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Der Nebula-Award-Gewinner BINTI endlich in einem Sammelband, der alle drei Romane ALLEIN, HEIMAT und NACHTMASKERADE beinhaltet. Ihr Name ist Binti und sie ist die erste Himba, die jemals an der Oomza Universität, einer der besten Lehranstalten der Galaxis, angenommen wurde. Aber diese Möglichkeit wahrzunehmen bedeutet, dass sie ihren Platz innerhalb ihrer Familie aufgeben und mit Fremden zwischen den Sternen reisen muss, die weder ihre Denkweise teilen, noch ihre Bräuche respektieren. Die Welt, deren Teil sie werden möchte, hat einen langen Krieg gegen die Medusen hinter sich und Bintis Reise zwischen den Sternen lässt sie dieser Spezies näherkommen als ihr lieb ist. Wenn Binti das Vermächtnis eines Krieges überleben will, mit dem sie nichts zu tun hatte, wird sie die Gaben ihres Volkes brauchen und die Weisheit, die sich in der Universität verbirgt - aber zuerst muss sie es bis dorthin schaffen, lebendig.
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Seitenzahl: 511
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Nnedi Okorafor
Ins Deutsche übertragen vonClaudia Kern
Ebenfalls bei Cross Cult:
LAGUNE
WER FÜRCHTET DEN TOD
DAS BUCH DES PHÖNIXvon Nnedi Okorafor
Die deutsche Ausgabe von BINTI
wird herausgegeben von Amigo Grafik, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.
Herausgeber: Andreas Mergenthaler und Hardy Hellstern,
Übersetzung: Claudia Kern; verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde;
Lektorat: Kerstin Feuersänger; Korrektorat: André Piotrowski;
Satz: Rowan Rüster/Amigo Grafik; Umschlag-Artwork: Greg Ruth.
Titel der Originalausgabe:
BINTI
Copyright © Nnedi Okorafor 2018. All rights reserved.
German translation copyright © 2018, by Amigo Grafik GbR.
eISBN 978-3-95981-653-3 (September 2018)
WWW.CROSS-CULT.DE
ALLEIN
Widmung
Binti Allein
HEIMAT
MENSCHEN. DIE STÄNDIGEN DARSTELLER
ABFLUG
ZU HAUSE
DIE WURZEL
NACHTMASKERADE
BLUT
HINTERLAND
DAS SCHICKSAL IST EIN HEIKLER TANZ
LÜGEN
GOLDENES VOLK
DIE ARIYA
INITIATIVE
NACHTMASKERADE
Widmung
Kapitel 1 AUSSERIRDISCHE
Kapitel 2 ORANGE
Kapitel 3 WENN ELEFANTEN KÄMPFEN
Kapitel 4 HEIMKEHR
Kapitel 5 HEIMGANG
Kapitel 6 MÄDCHEN
Kapitel 7 DIE WURZEL
Kapitel 8 IM ALL
Kapitel 9 WACH
Kapitel 10 DIE STEINE DES SATURN
Kapitel 11 NTU-NTU-KÄFER UND SONNENSCHEIN
Kapitel 12 PRÄSIDENTIN HARAS
Kapitel 13 UNTERSUCHUNG
Kapitel 14 GESTALTWANDLER
Danksagungen
Über die Autorin
Ich widme diese Geschichte der kleinen blauen Qualle, die ich an einem sonnigen Tag in der Khalid-Lagune in Sharjah, Vereinigte Arabische Emirate schwimmen sah.
Ich aktivierte den Transporter und betete stumm. Ich wusste nicht, was ich tun würde, sollte er nicht funktionieren. Mein Transporter war billig, deshalb reichte ein Tropfen Feuchtigkeit oder, was wahrscheinlicher war, ein Sandkorn, um einen Kurzschluss auszulösen. Meistens aktivierte er sich erst nach zahlreichen Fehlversuchen. Bitte nicht jetzt, bitte nicht jetzt!, dachte ich.
Der Transporter erbebte im Sand und ich hielt den Atem an. Er war winzig und so flach und schwarz wie ein Gebetsstein. Er summte leise und erhob sich langsam aus dem Sand. Endlich hatte er genügend Energie aufgebaut, um seine Last anzuheben. Ich grinste. Ich würde es bis zum Shuttle schaffen. Ich wischte mir mit dem Zeigefinger Otjize von der Stirn und kniete nieder. Dann berührte ich mit dem Finger den Sand und verrieb den süß riechenden roten Lehm darin. »Danke«, flüsterte ich. Der Weg über die dunkle Wüstenstraße war eine halbe Meile lang. Da der Transporter funktionierte, würde ich mein Ziel rechtzeitig erreichen.
Als ich mich aufrichtete, hielt ich inne und schloss die Augen. Nun spürte ich die Last meines Lebens, die auf meinen Schultern lag. Zum ersten Mal widersetzte ich mich dem traditionellsten Teil in mir. Ich verließ sie mitten in der Nacht, und sie wussten von nichts. Meine neun Geschwister – bis auf einen Bruder und eine Schwester waren alle älter – ahnten nichts. Meine Eltern hätten sich in einer Million Jahren nicht vorstellen können, dass ich so etwas tun würde. Bis sie erkannten, was ich getan hatte und wohin ich wollte, würde ich den Planeten bereits verlassen haben. In meiner Abwesenheit würden meine Eltern knurren, dass ich nie wieder ihr Heim betreten dürfe. Meine vier Tanten und zwei Onkel, die die Straße hinunter wohnten, würden schreien und untereinander tuscheln, dass ich ein Skandal für die gesamte Blutlinie sei. Ich würde eine Ausgestoßene sein.
»Los!«, flüsterte ich dem Transporter zu und stampfte mit dem Fuß auf. Die dünnen Metallringe, die ich an beiden Knöcheln trug, klirrten laut, aber ich stampfte erneut auf. Der Transporter funktionierte am besten, wenn ich ihn nicht berührte. »Los!«, wiederholte ich. Schweiß trat mir auf die Stirn. Als sich nichts bewegte, wagte ich es, die beiden großen Koffer, die auf dem Kraftfeld standen, anzustupsen. Sie setzten sich in Bewegung, und ich atmete erneut erleichtert auf. Das Glück war zumindest ein bisschen auf meiner Seite.
Fünfzehn Minuten später kaufte ich eine Fahrkarte und betrat das Shuttle. Die Sonne lugte gerade erst über den Horizont. Als ich an den Passagieren vorbeiging, die bereits ihre Plätze eingenommen hatten, war ich mir des Umstandes, dass die buschigen Enden meiner vielen geflochtenen Zöpfe über ihre Gesichter strichen, nur allzu bewusst. Ich senkte den Blick. Unsere Haare sind dick und meine waren schon immer sehr dick gewesen. Meine alte Tante nannte sie »Ododo«, weil sie so wild und dicht wie Ododo-Gras wuchsen. Kurz bevor ich das Haus verlassen hatte, hatte ich meine geflochtenen Haare mit frischem süß riechenden Otjize eingerieben, den ich für diese Reise angerührt hatte. Ich hatte keine Ahnung, wie ich auf diese Leute, die mein Volk nicht so gut kannten, wirkte.
Eine Frau beugte sich mit verkrampft wirkendem Gesicht von mir weg zur Seite, als ich vorbeiging, so als hätte sie etwas Ekliges gerochen. »Entschuldigung!«, sagte ich, den Blick auf meine Füße gerichtet. Ich versuchte die Tatsache, dass mich fast alle Passagiere in dem Shuttle anstarrten, zu ignorieren. Doch ich konnte der Versuchung, mich umzusehen, nicht widerstehen. Zwei Mädchen, die ein paar Jahre älter als ich zu sein schienen, bedeckten ihren Mund mit Händen, die so blass wirkten, als hätte die Sonne sie noch nie berührt. Alle sahen aus, als sei die Sonne ihr Feind. Ich war die einzige Himba im Shuttle, stellte ich rasch fest, als ich zu einem freien Sitz ging.
Bei dem Shuttle handelte es sich um eines der neuen, schlanken Modelle, die aussahen wie die Gewehrkugeln, mit denen meine Lehrer an der Schule ballistische Koeffizienten berechnet hatten. Sie konnten dank einer Mischung aus Auftrieb, Magnetfeldern und exponentieller Energie sehr schnell über Land fliegen und ließen sich, wenn man die Teile und die Zeit hatte, relativ leicht bauen. Sie waren außerdem praktisch in heißen Wüstenregionen, wo die Straßen, die aus den Städten führten, in einem sehr schlechten Zustand waren. Mein Volk verließ seine Heimat nicht gerne. Ich setzte mich in den hinteren Teil des Shuttles, damit ich aus dem großen Fenster sehen konnte.
Ich entdeckte die Lichter, die zum Astrolabiengeschäft meines Vaters gehörten, und das Sandsturmanalysegerät, das mein Bruder auf dem Dach der Wurzel angebracht hatte – so nannten wir das große, große Haus meiner Eltern. Sechs Generationen meiner Familie hatten dort schon gelebt. Es war das älteste Haus in meinem Dorf, vielleicht das älteste der Stadt. Es bestand aus Stein und Zement, war nachts kühl und tags heiß. Solarzellen und lumineszente Pflanzen, die bis kurz vor Sonnenaufgang leuchteten, bedeckten es. Mein Zimmer befand sich im obersten Stockwerk des Hauses. Das Shuttle setzte sich in Bewegung, und ich starrte das Haus an, bis es hinter mir verschwand. »Was tue ich hier?«, flüsterte ich.
Anderthalb Stunden später traf das Shuttle am Raumhafen ein. Ich verließ es als Letzte, was gut war, da mich der Anblick des Raumhafens so überwältigte, dass ich einige Momente lang nur reglos dastand. Ich trug einen langen roten Rock, der sich so seidig wie Wasser anfühlte, ein helloranges Top, das ein wenig steif war und den Wind abhielt, dünne Ledersandalen und meine Knöchelringe. Niemand außer mir trug solche Sachen. Ich sah nur leichte weite Kleidung und Schleier; man konnte bei keiner Frau die Knöchel sehen und schon gar keine Knöchelringe aus Stahl, die bei jedem Schritt klimperten. Ich atmete durch den Mund und spürte, wie ich errötete.
»Dumm, dumm, dumm«, flüsterte ich. Wir Himba reisen nicht. Wir bleiben. Das Land unserer Vorfahren ist unser Leben. Wer sich davon entfernt, verdorrt. Wir bedecken sogar unseren Körper mit ihm. Otjize ist rotes Land. Hier am Raumhafen sah ich hauptsächlich Khoush und ein paar andere Menschen, die keine Himba waren. Hier war ich eine Außenseiterin; ich war draußen. »Was habe ich mir dabei gedacht?«, flüsterte ich.
Ich war sechzehn Jahre alt, war noch nie außerhalb meiner Stadt gewesen und hatte noch nie einen Raumhafen gesehen. Ich war allein und hatte gerade meine Familie verlassen. Meine Heiratsaussichten hatten bei hundert Prozent gelegen, nun lagen sie bei null. Kein Mann würde eine Frau heiraten, die davongelaufen war. Ich würde kein normales Leben führen. Doch ich hatte bei den planetaren Prüfungen eine so gute Note in Mathematik erzielt, dass die Oomza-Universität mich nicht nur angenommen, sondern versprochen hatte, alles zu bezahlen, was ich brauchte, um mein Studium dort zu absolvieren. Egal welche Entscheidung ich traf, ein normales Leben würde ich sowieso nicht führen.
Ich sah mich um und wusste sofort, was ich zu tun hatte. Ich ging zum Informationsschalter.
Der Reisesicherheitsbeamte scannte mein Astrolabium, und zwar komplett. Ich war so schockiert, dass mir schwindelig wurde. Also schloss ich die Augen und atmete durch den Mund, um mich zu beruhigen. Ich musste ihnen, nur um den Planeten verlassen zu können, Zugriff auf mein gesamtes Leben gewähren – auf mich, meine Familie und all meine Zukunftsaussichten. Ich stand wie erstarrt da, während ich die Stimme meiner Mutter in meinem Kopf hörte: »Unser Volk besucht aus gutem Grund nie diese Universität. Oomza Uni will sich an dir bereichern, Binti. Wenn du diese Schule besuchst, wirst du zu ihrer Sklavin.« Unwillkürlich fragte ich mich, ob das vielleicht stimmte. Ich war dort noch nicht einmal angekommen, musste ihnen aber schon mein gesamtes Leben überlassen. Ich wollte den Beamten fragen, ob er das bei jedem machte, aber da er bereits fertig war, traute ich mich nicht. In dieser Situation konnten sie mit mir machen, was sie wollten. Es war besser, sie nicht zu provozieren.
Als der Beamte mir mein Astrolabium reichte, wollte ich es ihm aus der Hand reißen. Er war ein alter Khoush, so alt, dass er den schwärzesten Turban und den schwärzesten Schleier tragen durfte. Seine zitternden Hände hatte Arthritis so verkrümmt, dass er das Astrolabium beinahe fallen gelassen hätte. Er war so krumm wie eine verdorrende Palme, und als er »Du bist noch nie gereist. Ich muss einen vollständigen Scan durchführen. Warte hier!« sagte, war seine Stimme trockener als die rote Wüste, die meine Stadt umgab. Doch er las mein Astrolabium so schnell aus wie mein Vater, was mich auf der einen Seite beeindruckte, auf der anderen jedoch verängstigte. Er öffnete es geschickt, indem er ein paar ausgesuchte Gleichungen murmelte, und seine auf einmal ruhigen Hände bedienten die Regler so sicher, als sei dies sein eigenes Astrolabium.
Als er fertig war, sah er mich aus hellgrünen, stechenden Augen an, die noch mehr über mich herauszufinden schienen als der Scan des Astrolabiums. Hinter mir standen Leute und ich hörte ihr Flüstern, leises Lachen und das Murmeln eines kleinen Kindes. Es war kühl im Terminal, aber ich fühlte mich so sehr unter Druck gesetzt, dass mir heiß war. Meine Schläfen schmerzten und meine Füße kribbelten.
»Herzlichen Glückwunsch!«, sagte der Beamte mit seiner ausgetrockneten Stimme und reichte mir mein Astrolabium.
Ich runzelte verwirrt die Stirn. »Wozu?«
»Du bist der Stolz deines Volkes, Kind.« Er sah mir in die Augen. Dann lächelte er breit und klopfte mir auf die Schulter. Er hatte gerade mein gesamtes Leben gesehen. Er wusste, dass ich von der Oomza-Universität angenommen worden war.
»Oh!« Tränen brannten in meinen Augen. »Danke, Sir«, sagte ich rau, als ich mein Astrolabium nahm.
Ich ging rasch durch die Menschenmenge im Terminal. Ihre Nähe war mir unangenehm. Ich dachte darüber nach, auf die Toilette zu gehen, mehr Otjize aufzutragen und meine Haare zu einem Pferdeschwanz zusammenzubinden, ging dann aber weiter. Die meisten Leute in dem vollen Terminal trugen die schwarze und weiße Kleidung der Khoush – Frauen trugen weiße Kleider mit farbenfrohen Gürteln und ebenfalls weißen Schleiern, die Männer trugen Schwarz wie mächtige Geister. Ich hatte sie oft im Fernsehen und ab und zu auch in meiner Stadt gesehen, aber ich hatte noch nie in einem Meer aus Khoush gestanden. Dies war der Rest der Welt, und ich hatte sie endlich betreten.
Als ich vor den Sicherheitskontrollen anstand, spürte ich, wie jemand an meinen Haaren zog. Ich drehte mich um und entdeckte einige Khoush-Frauen. Sie starrten mich an; alle Leute hinter mir starrten mich an.
Die Frau, die an meinem Zopf gezogen hatte, betrachtete ihre Finger und rieb sie stirnrunzelnd aneinander. Mein Otjize hatte sie orange gefärbt. Sie roch an ihnen. »Das riecht nach Jasminblüten«, sagte sie überrascht zu der Frau, die links neben ihr stand.
»Nicht nach Scheiße?«, fragte eine zweite Frau. »Ich habe gehört, dass es nach Scheiße riecht, weil es Scheiße ist.«
»Nein, das riecht definitiv nach Jasminblüten. Es ist allerdings so dick wie Scheiße.«
»Sind ihre Haare echt?«, fragte eine andere Frau die, die sich die Finger rieb.
»Keine Ahnung.«
»Diese ›Schlammduscher‹ sind ein ekliges Volk«, sagte die zweite Frau.
Ich wandte mich mit hängenden Schultern ab. Meine Mutter hatte mir beigebracht, nichts zu sagen, wenn Khoush in der Nähe waren. Wenn Khoush-Händler in unsere Stadt kamen, um Astrolabien zu kaufen, machte mein Vater sich immer so klein wie möglich. »Wenn ich das nicht tue, würde ich einen Krieg mit ihnen anfangen und nicht aufhören, bis ich ihn gewonnen habe.« Mein Vater hielt nichts vom Krieg. Er sagte, dass der Krieg schrecklich sei, aber dass er, sollte der Krieg kommen, ihn genießen würde wie Sand einen Sturm. Dann sprach er ein Gebet, in dem er die Sieben bat, keinen Krieg zu bringen, und ein zweites, in dem er sie bat, seine Worte zu vergessen.
Ich zog meine Zöpfe nach vorn und berührte das Edan in meiner Tasche. Ich zwang meinen Geist, sich darauf zu konzentrieren, auf sein seltsames Metall, seine seltsame Sprache, das seltsame Gefühl, wenn man es berührte. Ich hatte das Edan fünf Jahre zuvor gefunden, an einem Nachmittag, als ich die Hinterwüste erkundet hatte. »Edan« war ein Oberbegriff für alle Geräte, die so alt waren, dass niemand mehr wusste, wofür sie einst gedient hatten. Man betrachtete sie nur noch als Kunstwerke.
Mein Edan war interessanter als jedes Buch und jeder neue Astrolabium-Entwurf, den ich im Geschäft meines Vaters anfertigte und für den die Frauen hinter mir wahrscheinlich getötet hätten. Und es gehörte mir. Es steckte in meiner Tasche, und die Frauen hinter mir würden nie davon erfahren. Diese Frauen redeten über mich, die Männer wahrscheinlich auch. Aber keiner von ihnen wusste, was ich hatte, wohin ich ging und wer ich war. Sollten sie doch tuscheln und mich verurteilen. Zum Glück versuchten sie nicht noch einmal, meine Haare anzufassen. Ich halte auch nichts vom Krieg.
Der Sicherheitsbeamte sah mich düster an, als ich vortrat. Hinter ihm sah ich drei Eingänge; der mittlere führte zu einem Schiff namens »Dritter Fisch«. Damit wollte ich nach Oomza Uni fliegen. Durch die große runde Tür konnte ich einen langen, von blauen Lichtern sanft erhellten Gang sehen.
»Vortreten!«, sagte der Beamte. Er trug die gleiche Uniform wie alle einfachen Raumhafenmitarbeiter – ein langes weißes Gewand und graue Handschuhe. Ich hatte diese Uniformen bisher nur in Streaming-Geschichten und Büchern gesehen, und trotz allem hätte ich beinahe gekichert. Er sah so albern aus. Ich trat vor, und alles wurde warm und rot.
Als der Körperscanner seine Arbeit mit einem Piepen beendete, griff der Sicherheitsbeamte in meine linke Tasche und holte mein Edan heraus. Er sah es mürrisch und misstrauisch an.
Ich wartete. Was wusste er darüber?
Er betrachtete den mit Zacken versehenen Würfel und drückte auf die vielen Spitzen. Er musterte die seltsamen Symbole, die ich seit zwei Jahren vergeblich zu entschlüsseln versuchte. Er hob den Würfel hoch, um die blauen und schwarzen und weißen Muster besser erkennen zu können. Sie erinnerten mich an die Spitze, die man jungen Mädchen auf den Kopf legte, wenn sie nach ihrem elften Geburtstag zum Elften Ritual gebracht wurden.
»Woraus ist das gemacht?«, fragte der Beamte, während er den Würfel über einen Scanner hielt. »Ich kann das Metall nicht zuordnen.«
Ich hob die Schultern. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass die Leute, die hinter mir in der Schlange standen, mich anstarrten. Auf sie wirkte ich wahrscheinlich wie die Menschen, die in Höhlen tief in der Hinterwüste lebten und durch die Sonne so schwarz geworden waren, dass sie wie aufrecht gehende Schatten wirkten. Leider fließt auch in meinen Adern etwas Wüstenvolkblut. Das stammt von den Vorfahren meines Vaters und sorgt dafür, dass meine Haut besonders dunkel und meine Haare besonders buschig sind.
»In deiner Identität sehe ich, dass du eine Harmonistin bist, eine sehr gute, die einige der besten Astrolabien herstellt«, sagte er. »Aber dieser Gegenstand ist kein Astrolabium. Hast du ihn hergestellt? Und wieso weißt du nicht, woraus er besteht, wenn du ihn hergestellt hast?«
»Ich habe ihn nicht hergestellt«, antwortete ich.
»Wer sonst?«
»Das ist … das ist nur ein altes, altes Ding. Es macht nichts und darin fließt kein Strom. Das ist nur ein kaputter, alter computerisierter Apparat, den ich als Glücksbringer benutze.« Das war nur die halbe Wahrheit. Doch selbst ich wusste nicht genau, wozu er in der Lage war.
Der Mann schien mir noch weitere Fragen stellen zu wollen, tat es aber nicht. Innerlich lächelte ich. Die Sicherheitsbeamten der Regierung besuchten die Schule nur bis zum zehnten Lebensjahr, aber aufgrund ihrer Position waren sie daran gewöhnt, Menschen herumzukommandieren. Und Leute wie mich behandelten sie besonders herablassend. Anscheinend waren diese Beamten überall gleich, egal zu welchem Stamm sie gehörten. Ich hatte keine Ahnung, was ein »computerisierter Apparat« war, aber er konnte nicht zugeben, dass ein armes Himbamädchen gebildeter war als er. Nicht vor all diesen Leuten. Also winkte er mich rasch durch. Endlich stand ich vor dem Eingang des Schiffs.
Ich konnte das Ende des Gangs nicht sehen, also betrachtete ich den Eingang. Das Schiff war eine wundervolle Konstruktion aus lebender Technologie. Dritter Fisch war eine Miri 12, ein Schiffstyp, der eng mit einer Garnele verwandt war. Miri 12er waren stabile, ruhige Wesen mit einem natürlichen Exoskelett, das dem lebensfeindlichen All trotzte. Man hatte sie genetisch verbessert, sodass es in ihren Körpern drei Atmungskammern gab.
Wissenschaftler siedelten schnell wachsende Pflanzen in diesen drei gewaltigen Räumen an. Die verwandelten nicht nur CO2, das aus anderen Bereichen des Schiffs abgepumpt wurde, in Sauerstoff, sondern absorbierten auch Benzol, Formaldehyd und Trichlorethylen. Das war die fantastischste Technologie, von der ich je gehört hatte. Sobald ich mich auf dem Schiff eingelebt hatte, würde ich jemanden bitten, mir einen dieser Räume zu zeigen. Doch momentan dachte ich nicht über die Technologie des Schiffs nach. Ich stand an der Grenze zwischen meiner Heimat und meiner Zukunft.
Ich betrat den blauen Gang.
So fing das alles also an. Ich fand meine Kabine. Ich fand meine Gruppe – elf weitere neue Studenten, alles Menschen, alles Khoush im Alter von fünfzehn bis achtzehn Jahren. Eine Stunde später baten meine Mitstudenten und ich einen Schiffstechniker, uns eine der Atmungskammern zu zeigen. Ich war nicht die einzige neue Oomza-Studentin, die unbedingt einmal diese Technologie in der Praxis sehen wollte. Die Luft in dem Raum roch nach den Dschungeln und Wäldern, die ich nur aus Büchern kannte. Die Pflanzen hatten dicke Blätter und wuchsen überall, an der Decke, den Wänden und auf dem Boden. Sie blühten, und ich hätte den weichen, angenehmen Duft gern tagelang geatmet.
Einige Stunden später begegneten wir unserem Gruppenführer. Er war ein strenger alter Khoush, der uns zwölf musterte und nach einer Pause zu mir sagte: »Warum bedeckt roter, fettiger Lehm deine Haut, und wieso belastest du deine Knöchel mit Stahlringen?« Als ich ihm sagte, ich sei eine Himba, antwortete er kühl: »Ich weiß, aber das ist keine Antwort auf meine Frage.« Ich erklärte ihm, wie mein Volk traditionell seine Haut pflegte und dass die Stahlringe an den Knöcheln vor Schlangenbissen schützten. Er betrachtete mich lange, und die anderen Studenten starrten mich wie einen seltenen, bizarren Schmetterling an.
»Trag deinen Otjize«, sagte er, »aber nicht so viel, dass du das Schiff verschmutzt. Und wenn diese Ringe dich vor Schlangenbissen schützen, dann brauchst du sie ja nicht mehr.«
Ich streifte alle Ringe bis auf zwei an jedem Knöchel ab. So klimperten sie immer noch bei jedem Schritt.
Ich war die einzige Himba auf einem Schiff, das fast fünfhundert Passagiere beförderte. Mein Stamm ist von Innovation und Technologie fasziniert, doch er lebt zurückgezogen, und wie ich schon sagte, verlassen wir die Erde nicht gern. Wir erkunden das Universum lieber durch Reisen nach innen, nicht nach außen. Kein Himba hat je Oomza Uni besucht. Es war also nicht überraschend, dass ich die Einzige meines Stammes an Bord war. Doch etwas, das einen nicht überrascht, kann trotzdem schwer sein.
Das Schiff war voller Menschen, die den Blick nach außen richteten, Mathematik und Experimente liebten, gerne lernten, lasen, erfanden, studierten und enthüllten. Die Leute auf dem Schiff waren keine Himba, aber ich erkannte schon bald, dass sie trotzdem meine Leute waren. Ich fiel als Himba auf, aber unsere Gemeinsamkeiten überwogen. Ich fand rasch Freunde. Und nach einer Woche im All waren sie gute Freunde.
Olo, Remi, Kwuga, Nur, Anajama, Rhoden. Nur Olo und Remi gehörten zu meiner Gruppe. Die anderen lernte ich im Speisesaal oder im Lernraum kennen, in dem die Professoren an Bord des Schiffs Vorlesungen hielten. Alle waren junge Frauen, die in großen Häusern aufgewachsen, nie durch die Wüste gegangen und nie im trockenen Gras auf eine Schlange getreten waren. Sie hielten die Strahlen der irdischen Sonne nur aus, wenn sie durch verdunkelte Fenster fielen.
Doch sie alle wussten genau, was ich meinte, wenn ich von »verästeln« sprach. Wir saßen in meinem Zimmer (weil ich so wenig Gepäck hatte, dass dort am meisten Platz war) und spielten ein Spiel, bei dem wir die Sterne betrachteten und uns die komplexeste Gleichung vorstellten, die uns einfiel. Dann teilten wir sie in zwei Teile und dann noch einmal in zwei Teile und noch einmal. Wenn man mathematische Fraktale lang genug übte, dann verästelte man sich so sehr, dass man sich in den Tiefen des mathematischen Ozeans verlor. Keine von uns wäre an der Uni aufgenommen worden, wenn wir das nicht gekonnt hätten, aber es war nicht leicht. Doch wir waren die Besten und feuerten einander an, um »Gott« immer näherzukommen.
Dann war da noch Heru. Ich hatte noch nie mit ihm gesprochen, aber wir lächelten uns beim Essen über den Tisch hinweg an. Er stammte aus einer Stadt, die so weit von meiner entfernt war, dass sie auch aus meiner Fantasie hätte stammen können. Es gab dort Schnee, und Männer ritten auf riesigen grauen Vögeln und Frauen sprachen mit diesen Vögeln, ohne den Mund zu bewegen.
Einmal stand Heru mit einem seiner Freunde hinter mir in der Schlange vor dem Buffet. Ich spürte, wie jemand einen meiner Zöpfe anhob. Während ich herumfuhr, baute sich bereits Wut in mir auf. Dann sah ich ihn an und er ließ meine Haare rasch los. Lächelnd hob er die Hände. »Ich konnte nicht anders«, sagte er. Mein Otjize färbte seine Fingerspitzen rot.
»Du hast dich nicht in der Gewalt?«, fuhr ich ihn an.
»Du hast genau einundzwanzig Zöpfe«, sagte er. »Und sie sind zu tessilierten Dreiecken geflochten. Ist das eine Art Code?«
Ich wollte ihm erklären, dass es sich um einen Code handelte, dass das Muster die Blutlinie meiner Familie, unsere Kultur und Geschichte darstellte. Dass mein Vater das Muster entworfen und meine Mutter und meine Tanten mir gezeigt hatten, wie ich es in meine Haare einflechten musste. Doch als ich Heru ansah, pochte mein Herz und mir wollten keine Worte einfallen, also zuckte ich nur mit den Schultern und wandte mich ab, um mir eine Schale Suppe zu nehmen. Heru war groß und hatte die weißesten Zähne, die ich je gesehen hatte. Und er war sehr gut in Mathematik; nur wenigen wäre der Code in meinen Haaren aufgefallen.
Aber ich konnte ihm nicht mehr erklären, dass das Muster in meinen Haaren die Geschichte meines Volkes erzählte. Denn was geschah, geschah. Es passierte am achtzehnten Tag der Reise, fünf Tage vor unserer Ankunft auf dem Planeten Oomza Uni, der wichtigsten und innovativsten Universität der Galaxis. Ich war so glücklich wie noch nie zuvor in meinem Leben und weiter weg von meiner geliebten Familie, als ich es je gewesen war.
Ich saß am Tisch und aß genüsslich einen gallertartigen, milchigen Nachtisch, in dem kleine Kokosnussstückchen steckten. Ich sah Heru an, der mich nicht ansah. Ich legte die Gabel weg und nahm mein Edan in die Hand. Ich spielte damit herum, während ich zusah, wie Heru mit dem Jungen, der neben ihm saß, redete. Der leckere, cremige Nachtisch zerfloss kühl auf meiner Zunge. Neben mir sangen Olo und Remi ein traditionelles Lied aus ihrer Stadt, weil sie Heimweh hatten. Man musste das Lied mit einer wässrigen Stimme singen, als sei man ein Wassergeist.
Dann schrie jemand, und Herus Brust platzte auf. Sein warmes Blut bespritzte mich. Hinter ihm stand ein Meduse.
In meiner Kultur gilt es als blasphemisch, unbelebte Gegenstände anzubeten, doch ich tat das trotzdem. Ich betete zu einem Metall, das selbst mein Vater nicht hatte bestimmen können. Ich drückte es an meine Brust, schloss die Augen und betete zu ihm: Ich stehe unter deinem Schutz. Bitte beschütze mich! Ich stehe unter deinem Schutz. Bitte beschütze mich!
Ich zitterte so sehr, dass ich mir auf einmal vorstellen konnte, wie es sich anfühlen musste, wenn man vor Angst starb. Ich hielt den Atem an. Ihr Gestank lag mir immer noch auf der Zunge und steckte in meiner Nase. Herus zähflüssiges Blut klebte an meinem Gesicht. Ich betete zu dem geheimnisvollen Metall, aus dem mein Edan bestand, weil ich glaubte, dass nur es mich in diesem Moment vor dem Tod bewahrte.
Ich atmete schwer durch den Mund und riskierte einen kurzen Blick. Dann schloss ich die Augen gleich wieder. Die Medusen schwebten nur dreißig Zentimeter von mir entfernt in der Luft. Einer hatte sich auf mich geworfen, doch war nur wenige Zentimeter vor mir erstarrt. Einen Tentakel hatte er nach meinem Edan ausgestreckt, der färbte sich nun aschgrau, während er austrocknete wie ein totes Blatt.
Ich hörte die anderen. Ihre halbfesten Körper raschelten, während sich ihre transparenten Hauben bei jedem Atemzug aufblähten und wieder zusammenfielen. Sie waren so groß wie erwachsene Männer, das Fleisch ihrer Hauben war so dünn wie feine Seide, und ihre langen Tentakel hingen zu Boden wie riesige, geisterhafte Nudeln. Ich presste das Edan fester an mich. Ich stehe unter deinem Schutz. Bitte beschütze mich!
Alle im Speisesaal waren tot. Mindestens einhundert Menschen. Ich ahnte, dass alle an Bord tot waren. Die Medusen waren in den Saal gestürmt und hatten moojh-ha ki-bira begangen, bevor jemand hatte reagieren können. So nennen das die Khoush. Wir hatten im Geschichtsunterricht diese Tötungsmethode der Medusen gelernt. Die Khoush bauten die Lektionen in Geschichts-, Literatur- und Kulturunterricht in unterschiedlichsten Regionen ein. Die Khoush wollten, dass jeder sich an ihren Erzfeind und dessen größte Ungerechtigkeit erinnerte. Im Mathematik- und Wissenschaftsunterricht lernten wir sogar etwas über die Anatomie der Medusen und über die Grundlagen ihrer Technologie.
Moojh-ha ki-bira bedeutet »große Welle«. Die Medusen bewegen sich wie Wasser, wenn sie im Krieg sind. Es gibt kein Wasser auf ihrem Planeten, aber sie verehren das Wasser wie eine Gottheit. Ihre Vorfahren kamen vor langer Zeit aus dem Wasser. Die Khoush lebten in den wasserdurchsetztesten Gegenden auf der Erde, einem Planeten, der hauptsächlich aus Wasser bestand. Sie betrachteten die Medusen als minderwertig.
Die Probleme zwischen den Medusen und den Khoush basierten auf einem alten Kampf und einer noch älteren Meinungsverschiedenheit. Irgendwie hatten sie sich darauf geeinigt, keine Schiffe mehr anzugreifen. Doch hier begingen die Medusen moojh-ha ki-bira.
Ich hatte mit meinen Freundinnen geredet.
Meinen Freundinnen.
Olo, Remi, Kwuga, Nur, Anajama, Rhoden und Dullaz. Wir hatten so oft bis spät in die Nacht über unsere Angst, Oomza Uni könnte zu schwer und fremd für uns sein, gelacht. Wir alle hatten verzerrte Vorstellungen von der Universität, die sehr wahrscheinlich falsch waren … oder höchstens halb richtig. Wir hatten so viel gemeinsam. Ich dachte nicht an mein Zuhause oder wie ich es hatte verlassen müssen, und ich dachte auch nicht an die schrecklichen Nachrichten, die meine Familie einige Stunden nach meiner Abreise an mein Astrolabium geschickt hatte. Ich richtete den Blick auf meine Zukunft, und ich lachte, weil sie so vielversprechend war.
Dann kamen die Medusen in den Speisesaal. Ich sah Heru gerade an, als der rote Kreis an der oberen linken Seite seines Hemds auftauchte. Das Ding, das sich wie ein Schwert hindurchschob, war so dünn wie Papier … und beweglich und nicht gegen Blutflecken gefeit. Die Spitze wackelte und krümmte sich wie ein Finger. Ich sah, wie sie sich in das Fleisch nahe Herus Schlüsselbein grub.
Moojh-ha ki-bira.
Ich weiß nicht mehr, was ich tat oder sagte. Meine Augen waren geöffnet und nahmen alles in sich auf, doch mein restliches Gehirn schrie. Ohne Grund konzentrierte ich mich auf die Zahl fünf. Immer und immer wieder dachte ich 5-5-5-5-5-5-5-5, während der Schock aus Herus Blick verschwand und er leer wurde. Aus seinem geöffneten Mund drang ein würgendes Geräusch, dann quoll rotes, mit Speichelblasen vermischtes Blut daraus hervor. Er fiel nach vorn. Sein Kopf traf mit einem dumpfen Knall auf den Tisch. Sein Hals war zur Seite gedreht, daher konnte ich seine offenen Augen sehen. Seine linke Hand krampfte sich zusammen und lag dann still. Doch seine Augen waren immer noch offen. Er blinzelte nicht.
Heru war tot. Olo, Remi, Kwuga, Nur, Anajama, Rhoden und Dullaz waren tot. Alle waren tot.
Der Speisesaal stank nach Blut.
Niemand aus meiner Familie hatte gewollt, dass ich die Oomza-Universität besuchte. Selbst mein bester Freund Dele hatte mich nicht gehen lassen wollen. Doch kurz nachdem ich von meiner Aufnahme an die Universität erfahren und meine ganze Familie Nein gesagt hatte, scherzte Dele, wenn ich ginge, müsste ich mir wenigstens keine Sorgen wegen der Medusen machen, weil ich die einzige Himba an Bord des Schiffs sein würde.
»Selbst wenn sie alle anderen umbringen, werden sie dich nicht einmal sehen«, hatte er gesagt. Dann hatte er laut gelacht, weil er sich sicher war, dass ich ohnehin nicht gehen würde.
Nun erinnerte ich mich an seine Worte. Dele. Ich hatte die Gedanken an ihn verdrängt und seine Nachrichten nicht gelesen. Ich konnte nur weitermachen, indem ich die Menschen, die mir etwas bedeuteten, ignorierte. Als ich das Stipendium für ein Studium an der Oomza Uni bekommen hatte, war ich in die Wüste hinausgegangen und hatte stundenlang geweint. Vor Freude.
Ich hatte das gewollt, seit ich wusste, was eine Universität war. Oomza Uni stand unangefochten an der Spitze, nur fünf Prozent der Bevölkerung waren Menschen. Was für eine Vorstellung, zu diesen fünf Prozent zu gehören, mit ihnen zusammen über Wissen, Schöpfung und Entdeckungen zu sprechen. Dann ging ich nach Hause, erzählte meiner Familie davon und weinte vor Entsetzen.
»Du kannst nicht gehen«, sagte meine älteste Schwester. »Du bist eine Harmonistenmeisterin. Wer soll denn sonst Vaters Geschäft übernehmen?«
»Sei nicht so egoistisch!«, spie mir meine Schwester Suun entgegen. Obwohl sie nur ein Jahr älter war als ich, glaubte sie, sie könne über mein Leben bestimmen. »Jage nicht dem Ruhm hinterher, sondern sei realistisch. Du kannst nicht einfach abhauen und durch die Galaxis fliegen.«
Meine Brüder hatten gelacht, weil sie die Vorstellung nicht ernst nehmen konnten. Meine Eltern sagten gar nichts, sie gratulierten mir noch nicht einmal. Ihr Schweigen war Antwort genug. Und mein bester Freund Dele? Er gratulierte mir und sagte, ich sei schlauer als alle anderen an der Oomza Uni, aber dann lachte auch er. »Du kannst nicht gehen«, sagte er schlicht. »Wir sind Himba. Unser Schicksal ist von Gott vorherbestimmt.«
Als erste Himba in der Geschichte unseres Volkes war ich an der Oomza Uni angenommen worden. Die Hassbotschaften und Morddrohungen, die Häme und das Gelächter der Khoush in meiner Stadt sorgten dafür, dass ich mich am liebsten versteckt hätte. Doch tief in mir wollte ich … brauchte ich dieses Studium. Ich musste es antreten. Die Sehnsucht war so stark, dass sie mir mathematisch erschien. Wenn ich allein in der Wüste saß und dem Wind lauschte, sah und fühlte ich die Zahlen so wie im Geschäft meines Vaters, wenn ich mich tief in meine Arbeit vergraben hatte. Und zusammengenommen ergaben diese Zahlen die Summe meines Schicksals.
Also füllte ich die Annahmeformulare heimlich aus und lud sie hoch. In der Wüste hatte ich ausreichend Privatsphäre, als die Universität mich auf meinem Astrolabium kontaktierte, um einige Vorabgespräche zu führen. Als alles erledigt war, packte ich meine Sachen und stieg in das Shuttle. Ich komme aus einer Familie von Bitolus; mein Vater ist ein Harmonistenmeister, und ich sollte in seine Fußstapfen treten. Wir Bitolus verstehen die wirklich tiefgründige Mathematik und wir können ihren Strom kontrollieren. Wir verstehen Systeme. Wir sind nur wenige, und wir sind glücklich und haben kein Interesse an Waffen und Kriegen, aber wir können uns verteidigen. Wie mein Vater sagt: »Gott ist mit uns.«
Ich presste mir das Edan an die Brust, als ich die Augen öffnete. Der Meduse vor mir war blau und transparent, abgesehen von einem Tentakel, der so rosa wie das Wasser des Salzsees in der Nähe meines Dorfes war. Er hatte sich eingerollt wie der Ast eines Baumes, dessen Wuchs eingeschränkt wurde. Ich hielt mein Edan hoch und der Meduse zuckte zurück. Er stieß Gas aus und atmete laut ein. Angst, dachte ich. Das ist Angst.
Als ich erkannte, dass die Stunde meines Todes noch nicht gekommen war, erhob ich mich. Ich sah mich rasch in dem großen Saal um. Essensgerüche mischten sich in den Gestank nach Blut und Medusengasen. Gegrilltes und mariniertes Fleisch, brauner Langkornreis, scharfer roter Eintopf, Fladenbrot und das Kokosdessert, das ich so gerne mochte. Alles stand immer noch in der Auslage. Das warme Essen kühlte wie die menschlichen Leichen ab, der Nachtisch trocknete ein wie der tote Meduse.
»Zurück!«, zischte ich und hielt dem blauen Medusen das Edan entgegen. Meine Kleidung raschelte und meine Knöchel klimperten, als ich aufstand und meinen Rücken gegen den Tisch presste. Die Medusen waren hinter und neben mir, aber ich konzentrierte mich nur auf den einen vor mir. »Das kann dich umbringen«, sagte ich so aggressiv wie möglich. Ich räusperte mich und sprach lauter. »Du hast gesehen, was es deinem Bruder angetan hat.«
Ich zeigte auf den toten Medusen, der einen halben Meter entfernt am Boden lag; sein weiches Fleisch war ausgetrocknet und wurde braun und undurchsichtig. Er hatte versucht, mich anzugreifen, aber etwas hatte ihn umgebracht. Er zerfiel bereits langsam zu Staub. Die Vibrationen, die meine Stimme verursachte, reichten, um die Überreste zu destabilisieren. Ich ergriff meine Tasche und wich vom Tisch zurück. Mein Ziel war das Buffet. Meine Gedanken rasten. Ich sah Zahlen und verschwommene Formen. Gut. Ich war die Tochter meines Vaters. Er hatte mir die Traditionen unserer Vorfahren beigebracht, und ich beherrschte sie besser als alle anderen in der Familie.
»Ich bin Binti Ekeopara Zuzu Dambu Kaipka aus Namib«, flüsterte ich. Daran erinnerte mich mein Vater immer, wenn er sah, wie mein Blick beim Verästeln leer wurde. Dann verkündete er laut seine Lektionen. Er sprach über Astrolabien, ihre Funktionsweise, die Kunst, sie herzustellen und sich in ihnen zurechtzufinden, und ihren Ursprung. In der Zeit, die ich in diesem Zustand verbrachte, vermittelte mir mein Vater drei Jahrhunderte des Wissens über Schaltkreise, Drähte, Metalle, Öle, Hitze, Elektrizität, Matheströme und Sandbarren.
Mit zwölf Jahren wurde ich Harmonistenmeisterin. Ich konnte mit dem Geisterfluss kommunizieren und sie dazu bringen, zu einem Strom zu werden. Meine Mutter hatte mir die Gabe des mathematischen Auges vererbt. Meine Mutter benutzte sie nur, um die Familie zu beschützen, aber ich würde sie an einer der besten Universitäten der Galaxis trainieren … falls ich überlebte. »Binti Ekeopara Zuzu Dambu Kaipka aus Namib, das ist mein Name«, wiederholte ich.
Ich bewegte mich schnell. In einer Hand hielt ich das Edan, in der anderen das voll beladene Tablett. Die schwere Tasche hing von meiner Schulter. Die Medusen folgten mir schwebend. Ihre Tentakel glitten über den Boden. Sie hatten keine Augen, aber ich wusste, dass an den Spitzen ihrer Tentakel Geruchsrezeptoren saßen. Sie sahen durch Geruch.
Der Gang, der zu den Kabinen führte, war breit, und alle Türen waren vergoldet. Mein Vater hätte sich über eine solche Verschwendung aufgeregt. Gold war ein Informationsleiter und seine mathematischen Signale waren stärker als die von allen anderen Metallen. Doch hier wurde nur damit geprotzt.
Als ich meine Kabine erreichte, endete meine Trance plötzlich und ich wusste auf einmal nicht mehr, was ich als Nächstes tun sollte. Ich hörte mit dem Verästeln auf, und die Klarheit verschwand ebenso aus meinem Kopf wie die Selbstsicherheit. Ich dachte gerade noch daran, mein Auge von der Tür scannen zu lassen. Sie öffnete sich. Ich ging rasch hinein und hörte, wie sie sich mit einem saugenden Geräusch hinter mir schloss und die Kabine praktisch versiegelte. Ich nahm an, dass das Notfallprogramm des Schiffes dafür gesorgt hatte.
Ich konnte eben noch das Tablett und meine Tasche auf das Bett legen, bevor meine Beine nachgaben. Ich sank neben dem schwarzen Sessel an der Wand auf den kühlen Boden. Mein Gesicht war verschwitzt, also legte ich meine Wange einen Moment lang auf den Boden und seufzte. Bilder meiner Freundinnen Olo, Remi, Kwuga, Nur, Anajama und Rhoden drängten sich in meinem Kopf. Ich hörte Heru leise über mir lachen … und dann das Geräusch, mit dem seine Brust aufgerissen wurde. Ich spürte sein heißes Blut auf meinem Gesicht. Ich wimmerte und biss mir auf die Lippe. »Ich bin hier, ich bin hier, ich bin hier«, flüsterte ich. Weil ich das war und es keinen Ausweg gab. Ich schloss die Augen, als mir die Tränen kamen. Ich rollte mich zusammen und blieb einige Minuten so liegen.
Ich hielt mir das Astrolabium vor das Gesicht. Das Gehäuse bestand aus einem goldenen Sandbarren, den ich bearbeitet und poliert hatte. Es war so groß wie eine Kinderhand und wesentlich besser als die, die man selbst bei hervorragenden Händlern kaufen konnte. Das Gewicht war an meine Hände angepasst, die Regler reagierten nur auf meine Finger, und seine Ströme waren so rein, dass sie wahrscheinlich noch fließen würden, wenn meine zukünftigen Kinder ihr Leben beendet hatten. Ich hatte dieses Astrolabium vor zwei Monaten speziell für diese Reise konstruiert. Es ersetzte jenes, das mein Vater mir geschenkt hatte, als ich drei Jahre alt gewesen war.
Ich setzte dazu an, dem Astrolabium meinen Familiennamen zu nennen, doch dann flüsterte ich: »Nein«, und legte es auf meinen Bauch. Meine Familie war mittlerweile einige Planeten weit entfernt; sie konnten nichts tun, nur weinen. Ich berührte den Ein-Schalter und sagte: »Notfall.« Das Astrolabium erwärmte sich in meinen Händen, vibrierte und sonderte einen beruhigend wirkenden Rosengeruch ab. Dann wurde es kühl. »Notfall«, wiederholte ich, aber dieses Mal erwärmte es sich nicht einmal.
»Karte«, sagte ich und hielt den Atem an, während ich wartete. Ich warf einen Blick zur Tür. Ich hatte gelesen, dass die Medusen durch Wände gehen konnten, aber selbst ich wusste, dass nicht alle Informationen, die in Büchern standen, stimmten. Vor allem, wenn diese Informationen die Medusen betrafen. Meine Tür war gesichert, aber da ich Himba war, hatten die Khoush mir bestimmt keine komplett gesicherte Kabine zugeteilt. Die Medusen konnten hereinkommen, wann immer sie wollten oder wenn sie bereit waren, den Tod zu riskieren, um mich loszuwerden. Ich war zwar keine Khoush … aber ein Mensch auf einem Schiff der Khoush.
Mein Astrolabium erwärmte sich plötzlich und vibrierte. »Du bist momentan 171 Stunden von deinem Ziel Oomza Uni entfernt«, sagte es mit seiner Flüsterstimme. Also störte es die Medusen nicht, wenn ich den Standort des Schiffes kannte. Die virtuelle Konstellation erhellte meine Kabine mit ihren weißen, hellblauen, roten, gelben und orangefarbenen Punkten und langsam rotierenden Kugeln. Manche waren so klein wie eine Fliege, andere so groß wie meine Faust. Die Sonnen, Planeten und Territorien waren in ein mathematisches Netz eingebettet, das ich schon immer mühelos hatte lesen können. Das Schiff hatte mein Sonnensystem schon lange verlassen. Wir waren mitten in einem Gebiet, das man den »Dschungel« nannte, langsamer geworden. Die Piloten des Schiffs hätten wachsamer sein sollen. »Und vielleicht weniger arrogant«, sagte ich. Mir wurde übel.
Das Schiff war immer noch auf dem Weg nach Oomza Uni, was mich ein wenig optimistisch stimmte. Ich schloss die Augen und betete zu den Sieben. Ich wollte sie fragen: »Wieso habt ihr das zugelassen?«, doch das wäre blasphemisch gewesen. Man fragte nie nach dem Warum. Diese Frage stand einem nicht zu.
»Ich werde hier sterben.«
Zweiundsiebzig Stunden später lebte ich immer noch. Aber ich hatte nichts mehr zu essen und nur noch wenig Wasser. Ich und meine Gedanken in dem kleinen Zimmer, kein Weg nach draußen. Ich musste mit dem Weinen aufhören. Ich konnte es mir nicht leisten, Wasser zu verlieren. Es gab keine Toiletten in meiner Kabine, deshalb hatte ich den Behälter benutzen müssen, in dem sich meine Glasperlensammlung befand. Ich hatte nur ein Glas mit Otjize. Damit reinigte ich meinen Körper, so gut es ging. Ich ging auf und ab, sagte Gleichungen auf und war mir sicher, dass ich, sollte ich nicht zuerst verhungern oder verdursten, an den Strömen sterben würde, die ich nervös erschuf und entlud, um mich zu beschäftigen.
Ich warf erneut einen Blick auf die Karte und sah das, was ich erwartet hatte: Wir waren immer noch auf dem Weg nach Oomza Uni. »Aber warum?«, flüsterte ich. »Die Sicherheitssysteme werden …«
Ich schloss die Augen und versuchte, mich davon abzuhalten, den Gedanken ein weiteres Mal zu vollenden. Doch es gelang mir nie, mich selbst aufzuhalten, auch dieses Mal nicht. Vor meinem geistigen Auge sah ich, wie ein leuchtend gelber Strahl von Oomza Uni zu meinem Schiff schoss und es in ein loderndes, stummes Trümmerfeld aus Licht und Flammen verwandelte. Ich stand auf und schlurfte von einer Seite der Kabine zur anderen, während ich redete. »Medusen, die sich umbringen wollen? Aber das ergibt doch keinen Sinn. Vielleicht wissen sie nicht, wie man …«
Ein langsames Klopfen ertönte an meiner Tür, und ich sprang vor Schreck fast bis an die Decke. Dann erstarrte ich und lauschte mit jeder Faser meines Körpers. Abgesehen vom Klang meiner eigenen Stimme hatte ich nach diesen ersten vierundzwanzig Stunden nichts gehört. Es wurde wieder geklopft. Der letzte Klopfer war laut und fest, fast wie ein Tritt, erklang aber nicht am unteren Ende der Tür.
»Ich … Lasst mich in Ruhe!«, schrie ich und ergriff mein Edan. Auf meine Worte folgten ein harter Schlag gegen die Tür und ein wütendes Zischen. Ich kreischte und entfernte mich so weit wie möglich von der Tür. Dabei wäre ich beinahe über meinen Koffer gestolpert. Denke, denke, denke! Keine Waffen außer dem Edan … und ich wusste nicht, was es zur Waffe machte.
Alle waren tot. Ich war achtundvierzig Stunden vom sicheren Ziel oder einem explosiven Tod entfernt. Es heißt, dass man, wenn man vor einem Kampf steht, den man nicht gewinnen kann, völlig unberechenbar handelt. Doch ich hatte immer gewusst, dass ich bis zum Tod kämpfen würde. Selbstmord oder das freiwillige Aufgeben des eigenen Lebens waren ein Gräuel. Ich war mir sicher, dass ich bereit war. Die Medusen waren sehr intelligent; es würde ihnen gelingen, mich trotz meines Edan umzubringen.
Trotzdem griff ich nicht einfach nach der erstbesten Waffe. Ich bereitete mich nicht auf meinen letzten, gewalttätigen, tollwütigen Kampf vor. Ich sah meinem Tod ins Auge und dann … dann ergab ich mich ihm. Ich setzte mich auf das Bett und wartete auf den Tod. Mein Körper fühlte sich bereits an, als gehöre er nicht mehr mir. Ich ließ ihn los. Und in diesem Moment meiner totalen Unterwerfung fiel mein Blick auf die verästelten blauen Fraktale meines Edan.
Und ich sah es.
Ich sah es richtig.
Und ich lächelte unwillkürlich und dachte: Wie konnte mir das entgehen?
Ich saß im Sessel am Fenster und rieb mir Otjize in die Zöpfe. Ich betrachtete meine geröteten Hände, hielt sie mir vor die Nase und roch an ihnen. Öliger Lehm, der von süßen Blumen, dem Wüstenwind und der Erde erzählte. Heimat, dachte ich. Tränen brannten in meinen Augen. Ich hätte nicht gehen sollen. Ich hob das Edan auf und suchte nach dem, was ich gesehen hatte. Ich drehte es immer wieder vor meinen Augen. Das blaue Objekt, dessen zahlreiche Spitzen ich gerieben, gedrückt und angestarrt, über die ich so viele Jahre nachgedacht hatte.
Es wurde erneut gegen die Tür geschlagen. »Lasst mich in Ruhe!«, murmelte ich schwach.
Ich schmierte Otjize auf eine spiralförmige Spitze des Edan, die mich schon immer an einen Fingerabdruck erinnert hatte. Ich rieb ihn mit langsamen, kreisenden Bewegungen hinein. Meine Schultern entspannten sich, als ich mich beruhigte. Dann fiel mein hungriges, durstiges Gehirn in eine mathematische Trance, so wie ein Stein in tiefes Wasser fällt. Ich spürte, wie das Wasser mich umgab und mich immer tiefer und tiefer und tiefer zog.
Mein umwölkter Verstand wurde klar, und alles war auf einmal still und reglos. Meine Finger polierten immer noch das Edan. Ich roch meine Heimat und hörte, wie der Wüstenwind Sandkörner übereinander wehte. Mein Magen kribbelte, als ich noch tiefer fiel, und mein ganzer Körper fühlte sich süß und rein und leer und leicht an. Das Edan lag schwer in meinen Händen, so schwer, als würde es gleich durch mein Fleisch fallen.
»Oh!«, hauchte ich, als ich den winzigen Knopf bemerkte, der in der Mitte der Spirale entstanden war. Ihn hatte ich gesehen. Er war schon immer da gewesen, aber verschwommen, und nun sah ich ihn zum ersten Mal scharf. Ich drückte mit dem Zeigefinger darauf. Er versank mit einem leisen »Klick«, und dann fühlte sich der Stein auf einmal wie warmes Wachs an, und meine Umgebung waberte. Es wurde wieder laut an der Tür geklopft. Und dann hörte ich in der reinsten Stille, die ich je wahrgenommen hatte, einer Stille, so klar, dass das leiseste Geräusch sie hätte zerspringen lassen, eine feste, ölige, tiefe Stimme. »Mädchen«, sagte sie.
Ich wurde aus meiner Trance hinauskatapultiert. Meine Augen waren geweitet, mein Mund zu einem stummen Schrei aufgerissen.
»Mädchen«, sagte die Stimme erneut. Seit die letzten Schreie derer, die von den Medusen umgebracht worden waren, verhallt waren, hatte ich keine menschliche Stimme mehr gehört. Das war über zweiundsiebzig Stunden her.
Ich sah mich in der Kabine um. Ich war allein. Langsam drehte ich mich und sah aus dem Fenster. Da draußen war nichts außer der Schwärze des Alls.
»Mädchen. Du wirst sterben«, sagte die Stimme langsam. »Bald.« Ich hörte weitere Stimmen, aber sie waren so leise, dass ich sie nicht verstehen konnte. »Das Leid widerspricht dem Weg. Erlaube uns, dich zu beenden.«
Ich sprang auf. Das Blut schoss mir in den Kopf, und ich wäre beinahe zusammengebrochen, doch stattdessen fiel ich schmerzhaft hart auf die Knie. Das Edan umklammerte ich immer noch. Es wurde wieder an der Tür geklopft. »Aufmachen!«, befahl eine Stimme.
Meine Hände zitterten, aber ich ließ das Edan nicht fallen. Es war warm, und ein helles blaues Licht schien nun aus seinem Inneren. Ein Strom floss so stabil hindurch, dass sich die Muskeln meiner Hand zusammenzogen. Ich hätte es gar nicht fallen lassen können, selbst wenn ich es versucht hätte.
»Das werde ich nicht«, sagte ich durch zusammengebissene Zähne. »Lieber sterbe ich hier, zu meinen Bedingungen.«
Das Klopfen hörte auf. Dann hörte ich mehrere Geräusche gleichzeitig. Ein Schlurfen vor der Tür, aber nicht in Richtung Kabine, sondern weg davon. Verängstigtes Stöhnen und Schluchzen. Weitere Stimmen. Mehrere.
»Es ist böse!«
»Es trägt Schande in sich«, sagte eine andere Stimme. Zum ersten Mal hörte ich hier eine Stimme, die hoch und fast schon weiblich klang. »Die Schande, die es trägt, ermöglicht ihr, Sprache nachzuahmen.«
»Nein, dafür müsste es Verstand haben«, sagte eine andere Stimme.
»Böse! Lass mich die Tür deaktivieren und es töten.«
»Okwu, du wirst sterben, wenn du …«
»Ich werde es umbringen!«, knurrte der, der Okwu genannt wurde. »Mein Tod wird ehrenvoll sein! Wir sind schon zu weit gekommen, wir können …«
»Mir nichts antun«, brüllte ich plötzlich. »O… Okwu!« Einen der Meduse mit dem Namen direkt anzusprechen, erschien mir seltsam, aber ich fuhr fort. »Okwu, warum redest du nicht mit mir?«
Ich warf einen Blick auf meine verkrampften Hände. Aus meinem Edan drang der wahrscheinlich stärkste Strom, den ich je erschaffen hatte. Seine gezackten blauen Strahlen verästelten sich und zuckten, behielten aber ihre Verbindung untereinander bei. Langsam näherten sie sich der geschlossenen Tür. Der Strom berührte die Medusen. Verband sie mit mir. Obwohl ich ihn erschaffen hatte, kontrollierte ich ihn nicht mehr. Ich wollte vor Ekel schreien. Aber ich musste zuerst mein Leben retten. »Ich spreche mit euch!«, rief ich. »Ich!«
Stille.
Ich stand langsam und mit pochendem Herzen auf. Ich stolperte auf schrecklich schmerzenden Beinen zu der geschlossenen Tür. Ihr organischer Stahl war extrem dünn, gehörte aber zu den härtesten Substanzen auf meinem Planeten. An den Stellen, an denen der Strom sie berührte, entfalteten sich winzige grüne Blätter. Ich berührte sie, konzentrierte mich auf die Blätter und nicht auf die Tatsache, dass die Tür von einer Schicht aus Gold bedeckt wurde, einem der besten Kommunikationsleiter. Und nicht auf die Tatsache, dass die Medusen vor der Tür warteten.
Ich hörte ein Rascheln und musste all meinen Mut zusammennehmen, sonst wäre ich zurückgestolpert. Ich blähte die Nasenflügel auf und umklammerte das Edan. Das Gewicht der Haare auf meinen Schultern verlieh mir Sicherheit. Sie waren so schwer, weil sie mit Otjize eingerieben worden waren. Mein Volk glaubte, dass das Glück und Stärke brachte, und obwohl mein Volk weit, weit weg war, glaubte ich das auch.
Etwas, das laut und schwer gegen die Tür krachte, ließ mich aufschreien. Ich blieb, wo ich war. »Böses Ding«, sagte der, der Okwu genannt wurde. Von allen Stimmen ließ sich seine am leichtesten heraushören. Sie war die wütendste und verängstigtste. Und sie sprach wirklich und wurde nicht in meinen Geist übertragen. Ich hörte das Zischen des »s« in »böse« und das lang gezogene »i« in »Ding«. Hatten sie Münder?
»Ich bin nicht böse«, antwortete ich.
Hinter der Tür wurde geflüstert und geraschelt. Dann sagte die weiblicher klingende Stimme: »Öffne die Tür!«
»Nein.«
Sie redeten leise miteinander. Minuten vergingen. Ich sank zu Boden und lehnte mich an die Tür. Der blaue Strom sank mit mir und floss auf Schulterhöhe durch die Tür. Dort entfalteten sich weitere grüne Blätter. Einige fielen mir auf die Schulter und in den Schoß. Ich lehnte den Kopf an die Tür und betrachtete sie. Winzige grüne Blätter eines winzigen grünen Lebens, aber ich war dem Tode nah. Ich kicherte und mein leerer Magen knurrte und meine angespannten Unterleibsmuskeln schmerzten.
Dann fragte die knurrende Stimme, die mich böse genannt hatte und zu Okwu gehörte, langsam und ruhig: »Du verstehst uns?«
»Ja«, sagte ich.
»Menschen verstehen nur Gewalt.«
Ich schloss die Augen und fühlte, wie sich mein geschwächter Körper entspannte. Ich seufzte. »Ich töte nur kleine Tiere, wenn ich Hunger habe, und das schnell und mit einem nachträglichen Gebet, in dem ich dem Tier für sein Opfer danke.« Ich war erschöpft.
»Ich glaube dir nicht.«
»Und ich glaube dir nicht, dass du mich am Leben lassen wirst, wenn ich die Tür öffne. Ihr tut nichts anderes, als zu morden.« Ich öffnete die Augen. Ich wusste nicht, woher die Energie kam, die auf einmal meinen Körper erfüllte, aber sie machte mich so wütend, dass ich kaum Luft holen konnte. »Ihr … ihr habt … meine Freunde … ermordet!« Ich hustete und sackte zusammen. »Meine Freunde«, flüsterte ich. Tränen stiegen mir in die Augen. »Ohhh, meine Freunde.«
»Menschen müssen getötet werden, bevor sie uns töten«, sagte die Stimme.
»Ihr seid alle dumm«, stieß ich hervor. Ich wischte mir die Tränen vom Gesicht, aber sie flossen weiter. Ich schluchzte und atmete tief durch, um mich zusammenzureißen. Rotz lief mir aus der Nase. Als ich mir mit dem Ärmel über das Gesicht wischte, wurde draußen wieder geflüstert. Dann ergriff die helle Stimme das Wort.
»Was ist das für ein blauer Geist, den du geschickt hast, um die Kommunikation mit uns zu erleichtern?«
»Ich weiß es nicht.« Ich schniefte. Dann stand ich auf und ging zum Bett. Je weiter ich mich von der Tür entfernte, desto besser fühlte ich mich. Der blaue Strom dehnte sich aus, damit die Verbindung nicht abriss.
»Wieso verstehen wir dich?«, fragte Okwu. Ich konnte ihn immer noch problemlos verstehen.
»Ich … ich weiß es nicht.« Zuerst setzte ich mich auf das Bett, dann legte ich mich hin.
»Kein Meduse hat je mit einem Menschen gesprochen … außer vor langer Zeit.«
»Ist mir egal«, knurrte ich.
»Öffne die Tür. Wir werden dir nichts tun.«
»Nein.«
Es gab eine lange Pause. Sie war so lang, dass ich wohl einschlief, denn ein saugendes Geräusch weckte mich. Anfangs ignorierte ich es und wischte mir stattdessen den angetrockneten Rotz mit dem Arm aus dem Gesicht. Das Schiff machte viele Geräusche, schon vor dem Angriff der Medusen. Es war ein Lebewesen, und so wie bei allen Tieren gurgelte und blubberte es ab und zu in seinen Eingeweiden. Doch als das saugende Geräusch lauter wurde, setzte ich mich mit einem Ruck auf. Die Tür erbebte. Sie wölbte sich und brach dann komplett in sich zusammen, sodass ich die Goldschicht an der Außenseite sehen konnte. Die abgestandene Luft aus meiner Kabine entwich in den Gang, und auf einmal wurde die Luft kühler und roch frischer.
Da standen die Medusen. Ich konnte nicht sehen, wie viele es waren, denn sie standen dicht gedrängt und dank ihrer Transparenz sah ich nur einen Wirrwarr aus Tentakeln und wabernden Hauben. Ich presste das Edan an meine Brust und mich selbst mit dem Rücken an das Fenster.
Es ging schnell, so wie ein Angriff der Wüstenwölfe, die zu Hause oft Reisende nachts überfallen. Einer der Medusen schoss auf mich zu. Ich sah, wie er sich näherte. Ich sah meine Eltern, meine Schwestern, Brüder, Tanten und Onkel, die sich alle im Gedenken an mich versammelt hatten. Trauer und Schmerz erfüllten sie. Ich sah, wie mein Geist sich von meinem Körper löste und zu meinem Planeten und der Wüste zurückkehrte. Dort würde ich dem Sandvolk Geschichten erzählen.
Die Zeit musste sich verlangsamt haben, denn der Meduse hing reglos in der Luft, schwebte aber plötzlich über mir. Seine Tentakel waren nur wenige Zentimeter von meinem Kopf entfernt. Ich keuchte und bereitete mich auf Schmerz und Tod vor. Sein pinkfarbener, verkümmert wirkender Tentakel strich so kräftig über meinen Arm, dass er etwas Otjize abrieb. Weich, dachte ich. Glatt.
Da war der Meduse nun. Ganz nah. Weiß wie das Eis, das ich nur aus Bildern und Unterhaltungsstreams kannte. Sein Stachel war länger als mein Bein. Ich starrte das Wesen inmitten seines Bündels aus Tentakeln an. Es knackte und trocknete aus, weißer Nebel umgab es. Nur wenige Zentimeter trennten es von meiner Brust. Nun wurde das Weiß langsam hellgrau. Ich warf einen Blick auf meine verkrampften Hände, die das Edan festhielten. Der Strom hüllte den Medusen ein und dehnte sich hinter ihm weiter aus. Ich sah den Medusen an und grinste. »Ich hoffe, dass tut weh«, flüsterte ich.
Die Tentakel des Medusen zitterten und entfernten sich von mir. Ich konnte den pinkfarbenen, deformierten Tentakel dazwischen erkennen. Mein Otjize hatte rote Spuren darauf hinterlassen.
»Du bist das Fundament des Bösen«, sagte der Meduse. Es war Okwu. Ich verkniff mir ein Lachen. Warum hasste er mich so sehr?
»Sie hat immer noch die Schande bei sich«, sagte ein Meduse nahe der Tür.
Okwu erholte sich zusehends, als er sich von mir entfernte. Dann verließ er rasch zusammen mit den anderen die Kabine.
Zehn Stunden vergingen.
Ich hatte nichts mehr zu essen. Nichts mehr zu trinken. Ich packte meine Sachen immer wieder aus und dann wieder zusammen. Solange ich mich beschäftigte, konnte ich Hunger und Durst ein wenig ignorieren, auch wenn der ständige Drang zu urinieren, mich an meine Lage erinnerte. Hinzu kam, dass es mir nicht leichtfiel, mich zu bewegen, da der Strom des Edan die Muskeln in meinen Händen nicht freigab. Doch ich kam zurecht. Ich versuchte, nicht daran zu denken, was passieren würde, wenn die Medusen herausfanden, wie man die Luftversorgung und die Schwerkraft abschalten konnte. Oder wenn sie zurückkamen, um mich zu töten.
Wenn ich nicht gerade packte, starrte ich die Muster auf meinem Edan an, die im Licht des Stroms leuchteten. Ich musste herausfinden, auf welche Weise es mir die Kommunikation mit den Medusen erlaubte. Ich probierte es mit einigen weichen Gleichungen, doch darauf reagierte es nicht. Nach einer Weile, nachdem nicht einmal harte Gleichungen zum Erfolg geführt hatten, legte ich mich auf das Bett und begann zu verästeln. Mein Geist war noch damit beschäftigt, als der Meduse eintrat.
»Was ist das?«
Ich schrie. Ich hatte aus dem Fenster geblickt, deshalb hörte ich den Medusen, bevor ich ihn sah.
Okwu, der, der mich hatte umbringen wollen. Er war dem Tode nahe gewesen, als er meine Kabine verlassen hatte, doch nun wirkte er sehr lebendig. Seinen Stachel sah ich nicht.
»Was ist das für eine Substanz auf deiner Haut?«, fragte er fordernd. »Kein anderer Mensch hat sie.«
»Natürlich nicht«, fuhr ich ihn an. »Das ist Otjize, nur mein Volk benutzt ihn, und ich bin die Einzige meines Volkes an Bord. Ich bin keine Khoush.«
»Was ist das?«, wiederholte er, blieb aber im Türrahmen stehen.
»Wieso?«
Er betrat meine Kabine. Ich hob rasch das Edan und sagte: »Hauptsächlich Lehm und Öl aus meiner Heimat. Unser Land ist eine Wüste, aber wir leben in einer Region, in der es heiligen roten Lehm gibt.«
»Wieso reibst du deine Haut damit ein?«
»Weil unser Volk aus Söhnen und Töchtern des Bodens besteht«, sagte ich. »Und weil das … schön aussieht.«
Ich machte eine lange Pause und starrte ihn an. Starrte ihn richtig an. Er bewegte sich, als hätte er eine Vorder- und eine Rückseite. Und obwohl er auf mich durchsichtig wirkte, sah ich den festen weißen Stachel zwischen den herabhängenden Tentakeln nicht. Ich wusste nicht, ob er über das, was ich gesagt hatte, nachdachte oder sich fragte, wie er mich umbringen sollte. Doch einige Momente später drehte er sich um und ging. Als mein Herzschlag sich nach ein paar Minuten beruhigte, fiel mir etwas Seltsames auf. Der verkümmerte Tentakel sah weniger verkümmert aus als zuvor. Da war er eingerollt gewesen, doch nun wirkte er nur krumm.
Fünfzehn Minuten später kehrte er zurück. Ich warf sofort einen Blick auf den Tentakel, um mich zu versichern, dass ich das gesehen hatte, von dem ich wusste, dass ich es gesehen hatte. Der Tentakel war pink und nicht ganz eingerollt. Als Okwu mich versehentlich berührt und ein wenig Otjize abgerieben hatte, hatte er noch anders ausgesehen.
»Gib mir etwas davon.« Er glitt in meine Kabine.
»Es ist nichts mehr übrig!«, sagte ich voller Panik. Ich hatte nur ein großes Glas Otjize dabei. Das war mehr, als ich je zuvor angerührt hatte. Das würde reichen, bis ich roten Lehm auf Oomza Uni fand und frischen anrühren konnte. Ich war mir allerdings nicht sicher, dass ich den richtigen Lehm finden würde. Vielleicht gab es dort auch gar keinen. Das war schließlich ein anderer Planet.
Ich hatte mich zwar umfassend auf mein Studium vorbereitet, doch den eigentlichen Planeten Oomza Uni hatte ich ignoriert. Ich war zu sehr damit beschäftigt gewesen, erst einmal dorthin zu kommen. Ich wusste nur, dass er zwar viel kleiner als die Erde war, aber über eine ähnliche Atmosphäre verfügte. Ich würde weder einen Schutzanzug noch adaptive Lungen oder Ähnliches benötigen. Doch es war gut möglich, dass die Oberfläche aus etwas bestand, das meine Haut nicht vertragen würde. Ich konnte diesem Medusen nicht meinen ganzen Otjize geben. Das war meine Kultur.
»Der Häuptling kennt dein Volk. Du hast viel dabei.«
»Wenn dein Häuptling mein Volk kennt, dann hat er dir auch gesagt, dass du, wenn du meinen Otjize stiehlst, meine Seele stiehlst«, sagte ich mit zitternder Stimme. Das Glas stand unter dem Bett. Ich hielt mein Edan hoch.
Doch Okwu kam nicht näher und ging auch nicht. Sein krummer pinkfarbener Tentakel zuckte.
Ich entschied mich für einen Schuss ins Blaue. »Der hat dir geholfen, oder? Deinem Tentakel.«
Er stieß eine große Gaswolke aus, sog sie ein und ging.
Fünf Minuten später kehrte er mit fünf weiteren Medusen zurück.
»Woraus besteht dieses Objekt?«, fragte er. Die anderen schwebten schweigend hinter ihm.