Bis zur Rosenblüte - Dirk Huckhagel-Ziebell - E-Book

Bis zur Rosenblüte E-Book

Dirk Huckhagel-Ziebell

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Beschreibung

Als Dirk in seinen besten Jahren mit Herzversagen auf der Intensivstation landet, bleibt seine Welt und die seiner Lieben schlagartig stehen. Doch draußen dreht sie sich weiter, auch wenn die Familie monatelang zwischen Leben und Tod gefangen ist. Am Ende, zur Rosenblüte, siegt der Überlebenswille und die gemeinsame Kraftanstrengung aller. Doch der Weg zurück ins Leben ist so voller tiefgreifender Erschütterungen, dass es sowohl dem Patienten selbst als auch seiner Frau Cordula eine dringende Herzensangelegenheit ist, all den Tiefen einen Sinn zu geben. Beide hinterlassen aus ihrer jeweiligen Sicht eine ehrliche, klare und authentische Botschaft, zusammenzuhalten und hoffnungsvoll zu bleiben. Ein autobiografischer Wegweiser zurück ins Leben. Mit Illustrationen von Frauke Engler. www.bis-zur-rosenblüte.de

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Als Dirk in seinen besten Jahren mit Herzversagen auf der Intensivstation landet, bleibt seine Welt und die seiner Lieben schlagartig stehen. Doch draußen dreht sie sich weiter, auch wenn die Familie monatelang zwischen Leben und Tod gefangen ist.

Am Ende – zur Rosenblüte – siegt der Überlebenswille und die gemeinsame Kraftanstrengung aller. Doch der Weg zurück ins Leben ist so voller tiefgreifender Erschütterungen, dass es sowohl dem Patienten selbst als auch seiner Frau Cordula eine dringende Herzensangelegenheit ist, all den Tiefen einen Sinn zu geben.

Beide hinterlassen aus ihrer jeweiligen Sicht eine ehrliche, klare und authentische Botschaft, zusammenzuhalten und hoffnungsvoll zu bleiben.

Ein autobiografischer Wegweiser zurück ins Leben.

Mit Illustrationen von Frauke Engler.

www.bis-zur-rosenblüte.de

Keine klare, durchgetaktete Erzählung abgeben, sondern eine mit Löchern und Fragezeichen.

Doris Dörrie

INHALT

Wie wir dieses Buch geschrieben haben

Prologe

01. Die Verabredung

02. Sie geben mir Tranquilizer

03. Nah, Tod!

04. Das Versprechen

05. Erhalte mein Leben, verlängere aber nicht mein Leiden

06. Es begann ein Jahr zuvor

07. Wo bin ich?

08. Parallelwelten

09. Der Geburtstag

10. Augen

11. Festhalten und Loslassen

12. Bis zur Rosenblüte

13. Wieder zu Hause

14. Qigong mit Hut

15. Ein Jahr später. Hier also …

Epiloge

Anhang – Wegweiser für Menschen in einer Krise

Impulse (Sammlung)

Wie wir dieses Buch geschrieben haben

Dieses Buch ist kein Roman, weil die Handlung nicht erfunden ist. Und auch nicht wirklich ein Tatsachenbericht, weil wir das, was geschah, unterschiedlich erlebt und empfunden haben. Deshalb erzählen wir jeweils unsere ganz eigene Geschichte, die uns intensiv vor existenzielle Fragen gestellt hat.

Geschrieben haben wir allein für uns – Dirk Huckhagel-Ziebell aus seinem unmittelbaren Erleben heraus, Cordula Ziebell auf Grundlage ihrer E-Mail-Berichte an Freundinnen und Freunde. Wir kannten den jeweils anderen Text nicht. Für dieses Buch haben wir beide Perspektiven miteinander verbunden. So erzählen wir abwechselnd. Auch unsere erwachsenen Kinder haben aus ihren jeweiligen Sichtweisen dazu beigetragen.

Beim Lesen kannst du daher an der einen oder anderen Stelle durchaus Widersprüche entdecken. Diese sind unseren unterschiedlichen Wahrnehmungen und Wahrheiten geschuldet, die wir auch im nachträglichen Gespräch nicht aufklären konnten. Wir halten dies auch nicht für notwendig.

Vielmehr möchten wir dich am Ende jedes Kapitels mit Impulsfragen dazu anregen, über deine eigene Situation nachzudenken und dein Leben zu vertiefen.

Prologe

Dirk

Das Erste, was ich höre, ist ein gleichmäßiges Piepen. Piep, piep, piep. In einer Tonhöhe, die sehr eindringlich ist, ohne schrill zu klingen. Etwas klackert dumpf. Klack, klack, klack. Darunter liegt ein sanftes Rauschen. Oder eher ein Schnurren, aber nicht wie von einer Katze, nicht so rhythmisch. Licht blendet meine Augen. Dann schwillt das Piepen an und es beherrscht mit seinem scharfen Ton penetrant den Raum. Es dringt durch meine Ohren in mein Innerstes. Überall piepen. Und Meeresrauschen, Wellen, die kommen und gehen. In kürzeren Intervallen, als man es erwarten würde. Immer im gleichen Rhythmus …

31.01.

Cordula

Ihr Lieben,

DANKE für eure Unterstützung aus der Ferne.

Die Ereignisse überstürzen sich: Dirks Zustand hat sich dramatisch verschlechtert.

Gestern wurde eine Not-OP durchgeführt; er ist jetzt an eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen, sein Leben hängt an einem seidenen Faden. Wir wussten gestern den ganzen Nachmittag nicht, ob wir ihn lebend wiedersehen. Doch Dirk und ich hatten für abends eine „Verabredung“ und die hat er eingehalten!!

Nun hoffen die Ärzt*innen, dass sich sein Herz so weit erholen kann, dass man ihm nächste Woche (evtl. schon Montag) ein Kunstherz einsetzen kann. Gleichzeitig ist jede OP mit Vollnarkose für ihn lebensgefährlich. Dennoch ist das die einzige Option, die er noch hat …

Lys, Yuri und ich haben von Dirk schon Abschied genommen – gleichzeitig glauben und hoffen wir auf eine weitere Chance!

Heute Nachmittag dürfen Lys und ich ihn besuchen (Yuri war schon Donnerstag und Freitag bei ihm, jetzt begleitet er uns aus der Ferne!).

Alles Liebe,

Cordula

Ich fahre wie benommen nach Hause. Plötzlich überkommt mich ein starkes Verlangen und ich kaufe mir noch auf dem Rückweg ein halbes Grillhähnchen.

01. Die Verabredung

Zwei Tage zuvor

Cordula

Dirks Zustand hat sich über den Winter hin immer mehr verschlechtert – am 18. Januar muss er ins Krankenhaus. Doch auch dort führt keine Anwendung zum Erfolg: Dirk wird von Tag zu Tag immer schwächer, so dass er an dem darauffolgenden Wochenende schon richtig gelb aussieht. Seine ganze Erscheinung erinnert mich an meinen Vater auf seinem Totenbett.

Ich muss Alarm schlagen, bis endlich ein diensthabender Oberarzt kommt, der uns jedoch nur vertröstet: Mein Mann würde die notwendigen Medikamente erhalten, mehr könne man nicht tun und ich solle mir keine Sorgen machen. Ich bin innerlich sehr wütend, aufgebracht und in großer Sorge, was ich Dirk gegenüber jedoch nicht zeige. Ich glaube, ihm selbst ist sein bedrohlicher Zustand gar nicht so richtig bewusst, und ich versuche, eher Ruhe und Zuversicht auszustrahlen.

Ich bleibe noch bis zum Abend bei ihm und fahre dann nach Hause, wo ich unserer Tochter Lys (19 Jahre) von meinem Besuch im Krankenhaus erzähle. Später telefoniere ich noch mit meiner Schwester, um mich mit meinen Sorgen mitteilen zu können. Ich nehme mir vor, gleich am nächsten Morgen Dirks Kardiologen aus der Herzinsuffizienz-Ambulanz der Klinik anzurufen und komme mit nur sehr unruhigem Schlaf durch die Nacht.

Am nächsten Tag, Montag früh, rufe ich den Kardiologen gleich an und sage ihm, dass alles schieflaufe. Dirk würde immer schwächer und gelber werden und niemand scheine dies ernst zu nehmen – er sehe aus, als würde er jeden Moment sterben.

Wir treffen uns am Nachmittag an Dirks Bett und der Kardiologe überweist ihn sofort auf die Intensivstation. Per Infusion in höchsten Dosen versuchen sie über drei Tage, sein schwaches Herz zu unterstützen – ohne Erfolg. Dirks Zustand verschlechtert sich weiterhin, er wird immer schwächer und pflegebedürftiger. Ich mache mir große Sorgen.

Am Donnerstagmorgen rufe ich unseren Sohn Yuri (25 Jahre) an und sage ihm, er solle kommen, wir müssten Entscheidungen treffen.

Als wir beide an Dirks Bett stehen, kommen sein behandelnder Kardiologe, ein Herzchirurg und eine „Herzschwester“ von der Kunstherzambulanz dazu. Sie eröffnen uns, dass Dirk ein sogenanntes künstliches Herz (Herzunterstützungssystem, LVAD) eingesetzt bekommen müsse. Es sei allerhöchste Zeit und seine einzige Chance zu überleben. Ich merke in diesem Moment, wie der Teil in mir, der ganz rational und in Krisen absolut funktionsfähig ist, die Führung übernimmt. Für Katastrophengedanken und Gefühle ist jetzt kein Platz, deshalb gehe ich relativ sachlich mit dieser Situation um und stelle unter anderen auch viele technische Fragen zum „Kunstherz“. (Später, so werde ich erfahren, kommen meine unterschiedlichsten Gefühlszustände schubweise zum Vorschein.)

Die „Herzschwester“ zeigt uns anhand eines Modells, wie alles funktionieren würde. Für Dirk würde es bedeuten: eine lebensgefährliche OP, ein Herzunterstützungssystem mit offenem Ausgang aus dem Körper – ein Stromkabel (Driveline), das mit einem Controller mit Akku oder mit direktem Anschluss an die Wandsteckdose versehen ist, ein Leben lang. Nie mehr baden, nie mehr Sauna, immer mit einer 2 Kilo schweren Tasche am Körper, Tag und Nacht.

Wir sagen ihm, wir würden ihn dabei unterstützen, doch er müsse es wollen!

Am Abend fahren Yuri und ich tapfer, aber auch wie paralysiert nach Hause.

Lys

Es ist ein kühler Donnerstag im Januar. Ich habe bis zum frühen Abend gearbeitet. Im Bus nach Hause schaue ich in die Weiten der mit Graupel bedeckten Felder. Meine Gedanken kreisen vor sich hin, doch landen sie immer wieder bei Papa. Die Arbeit war eine gute Ablenkung, aber nun macht sich langsam wieder das vertraute leere Gefühl in mir breit. Den Rest der Fahrt nehme ich kaum wahr.

Von Mama erhielt ich schon am Mittag die Nachricht, dass Yuri heute aus Hamburg komme. „Wir müssen besprechen, wie es mit Papa weitergeht.“ Besprechen, ob Papa ein Kunstherz erhalten soll. Zuhause angekommen, sind die beiden schon aus dem Krankenhaus zurück. Mit seiner Anwesenheit füllt Yuri ein Stück der Leere.

In der Küche sitzen wir bei lauschigem Licht am Esstisch. Eigentlich ist es ein gemütlicher Abend. Ein schönes Familientreffen könnte man denken, wenn man uns dort aus der Ferne so sitzen sehen würde. Von Nahem aber würden unsere Gesichter sicher etwas anderes vermuten lassen. Wir sprechen über Papas Zustand und informieren uns über das LVAD-System, das Kunstherz. Seine derzeit einzige Chance.

In einer Dokumentation heißt es, die meisten der Patient*innen mit Kunstherz würden wohl noch um die sieben Jahre leben. Sieben Jahre … Ich sollte doch so viel mehr Jahre mit meinem Vater haben. „Wir schaffen das!“, sagt Yuri mit zarterer Stimme als sonst, „Zur Not auch zu dritt.“ Ein Moment, ein Satz, der mir auch nach Jahren noch tief unter die Haut gehen wird.

Cordula

Am Freitag gibt Dirk seine Zustimmung und die OP wird für die nächste Woche anvisiert.

Das bedeutet, dass ich am Montag zur Krankenhausberatung gehen muss, da wir unbedingt noch eine Patientenverfügung beziehungsweise Vollmacht brauchen. Es kann alles passieren.

30.01.

Der Tag, an dem Dirks Organe versagen

Cordula

Samstag früh. Ich habe das dringende Bedürfnis, jetzt schon eine Vollmacht und ein Testament vorzubereiten. Ich informiere mich im Internet, finde entsprechende Formulare und drucke sie aus. Nun sitze ich vor dem Papier und starre es an. Ein Testament zu schreiben, ist sehr befremdlich, doch irgendwie tue ich es „einfach“.

Gerade als ich fertig bin, ruft Dirk aus dem Krankenhaus an und eröffnet mir mit erstaunlich nüchterner Stimme, ich müsse sofort kommen: Er werde operiert, noch heute.

Ich fahre Hals über Kopf los. Als ich ankomme, liegt er bereits auf der Intensivstation der Herzchirurgie. Der Chirurg bereitet Dirk gerade für eine Notoperation vor. Dirks rechte Herzhälfte sei dekompensiert und er müsse sofort an eine Herz-Lungen-Maschine, sonst würde er den heutigen Tag nicht überleben.

Dirk wirkt noch sehr klar. Er unterschreibt die Vollmacht und das Testament. Wir sprechen über die Lebensgefahr, in der er sich befindet und darüber, dass er sterben könne.

Wir verabreden uns für abends … Wir verabreden, dass er die OP überleben wird und wir uns danach wiedersehen werden. Schließlich haben wir unsere Verabredungen bisher immer eingehalten. Dennoch verabschiede ich mich von ihm so, als wäre es für immer.

Ich fahre wie benommen nach Hause. Plötzlich überkommt mich ein starkes Verlangen und ich kaufe mir noch auf dem Rückweg ein halbes Grillhähnchen. Da liegen sie nun, die Knochenreste des Hähnchens, das ich zuvor alleine in der Küche unseres Hauses kannibalistisch aufgefressen habe, während das Chirurgenteam gerade versucht, meinem Mann das Leben zu retten. Ich esse eigentlich kaum noch Fleisch, doch ich habe instinktiv gewusst, dass ich dies jetzt brauche, und habe es mir einfach erlaubt – es ging irgendwie ums Überleben. Die Zeit vergeht nur zäh.

Ich rufe Yuri an, um ihm alles zu erklären. Er wirkt ebenfalls sehr gefasst. Ich frage mich, wie es ihm wohl damit geht, so weit weg vom Geschehen zu sein.

Yuri

Eigentlich müsste ich jetzt bei ihnen sein. Warum bin ich nicht einfach in den nächsten Zug gestiegen und losgefahren? Wäre ich gleich los, nachdem meine Mutter angerufen hat, wäre ich bald schon da. Aber ich konnte irgendwie nicht. Ich konnte mich einfach nicht bewegen, wollte nicht unter Menschen sein, wollte niemanden sehen und von niemandem gesehen werden.

Auf der Arbeit konnte ich mich die letzte Woche so weit ablenken, dass alles ganz gut klappte. Ich grabe mich über Stunden sehr tief in für mich völlig unbekannte Themen ein, so konnte ich mich in dieser Woche teilweise grandios konzentrieren. Während der Mittagspausen genoss ich leckeres Essen und führte interessante Gespräche. Und ich habe gelacht.

Nun liegt mein Vater auf dem Tisch einer Not-OP. Sein Leben hängt am seidenen Faden und statt zu meiner Familie zu eilen, liege ich jetzt alleine auf meinem Bett und starre die Decke an. Wie kalt kann man eigentlich sein?

Ja, mir ist irgendwie mulmig und alles fühlt sich leicht dumpf an. Aber insgesamt überrascht es mich, wie gut es mir trotz der Situation geht. Müsste ich nicht eigentlich mehr fühlen? Weinen, beten oder zumindest irgendwie trauriger sein? Aber es gibt ja noch Hoffnung.

Noch mehr als vier Stunden, dann müsste es vorbei sein. „Vorbei sein!“ Was für eine Formulierung. Warum mache ich eigentlich so ein Drama daraus? Wir leben in Deutschland. Inder gesamten Menschheitsgeschichte gab es keine bessere Zeit als diese und kaum einen besseren Ort als diesen, um hoffnungsvoll auf eine solche Operation zu blicken. Die technische Entwicklung in der Medizin, das hervorragend ausgebildete und vertrauensvolle Krankenhausteam – wie kann man da nicht guter Dinge sein?

Und überhaupt: Wie privilegiert wir sind. Unfassbar! Da sterben überall auf der Welt täglich Menschen, Kinder, an Ursachen, an denen im 21. Jahrhundert wirklich niemand mehr sterben sollte und müsste. Und ich, hier, heute. Ich spiele mich auf darüber, ach wie schlimm es gerade doch ist und mein Vater sterben könnte. Während der Operation dieses Mannes, der nun knapp 60 Jahre alt werden durfte, sind bestimmt etliche Kinder verhungert. Oh man, was für ein Vergleich. Darf man das überhaupt denken? Wie komme ich nur jetzt auf sowas?

Und dennoch: Wie kann ich etwas anderes empfinden als Dankbarkeit. Dankbarkeit darüber, dass es sogar in dieser Situation noch Grund zur Hoffnung gibt. Dabei heißt es doch, es gebe immer Grund zur Hoffnung. Kann man dann zwischen begründeter und unbegründeter Hoffnung unterscheiden? Habe ich gerade begründete Hoffnung? Ist jede Hoffnung begründet? Hätte ich mal doch Philosophie in der Schule belegt!

Nach diesem Gedankenwirrwarr gibt mein Kopf plötzlich auf. Irgendwie habe ich jetzt alles gedacht, was man nur so denken kann, während man auf den Tod oder das Leben wartet. Mich überkommt eine wahnsinnige Unruhe. Wo ich bis eben noch an meinem menschlichen Mitgefühl ob meiner Nüchternheit zweifelte, überkommen mich nun Herzklopfen und Schweißausbruch. Ich muss hier sofort raus. Wie benommen schnappe ich mir Schlüssel und Jacke und verlasse die Wohnung. Ich laufe einfach in irgendeine Richtung. Was ist denn plötzlich los? Ich weiß es nicht. Jedenfalls ist es jetzt dunkel und es regnet und die Straßen Hamburgs gehören mir fast alleine. Während ich durch die Gassen streife, schaue ich immer öfter auf die Uhr. Es kann nicht mehr lange dauern, dann müsste der Anruf kommen. Was, wenn der Anruf früher oder später als angekündigt kommt? Ist das dann ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Hoffentlich spannt mich Cordula nicht zu lange auf die Folter und sagt es direkt heraus. Ich halte die Ungewissheit nicht aus. Ich will nicht, dass er stirbt! Er ist so ein toller Vater gewesen und ist es auch noch. Wir sind nicht nur Vater und Sohn, sondern wir sind auch Freunde. Ich will nicht, dass er stirbt. Er ist noch zu jung. Meine Mama ist dann ganz alleine in dem großen Haus und meine Schwester konnte ihren Vater viel weniger erleben als ich. Und ja, so ging es früher bereits vielen und vielen geht es heute noch schlechter; der Tod gehört zum Leben dazu, aber – ich will nicht, dass er stirbt.

Als ich es kaum noch aushalte, klingelt endlich mein Handy. Ich bleibe abrupt stehen. Erst jetzt merke ich, dass ich fast vor meinem Haus stehe. Ich muss die letzten zwei Stunden immer wieder im Kreis gelaufen sein. Wie betäubt nehme ich das Telefon in die Hand: „Ja?“ „Dirk hat die OP überlebt, er ist jedoch noch unter Narkose.“

Cordula

Lys und ich fahren sofort hin und als wir ankommen, schläft Dirk noch. Er ist an 1000 Kabeln und Geräten angeschlossen, sein Blut läuft durch durchsichtige Schläuche zur Herz-Lungen-Maschine. Dass er ein multiples Organversagen hatte, wurde uns erst später bewusst.

Als er aufwacht, sieht er uns an. „Lebe ich noch?“, ist das Erste, was er sagt. „Ja, du lebst – du hast unsere Verabredung eingehalten!“

Wir sind unbeschreiblich erleichtert, dass Dirk bis hierher alles überstanden hat und geistig offensichtlich relativ klar ist. Später erfahren wir, dass sein Gehirn letztendlich das einzige Organ war, das nicht kollabierte.

Lys

Das Telefon klingelt. Papa hat die Not-OP überlebt. Wir können sofort zu ihm fahren.

Mein Kopf ist leer und gleichzeitig verspüre ich Erleichterung, wissend (oder auch nicht?): Dies ist erst der Anfang.

Im Auto schreibe ich direkt Katharina, dass Papas OP gut verlief. Sie sollte nicht länger bangen müssen.

Während ich diese Zeilen abtippe und mich an diesen Tag, in diese Stunden zurückversetze, steigt mein Puls. Mein Herz schlägt schneller. Ich spüre die Aufregung noch genauso wie damals.

Wir gehen die ewig langen Flure entlang. Jedes Mal aufs Neue ist es bedrückend. Wir schweigen. Mehr und mehr Anspannung macht sich breit. Wie geht es Papa?

Da vorne ist sein Zimmer. Die Tür steht offen, wie fast alle auf der Intensivstation. Dort liegt er – wach. Er bemerkt uns sofort und schaut uns mit ungläubigem Blick an. Verängstigt. Er fragt mit sanfter, kindlicher Stimme: „Lebe ich noch?“ Plötzlich altere ich um Jahre. Ich habe das Gefühl, die Rolle eines Elternteils einzunehmen. Ich muss ihn beschützen, für ihn sorgen. Für eine lange Zeit wird nichts so, wie es war.

03.02.

Tag der Kunstherz-OP

Cordula

Ihr Lieben,