FÜRCHTET DEN TOD

DAS BUCH DES PHÖNIX

BINTI: ALLEIN

von Nnedi Okorafor

Die deutsche Ausgabe von BINTI: HEIMAT

wird herausgegeben von Amigo Grafik, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.

Herausgeber: Andreas Mergenthaler und Hardy Hellstern,

Übersetzung: Claudia Kern; verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde;

Lektorat: Kerstin Feuersänger; Korrektorat: André Piotrowski;

Satz: Rowan Rüster/Amigo Grafik; Umschlag-Artwork: Greg Ruth.

Titel der Originalausgabe:

BINTI: HOME

Copyright © Nnedi Okorafor 2017. All rights reserved.

German translation copyright © 2018, by Amigo Grafik GbR.

ISBN 978-3-95981-654-0eISBN 978-3-95981-655-7

WWW.CROSS-CULT.DE

INHALT

MENSCHEN. DIE STÄNDIGEN DARSTELLER

ABFLUG

ZU HAUSE

DIE WURZEL

NACHTMASKERADE

BLUT

HINTERLAND

DAS SCHICKSAL IST EIN HEIKLER TANZ

LÜGEN

GOLDENES VOLK

DIE ARIYA

INITIATIVE

»Fünf, fünf, fünf, fünf, fünf, fünf«, flüsterte ich. Ich war bereits dabei, zu verästeln, Zahlen peitschten um mich herum wie Sandkörner in einem Sandsturm. Und jetzt spürte ich, wie in meinem Geist etwas Klick machte, als sich ein Ergebnis einstellte. Es war ein süßer Schmerz, wie das Knacken eines Gelenks oder das Strecken eines Muskels. Ich ließ mich tiefer hineinsinken, und da war Wärme. Ich konnte den erdigen Duft des Otjize riechen, den ich mir auf die Haut gerieben hatte, und das Blut in meinen Adern.

Das Zimmer versank. Der beeindruckte Gesichtsausdruck meiner Mathematikprofessorin Okpala versank. Ich umklammerte mein Edan, und die Ecken seines sternförmigen Äußeren gruben sich in meine Handflächen. »Meine Güte«, flüsterte ich. Etwas geschah mit ihm. Ich öffnete meine Hände. Wäre ich nicht tief in mathematischer Meditation versunken gewesen, hätte ich es fallen lassen und es nicht einmal gemerkt.

Mein erster Gedanke war das Bild einer Kugel aus Ameisen, die ich mit sechs Jahren gesehen hatte, als sie eine Sanddüne hinuntergerollt war; so bewegten sich Wüstenameisen einen Hügel hinab. Ich war hingerannt, um mir das genauer anzusehen, und hatte angesichts der wogenden lebendigen Masse der Ameisenkörper vor angeekelter Begeisterung gekreischt. Mein Edan wand sich und wirbelte jetzt wie diese Kugel aus Wüstenameisen durcheinander. Die zahlreichen dreieckigen Platten, aus denen es bestand, drehten sich um, verbogen sich und veränderten ihre Lage zwischen meinen Handflächen. Der blaue Strom, den ich hervorgerufen hatte, jagte um sie herum und zwischen ihnen hindurch wie ein Wurm. Dies war eine neue Methode, die Professor Okpala mir beigebracht hatte, und ich war in den letzten beiden Monaten recht gut darin geworden. Sie nannte das sogar den »Wurmloch«-Strom, wegen seiner Form und der Tatsache, dass man eine Metrik aus Wurmlöchern benutzen musste, um ihn zu erzeugen.

Atme!, mahnte ich mich selbst. Ein verdrängter Teil von mir wollte jammern, dass mein Edan von dem Strom, den ich hindurchschickte, auseinandergerüttelt wurde, dass ich aufhören sollte, dass ich niemals in der Lage sein würde, es wieder zusammenzusetzen. Stattdessen flüsterte ich die beschwichtigende Zahl wieder: »Fünf, fünf, fünf, fünf, fünf.« Einfach atmen, Binti, dachte ich. Ich spürte einen Luftzug an meinem Gesicht, als sei etwas vorbeigezogen. Meine Augenlider wurden schwer. Ich ließ zu, dass sie sich schlossen …

… Ich war im Weltraum. Unendliche Schwärze. Schwerelos. Fliegend, fallend, aufsteigend, den Ring eines Planeten passierend, der aus porösem Metallstaub bestand. Er prasselte gegen meine Haut, feine Steinsplitter. Ich öffnete meinen Mund ein wenig, um zu atmen. Der Staub traf auf meine Lippen. Konnte ich atmen? Lebendiger Atem blühte von innen heraus in meiner Brust auf, und ich spürte, wie meine Lungen sich ausdehnten und sich damit füllten. Ich entspannte mich.

»Wer bist du?«, fragte eine Stimme. Sie sprach im Dialekt meiner Familie und kam von überallher.

»Binti Ekeopara Zuzu Dambu Kaipka aus Namib, so heiße ich«, antwortete ich.

Pause.

Ich wartete.

»Da ist noch mehr«, sagte die Stimme.

»Das ist alles«, sagte ich irritiert. »Das ist mein Name.«

»Nein.«

Der Zorn, der in mir aufflackerte, war überraschend. Dann war er willkommen. Ich kannte meinen Namen. Ich wollte das gerade hinausschreien, als . . .

. . . ich mich wieder im Klassenzimmer befand. Ich saß vor Professor Okpala. Ich bin so wütend, dachte ich. Warum bin ich so wütend? Es war ein furchtbares Gefühl, diese Wut. Die Priesterin der Sieben in meiner Heimat hätte diesen Grad des Zorns vielleicht sogar unrein genannt. Dann zuckte eins meiner tentakelähnlichen Okuoko. Draußen ging die zweite Sonne unter. Ihr Licht verschmolz mit dem der anderen Sonne und durchflutete das Klassenzimmer mit einer Farbe, die ich liebte – einer kräftigen Mischung aus Pink und Orange, die die Einheimischen von Oomza Uni »ntu ntu« nannten.

Ntu-ntu-Käfer waren ein Insekt Oomzas, dessen Eier eine kräftige orange-pinke Färbung hatten, die im Dunkeln sanft leuchtete.

Das Sonnenlicht schien auf mein Edan, das vor mir in einem Netzwerk aus Strömen schwebte, eine Symmetrie aus Teilen. Ich hatte noch nie erlebt, dass es sich so zerlegte, und es war nicht meine Absicht gewesen, es dazu zu bringen. Ich hatte versucht, das Objekt dazu zu bewegen, mit mir zu kommunizieren, indem ich Strom zwischen seinen Grenzen fließen ließ. Okpala behauptete, dass das oft funktionierte, und ich wollte wissen, was mein Edan zu sagen hatte. Ich erfuhr einen Moment der Angst und dachte verzweifelt: Kann ich es überhaupt wieder zusammensetzen?

Dann beobachtete ich mit großer Erleichterung, dass die Teile meines Edan, die sich langsam gelöst hatten, sich systematisch wieder zusammenfügten. Als es wieder ein Ganzes war, legte das Edan sich auf den Boden vor mir. Den Sieben sei Dank!, dachte ich.

Sowohl das Blau des Stroms, den ich immer noch darum fließen ließ, als auch das Leuchten des ntu ntu fielen auf Okpalas nach oben gewandtes Gesicht. Sie hielt einen Notizblock und einen Stift in der Hand – so typisch irdisch. Und sie schrieb hektisch. Dazu benutzte sie einen der groben, dicken Bleistifte, die sie aus dem Ast des tamarindenähnlichen Baums gemacht hatte, der vor dem Mathematikgebäude stand.

»Du bist vom Baum gefallen«, sagte sie und sah nicht hoch. So nannte sie den Moment, wenn man verästelte und es dann plötzlich nicht mehr tat. »Was war das denn gerade? Du hast das Edan endlich dazu gebracht, sich zu öffnen.«

»Das hat es also getan? Also war das etwas Gutes?«

Sie kicherte in sich hinein und schrieb weiter.

Ich runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht … etwas ist passiert.« Ich biss mir auf die Lippe. »Etwas ist passiert.« Als sie aufsah, fing sie meinen Blick auf, und einen kurzen Moment lang fragte ich mich, ob ich ihre Studentin war oder ein Forschungsobjekt.

»Geht es dir gut?«, fragte Professor Okpala.

Obwohl ich mit der wohltuenden Gleichung meditierte, hatte mein Kopf begonnen zu hämmern. Dann kam heißer Zorn über mich wie kochendes Wasser. »Ach, ich weiß es nicht.« Ich rieb mir die Stirn und legte sie in noch tiefere Falten. »Ich glaube nicht, dass das, was passiert ist, geschehen sollte. Etwas ist geschehen, Professor Okpala. Es war seltsam.«

Jetzt lachte Professor Okpala. Ich biss die Zähne zusammen und kochte. Schon wieder. Solch eine Wut. Das sah mir gar nicht ähnlich. Und in letzter Zeit wurde diese Wut immer mehr zu einem Teil von mir, weil sie so oft über mich kam. Jetzt passierte das schon, während ich verästelte? Wie war das überhaupt möglich? Das gefiel mir ganz und gar nicht. Dennoch, ich arbeitete jetzt seit über einem Erdenjahr mit Professor Okpala, und wenn es etwas gab, das ich inzwischen gelernt haben sollte, dann, dass mit einem Edan zu arbeiten – egal, auf welchem Planeten es gefunden worden war –, immer bedeutete, mit dem Unvorhersehbaren zu rechnen. »Alles erfordert Opfer«, pflegte Okpala zu sagen. Jedes Edan tat unterschiedliche Dinge aus unterschiedlichen Gründen. Mein Edan war außerdem giftig für Medusen. Das hatte mir das Leben gerettet, als sie das Schiff angegriffen hatten. Aus dem Grund kam Okwu nie, um bei meinen Sitzungen mit Okpala zuzusehen. Ich konnte es allerdings ohne diese Wirkung berühren. Ich hatte es sogar gewagt, meine Okuoko mit dem Edan zu berühren. Das war die einzige Möglichkeit gewesen, mir zu beweisen, dass zwar ein Teil von mir jetzt Medusa war, ich aber immer noch ein Mensch.

»Das war isolierte Dekonstruktion«, sagte Professor Okpala. »Ich habe nur gehört, dass es so etwas gibt. Ich habe es noch nie gesehen. Gut gemacht.«

Sie sagte das so ruhig. Wenn sie es nie zuvor gesehen hat, warum benimmt sie sich dann, als hätte ich etwas falsch gemacht?, fragte ich mich. Ich blähte meine Nasenflügel, um mich zu beruhigen. Nein, das war überhaupt nicht typisch für mich. Mein Tentakel zuckte wieder, und ein einzelner, sehr konkreter Gedanke setzte sich in meinem Geist fest: Okwu steht kurz vor einem Kampf. Ein elektrisierender Schauer des Zorns durchfuhr mich, und ich zuckte zusammen. Wer wollte ihm etwas antun? Ich gab meiner Stimme den Anstrich von Ruhe und sagte: »Professor, ich muss gehen. Darf ich?«

Sie zögerte und sah mich stirnrunzelnd an. Professor Okpala war Tamazight, und nach dem, was mein Vater über die Verkäufe an Tamazight erzählt hatte, waren sie ein Volk weniger, aber deutlicher Worte. Das mag eine Verallgemeinerung gewesen sein, aber auf meine Professorin traf das zu. Ich kannte Professor Okpala gut – hinter diesem Stirnrunzeln steckte eine Galaxie voller Aktivitäten. Trotzdem musste ich gehen, und zwar auf der Stelle. Sie hielt eine Hand hoch und winkte damit. »Geh.«

Ich stand auf und wäre beinahe gegen die Topfpflanze hinter mir geprallt, während ich mich ungeschickt nach meinem Rucksack beugte.

»Vorsicht!«, sagte sie. »Du bist schwach.«

Ich hob meinen Rucksack auf und war verschwunden, bevor sie es sich anders überlegen konnte. Professor Okpala war nicht umsonst die leitende Professorin der Mathematikabteilung. Sie hatte wahrscheinlich alles an dem Tag, als sie mich kennenlernte, durchkalkuliert. Erst viel später wurde mir die Schwere ihrer kurzen Warnung bewusst.

Ich nahm das Solarshuttle.

Da die zweite Sonne unterging, war das Shuttle maximal aufgeladen und somit am leistungsfähigsten. Das Shuttle der Universität hatte eine schlangengleiche Form und war dennoch geräumig genug, um fünfzig Leuten von der Größe Okwus bequem Platz zu bieten. Seine äußere Hülle bestand aus der geschmolzenen Epidermis irgendeiner riesigen Kreatur, die in einem der vielen Wälder Oomzas lebte. Ich hatte gehört, dass der Rumpf des Shuttles so widerstandsfähig war, dass ein Absturz nicht einmal einen Kratzer hinterlassen würde. Es ruhte und bewegte sich auf einer Schicht aus »Gleitschmiere«, einem glatten, grünen Belag aus Öl, der von einigen großen Kannenpflanzen, die neben der Haltestation wuchsen, auf einen Schienenweg abgesondert wurde.

Ich hatte diese riesigen schwarzen Pflanzen immer als beängstigend empfunden. Sie sahen aus, als würden sie einen fressen, wenn man ihnen zu nahe kam. Und sie waren von einem kupferartigen Gestank umgeben, der so sehr an Blut erinnerte, dass mir bei meinem ersten Besuch an der Haltestation etwas widerfuhr, bei dem es sich – wie man mir später erklärte – um eine Panikattacke handelte. Ich hatte am Bahnsteig gestanden und ins Leere gestarrt, während der Geruch sich in meiner Nase hielt. Dann waren Erinnerungsfetzen aus jener Zeit aufgestiegen, die so lebhaft waren … ich konnte das frisch vergossene Blut riechen. Erinnerungen, wie ich mich im Speisesaal eines Schiffs mitten im tiefen Weltraum befand, auf dem alle gerade brutal von Medusen ermordet worden waren.

An jenem Tag fuhr ich nicht mit dem Shuttle. Ich fuhr viele Wochen nicht mit ihm und zog den Schnelltransport vor – eine Art Schwebebus, der in Wirklichkeit langsam war und nur für kurze Entfernungen genutzt wurde. Als ich die Langsamkeit nicht mehr aushielt und beschloss, das Solarshuttle noch einmal auszuprobieren, hielt ich mir die Nase zu und atmete durch den Mund, bis ich eingestiegen war. Sobald wir losfuhren, verschwand der Geruch.

Eine Einheimische bediente den Scanner, und ich gab ihr mein Astrolabium zum Scannen. Sie kniff ihre großen blauen Augen zusammen und sah mich hochnäsig an, als hätte sie mich noch nicht oft genug mit diesem Shuttle fahren sehen, um meinen Zeitplan zu kennen. Sie tippte mit einem Finger gegen eins meiner Okuoko. Ihre Hände waren größer als mein Kopf. Dann verrieb sie den Otjize zwischen ihren Fingern und bedeutete mir, die Kabine des Shuttles zu betreten.

Ich setzte mich dorthin, wo ich immer saß – in der Abteilung für Leute meiner Größe in der Nähe eines der großen runden Fenster –, und schnallte mich an. Das Shuttle fuhr mit einer Geschwindigkeit von fünfhundert bis tausend Meilen pro Stunde, je nachdem, wie weit es aufgeladen war. Es würde in fünfzehn Minuten in Waffenstadt eintreffen, und ich hoffte, dass ich nicht zu spät kam, denn Okwu hatte vor, seinen Lehrer umzubringen.

Die Tür des hausgroßen Lifts hatte sich kaum rumpelnd geöffnet, als ich hinausrannte. Meine Füße, die in Sandalen steckten, klatschten auf den grauweißen Marmorboden. Der Raum war weitläufig und hatte eine hohe Decke sowie abgerundete Wände, die alle in den dicken Marmor geschnitten worden waren. Ich hustete, meine Lungen brannten. Wan, eine medusenähnliche Person, stand einige Meter entfernt, eingehüllt in eine große lavendelfarbene Wolke seines Atemgases. Obwohl er nicht Okwus herabhängende Tentakel besaß, sah Wan dennoch wie eine riesige Ausgabe der Quallen aus, die in dem See in der Nähe meines Hauses auf der Erde lebten. Wan sprach außerdem auch Okwus Medusensprache. Ich war schon oft hier unten gewesen, um mich mit Okwu zu treffen, also kannte er mich ebenfalls.

»Wan, sag mir, wo Okwu ist«, verlangte ich auf Medusisch von ihm.

Er paffte sein Gas den Flur entlang. »Da«, sagte Wan. »Er hat heute eine Präsentation bei Professor Dema und tritt gegen Jalal an.«

Ich keuchte und verstand. »Danke, Wan.«

Doch Wan war bereits unterwegs zum Aufzug. Ich zog mein Wickelkleid bis über die Knöchel hoch und rannte den Flur entlang. Links und rechts von mir arbeiteten Studenten aus verschiedenen Teilen der Galaxis an ihren Schutzwaffen-Abschlussprojekten – dem Aufgabengebiet dieser Abteilung. Okwus Projekt drehte sich um Körperpanzerung, das seiner Klassenkameradin Jalal um elektrische Ströme.

Okwu und Jalal wurden gemeinsam unterrichtet, wohnten in demselben Studentenheim und arbeiteten eng zusammen an ihren Projekten. Und heute würden sie gegeneinander antreten, wie es beim Waffenstudium auf Oomza üblich war. Ich war fasziniert von den Wechselwirkungen des Waffenstudiums, aber ich war froh, dass es bei Mathematik eher um Harmonie ging. Da Okwu nun einmal Okwu war – ein Meduse mit unbeugsam kalter Ehre, Zielstrebigkeit und Tradition –, liebte er das Programm. Das Problem war, dass Okwu seine Professorin hasste, und Professor Dema hasste Okwu. Okwu war Meduse und Professor Dema, eine Menschenfrau, war Khoush. Ihre Völker hassten und töteten sich seit Jahrhunderten. Stammeshass lebte fort, sogar auf Oomza Uni. Und heute kochte dieser Hass, der seit einem Jahr geschwelt hatte, über.

Ich erreichte den Testbereich in dem Moment, als Okwu, der in einer Metallhülle steckte, seinen weißen, scharfen Stachel hervorholte und damit auf Professor Dema zielte. Nur wenige Meter entfernt stand Professor Dema und hielt eine große Waffe in beiden Händen, die einem Gewehr ähnlich sah. Ihre Lippen waren höhnisch verzogen. So sollte ein Abschlussexamen nicht verlaufen.

»Okwu, was machst du?«, wollte Jalal auf Medusisch wissen. Sie stand abseits und umklammerte mit ihren einer Gottesanbeterinnen ähnlichen Klauen einige dicke Stöcke mit Flammenspitzen. »Du wirst sie umbringen!«

»Lass uns das ein für alle Mal beenden!«, knurrte Okwu auf Medusisch.

»Medusen haben keinen Respekt«, sagte Okwus Professorin auf Khoush. »Wieso man dich an dieser Universität zugelassen hat, ist mir ein Rätsel. Du bist unbelehrbar.«

»Ich habe Ihre Beleidigungen im ganzen letzten Quartal toleriert. Ich werde ihnen jetzt ein Ende bereiten. Ihr Volk sollte diese Universität nicht tyrannisieren«, sagte Okwu.

Meine Lungen hatten mit dem Gas zu kämpfen, das Okwu in Massen ausstieß, während er sich darauf vorbereitete, seine Professorin anzugreifen. Wenn er nicht damit aufhörte, würde sich der ganze Raum damit füllen. Ich sah, wie Professor Demas Augen tränten, weil sie versuchte, nicht zu husten. Ich kannte Okwu. Er machte das mit Absicht und erfreute sich an dem angestrengten Ausdruck auf Professor Demas Gesicht. Ich hatte nur Sekunden, um etwas zu unternehmen. Ich warf mich vor Okwu und drückte mich vor dem Okuoko auf den Boden, das direkt unter seinem Stachel hing. Ich sah zu Okwu hoch. Seine Tentakel fühlten sich weich und schwer an meinem Gesicht an. Medusen verstehen einen Kniefall sofort.

»Okwu, höre mich an!«, sagte ich auf Khoush. Seit wir an der Universität angekommen waren, hatte ich Okwu Khoush und meine Sprache Otjihimba beigebracht, und er hasste den Klang von beiden.

Ich vermute, das lag zum Teil daran, dass für Okwu jede Sprache schlechter klang als Medusisch. Außerdem musste Okwu die Worte durch die Röhre zwischen seinen Okuoko hervorbringen, durch die sein Atemgas in Atmosphären mit Sauerstoff ausgestoßen wurde. Das zu tun, war schwierig und fühlte sich unnatürlich an. Okwu auf Khoush anzusprechen, irritierte ihn und war deshalb der beste Weg, seine Aufmerksamkeit zu erregen.

Ich rief einen Strom hervor und verästelte schneller, als ich es jemals daheim gekonnt hätte. Ich hatte im letzten Jahr viel von Professor Okpala gelernt. Meine Okuoko kitzelten, der Strom berührte sie und erstreckte sich dann zu Okwus Okuoko. Plötzlich verspürte ich wieder diesen Zorn, und ein Teil tief in mir verkündete anklagend: Unrein, Binti, du bist unrein! Ich knirschte mit den Zähnen, während ich mich bemühte, die Kontrolle zu behalten. Als es mir nicht gelang, ließ ich einfach los. Meine Stimme brach laut und deutlich aus mir hervor, und ich rief auf Khoush: »Aufhören! Sofort aufhören!« Ich spürte, wie sich meine Okuoko aufrichteten und wanden wie die Knäuel aus sich paarenden Schlangen, die ich oft in meiner Heimat in der Wüste gesehen hatte. Ich muss ausgesehen haben wie eine verrückte Hexe – und ich fühlte mich auch so.

Okwu senkte sofort seinen Stachel, hörte auf, Gaswolken auszustoßen, und wich vor mir zurück. »Bleib da, Binti!«, sagte er. »Wenn du meine Hülle berührst, wirst du sterben.«

Professor Dema senkte ebenfalls ihre Waffe.

Stille.

Ich lag dort auf dem Boden, Mathematik überschlug sich in meinem Gehirn, und der Strom berührte immer noch meinen einzigen wahren Freund auf diesem Planeten, auch nach einem Jahr. Ich spürte, wie die Spannung aus dem Raum wich … und endlich auch aus mir. Tränen der Erleichterung liefen mir aus den Augenwinkeln, während mein merkwürdig zufällig auftretender Zorn verflog. Meine Okuoko hörten auf, sich zu winden. In dem weitläufigen Arbeitsbereich befanden sich noch andere und beobachteten uns. Sie würden reden, die Geschichte würde sich verbreiten und zu einer weiteren Mahnung an die Studenten werden – Menschen oder Nichtmenschen –, sich von mir fernzuhalten, auch wenn sie mich vielleicht gut leiden mochten.

Okwus Klassenkameradin Jalal legte ihre Waffen ab und hüpfte zurück. Professor Dema warf ihr Gewehr auf den Boden und zeigte auf Okwu. »Deine Hülle ist spektakulär. Du wirst sie hierlassen und deine Anleitung dafür in meine Dateien herunterladen. Doch falls wir uns außerhalb dieser Universität treffen, wo ich nicht deine Dozentin bin und du nicht mein Student, wird einer von uns sterben, und das werde nicht ich sein.«

Ich hörte, wie Okwu sie auf Medusisch verfluchte, konnte aber nicht genau verstehen, was er sagte. Bevor ich Okwus Primitivität tadeln konnte, schnappte Professor Dema sich ihre Waffe und schoss auf Okwu. Ein furchtbarer Knall erschütterte die Wände und schlug Studenten in die Flucht. Bis auf Okwu. Die Wand direkt zu seiner Linken wies jetzt ein Loch auf, das größer war als Okwus zwei Meter achtzig großer und einen Meter fünfzig breiter quallenartiger Körper. Bruchstücke und Splitter aus Marmor verteilten sich über den Boden, und Staub erfüllte die Luft.

»Sie haben mich nicht verfehlt«, sagte Okwu auf Khoush. Seine Tentakel schüttelten sich, und seine Haube vibrierte. Gelächter.

Minuten später verließen Okwu und ich den Unterirdischen Turm fünf der Waffenstadt. Ich mit klingelnden Ohren und Kopfschmerzen und Okwu mit der Note »Ausgezeichnet« für sein Abschlussprojekt »Schutzausrüstung 101«.

Sobald wir uns auf der Oberfläche befanden, sah ich Okwu an, wischte Marmorstaub und Otjize aus meinem Gesicht und sagte: »Ich muss nach Hause. Ich werde auf meine Pilgerreise gehen.« Ich spürte die Luft an meiner Haut. Sobald ich wieder in meinem Schlafsaal war und mich gewaschen hatte, würde ich meinen Otjize wieder auftragen. Ich würde mir besonders viel Zeit nehmen, um eine besonders dicke Schicht auf meine Okuoko zu streichen.

»Wieso?«, fragte Okwu.

Ich bin unrein, weil ich die Heimat verlassen habe, dachte ich. Wenn ich nach Hause gehe und meine Pilgerreise abschließe, werde ich gereinigt sein. Die Sieben werden mir vergeben, und ich werde diesen vergiftenden Zorn los sein