Bis der Fluss taut - Gabrielle Filteau-Chiba - E-Book

Bis der Fluss taut E-Book

Gabrielle Filteau-Chiba

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Beschreibung

Ein Buch wie der erste Atemzug an einem eisigen Wintermorgen Anouk steigt aus: Sie tauscht ihre gemütliche Wohnung in Montreal gegen eine heruntergekommene Hütte in den Wäldern von Kamouraska. Fernab der Zivilisation, weit weg von der Umweltverschmutzung und dem Konsumwahn der Städte will sie zu ihren Wurzeln finden. Als eine Kältewelle sie überrascht und völlig von der Außenwelt abschottet, wird das romantische Ideal vom Leben in der Wildnis zum Kampf ums Überleben. Anouk hält sich ans Wesentliche, sie hackt Holz, holt Wasser, räumt Wege – und sie schreibt, um die Angst zu vertreiben. Umgeben von Schneeweite, den Tieren des Waldes und ihren Büchern, nähert sie sich ihren tiefsten Wünschen und Sehnsüchten. Und schließlich bleibt die selbstgewählte Isolation nicht so einsam wie erhofft ...

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Seitenzahl: 69

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Gabrielle Filteau-Chiba

Bis der Fluss taut

Tagebuch aus der Wildnis

RomanAus dem Quebecfranzösischenvon Katrin Segerer

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

Für Flora

 

Danke, Anne Hébert. Nach der Lektüre von Kamouraska habe ich mein gewohntes Leben in der Stadt gegen das Unbekannte eingetauscht und mich aus den Rädern des Systems befreit, um zu erkunden, was sich jenseits der ausgetretenen Pfade abzeichnet. Danke für den Traum von einem verschneiten Wald, in dem ich mich mit meiner Feder einnisten kann.

 

In diesem Land werden die Hunde zu Wölfen, wenn man sie von der Leine lässt. […]

In diesem Land laufen die Wölfe bis ans Ende der Welt und die Hunde – die Hunde werden verrückt.

Louis Hamelin

La constellation du Lynx

Kapitel 1

2. Januar

Das Glas ist halb voll mit Eis

Ich habe mich davongeschlichen. Saint-Bruno-de-Kamouraska liegt nicht gerade nebenan, aber ich bin weit davon entfernt, die Großstadt und die Roboter mit den überzogenen Konten zu vermissen. Jeder Kilometer, der mich von Montreal entfernt, ist ein weiterer Schritt auf dem Pilgerweg hin zur einzigen Kathedrale, die in mir Glauben erweckt: ein tiefer Wald, der all meine Bekenntnisse birgt. Diese Schonung, in der die Fichten selbstbewusst und stolz wie Berge aufragen, ist ein Tempel der Stille. Hier erhebt sich meine Hütte, die Zuflucht, von der ich schon seit den Weidentipis meiner Kindheit träume.

Kamouraska – ich bin dem Charme dieses altüberlieferten Namens erlegen, der »da wo Wasser und Schilf sich begegnen« bedeutet, da wo der salzige Golf sich verjüngt und sich mit dem süßen Wasser des Sankt-Lorenz-Stroms mischt, da wo die Belugas kalben und die Zugvögel rasten. Außerdem ist Kamouraska im Herzen amourös. Ein salziger Sumpfhauch lag in der Luft. Kaum hatte ich reingeschnuppert, war ich verliebt in diesen Ort. Der Fluss und die Hütte mitten im stillen Wald. Hier bekam ich einen ganzen Wald für den Preis einer Wohnung in der Stadt! So viel Erde, Wasser, Holz und ein Geheimversteck für so wenig Geld … Also wagte ich den Sprung.

Hier, am Rande meiner Einsamkeit und eines verlassenen Waldwegs, beginnt mein Leben neu.

Die Kälte hat mein Auto schockgefrostet. Auf dem Dach der Hütte haben Schnee und Eis still und leise das Solarpanel unter sich begraben. Die Bootsbatterie ist so leer wie meine Taschen. Kein Saft mehr, um mein Handy aufzuladen, eine beruhigende Stimme zu hören oder meiner Familie zu erlauben, mich zu orten. Ich bleibe wo ich bin, esse Gewürzreis neben dem Feuer, heize den Raum so gut ich kann, und bange dem Moment entgegen, in dem ich raus in die Kälte muss, um den Holzvorrat aufzufüllen. Wenn deine Wände dünn wie Pappe sind, brauchst du ordentlich Brennstoff. Ein Tropfglockenspiel klatscht den Takt und lässt die gesprungenen Tassen überlaufen, die ich entlang der Fenster aufgestellt habe. Hunderte von Eiszapfen vor den Scheiben sind die Gitterstäbe meiner Zelle, aber ich habe mich freiwillig für diese Urtümlichkeit, diese Schlichtheit entschieden. Beziehungsweise dafür, mir das Leben sauer zu machen, wie meine Artgenossen in Montreal seufzen.

Ich lebe nicht allein unter dem leckenden Dach. Eine Maus, die an den Deckenbalken nagt, hat sich dicht neben dem Kamin eingenistet. Ich höre sie Tag und Nacht hektisch scharren. Im Grunde unterscheidet sie und mich nicht viel, wir sind beide Einsiedlerinnen, die mitten im Holz Wurzeln geschlagen haben, einsame Weibchen, die sich durchbeißen. Genau wie sie habe ich schwer zu knabbern. Genau wie sie habe ich die Isolierung gewählt … oder vielmehr die Isolation.

Maman, ich habe meinen BH und seine Folterbügel verbrannt. So frei habe ich mich noch nie gefühlt. Schon klar, mit meinem Feminismus-Bachelor und all den Reisen hast du gehofft, ich würde woanders landen. Aber ich gebe zu, wenn die sibirische Kälte durch jede Ritze pfeift und ich im Stockdunkeln auf der Eisbahn meines umgekippten Wasserglases ausrutsche, dann fluche ich vor mich hin und schimpfe wüst in meinen Schal. Verfracktes Schiefergas! Donner und Dummschaf! Verölte Chinahandtasche! Himmel, Arsch und Rasentraktor! Vermaleschneiter Sturm!

Ich vergesse einen Moment lang die Manieren einer ehrbaren jungen Frau, die Regeln des Anstands und der Höflichkeit. Schluss mit den Familienessen, bei denen man heiße Themen meidet, bei denen die Tabus auf der Zunge brennen und die Selbstzensur wie ein Kloß im Hals stecken bleibt. Spucke sparen. Chakra blockieren. Status quo schlucken.

Ich verbringe meine Eiszeit mit Anne Hébert und Mary Jane, heimgesucht von den Rufen der Basstölpel, ich treibe zwischen den Träumen, in denen ich, wie diese mächtigen Seevögel, sehr hoch fliege und sehr tief hinabstürze ins Algenmeer. Und ich hänge in der Hütte als Häftling des Winters, sitze fest wie auf See ohne Land in Sicht, beschlagene Bullaugen, verschwommene Gedanken. Die tragische Schönheit der kahlen Bäume macht mir Lust zu schreiben, mein altes Nachteulentagebuch wieder rauszuholen und unter die Steppdecke mit den Mustern meiner Jugend zu schlüpfen, mir die Beine zu wärmen, die ich nicht mehr rasiere, die rau und weich sind wie die Schale einer Kiwi. Der Wind weht den Moschusduft des welken Laubs unter dem Schnee herbei, und ich warte auf einen vorzeitigen Frühling, wie man auf ein freies Quebec hofft. Das milde Wetter wird wiederkommen. Die Zukunft wird neue Farben tragen. Ich glaube noch immer daran, auch wenn unsere Flagge auf halbmast hängt. Die Orangenschalen auf dem Ofen erfüllen den Raum mit Kampfergeruch, wie Glühwein an Weihnachten. All diese Erinnerungen an die Zeit vor dem Scheideweg, an dem ich jeder Gewissheit den Rücken gekehrt habe, um dorthin zu stürmen, wo es mehr Kojoten als falsche Freunde gibt.

»Das Gedächtnis wird wieder bebaut werden wie ein Stück Land. Zuweilen muß man Feuer legen. Das Unkraut mitsamt der Wurzel verbrennen. Und an seiner Stelle ein Feld eingebildeter Rosen pflanzen.«[1]

Die Scheune ist knallvoll mit rostigem alten Werkzeug, das ich aussortiere. Säge, Handbohrmaschine, Axt – Schreinerinnen der Apokalypse oder Bretter in der Not, fantastische Waffen des dornenumrankten Zauns, den ich um mein panisches Herz errichten werde, um meinen zerschundenen Körper und um meine Erde, die zu schön ist, um vor der menschlichen Dummheit bewahrt zu werden.

Pionierinnen irren allein durch die Menge. Ihre Sicht überwindet die Grenzen des Raums. Ihre Spuren im Schnee überdauern einen Augenblick, einen Herzschlag, einen Takt lang. Wie vermeidet man Zermürbung, Zynismus, Apathie, wenn alle sich beugen, vor den Mächtigen knien, gefügig wie Hartriegel, der keine Träume mehr fängt?

Um Punkt vier Uhr ertönt in der Ferne der schrille Schrei einer Lokomotive, die sich über die Schienen quält. Güterwagen voll Bitumen rattern mit Volldampf von Küste zu Küste, und der schwarze Zug des Fortschritts trübt meine Träume abseits der Zivilisation, unterbricht meine Waldesruh mit hässlichen Lauten, die mir in den Ohren wehtun. Da kann ich noch so sehr ein »vielnamig Dach, das sich nur wölbt für die, deren Hoffnung nie schwand«[2] erbauen, im Schnee verschwinden, trotzdem schnürt mir die Angst die Kehle zu. Die Angst, dass ich verschmutzt werde, dass die Kaulquappen im Öl dümpeln und der Schlamm nach Tod stinkt. Ich versuche, im Wehklagen der Eisenbahn den Charme einer anderen Epoche zu hören, als lebte ich in einem goldglitzernden Yukon und der Bahnhof und seine Sirenengesänge wären Garanten für Nahrung und frisches Blut.

Keine Chance. In diesem metallischen Kreischen schwingt alles mit, was mich an der Welt da draußen ängstigt. Asphalt, getrimmter Rasen – ihr wisst schon, die gefolterten Lebensbaumhecken –, Wasser in Flaschen, Propaganda auf dem Bildschirm, Misstrauen unter Nachbarn, kollektives Vergessen unserer Vorfahren und Kämpfe, Sklaverei eines Lebens auf Pump und Sofas, auf denen man vor Erschöpfung festwächst. Die schmutzige Stadt, wo man in rechtwinkligen Räumen rumgammelt. Währenddessen rollt das Gift direkt vor unserer Nase herum. Und garantiert ergießt sich das Blut der westlichen Ölsande eines Tages über unser enteignetes Land.

Jedem sein unvermeidliches Alarmsignal: Ohne diesen gellenden Zug, der wie eine Schulglocke erst den Unterrichtsbeginn, dann die Freiheit diktiert, wüsste ich die Uhrzeit nicht mehr. Morgens verpasst er mir einen Arschtritt, um mich aus dem Bett zu befördern.

Mokassins schnüren. Den beinahe erloschenen Ofen