Bis der letzte Ton verklingt - Paul MacAlindin - E-Book

Bis der letzte Ton verklingt E-Book

Paul MacAlindin

0,0
15,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Bis der letzte Ton verklingt erzählt die Geschichte von Mut und Musik inmitten eines zerstörten Landes. Auf die Initiative junger irakischer Musiker entschließt sich der erfolg-reiche Dirigent Paul MacAlindin, das sichere Europa zu verlassen und zwischen militäri-scher Gewalt und politischer Repression das National Youth Orchestra of Iraq zu leiten. Er ist begeistert vom Engagement und Talent der Nachwuchskünstler, die trotz persönlicher Schicksalsschläge weder die Hoffnung in die Zukunft noch die Liebe zur Musik verloren haben. Auftritte in der ganzen Welt, Widerstand im eigenen Land — MacAlindin beschreibt die Höhen und Tiefen in der jungen und doch ereignisreichen Geschichte des Orchesters.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 561

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Im Jahr 2008 versucht die damals siebzehnjährige Irakerin Zuhal Sultan in ihrem von Krieg und Krisen zerrütteten Land ein Jugendorchester ins Leben zu rufen. Begeistert von der Idee und beeindruckt vom Mut und Engagement der jungen Frau beschließt der schottische Dirigent Paul MacAlindin, den Aufbau des Orchesters zu unterstützen.

Eine völlig neue Aufgabe für den erfahrenen Musiker, die weit mehr umfasst als die künstlerische Leitung des Orchesters. Denn MacAlindin merkt schnell, dass im Irak andere Regeln gelten als in Deutschland, Schottland oder Neuseeland, wo er vorher als Dirigent aktiv war. Plötzlich ist er Dirigent eines Orchesters junger Menschen, die so viel verloren haben, nur nicht die Liebe zur Musik.

Schon bald hat das Orchester Auftritte in der ganzen Welt. Doch der Erfolg und die Aufmerksamkeit bergen Konflikte. Vor allem im Irak selbst haben MacAlindin und das Orchester mit Widerständen und Rückschlägen zu kämpfen. So wird Musik zum Staatsakt und der Dirigent zum Diplomaten.

Bis der letzte Ton verklingt erzählt die Geschichte des irakischen Jugendorchesters, des National Youth Orchestra of Iraq, und bietet aufschlussreiche Einblicke in die Gesellschaft eines Landes, dessen reiche Kultur von den Folgen eines Krieges zerstört zu werden droht.

Der Autor

Paul MacAlindin, geboren im schottischen Aberdeen, ist seit 1993 als Dirigent aktiv. Er war zunächst Assistent von Sir Peter Maxwell Davies und wirkte beim Scottish Chamber Orchestra, der BBC Philharmonic und der Royal Philharmonic mit. Anschließend leitete er verschiedene Orchester, darunter die New Zealand Symphony, die Düsseldorfer Symphoniker und das National Youth Orchestra of Scotland. In seinem Buch beschreibt er seine Zeit als Dirigent des National Youth Orchestra of Iraq.

Paul MacAlindin

Bis der letzte Tonverklingt

Die Geschichte des IrakischenJugendorchesters

Mit einem Vorwort vonSir Peter Maxwell Davies

Aus dem Englischen vonFrank Dabrock

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel UPBEATbei Sandstone Press Ltd, Dingwall

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Unter www.heyne-encore.de finden Sie das komplette Encore-Programm.

Weitere News unter www.heyne-encore.de/facebook

Copyright © 2016 by Paul MacAlindin

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Jürgen Teipel

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,unter Verwendung von Motiven von shutterstock / Alenavlad und gezzeg

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-19973-9V002

Den mutigen jungen Musikern des Irak

Inhalt

Vorwort von Sir Peter Maxwell Davies

Einleitung

1.  Irakischer Teenager sucht Maestro

2.  Der Fünfzigtausend-Dollar-Tweet

3.  Auftakt in Sulaimaniyya

4.  Wogen glätten

5.  Und die Mauern stürzten ein

6.  In Finsternis lasst hausen mich

7.  Das verwundete Orchester

8.  Eintrittskarte nach Deutschland

9.  That’s what friends are for

10.  Eine (fast) aussichtslose Mission

11.  Das Damoklesschwert

12.  Die irakischen Botschafter

13.  Glorreiche Heimkehr

14.  Am Stadtrand von Edinburgh

15.  Versöhnung mit Schottland

16.  In der Schwebe

17.  Widersprüche

18.  In der Ödnis

19.  Auf dem Höhepunkt

20.  Am Scheideweg in Aix

21.  Mission to Mars

22.  Entscheidung für Elgin

23.  Versöhnung für den Irak

24.  Leidenschaft

25.  Wer sind die Iraker?

Bildteil

Dank

Vorwort

Als die tonangebenden westlichen Nationen unter Führung der USA und Großbritanniens 2003 beschlossen, in den Irak einzumarschieren, löste das in beiden Ländern und anderen Teilen der Welt eine Welle der Wut und Empörung aus. Abertausende Menschen gingen auf die Straße, und ich war einer von ihnen. Doch unser Protest war vergeblich, denn am 19. März desselben Jahres begann der Einmarsch in den Irak.

Als vergeblich kann man unseren Protest aber eigentlich nur bezeichnen, wenn man die Tatsache außer Acht lässt, dass wir viele Leute aus ihrer moralischen Gleichgültigkeit aufrüttelten und dass dadurch allmählich ein Umdenken in der Frage stattfand, wie wir regiert werden wollen und von wem. Der New Statesman zitierte mich damals mit folgenden Worten: »Ich habe die Demokratie in Großbritannien eigentlich immer für eine gute Idee gehalten, aber bisher deutet nichts darauf hin, dass sie bei uns eingeführt wurde. Was kann man als Komponist dagegen unternehmen? Man muss Zeugnis davon ablegen.«

Die Invasion ging zu Ende, Saddam Hussein wurde als Staatspräsident entmachtet und das Land besetzt; doch obwohl die Kriegsstrategen vielleicht geglaubt hatten, dass damit das Problem gelöst wäre und es zu einem Friedensprozess kommen würde, wurde alles nur noch schlimmer.

Ich brachte meine Haltung weiterhin in meiner Arbeit zum Ausdruck; besonders im Streichquartett Nr. 3 aus der Serie von Quartetten, die vom Naxos-Label in Auftrag gegeben wurde. Spontan, voller Bezüge zum Krieg und düster legte ich Zeugnis ab. Es schien undenkbar, dass im Irak noch Mitgefühl und Menschlichkeit existierten, nachdem sie dem Stammessystem, Folter und Angst gewichen waren, aber der menschliche Geist lässt sich nicht so leicht besiegen. Überall im Land und entlang der ethnischen Grenze zwischen Arabern und Kurden »blitzten«, wie W. H. Auden es beschrieb, tatsächlich »ironische Lichtpunkte auf«, die Gerechten »tauschten ihre Botschaften aus«.

In diesem Fall waren die Gerechten die jungen klassischen Musiker des Irak; und die Botschaften tauschten sie über das Internet aus. Ihre Liebe zur klassischen Musik und ihr Wunsch, etwas zu lernen, waren nicht totzukriegen. Sie ließen sich über das Internet von Lehrern aus den USA und Europa unterrichten. Sie lernten nach Gehör von CDs. Sie pflegten und warteten ihre Instrumente in dem trockenen Klima, so gut sie konnten. Die meiste Zeit jedoch blieben sie mehr oder weniger isoliert.

Bis eine bemerkenswerte junge Frau namens Zuhal Sultan eine Idee hatte und beschloss, das erste Nationale Jugendorchester des Irak zu gründen. Über das Internet trat sie an die Öffentlichkeit, woraus sich einige unglaubliche Kontakte ergaben; bis, was noch unglaublicher war, schließlich der Musiker und Dirigent Paul MacAlindin auf sie aufmerksam wurde. Es war so unglaublich, dass man, wenn man ein religiöser Mensch ist, fast zwangsläufig zu der Annahme kommen musste, Gott habe hier seine Hände im Spiel gehabt. Die richtige Nachricht erreichte den richtigen Mann zum richtigen Zeitpunkt in seinem Leben; mit Worten, denen er sich nicht entziehen konnte.

Voller Energie machte Paul sich daran, seinerseits Kontakte zu knüpfen. Als langjährigen, engen Freund rief er mich zu Hause auf den Orkneys an. Ich war sofort begeistert. Angesichts eines derartigen Vorhabens, selbst im damaligen Stadium, ging mir das Herz auf. Dies war nicht nur eine musikalische Antwort auf die Katastrophe, sondern das Vorhaben der jungen Musiker führte auch mein eigenes lebenslanges Engagement für junge Menschen und die Musik fort.

Oft wird das Wort »Transzendenz« allzu leichtfertig in den Mund genommen, von Scharen wiedergeborener Christen, marktschreierischer Evangelisten und halbseidener Heilsverkünder. Dennoch ist Transzendenz notwendig für echte Veränderung; und die Musik ist, wie sich immer wieder gezeigt hat, ein Mittel, sie zu erreichen. Beim Irakischen Jugendorchester ergab sie sich zunächst zwischen diesen einsamen Studenten und ihren weit entfernten Lehrern. Dann verband sie die Musiker mit dem Führungsteam, den Dozenten, die vor Ort mit ihnen arbeiteten, und mit ihrem Maestro. Und schließlich führte sie das Orchester zu dem musikbegeisterten Publikum in Deutschland, der Wahlheimat Paul MacAlindins, in Großbritannien und Frankreich. Außerdem ergaben sich Kontakte in die USA, die allerdings ohne Ergebnis blieben.

Mir kam das Privileg zu, der Hauskomponist des Orchesters zu werden, und ich stiftete ihm ein siebenminütiges Stück: »A Reel of Spindrift, Sky«, das die jungen Musiker herausfordern sollte, ohne ihre technischen Fähigkeiten zu übersteigen, und das in gewisser Weise auch das Klima und die Kultur auf den Orkneys, die so fremd für sie waren, zum Ausdruck bringen sollte.

Das Orchester zu gründen war beileibe keine einfache oder ungefährliche Aufgabe. Man durfte die Gefahren für das Leben der Musiker und ihrer Familien nicht unterschätzen. Auch war es nicht leicht, Jahr für Jahr weiterzumachen und Fortschritte zu erzielen. Man muss es Paul MacAlindin hoch anrechnen, dass er seine eigene schwierige Situation nicht an die große Glocke hängte, während er rund um die Uhr seine psychische und geistige Energie in dieses wunderbare Projekt investierte, und bestimmt auch die Zeit, in der er träumte.

Das große Abenteuer des Irakischen Jugendorchesters hat es nicht nur verdient, für die Nachwelt festgehalten zu werden, sondern ist auch ein Beispiel dafür, wie unsere grundlegenden Werte eine Katastrophe überleben können. Nach all dem Leid brachte das Orchester viel Freude hervor. Aus Chaos entstand Ordnung. Trotz der vielen Toten erwuchs aus ihm etwas neues Lebendiges. Die Beteiligten schlossen über Kulturen hinweg Freundschaften und machten zusammen unvergessliche Erfahrungen. Sollten einige der zukünftigen Führer des Irak hier ihre ersten prägenden Erfahrungen gemacht haben – was ja durchaus sein könnte –, wurde die Saat der Zusammenarbeit, Einigkeit und Ordnung tief und gründlich gesät.

Das Buch von Paul MacAlindin erzählt den Werdegang des Orchesters und beschreibt die Persönlichkeiten und Erfahrungen der Musiker, ihrer Dozenten und Unterstützer. Zusammen geben sie ein leuchtendes Beispiel ab; aber außer ihnen leuchtet in dieser anschaulichen, unterhaltsamen Schilderung der Ereignisse noch eine andere großartige Persönlichkeit auf. Es ist der Autor selbst, den man in der Öffentlichkeit nun hoffentlich nicht nur als willensstarken, entschlossenen Dirigenten und einfühlsamen, versierten Musiker wahrnehmen wird, sondern auch als einen Autor mit prägnanter, unverwechselbarer Stimme.

Das Nationale Jugendorchester des Irak lebt auf diesen Seiten weiter, aber ich komme jetzt zum Ende und bitte Sie dringend, Paul MacAlindin Gehör zu schenken. Denn nun ist es Zeit, dass er Zeugnis ablegt.

Sir Peter Maxwell Davies CH CBE

Sanday, Orkney

Kurz vor Fertigstellung des Buches ist Sir Peter Maxwell Davies im März 2016 in seinem Haus auf Sanday im Alter von einundachtzig Jahren gestorben. Sein Tod bedeutet einen großen Verlust für die Musikwelt und viele Menschen auf den Orkneys.

Einleitung

Von dem ägyptischen Schriftsteller Taha Hussein stammt der bekannte Satz: »Ägypter schreiben, Libanesen bringen Bücher heraus, und Iraker lesen.« Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts hatte sich Bagdad zu einem wichtigen Zentrum für Künstler und Intellektuelle entwickelt, die begierig darauf waren, zu lernen, sich auszutauschen und ihre Kreativität auszuleben. Die irakischen Juden waren in der aufblühenden arabischen Musikszene tonangebend. 1958 wurde in Bagdad das Nationale Symphonieorchester des Irak gegründet, das erste seiner Art im Nahen Osten, und wenig später die Schule für Musik und Ballett. Obwohl die Briten nach dem Sieg im Ersten Weltkrieg das Land im Sinne ihrer Ölinteressen neu gestaltet hatten, entwickelten die Iraker eine eigene Identität. Sie blickten auf eine jahrtausendealte Kultur zurück, die bis zur Wiege der Zivilisation zurückreichte; den Sumerern, die in Keilschrift auf Tontafeln erste großartige Werke der Weltliteratur, darunter das Gilgamesch-Epos, festgehalten hatten.

Etwa viertausend Jahre später lag Zuhal Sultan, eine junge Pianistin des Symphonieorchesters, nachts in ihrem Bett in Bagdad und hatte eine Idee. Kurz darauf erhob sich wie ein Phoenix aus der Asche des Krieges das Nationale Jugendorchester des Irak, als leuchtendes Beispiel für Versöhnung und eine neue Zukunftshoffnung und als Rettungsanker für junge Musiker überall im Land. Was danach kam, konnte sich, was Ruhm und Testosteron anging, zwar kaum mit Gilgamesch messen, war aber genauso ungestüm, großartig und umwälzend wie die Taten des Königs – der dem wahrscheinlich, wenn auch widerwillig, sogar zugestimmt hätte.

Im Sommer 2009 veranstaltete das Irakische Jugendorchester sein erstes vierzehntägiges Musikcamp in der Stadt Sulaimaniyya im kurdischen Teil des Irak. Im Jahr darauf fand ein weiterer vierzehntägiger Kurs statt, diesmal in Erbil, einem Zentrum der Ölindustrie. 2011 trafen wir uns nicht nur zwei weitere Wochen in Erbil, sondern bestiegen unseren fliegenden Teppich, den uns die Lufthansa freundlicherweise zur Verfügung gestellt hatte, und flogen auf Einladung des Beethovenfests nach Deutschland. 2012 führte uns unser Weg für drei Wochen zum Edinburgh Festival und ins Londoner Southbank Centre. 2013 schien es, dass wir nichts falsch machen konnten, und wir organisierten eine zehntägige Reise mit Meisterkursen in drei kurdischen Städten, einen Sommerkurs in Aix-en-Provence und ein Kammerorchester-Projekt zusammen mit dem Morgenland-Festival und dem Osnabrücker Jugendchor in Erbil. Jahr für Jahr stürmte unser Musikertrupp die Bühne, um den Menschen durch Komponisten wie Mendelssohn, Mohammed Amin Ezzat, Beethoven und Karzan Mahmoud unsere Botschaft von Frieden, Liebe und Versöhnung nahezubringen. Doch kurz darauf fand sich Zuhal, eine echte arabische Prinzessin, in den dunkelsten Winkeln Glasgows im Exil wieder, wo sie zwar sicher, aber fern der Heimat war, während ihr hübscher Prinz – das bin ich – dafür kämpfte, sie wieder in das von ihr gegründete Orchester zurückzuholen. Und im Jahr 2014, als sich im Irak das Krebsgeschwür des IS ausbreitete, unternahmen wir einen massiven Vorstoß, um unsere Botschaft dorthin zu tragen, wo sie am dringendsten benötigt wurde – in die USA.

Die Buchseiten, die nötig wären, um all jenen zu danken, die uns geholfen haben, würden einen eigenen Roman ergeben. Ohne die unermüdliche Unterstützung des British Council wäre unser Orchester nicht möglich gewesen. Dr. Barham Salih, der einzige irakische Politiker, der an uns glaubte, war uns eine große Stütze. Unser irakisches Team und die Musiker, die mit unvorstellbaren Schwierigkeiten zu kämpfen hatten, verloren nie die Zuversicht. Der deutsche Förderverein Nationales Jugendorchester des Irak und das Beethovenfest brachten uns einen entscheidenden Schritt voran. Die schottische Regierung, die unser Projekt von Anfang an mit Interesse verfolgte, ließ ihren Worten Taten folgen und holte das Orchester nach Edinburgh. Und schließlich nahmen wir dank des Grand Théâtre de Provence, das nie zuvor so viel Zeit und Geld in ein einzelnes Konzert investiert hatte, in Aix-en-Provence an einem Treffen der Giganten teil. All jenen, die uns in irgendeiner Weise geholfen haben, möchte ich Dank sagen.

Dieses Buch wurde unter anderem durch die Unterstützung der Friends of British Council, USA möglich gemacht, mit denen wir 2014 eng zusammengearbeitet haben, sowie des British Institute for the Study of Iraq, das uns Gelder für unsere Dozenten bereitgestellt hat. Außerdem möchte ich Creative Scotland für ihre Unterstützung danken. Mein größter Dank jedoch gilt Sandstone Press und meinem Lektor Robert Davidson, der großes Vertrauen in meine Arbeit hatte.

Diese unglaubliche Reise hat alle Beteiligten nachhaltig verändert.

Und sie hat mich nachhaltig verändert.

Paul MacAlindin

Musikalischer Leiter des Nationalen Jugendorchesters des Irak

1

Irakischer Teenager sucht Maestro

Im Oktober 2008 war mein Vater aus dem Dundee Royal Infirmary entlassen worden und erholte sich von einem kleineren Eingriff. Das war ein guter Anlass, um meinem alten Herrn einen Besuch abzustatten. Nachdem ich von meinem Wohnort Köln nach Edinburgh geflogen war, suchte ich wie üblich in der Innenstadt meinen Lieblings-Pub auf, das Barony in der Broughton Street, das mich bereits mit Fish and Chips und einem Bier erwartete.

Am Sonntag, dem 19. Oktober, herrschte für Edinburgher Verhältnisse einigermaßen gutes Wetter. Allerdings hatte kurz zuvor in New York die Investmentbank Lehman Brothers Insolvenz angemeldet; was wiederum Künstler auf der ganzen Welt mit einer schweren Rezession konfrontierte. Meine jüngsten Konzerte in Armenien, New York und Neuseeland waren zwar auf positive Resonanz gestoßen, trotzdem musste ich mich neu orientieren, wenn ich diese Phase unbeschadet überstehen und meine Energien in eine andere Richtung lenken wollte.

Während ich im Barony am Tisch saß, fiel durch eines der Erkerfenster ein silbergrauer Lichtstrahl auf ein gelesenes Exemplar des Glasgow Herald, das neben meinen Fish and Chips lag. Beim Durchblättern fiel mein Blick auf die Überschrift »Britischer Maestro für Orchestergründung im Irak gesucht«. Gott sei Dank stand dort »Maestro«! Bei dem Wort »Dirigent« hätte ich wahrscheinlich weitergeblättert. Während ich die Meldung las, wurde mir klar, dass das eine große Sache werden konnte. Zuhal Sultan, eine siebzehnjährige Pianistin aus Bagdad, suchte einen Dirigenten, der ihr half, im Irak ein nationales Jugendorchester aufzubauen.

Nur damit man eine richtige Vorstellung von der Sache bekommt: Worauf konnte man so kurz nach dem Ende des Krieges in einem Land ohne erkennbare Orchestertradition zurückgreifen? Wer machte dort überhaupt Musik? Und wie hörte sie sich an? Wer waren die Lehrer? Und in welchem Zustand waren die Instrumente? Wie konnte es sein, dass ich und all die anderen Menschen im Westen, die in den Medien mit Bildern vom Blutvergießen und Elend bombardiert wurden, nicht wussten, wer die Iraker wirklich waren? Wie sah ihre Kultur aus? Den Blick auf den Artikel gerichtet, die Gabel mit dem Fisch vor dem Mund, sagte ich mir: »Ich weiß, wie man das hinkriegt.«

In diesem Moment stellte ich mir vor, wie Zuhal und ihre Kollegen sich für den ersten Auslandskurs bewarben und ich das British Council irgendwie dazu überredete, Gelder und Logistik zur Verfügung zu stellen. Außerdem begriff ich, dass ich nie wieder die Möglichkeit bekommen würde, ein nationales Jugendorchester zu gründen, und welch große Ehre das wäre. Mit meinen vierzig Jahren hatte ich immer noch die nötige Energie. Während ich im Barony alleine vor meinem Essen saß, lief vor meinem geistigen Auge meine Zukunft ab.

Mit dem herausgerissenen Artikel in der Hand lief ich zur St. James Bus Station hinauf. Da ich vermeiden wollte, dass auf meinem deutschen Handy horrende Auslandsgebühren anfielen, suchte ich ein Münztelefon und rief einen alten Kumpel im British Council an. »Hast du schon davon gehört?«, fragte ich Paul Parkinson, einen ehemaligen Komponisten. Paul war ein entspannter Bursche und schickte für das British Council Hip-Hop-Acts und Vertreter anderer Musikrichtungen rund um den Globus. Wir teilten nicht nur die Liebe zur klassischen Musik, sondern waren uns auch schnell einig, dass dieses Projekt aufgrund der britischen Beteiligung am Irakkrieg von großer Bedeutung sei. Nachdem Paul mir ruhig zugehört hatte, meinte er, er würde »die Sache weiterverfolgen«.

Als ich später an jenem Tag in dem alten Fischerdorf Anstruther in East Neuk of Fife eintraf, sah ich, dass mein Vater sich langsam erholte und guter Dinge war. Er war auf seine eigene Art ein Kämpfer, war Journalist und Redakteur für verschiedene schottische Zeitungen gewesen und hatte stets eine Möglichkeit gefunden, in seiner Gemeinde eine Führungsrolle zu übernehmen. Er war aber auch ein glühender Thatcher-Anhänger gewesen – bis eines Tages sein Vertrauen in Maggies Politik des freien Marktes erschüttert wurde. Es passierte in einem TESCO-Supermarkt in St. Andrews, wo er, seit er im Ruhestand war, die Regale auffüllte. Als er an einem Samstag eine Stunde vor Ladenschluss mit dem Preisauszeichner die verderblichen Waren herabsetzte, bildete sich hinter ihm eine Schlange Rentner, die nach jedem Artikel grapschten, den er gerade umetikettierte. In diesem Moment begriff er, was Thatchers neoliberale Politik in der Gesellschaft angerichtet hatte; und dadurch kamen er und ich uns – obwohl wir uns trotz unserer unterschiedlichen Ansichten sehr liebten – ein Stück näher; außerdem fühlte ich mich in meiner Haltung aus der Studentenzeit nachträglich bestätigt.

Und nun wollte ich mich auf einmal auf die klassische neo-liberale Odyssee einlassen. Oder um Norman Tebbit, den ehemaligen Vorsitzenden der Konservativen, zu paraphrasieren: Ich wollte mich auf mein Fahrrad schwingen und Arbeit suchen.

Die Pressemitteilung über Zuhal war vom Londoner Büro der Firma Raw TV herausgegeben worden, mit der die Produzentin Jo Woolf für Channel 4 die Reality-Show Battlefront produzierte. Obwohl die Mitteilung landesweit herumgeschickt worden war, hatte der Glasgow Herald sie als einzige Zeitung abgedruckt. Es war kein Problem, mit Jo Kontakt aufzunehmen. Die Sendung Battlefront unterstützte Teenager, die sich gesellschaftlich engagierten, und verfolgte den Verlauf ihrer Bemühungen. Einer der Jugendlichen hatte dem Internet-Mobbing den Kampf angesagt. Einige organisierten Demonstrationen gegen Schwulenfeindlichkeit. Ein weiterer Teilnehmer, der mit seiner rotzfrechen, selbstbewussten Art und seiner entwaffnenden Natürlichkeit viele Fans gewonnen hatte, versuchte, ein Gesetz durchzusetzen, das das Rauchen in Autos untersagte. Als Kind hatte er im Wagen seiner Eltern den Zigarettenqualm einatmen müssen und war an Asthma erkrankt.

Nachdem Jo durch das British Council im Irak auf Zuhal aufmerksam geworden war, hatte sie sie als internationale Teilnehmerin für die Sendung verpflichtet. Allerdings war ihr nicht ganz klar, worauf sie sich einließ, denn Zuhal saß im Irak fest, und niemand wusste, mit was für Schwierigkeiten man zu tun hatte, wenn man in einer Krisenregion des Nahen Ostens ein Jugendorchester gründete. Jo übernahm die Verantwortung für Zuhals Vorhaben, aber die unsicheren Handy- und Internetverbindungen erschwerten ihre Arbeit. Seit dem Ende des Krieges konnte man im Irak fast nur noch mobil telefonieren und bekam nur mit Glück eine Verbindung; und die Internetverbindung über Satellit war sehr teuer. Jo musste versuchen, Ruhe zu bewahren und Zuhal zu vertrauen, und irgendwie weitermachen. Es brauchte seine Zeit, um Vertrauen aufzubauen.

Anfang November arrangierte Jo via Skype mein erstes Gespräch mit Zuhal. Ich saß zu Hause in Köln im Brownies, einem Café mit WLAN-Anschluss, vor meinem Laptop und wartete auf ihren Anruf aus Bagdad. Das Brownies war ein überteuerter Yuppie-Laden für Leute, die vor ihrem Laptop hockten und sich als Teil der Gesellschaft fühlen wollten, ohne auf das Internet zu verzichten. Da ich auch zu diesen Leuten gehöre, wurde es für die Internet-Phase des Projekts zu meinem Stammcafé.

Nach diesem ersten Gespräch hatte ich das Gefühl, eine Stunde lang wie ein Wasserfall geredet zu haben. Zuhal, ein intelligentes und selbstbewusstes Mädchen, hätte jeden davon überzeugt, dass er sich gerade mit der siebzehnjährigen Schülerin eines Eliteinternats unterhält. Allerdings kam es mir stellenweise so vor, als wäre sie vierzig – und ich das Mädchen.

Später an jenem Tag fasste ich unser Gespräch in einer E-Mail zusammen:

Hi Jo,

Zuhal und ich haben uns gerade eine Stunde lang über Skype unterhalten.

Dies sind meiner Meinung nach die wichtigsten Punkte unseres Gesprächs:

– Von Zuhals Ansprechpartnern überall auf der Welt, besonders Allegra Klein in den USA, gibt es bereits eine Menge Unterstützung.

– Für ihren Plan, ein nationales Jugendorchester zu gründen, bekommt Zuhal im Irak viel Zuspruch. Die beiden wichtigsten Maßnahmen wären: die Einrichtung eines Spendenkontos und die Anerkennung des Orchesters außerhalb des Irak als gemeinnützige Organisation; außerdem muss eine vertrauenswürdige Organisation das Konto verwalten.

– In Verwaltungsfragen bekommt Zuhal Unterstützung vom Bibliothekar des Irakischen Symphonieorchesters.

– Wir haben darüber gesprochen, dass sie sich von der Sendung Battlefront mehr Unterstützung erhofft hatte. Meiner Meinung nach ist die Sendung nicht geeignet, um mit den Interessenvertretern des britischen Klassikmarktes zu kommunizieren, da die meisten von ihnen nicht der Generation Y angehören. Diese Unternehmen haben ihren Sitz in Großbritannien und wissen nicht, wie sie jemanden im Irak unterstützen können, außerdem ist die Musikindustrie im Klassikbereich ein abgeschotteter, rückwärtsgewandter Zirkel, der keine Kontakte über das Internet oder zur Unterhaltungsindustrie pflegt.

– Während unseres Skype-Gesprächs fiel der Strom aus. Darum ist klassische Musik ideal für den Irak. Ein Cello muss man nicht einstöpseln!

– Wir haben uns über das »El Sistema«-Programm unterhalten und waren uns einig, dass es vielleicht für den Irak infrage käme.

– Außerdem haben wir über die Unterstützung durch die Eltern der Musiker gesprochen, was entscheidend für die Organisation eines Jugendorchesters ist, und über die Förderung von Musikern aus sozial schwachen Familien.

– Unser erstes strategisches Ziel sollte sein, nächsten Sommer mit etwa achtzehn Musikern ein Konzert zu geben.

– Dazu müssen wir zunächst die möglichen Teilnehmer auswählen (was größtenteils bereits geschehen ist), und ich muss über meine Kontakte zu Jugendorchestern in Großbritannien und Deutschland die Dozenten auswählen, die via Internet unterrichten können. Ich habe versprochen, mich in etwa einer Woche mit den ersten Rückmeldungen bei Zuhal zu melden.

– Eine funktionierende Organisationsstruktur ist sehr wichtig, wenn die Musiker in einem sicheren Umfeld zusammenarbeiten und über das Internet kommunizieren sollen. Zu diesem Zweck schicke ich Zuhal den Link zur Website von OpenLearn, auf der kostenlose Kurse zur Unternehmensführung und anderen Bereichen angeboten werden. Außerdem haben wir darüber gesprochen, einige der Aufgaben zu delegieren.

– Außerdem brauchen wir ein fähiges Führungsteam. Bisher bekam Zuhal allein aufgrund der Idee und ihrer Präsentation positive Reaktionen. Aber man darf nicht außer Acht lassen, dass der Erfolg oder Misserfolg des Orchesters davon abhängt, was die Menschen im Irak von seinem Führungsteam halten.

– Deshalb ist es am besten, wenn Zuhal die Entscheidungen über die zukünftige Leitung des Orchesters trifft und sie das Orchester weiterhin nach außen vertritt.

– Man könnte Spendengelder sammeln, indem man eine Website des Jugendorchesters mit einem PayPal-Spenden-Button im selben Land wie die Stiftung des Orchesters einrichtet. Außerdem ließe sich begleitend zur Battlefront-Sendung ein Buch über das Projekt herausbringen. Sobald man weiß, welches das lukrativste Marktsegment ist, lassen sich mit Buch und zugehöriger DVD dauerhaft Spenden sammeln, und wenn sich das Orchester weiterentwickelt, kann man weitere Produkte herausbringen. Spontan, ohne Kenntnis des Buchmarktes, würde ich sagen, dass folgende Gruppen als Käufer infrage kämen: Leser von Lebensratgebern, Personen aus der Musikindustrie im Allgemeinen, Führungspersonal der Generation Y, Familien mit musizierenden Kindern und Leute, die Geschäftsszenarios hinsichtlich deren Rentabilität überprüfen.

– Wir sollten zunächst ein Konzert geben, bevor wir Veranstalter für klassische Musik mit konkreten Plänen für eine Tour kontaktieren, allerdings wäre es für die Beschaffung von Spendengeldern hilfreich, die Klassiksender sofort ins Boot zu holen.

Gruß,

Paul

Rückblickend betrachtet stand eigentlich schon alles da, doch die Frage, wem man all diese Aufgaben übertragen sollte, jagte mir eine Heidenangst ein.

Kurz darauf meldete sich Zuhal bei Jo. Und Jo meldete sich bei mir. Ich war der Auserwählte! – aber ich wusste meinerseits kaum etwas über Zuhal. Wer war Zuhal Sultan überhaupt? Durch ihr Interview für die Mädchenzeitschrift New Moon bekam ich eine ungefähre Vorstellung davon. Als Zuhal sechs Jahre alt war, bemerkte ihre Mutter, dass ihre Tochter in der Wohnung Musik hörte und die Stücke auf ihrem Spielzeugklavier mitspielte. Sie meldete Zuhal sofort zum Privatunterricht an. Ihr erster Lehrer war voll des Lobes und verglich ihre elfenbeinfarbenen Hände mit weichem Fladenbrot. Im Alter von neun Jahren erhielt Zuhal ein Stipendium für die Musik- und Ballettschule in Bagdad, die erste Musikschule im Nahen Osten. Bis 2003 bestand das Personal der Schule aus Dozenten der ehemaligen Sowjetunion, die auf einem hohen Niveau unterrichteten und in Bagdad so etwas wie eine westliche Tradition fortführten.

Nach dem Einmarsch und dem Krieg im Jahr 2003 änderte sich das. Zuhal war zwölf, als ihre heißgeliebte Schule kurz vor der Schließung stand, weil die meisten Lehrer das Land verlassen hatten. Es war schon gefährlich genug, sich auf Bagdads Straßen mit einem Instrumentenkoffer blicken zu lassen; das galt als Zeichen für Wohlstand und die kulturellen Werte des Westens. Während der schlimmsten gewaltsamen Auseinandersetzungen versuchten Zuhal und die anderen Schüler, weiter den Unterricht zu besuchen, ungeachtet der Gefahren, denen sie auf dem Schulweg ausgesetzt waren. Obwohl dieser Zustand lange anhielt, war es für Zuhal ein abwegiger Gedanke, sich zurückzulehnen und zu sagen: »Oh, ich kann nicht vor die Tür, ich kann nicht zur Schule!« Die Schüler wussten, dass sie nicht aufgeben durften, und schafften es, den Schulbetrieb aufrechtzuerhalten und sich selbst zu unterrichten.

Zuhal kam aus einer Familie von Wissenschaftlern ohne speziellen musikalischen Hintergrund. Ihre Eltern waren beide Wissenschaftler und hatten sich in London kennengelernt; einer ihrer Brüder war Arzt und der andere Ingenieur. Sie interessierte sich für Naturwissenschaften und Mathematik. Doch die Musik war ihre große Leidenschaft. Während des Irakkrieges war ihre Mutter an einer Krankheit gestorben, und ihr Vater war bei einem bewaffneten Raubüberfall getötet worden. Keiner der beiden war unmittelbar dem Krieg zum Opfer gefallen, sondern wie abertausende andere Iraker ums Leben gekommen, weil die öffentliche Infrastruktur zusammengebrochen war und die Gesellschaft in Anarchie versank. Einer von Zuhals Brüdern wurde ihr Beschützer.

Über Skype setzte sie ihre musikalische Ausbildung mit einem Klavierlehrer in New York fort. Mit fünfzehn trat sie vor der UNESCO in Paris auf und spielte zusammen mit dem Symphonieorchester des Irak ein Klavierkonzert von Mozart. Außerdem verpflichtete das British Council sie für das »Global Changemaker«-Programm, woraus sich der Kontakt zu Battlefront ergab.

Bereits mit fünfzehn wurde Zuhal Mitglied im Symphonieorchester; diese Gruppe von siebzig Musikern unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Religionszugehörigkeit war wie eine große Familie für sie. Inmitten all der Gewalt in ihrem Land vermittelte ihr das Orchester das wichtige Gefühl der Zusammengehörigkeit. Sie wollte, dass andere junge Musiker auch diese Erfahrung machten. Da sich die gesellschaftliche Lage seit Beendigung des Krieges von Tag zu Tag besserte, fand Zuhal, es sei an der Zeit, mithilfe der Kunst und der Kultur das Land auf eine grundlegende Weise wiederaufzubauen. Und dann hatte sie eines Nachts im Bett die zündende Idee.

Die folgenden Wochen verbrachte ich damit, alleine im Café zu hocken und in den Abgrund zu starren. Das Vorhaben, einer siebzehnjährigen Irakerin bei der Gründung eines Orchesters zu helfen, würde meinem Leben eine andere Richtung geben. Aber ich wusste immer noch nicht, wie ich es anstellten sollte, zusammen mit jungen irakischen Musikern ein derart subversives Projekt zu verwirklichen. Es gab keine erkennbaren Berührungspunkte zwischen ihnen und ihrem eigenen Land, zwischen ihnen und mir oder zwischen uns allen und der Musikindustrie. Meine einzige Rettung war die Begeisterung im British Council, und wir starrten gewissermaßen gemeinsam in den Abgrund.

Ich brauchte ein wenig Aufmunterung, am besten von den Menschen, die mir nahestanden. Als Erstem erzählte ich meinem alten Freund (und Ex-Freund) Sir Peter Maxwell Davies, dem »Master of the Queen’s Music«, von dem Projekt. In den Neunzigern hatte ich in Schottland durch ihn die Eigenheiten und Unzulänglichkeiten der Musikbranche kennengelernt, ihren Mangel an Transparenz und ihre mutwillige Ignoranz; eine unschätzbare Erfahrung, die meine Sichtweise auf das Projekt im Irak prägen würde.

Während ich mit ihm in seinem Haus in Orkney telefonierte, schaffte ich es, mich als »musikalischen Direktor des Nationalen Jugendorchesters des Irak« zu bezeichnen; allerdings brachte ich die Worte kaum über die Lippen, ohne dass es mir die Kehle zuschnürte. »Ich wünsche dir alles Liebe«, antwortete Max sofort, und dann platzte es aus ihm heraus: »Ich werde dein ehrenamtlicher Hauskomponist sein!«

Was für eine großartige Idee. Er hatte genau verstanden, was wir brauchten. Denn als Ehrenamtlicher musste er nicht dauerhaft im Irak sein – und hatte uns trotzdem gerade ein Musikstück geschenkt; normalerweise hätte das Honorar für eine seiner Arbeiten bei jedem ein dickes Loch ins Konto gerissen. Außerdem war er gegen den Krieg der Blair-Regierung in London auf die Straße gegangen. Er nahm aufrichtig Anteil an den Geschehnissen, und er wurde unser erster prominenter Unterstützer. Allein durch seine öffentliche Zustimmung gab er unserem unerfahrenen Team Auftrieb. Außerdem gab er mir dadurch zu verstehen, dass ich das Richtige tat.

Mitte November 2008 reiste ich das erste Mal nach London, um mit Paul Parkinson im British Council unsere nächsten Schritte zu besprechen. Ich hatte gute Neuigkeiten für ihn, denn alte Freunde von mir, die bei der landesweiten Organisation Making Music arbeiteten, waren so angetan von Zuhals Vorhaben, dass sie beschlossen hatten, zusammen mit den Machern von Battlefront eine Stiftung zu gründen. Mir war klar, dass man dem maroden Finanzsystem im Irak ein derartiges Projekt nicht anvertrauen konnte. Darum war es naheliegend, außerhalb des Irak ein transparentes Konto einzurichten und Spendengelder aufzutreiben. Die Tatsache, dass eine Reihe bekannter Persönlichkeiten hinter unserem Projekt standen, stimmte mich optimistisch. Obwohl mir klar war, dass große Namen allein nicht viel bedeuteten. Nur durch Leidenschaft würden wir den Berg zu Mohammed bringen.

Mein erster Besuch bei Battlefront erinnerte mich an die Nachrichtenredaktion, in die mich mein Vater als Kind mitgenommen hatte. Das spartanisch eingerichtete Großraumbüro, erfüllt vom hektischen Treiben lässiger junger Medienschaffender vor ihren PCs (zu Dads Zeit waren es Schreibmaschinen gewesen), kam mir selbst wie die Kulisse einer Reality-Show vor. Unprätentiös und abgeklärt, was die Produktion von Sendungen von Teenagern für Teenager betraf, hatte Jo es sich zur Aufgabe gemacht, sie zu beschützen – vor Leuten, die ein siebzehnjähriges Mädchen und ein solches Projekt für ihre Zwecke ausnutzen könnten und die womöglich aussahen wie ich.

Jo war scharfsinnig, quirlig und spontan, und sie wollte mich als Zuhals Mentor mit an Bord haben. Über das Internet mussten wir sie irgendwie an den zahlreichen Hindernissen vorbeilotsen, ohne zu wissen, wie ihr Alltag in Bagdad tatsächlich aussah. Als ich wieder nach Köln zurückgekehrt war, kam ich zu dem Schluss, dass Jo und das Battlefront-Team großartige Arbeit leisteten. Nachdem sie gesehen hatte, dass man mich auf junge Leute loslassen konnte, stellte sie meine Mentoring Page online und bat mich um einen Rat zur anstehenden Kampagne.

»Wenn Disney eine neue Idee entwickelt«, sagte ich, »machen sich drei verschiedene Teams in getrennten Räumen dazu Gedanken. In Raum Nr. 1 sitzen Leute voller positiver Energie, die ›Träumer‹, die ein Konzept für einen zukünftigen Film oder eine zukünftige Attraktion entwickeln, in deinem Fall die Kampagne. Von dort wandert das Konzept in Raum Nr. 2, wo sich die ›Realisten‹ der Geschäftsführung überlegen, wie sich die Vision Schritt für Schritt realisieren lässt; dann reichen sie das Konzept an Raum Nr. 3 weiter. Dort wird es von den ›Kritikern‹ analysiert, die Zweifel, Probleme und mögliche Risiken zur Sprache bringen. Wenn das Konzept von ihnen zurückkommt und sie (widerwillig) zugeben, ›nicht übel‹, waren sie in Wirklichkeit ziemlich beeindruckt! Es gibt noch eine vierte Position bei einer Kampagne, den ›Beobachter‹, der das ganze Feedback sammelt und an die verschiedenen Räume weiterleitet, bis alle mit dem Ergebnis zufrieden sind. Bei deiner Kampagne kannst du alle vier Rollen selbst übernehmen, du kannst das Problem von verschiedenen Seiten aus beleuchten oder Teammitglieder dazuholen, die sich für eine der Rollen eignen. Laut Disney benötigt man alle vier Positionen, um ein neues Konzept realisieren zu können.«

Ich war jetzt also damit beschäftigt, zusammen mit britischen Teenagern eine Kampagne zu entwickeln. Seit Ewigkeiten hatte ich mich nicht mehr so nützlich gefühlt; aber wichtiger war die Frage: Wer waren überhaupt unsere »Kritiker«? Und wer waren unsere »Beobachter«?

Anfang Januar 2009 kam Bewegung in die Sache. Allegra Klein, die Zuhal bei unserem ersten Gespräch erwähnt hatte, arbeitete als Sekretärin in einer New Yorker Anwaltskanzlei und war Leiterin der amerikanischen Stiftung »Musicians for Harmony«. Sie hatte eine Reihe erfolgreicher Aktivitäten im Nahen Osten vorzuweisen, zudem verfügte sie über zahlreiche Kontakte in Manhattan. Zuhal und Allegra kannten einander von »American Voices«, einer aus Mitteln des US-Außenministeriums finanzierten Stiftung, die Musik-Workshops im kurdischen Teil des Irak veranstaltete.

Aus der ersten Skype-Konferenz von Zuhal, Allegra und mir ging das Triumvirat hervor, das im Irak zusammenkommen und den ersten Kurs vorbereiten würde. Im Laufe der Monate wurde uns allmählich das gewaltige Ausmaß unserer Aufgabe bewusst – die mir zwar Angst einjagte, mich aber auch beflügelte. Da ich so langsam Bewerbungsvideos benötigte, um die besten Musiker sowie ein ihren Fähigkeiten entsprechendes Repertoire auszuwählen und ein funktionsfähiges Orchester für einen zweiwöchigen Kurs zusammenzustellen, bat ich Zuhal, ihre Freunde im Irak zu überzeugen, sich dafür zu bewerben.

Man hatte den jungen Irakern bereits häufig Versprechungen gemacht, die sich dann in Wohlgefallen auflösten, weil Millionen von Dollar in die Taschen irgendwelcher Funktionäre gewandert waren. Das Vertrauen der Musiker in Zuhal entsprang purer Verzweiflung, aber auch einer Art blindem Glauben; immerhin war sie eine von ihnen. Sie und ihre Freunde im Irak, besonders der junge Pianist Boran Zaza im kurdischen Teil, hockten stundenlang vor ihren Laptops oder in Internet-Cafés und luden Dateien hoch oder brannten mir jede Menge Videos von musikalischen Talenten auf DVD. Im Jahr 2009 dauerte es im Irak bis zu zehn Stunden, um ein fünfminütiges Video hochzuladen – so lange der Strom nicht ausfiel und sie wieder von vorne beginnen mussten.

Dank Zuhals Kontakten zum Irakischen Symphonieorchester, in dem sie als Orchesterpianistin spielte, hatten wir einen Grundstock an jungen Talenten, die Unterstützung brauchten. Außerdem kannte sie die Organisatoren der »American Voices«-Sommerkurse, die seit 2006 in den kurdischen Autonomiegebieten junge irakische Musiker unterschiedlichster Herkunft zusammenbrachten. Dank dieses kulturellen Engagements kamen Iraker zum ersten Mal nach Ende des Krieges in den Genuss eines qualifizierten Unterrichts.

Als die Videos bei mir eintrafen, brach es mir das Herz. Ich sah hungrige junge Menschen, die nach Musik gierten und in der Dunkelheit danach tasteten – es gab keinen Zweifel, dass sie Hilfe brauchten. Es fehlte an Technik, Instrumenten und Unterricht, aber vor allem an Menschen, die Musik liebten und ihre Schüler mit Respekt behandelten.

Als Leiter des Orchesters wollte ich diesen jungen Menschen mein ganzes Mitgefühl entgegenbringen und sie zur Zusammenarbeit ermutigen und nicht wie einer jener unfähigen Diktatoren auftreten, die sie sonst gewohnt waren. Ich konnte nicht begreifen, dass ein Land, das versuchte, nach dem Krieg wieder auf die Beine zu kommen, seine jungen Talente so unterdrückte, zumal junge Leute den größten Bevölkerungsanteil stellten. Obwohl die Finanzierungsfrage natürlich ganz oben auf unserer Liste stand, waren Gerechtigkeit und Disziplin wichtig, um jungen Musikern, die völlig entmutigt und isoliert waren, Zuversicht zu vermitteln.

Allegras Erfahrung als kulturelle Botschafterin half mir oft, schwierige Entscheidungen zu treffen; besonders bei der Frage, wer die Rolle des Konzertmeisters übernehmen sollte, der am ersten Notenpult der Violinen sitzt und das Orchester leitet. Aus den Bewerbungsvideos ging deutlich hervor, dass die arabischen Violinisten den kurdischen technisch überlegen waren, aber Allegra wies mich darauf hin, dass es zu Spannungen kommen würde, wenn wir mit einem arabischen Stimmführer in der kurdischen Stadt Sulaimaniyya, wo wir den Kurs abhalten wollten, auftreten würden. Dieses Dilemma bereitete mir gehörige Bauchschmerzen.

Ich schrieb eine Mail, in der ich mich bereit erklärte, für die eine Hälfte des Konzerts einen kurdischen Violinisten als Stimmführer zu benennen und für die zweite einen arabischen. Ich hielt eigentlich überhaupt nichts davon; doch obwohl es mich innerlich zerriss, schickte ich die Mail mit meiner Entscheidung an das Team schließlich ab. Damit hatte ich dem wachsenden Berg ungeklärter Fragen eine weitere Unwägbarkeit hinzugefügt.

2

Der Fünfzigtausend-Dollar-Tweet

Anfang März 2009 flog ich für ein erstes Treffen mit Tony Reilly, dem Leiter des British Council im Irak, nach London; Tony war ein umgänglicher Bursche mit einem grauen Haarschopf und einem warmen englischen Akzent. Da er bereits über das Projekt informiert war, erklärte er sich ohne Weiteres bereit, den Sommerkurs im Irak zu unterstützen. Tony war wie ich eine Spielernatur und damit genau der richtige Mann für den kriegsgeschüttelten Irak. Uns beiden war klar, was für eine spannende, außergewöhnliche Gelegenheit sich uns bot: Es war möglich, diese isolierten jungen Menschen zusammenzubringen und sie durch professionellen Unterricht zu fördern. Es musste nicht alles perfekt sein, und angesichts der Verhältnisse im Irak hatte ich mich von dieser Vorstellung sowieso schon verabschiedet. Wir mussten das Projekt nur in die Tat umsetzen.

Das British Council weckte das Interesse der Times, die einen langen Artikel über Zuhals Vorhaben veröffentlichte, zusammen mit einem Bild von ihr an einem Flügel; in den dunklen Augen ihres rundlichen Gesichts spiegelte sich die leuchtende arabische Seele. Als die Zeitung in Druck ging, war Zuhal via Amman bereits auf dem Weg nach London; bald würde sie eine kleine Berühmtheit sein. Während meines täglichen Mail-Verkehrs und der wöchentlichen Skype-Gespräche spürte ich, dass wir auf einem guten Weg waren.

Und so gab es Ende März zwar noch viele offene Fragen, aber unsere Mitarbeiter waren zuversichtlich. Jo hielt Zuhals Ankunft in Heathrow mit der Kamera fest. Nachdem Zuhal monatelang den Anfragen der Battlefront-Produzenten, Filmaufnahmen vom Leben in Bagdad und den Auditions zu machen, ausgewichen war, brauchte Jo jetzt unbedingt Bildmaterial. Dass Zuhal der Sache mit Battlefront nicht ganz traute, ließ eine Entscheidung erahnen, die ich immer mehr verstehen konnte: Obwohl sie im Umgang mit den Medien eine gute Figur machte, spürte sie, wie sie langsam erwachsen wurde, und sie war noch nicht bereit, sich voll und ganz auf den Preis des Ruhms einzulassen. Außerdem war das Leben in Bagdad für Frauen, die von falscher Seite das Interesse der Medien weckten, nicht ganz ungefährlich.

Auf der ersten Station ihrer Reise, einem E-Campaigning-Forum an der Universität in Oxford, waren die Leute von ihr begeistert. Zuhal wusste, wie man die Bühne betrat und sein Anliegen rüberbrachte. Unterdessen flog ich erneut nach London, um sie endlich persönlich kennenzulernen. Es gab so viele Punkte, die wir noch nicht eingehend besprochen hatten. Meistens traten bei den Skype-Konferenzen zwischen Zuhal in Bagdad, mir in Köln und Allegra in New York technische Probleme auf. Darum chatteten wir stundenlang miteinander. Wir unternahmen die »richtigen« Schritte, und das war aufregend; allerdings hatten wir keine Möglichkeit, den anderen wirklich kennenzulernen.

Am 2. April 2009 trat unser Projekt in eine entscheidende Phase ein; wir machten unseren ersten großen Schritt ins Licht der Öffentlichkeit. Das Team von Battlefront hatte für den Nachmittag die Wigmore Hall gebucht, Londons wichtigsten Auftrittsort für Kammermusik. Die Veranstaltung sollte unserer Kampagne eine Plattform bieten und gleichzeitig gute Fernsehbilder liefern. Zuhal und ich hatten kurz Gelegenheit, uns am Morgen hinter der Bühne zu treffen, bevor man sie fortbrachte, um sie bei den Proben für ihren Klaviervortrag zwei Stunden später zu filmen.

Jo blieb bei mir, um mir Anweisungen zu geben. Die Musikergarderobe, deren Wände mit gerahmten Schwarz-Weiß-Fotos von Klassikstars vergangener Jahrzehnte übersät waren, katapultierte ihr Filmteam in eine andere Welt. Man hatte das Team wegen seiner Erfahrung als Embedded Journalists bei den amerikanischen Truppen im Irak ausgewählt, und während die Männer die ernsten Gesichter der Sopranistinnen, Dirigenten und Pianisten musterten, versuchten sie, sich einen Reim darauf zu machen. Sie waren anständige Burschen und hatten tolle Geschichten auf Lager, aber mir war nicht ganz klar, was sie mit einem klassischen Konzert zu tun hatten. Wahrscheinlich wurden sie darauf vorbereitet, uns im Irak zu filmen.

Immerhin konnte Jo, die ganz aus dem Häuschen war, endlich ihren Job tun und eine Reality-Show produzieren. Ich hingegen spürte, dass es ihr wohl an Einfühlungsvermögen mangelte, und mich überkamen erste Zweifel. Jo forderte mich auf, mich an ein Klavier zu setzen und vor der Kamera vom Irakischen Jugendorchester zu erzählen. Wir machten zwei Takes: Zunächst erzählte ich, wie alles begonnen hatte, und dann bat Jo mich, eine Version der Geschichte zum Besten zu geben, die Zuhal als Märchenheldin präsentierte, die ganz alleine das Orchester gegründet hatte. Dadurch fühlte ich mich in meinen Zweifeln eher bestätigt.

Als wir die Aufnahmen im Kasten hatten, versuchte ich, Zuhal zu finden, denn ich machte mir ernsthafte Sorgen um sie und darum, wie sich die Sache hier entwickeln würde. Andy Staples, ein aufstrebender Star-Tenor, der bei dem Konzert ohne Gage auftrat, fand sie vor mir, und ich stieß dazu, während sie aus einem Buch, das er mitgebracht hatte, Schubert-Lieder probten. Es war absurd. Zuhal spielte Schubert vom Blatt, zwei Stunden bevor sie die Stücke in der Wigmore Hall aufführen würde. Während sie und Andy tapfer versuchten, sich gegenseitig zu unterstützen, filmte der Kameramann ihre Hände, ohne zu merken, wie nervtötend das war. Zuhal musste immer noch Rachmaninows Prélude in cis-Moll üben. Ich ließ die beiden allein und ging zu Jo, um ihr meine Bedenken mitzuteilen.

»Es ist ihre Entscheidung.«

Ach ja? Wirklich? Welche Wahl hat denn eine siebzehnjährige Pianistin aus Bagdad? Man hatte sie direkt vom Flieger auf das Medienkarussell gesetzt, einen der renommiertesten Veranstaltungsorte in London als Plattform für ihr Anliegen organisiert und sie genötigt, ihren Auftritt filmen zu lassen, ohne vorher richtig zu proben. Ich hielt das für eine Zumutung. Zuhal verfügte über eine beachtliche Reife, was manchmal aber dazu führte, dass sie sich selbst etwas vormachte. Sie hatte kaum Erfahrung im Westen. Mir war klar, dass sie die Kontrolle verloren hatte, doch mir blieb nichts anderes übrig, als mich herauszuhalten und der Sache ihren Lauf zu lassen.

Die Veranstaltung, bei der Journalisten aus ganz London zugegen waren, begann nach dem Mittagessen. Hinter der Bühne fing Zuhal an zu weinen, dann wischte sie sich die Tränen fort und spielte eine hübsche Interpretation des Rachmaninow-Stücks, obwohl man merkte, dass man sie dazu gedrängt hatte. Dann betrat Andy die Bühne und trug Zuhal durch das Schubert-Stück, das sie, wenn auch etwas stockend, ebenfalls anständig spielte. James Barralet, ein weiterer aufstrebender Star der britischen Musikszene, spielte auf seinem Cello ein Stück von Bach; dazu setzte er sich vor das Mikrofon, das auf der Bühne stand, weil er offensichtlich dachte, dass es einzig und allein für die Filmaufnahmen dort aufgebaut worden war. Es stellte sich jedoch heraus, dass es mit den Lautsprechern verbunden war, sodass der Saal, der ohnehin über eine sagenhafte Akustik verfügt, auch noch über die Lautsprecher beschallt wurde. James saß starr vor Entsetzen da, während ich den Eindruck hatte, dass hier ein Künstler nach dem anderen in der bedeutendsten Konzerthalle Großbritanniens bloßgestellt wurde.

Ein gewisses Gefühl der Erleichterung verspürte ich erst, als das Konzert zu Ende war und Elisabeth Palmer von CBS News die Bühne betrat, um Zuhal zu interviewen, die sich inzwischen wieder beruhigt hatte und ihr mit großer Überzeugungskraft in einem wunderschönen Englisch antwortete, um sich anschließend den kritischen Fragen des Publikums zu stellen, wie zum Beispiel: Warum sollte man das Irakische Jugendorchester unterstützen, obwohl doch erst die Infrastruktur wieder aufgebaut werden müsste? Mit der richtigen Mischung aus Bescheidenheit und Selbstvertrauen erklärte Zuhal, dass sich um diese Angelegenheiten die Regierung kümmern müsse, sie konzentriere sich auf das, was sie selbst tun könne, um das Leben der Menschen im Irak zu verbessern. Das war eine ihrer vielen Antworten, die die Sache auf den Punkt brachten. Zuhal zeigte, was für eine bemerkenswerte Persönlichkeit sie war. Während ich in einer der hinteren Reihen aufmerksam zuhörte, spürte ich, dass ihre Hartnäckigkeit das Ergebnis der Jahre war, die sie als Kind im Krieg verbracht hatte, und ich spürte, wie zerbrechlich das Selbstverständnis dieses jungen Menschen noch war.

Nach dem anschließenden Empfang suchten Zuhal und ich ein leeres Zimmer auf, um in Ruhe über das Orchester zu reden. Wir diskutierten die Probleme mit den Bewerbungen und der Finanzierung, und ich sah vor mir einen mutigen Teenager, der sich wie ich an jeden Strohhalm klammerte, um die Finanzierungslücken eines äußerst ungewissen Vorhabens zu schließen. Sie hätte eine Kindheit haben und dann wie ein normaler Teenager leben sollen; aber der Krieg hatte ihr beides genommen, sodass sie alleine mit ihren Gefühlen fertigwerden musste. Dank ihres Durchsetzungsvermögens und ihrer Verletzlichkeit, beides Merkmale eines wahren Künstlers, kam sie gut mit ihrer Situation zurecht, aber sie blieb trotzdem vorsichtig und hielt Abstand zu uns.

Ein aufrichtiges Lächeln zeigte sie erst, als sie mir erzählte, dass sie sich heute Abend im Barbican Centre Dvořáks Symphonie Nr. 9 (»Aus der Neuen Welt«) anhören wolle. Als wir uns vor der Wigmore Hall trennten, waren wir beide ein wenig zuversichtlicher, dass unser erster Sommerkurs eine gute Sache werden würde, obwohl wir immer noch verwirrt waren über den merkwürdigen Weg, den wir eingeschlagen hatten.

Anfang Mai lud mich die World Federation of Amateur Orchestras zu ihrem jährlichen Treffen nach Antwerpen ein. Allein der Name schmerzte ein wenig. Was konnte eine solche Organisation schon für irgendwen erreichen? Bei meiner Ankunft war die beeindruckende Gästeliste, gespickt mit Mitgliedern nationaler und internationaler Organisationen, auf beschauliche einundzwanzig Teilnehmer zusammengeschrumpft. In dem engen Raum eines ehemaligen Klosters kamen die Delegierten in einer Atmosphäre befangener Ernsthaftigkeit zusammen.

Vierzig Minuten lang musste ich die anspruchsvolle Aufgabe bewältigen, von der Gründung des Orchesters zu erzählen, sowie von seiner Bedeutung für junge Menschen überall auf der Welt. Es hatte eine Woche gedauert, die PowerPoint-Präsentation vorzubereiten, und nach dem Ende meines Vortrags war ich davon überzeugt, dass ich die Teilnehmer auf meiner Seite hatte, doch sie saßen, in eisiges Schweigen gehüllt, einfach nur da.

Schließlich fanden sich aber doch noch zwei wichtige Mitstreiter. Renate Böck, die Präsidentin der European Federation of National Youth Orchestras, sowie Olive Khan, die Intendantin des Nationalen Jugendorchesters von Singapur, die mir jene Anteilnahme und Anregung entgegenbrachte, die ich mir so sehr erhofft hatte. Wie Zuhal hatte ich genug davon, mit dem Projekt alleine auf dem Meer umherzutreiben. Obwohl wir inzwischen eine Menge fähiger Leute an Bord hatten, konnte sich niemand vorstellen, dass ich als Dirigent ein derartig merkwürdiges Projekt betreuen würde. Allegra leistete einen wichtigen Beitrag; aber Zuhal und ich spürten, dass wir beide die Einzigen waren, die die Seele des zukünftigen Orchesters bereits kannten. In gewisser Weise waren wir seine Eltern.

Ende Mai reiste Tony Reilly, der Direktor des British Council im Irak, nach Sulaimaniyya, der zweitgrößten Stadt im kurdischen Autonomiegebiet, um die Probenräume des Kurdischen Streichorchesters für uns zu organisieren; doch er biss mit seinen Bemühungen auf Granit. Das Kurdische Streichorchester war 2007 ins Wiener Konzerthaus eingeladen worden, um dort an einem Wettbewerb teilzunehmen, und hatte eine stilistisch ausgereifte Darbietung geboten. Ein Irakisches Jugendorchester stellte eine Bedrohung für sie dar, denn es hatte zwar kurdische Musiker in seinen Reihen, war aber ein irakisches Orchester. Sulaimaniyya hatte sich einen Namen als eines der kulturellen Zentren des Irak gemacht, und das Kurdische Streichorchester war ein wichtiges Aushängeschild. Nach zähem Ringen bekam Tony immerhin eine mündliche Zusage. Allegra, Zuhal und ich mussten uns fürs Erste damit zufrieden geben und hoffen, dass man sich daran halten würde.

Wir hatten uns auch deswegen für Sulaimaniyya entschieden, weil der kurdische Teil des Irak den Krieg einigermaßen unbeschadet überstanden hatte und die Region aufgrund ihrer Sicherheitslage größtenteils von den Terroranschlägen verschont wurde, die Bagdad tagtäglich heimsuchten. Die kurdischen Sicherheitskräfte machten sich die ethnischen Unterschiede dort zunutze: Ein einzelner Araber sprengte sich zwar in die Luft, ein einzelner Kurde jedoch nicht.

Da die Kurden wie die Perser und Armenier zu den indogermanischen Völkern gehören, unterscheiden sie sich äußerlich so stark, dass ein Araber auf der Straße den Einheimischen in der Regel sofort auffällt. Außerdem wirken Kurden oft zierlicher, und viele von ihnen weisen vergleichsweise flache Hinterköpfe auf. Das ermöglichte es der omnipräsenten kurdischen Geheimpolizei, die aufgrund der Mithilfe von etwa fünf Millionen irakischen Kurden und regelmäßiger Straßenkontrollen immer auf dem Laufenden war, jeden problemlos zu überwachen.

Außerdem kursierten haufenweise Gerüchte, dass ehemalige Mossad-Agenten die Kurden bei den Sicherheitsmaßnahmen im Flughafen beraten hätten. Diese sozusagen geheime Beziehung zwischen Kurdistan und Israel, die bis in die Sechzigerjahre zurückreicht, war für die Kurden von entscheidender Bedeutung; denn um vom Irak unabhängig zu werden, müssen die kurdischen Sicherheitsbehörden vor Ort effektiv arbeiten und durch die Einnahmen aus dem Ölgeschäft und nicht durch die USA finanziert werden. Dabei hat die autonome Region Kurdistan einen Trumpf im Ärmel: Sie verfügt über die sechstgrößten Ölvorkommen der Welt.

Trotz des politisch aufgeheizten Klimas war es erstaunlich unproblematisch, sowohl kurdische als auch arabische Kompositionen in unser Programm aufzunehmen. Dr. Mohammed Zaza stellte uns eine Orchesterfassung seines Gitarrenstücks »Kurdische Tänze« zur Verfügung. Und Majid Al Azzawi, unser sogenannter Betriebsleiter in Bagdad, vermittelte uns Ali Khassafs »Irakische Melodien«. Das waren keine großartigen Werke, aber sie konnten dabei helfen, die irakische Kultur wiederzubeleben.

Als Einstieg wollte ich Beethovens »Prometheus«-Ouvertüre aufführen – eine ebenso kühne Schöpfung wie unser Orchester – und das Programm mit Haydns Symphonie Nr. 99 beenden. Diese beiden Werke sollten das Herzstück meiner pädagogischen Anstrengungen werden, denn die Musiker mussten ihre unterschiedlichen Rollen innerhalb des Orchesters lernen – in melodischer, harmonischer und rhythmischer Hinsicht.

Außerdem würzte ich unser Programm noch mit zwei kürzeren Stücken: Iain Whytes Orchesterversion der Glasgower Cabaret-Nummer »Deoch and Doris« und Martin Dalbys Orchesterversion des »Cradle Song« – für den Fall, dass wir Zeit hatten, sie einzustudieren.

In den frühen Morgenstunden des 26. Mai lag Zuhal wieder einmal wach im Bett und fragte sich, wie man unsere Finanzierungslücke von fünfzigtausend Dollar schließen könnte. Am nächsten Morgen schickte sie Allegra und mir eine E-Mail, in der sie uns von ihrem Geistesblitz berichtete:

Hallo ihr beiden,

ich bin gestern auf Twitter gewesen und auf die Tweets von Barham Salih gestoßen (das ist der Regierungsvertreter, über den wir gesprochen haben – das haben wir doch, oder?). Ich habe ihm Folgendes geschrieben:

»@BarhamSalih Als junge Irakerin, die in Bagdad lebt, freut es mich sehr, dass ein Mitglied unserer Regierung Twitter benutzt – Hut ab!«

Und dann hatte ich eine Idee; ich wusste zwar nicht, ob er überhaupt antworten würde, aber ich fand, einen Versuch wäre es wert:

»@BarhamSalih Haben Sie diesen Artikel mal gelesen? wären Sie daran interessiert, diese initiative zu unterstützen?

http://tinyurl.com/ragfu2 (dies ist ein Link zu einem Artikel über mich in der Times)«

Darauf erhielt ich folgende Nachricht von ihm:

»BarhamSalih@ZuhalSultan Danke! Sie erfüllen uns alle mit Stolz. Ich will dieses großartige Projekt auf jeden Fall unterstützen, schicken Sie mir Ihre Telefonnummer, damit ich mich mit Ihnen in Verbindung setzen kann.«

Also habe ich ihm meine Telefonnummer und meine Mail-Adresse geschickt … DRÜCKT UNS DIE DAUMEN!

Zuhal

Zwei Tage später saßen Tony Reilly und Zuhal Sultan in Dr. Barham Salihs Büro in Bagdad und nahmen fünfzigtausend Dollar für den ersten Sommerkurs des Jugendorchesters entgegen. Siegestrunken verließ Zuhal sein Büro. Allegra und ich waren außer uns vor Freude. Am Abend gab uns Tony via Skype grünes Licht, unsere Arbeit fortzusetzen und den Kurs abzuhalten.

Mit ihren Tweets an den stellvertretenden Premierminister des Irak hatte die großartige Zuhal den ungewöhnlichsten Finanzierungscoup gelandet, der mir je untergekommen ist: einen 50000-Dollar-Tweet. Jetzt konnten die Produzenten von Battlefront darauf drängen, dass Channel 4 ihnen den Auftrag erteilte, den ersten Sommerkurs im Irak zu filmen; auch wenn die Zeit dafür langsam etwas knapp wurde.

Ich war erschüttert von Zuhals Geschichten über junge Musiker im Symphonieorchester des Irak, die fast ohne jede Betreuung und Unterstützung die Posten jener Musiker übernommen hatten, die 2003 geflohen waren. Die erfahrenen Orchestermitglieder, die geblieben waren, waren vielleicht einfach keine guten Lehrer; allerdings hatte sich wohl auch der dramatische Verlust an Arbeitsmöglichkeiten wie eine Venusfliegenfalle um alle herum geschlossen. Niemand wollte einem jungen Musiker zur Seite stehen, der ihm vielleicht seinen Job wegnehmen konnte. Währenddessen sahen sich die Studenten an den Akademien der schönen Künste überall im Irak in ähnlicher Weise mit Vernachlässigung und verheerenden Auflösungserscheinungen konfrontiert. Aber wie durch ein Wunder hatten es ein paar Jugendliche geschafft, sich selbst zu unterrichten, ungeachtet der Politiker und Imame, die ihre Religion wie einen Krummsäbel auf die ehemals säkulare Gesellschaft des Irak herabsausen ließen.

Einigen Auslegungen des Islam zufolge erschuf Gott die menschliche Stimme, um seine Worte zu singen. Alles andere sei haram – sündhaft. Besonders die Musik des Westens stand für Dekadenz und sexuelle Lasterhaftigkeit. Frauen, die Musik machten, wurden immer wieder ausgegrenzt, weil sie angeblich ihre alltäglichen häuslichen Pflichten vernachlässigten, nur um ihre Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Dieses Szenario geisterte mir durch den Kopf, während Allegra und ich uns auf die Suche nach Dozenten für den Kurs machten.

Am 1. Juni veröffentlichten wir die Ergebnisse, die unsere Auswertung der Videos ergeben hatte. Von den dreiundfünfzig Bewerbern hatte ich dreiunddreißig ausgewählt, die meiner Meinung nach ein Konzert von Anfang bis Ende durchstehen konnten, ohne völlig den Faden zu verlieren. Dennoch waren einige Positionen des Orchesters noch nicht besetzt. Da wir niemanden für die zweite Oboe oder das Fagott hatten, musste ich Dozenten finden, die bei den Proben und der Aufführung diese Parts übernahmen. Ich wollte nach jungen Dozenten Ausschau halten, die den Musikern auf Augenhöhe begegneten und sich auf der Bühne in ein Jugendorchester einfügten. Außerdem hatte ich kein Interesse daran, auf die kulturellen Empfindlichkeiten bezüglich der untergeordneten Rolle der Frau im Irak Rücksicht zu nehmen, und suchte nach talentierten Frauen genauso wie nach Männern. Dadurch, dass wir auf Leute mit langjähriger Erfahrung verzichteten, vermittelten wir die subversive Botschaft, dass älter oder männlich nicht unbedingt besser bedeutete. Die irakischen Musiker mussten begreifen, dass es bei klassischer Musik auf harte Arbeit und das Endergebnis ankam und dass man sich von Musikern, deren Haltbarkeitsdatum abgelaufen war, nicht sabotieren lassen durfte. Außerdem wollte ich mit Menschen arbeiten, die bereit waren, etwas zu geben, und nicht nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht waren, und die trotz ihres jungen Alters auf eine erfolgreiche Arbeit mit erstklassigen Orchestern zurückblicken konnten.

Im Jahr 2007 hatte das National Youth Orchestra of Scotland mich als Dirigent für ein Konzert in Glasgow engagiert. Mike O’Donnell, dessen Mutter für die schottische Regierung arbeitete, spielte bei diesem Konzert Oboe. Da er ein aufgeweckter, offenherziger Bursche war und immer noch nicht wusste, wann er in einer Branche voller Konformisten besser die Klappe halten sollte, schien er mir als Dozent bestens geeignet. Als ich ihn schließlich ausfindig gemacht hatte, stellte sich heraus, dass er als Freiberufler für verschiedene bekannte Orchester in London tätig war. Mit seiner frechen, charmanten Art hatte er eine mitreißende Wirkung auf andere Menschen. Er wäre wahrscheinlich auch mit einem Mord durchgekommen – was bei einem gewagten Projekt wie dem unseren von Vorteil sein konnte.

Mike war von der Idee begeistert und sagte sofort zu. Außerdem brachte er seinen Bruder Larry als Fagottdozent mit. Wir einigten uns darauf, dass die beiden im Anschluss an eine Hochzeitsfeier einen Tag später als alle anderen in den Irak reisen würden, eine Entscheidung, die für uns alle verheerende Folgen haben sollte. Natürlich mussten unsere jungen Dozenten ihren Eltern mitteilen, dass sie in den Irak reisten, was in einigen Familien zu Panikattacken führte. Mike hingegen reichte es, seiner Mutter zu sagen, dass er und Larry »einen Ausflug in den Irak« unternehmen würden. Damit war die Sache erledigt.

Jonathan Thomson, ein Trompeter des National Youth Orchestra of Scotland, den ich erst kürzlich für einen Auftritt in der Oper von Montepulciano engagiert hatte, kam ohne zu zögern als Dozent für die Blasinstrumente an Bord, und mit ihm seine Freundin, die Violinistin Lucy Wannell. Die beiden lebten zusammen in London, wo es zwar schwer war, einen Job zu finden, sich aber mehr Arbeitsmöglichkeiten und Kontakte als im Norden ergaben. Jonny sorgte bei den Proben stets für gute Stimmung; er war einfach nicht renitent genug, um die unangenehmen Verhaltensweisen eines typischen Blechbläsers anzunehmen. Da er eine charismatische Persönlichkeit war und eine Ausbildung als Lehrer hatte, konnte ich ihm die Leitung der Bläser anvertrauen. Jonny und ich hatten in der Musikwelt beide ähnliche Erfahrungen gemacht: Einige ältere Schotten, die aus unerfindlichen Gründen wichtige Posten innehatten, versuchten, uns mit allen Mitteln unter ihr mittelmäßiges Niveau zu ziehen, um unser Selbstbewusstsein mit Füßen zu treten. Daher fühlten wir uns wie Flüchtlinge aus Schottland, die die Notlage der jungen Iraker, die wir bald treffen würden, einigermaßen nachvollziehen konnten.

In New York sah sich Allegra ein paar Dozenten für die Streicher an, unter ihnen Angelia Cho. Sie hatte ihren Abschluss an der Juilliard School gemacht und war eine bekannte Kammermusikerin und Dozentin am Weill Institute der Carnegie Hall. Angelia brachte den nötigen Pioniergeist mit, um die Gelegenheit beim Schopfe zu packen und sich auf unser Abenteuer einzulassen.

Eine weitere von Allegras Kandidatinnen, Sheila Browne, eine Bratschenprofessorin an der New York University und der University of South Carolina, war bereits vierzig, wirkte aber viel jünger. Ich hatte Allegra erklärt, dass die Dozenten jünger als dreißig sein sollten, aber Sheila, die sich mit Leib und Seele der Bratsche verschrieben hatte, war als Musikerin bereits einige Male rund um den Globus gereist. Außerdem war sie Vorstandsmitglied der American Viola Society gewesen und hatte als Solistin und Ensemblemusikerin die Werke zeitgenössischer Komponisten aufgeführt. Mitte Juli sagte Sheila ihrem Hausschwein Cosmo auf Wiedersehen und machte sich auf den Weg nach Südafrika, um dort bei der Uraufführung eines Bratschenkonzerts zu spielen und danach direkt zum Kurs in den Irak zu fliegen.

Als unseren Cellodozenten wollte ich unbedingt James Barallet verpflichten, der so großzügig gewesen war, im Rahmen von Zuhals Auftritt in der Wigmore Hall mitzuwirken. Er war durchaus bereit, bis sein Agent, wahrscheinlich aus Angst, die Sache auf einmal verzögerte. Da uns nur wenig Zeit blieb, musste ich auf James verzichten. Stattdessen wandte ich mich an den Young Concert Artists Trust in London, der mir die Nummer von Dave Edmonds gab. Unser erstes Gespräch verlief in etwa so:

Dave: »Hallo?«

Paul: »Hi. Hier spricht Paul MacAlindin vom Irakischen Jugendorchester. Ich habe deine Nummer vom Young Concert Artists’ Trust, es geht um den Dozentenjob im Irak. Bist du noch interessiert?«

Dave: »Äh ja. Ich sitze gerade im Bus nach Manchester.«

Paul: »Okay. Wann kann ich dich besser erreichen?«

Dave, ein Absolvent des Royal Northern College of Music, war erst zweiundzwanzig. Er hatte mit dem Rhodes Piano Trio, dem der Young Concert Artists Trust einige Auftritte vermittelt hatte, bereits internationale Beachtung gefunden. Er passte mit seiner draufgängerischen, liebenswürdigen Art gut ins Team. Außerdem gefiel mir, dass er so unerschrocken war. Die Lage im Irak war kein Thema. Hier brauchten Musiker unsere Hilfe! Ich hatte keine Verwendung für verzogene, arrogante Muttersöhnchen, deren Ausbildung von ihren reichen Eltern finanziert wurde, damit diese sie weiter bemuttern konnten.

Während ich einen Dozenten nach dem anderen bekniete, bei uns einzusteigen, sahen wir uns alle mit den Folgen der Rezession konfrontiert; die Leute hätten alles getan, um Geld zu verdienen. Aber obwohl diesen unglaublich talentierten Berufsmusikern die Gefahr für ihr Leben offensichtlich weniger Sorgen bereitete als ihre Zahlungsfähigkeit, hatten sie eines gemeinsam – jede Menge Leidenschaft. Ihre Bereitschaft, sich trotz der heiklen Sicherheitslage auf das Projekt einzulassen, zeigte, dass wir die richtigen Leute ausgewählt hatten, und ich durfte stolz sein auf unser kleines Team aus Amerikanern und Briten.

Anfang Juli schickte das British Council im Irak den Dozenten ihre Verträge, Flugunterlagen und Informationen zu ihrem Zielort. Ich musste die Produzenten von Battlefront benachrichtigen, dass wir immer noch nicht genau wussten, wo die Proben stattfinden würden oder wer für unsere Sicherheit verantwortlich war. Die Produktionsfirma setzte alles daran, um von Channel 4 kurzfristig einen Auftrag zu bekommen, doch als die Frist schließlich verstrichen war, musste sie sich von dem Projekt verabschieden. Am 21. Juli kam Plan B zum Tragen, in Person von Mike Newman, einem ehemaligen BBC-Kameramann, mit dem ich bereits bei früheren Projekten zusammengearbeitet hatte. Er machte seit fünfundzwanzig Jahren Filmaufnahmen von Orchestern und erklärte sich bereit, gegen ein geringes Produktionshonorar in den Irak zu kommen und den Kurs zu dokumentieren.