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Sven De Luca steckt in einer Sinnkrise. Sein Job als Geschäftsführer der Parkresidenz Marven ist zur bleiernen Routine verkommen, seine Ehe mit Marcella steht auf wackeligen Beinen. Auf der Suche nach sich selbst verschwindet er bei einem mysteriösen Klosterseminar. Seine Frau Marcella steht vor einem Rätsel, doch Hilfe naht von unerwarteter Seite: Dana, Svens frühere Geliebte, bietet ihre Hilfe an. Aber kann sie ihr wirklich trauen? Ein Liebesbrief, der alles verändern könnte, lässt Marcella hoffen - doch die Konkurrenz schläft nicht. Wer wird Sven zurück in die Arme schließen?
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Seitenzahl: 432
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Isabella Anders
Bist du die Eine?
Bodensee-Romanze
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Satz/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © fotofabrika / stock.adobe.com
ISBN 978-3-7349-3184-0
Für meine geliebte Mutter, Gudrun Herrmann.
Mutsch, du bist mein Leitstern.
Wahrhafte Liebe ist das Wichtigste im Leben – das hast du mir von klein an vorgelebt.
Deine drei Lieblingssätze:
– Wertschätze jeden, der dir begegnet, und den Moment, auch wenn er nicht perfekt ist
– Reite kein totes Pferd, träume nicht – lebe stattdessen Träume, die es wert sind
– Handle nicht aus Pflicht, sondern aus wahrhafter Liebe und Überzeugung
Dein Motto zu leben, bringt Frieden, Glück und Liebe.
Danke, dass es dich in meinem Leben gibt
Die Geschichte spielt in deiner Lieblingsregion Bodensee und an den Orten deiner Vergangenheit: in Stuttgart und auf Sizilien.
Dein Achim
Sven De Luca, der mit seiner Frau Marcella die Parkresidenz Marven im Stuttgarter Stadtteil Weilimdorf gegründet und damit 69 Senioren ein gemütliches Zuhause geschaffen hatte, schloss leise die Haustür auf. Die von ihm und seiner Familie bewohnte Villa im Charme der 20er-Jahre stand ebenfalls auf dem bewaldeten Gelände der Marven. Es war wieder spät geworden. Die geschnitzte Standuhr aus dem 19. Jahrhundert begrüßte ihn mit elf sonoren Schlägen. Ein Geschenk von Marcellas Mama Emilia, die ihnen das antike Schmuckstück aus dem Schwarzwald zur Hochzeit geschenkt hatte. Als gutes Omen für eine glückliche Zeit. Er hielt inne. Begrüßte sie ihn? Die Schläge klangen mahnend. Nach dem Abendessen hätte er nicht wieder in sein Büro gehen dürfen. Ihm war bewusst, dass er seiner Frau nicht aus dem Weg gehen sollte. Damit würde keines der Probleme gelöst werden. Zumindest hatte er seinen Kindern, Mia und Linus, wie gewohnt eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen. Er hing an ihnen und umgekehrt. Danach gab er vor, wichtige Terminsachen erledigen zu müssen, obwohl ein nahezu leerer Schreibtisch auf ihn wartete. Ein Vorwand, wie jeden Abend. Die triste Routine im Büro ödete ihn inzwischen an, weshalb er immer mehr Aufgaben an seinen Stellvertreter delegierte. Lediglich das Verfassen des täglichen Magazins für die Senioren gab er nicht aus der Hand. Im Guten Morgen informierte er die Bewohner über das Tagesprogramm, das Wetter und erzählte in einem Fortsetzungsroman von alten Geschichten aus glücklichen Zeiten.
Er nahm ein Weinglas aus dem Regal und öffnete den nächstbesten Rotwein. Satte 13 Volumenprozent, entnahm er dem Etikett. Er war nie abergläubisch gewesen und zumeist ein Optimist. Im Moment verlor sich jedoch seine Leichtigkeit und er überlegte, was die Unglückszahl ihm sagen wollte. Der schwere Wein würde ihm die notwendige Bettschwere verschaffen, hoffte er und versank stattdessen in seine melancholischen Gedanken. Wie gerne hätte er einen leichten, spritzigen Wein mit Marcella aus einem Glas getrunken. Wie früher. Weshalb sagte er nicht, wie sehr ihr Verhalten ihn verletzte? Dass er sie noch liebte, so jedoch nicht weitermachen konnte. Weshalb kämpfte er nicht um ihre Liebe? Fürchtete er sich vor der Wahrheit oder wusste er nicht, was er wollte? Es war zu spät für einen klaren Gedanken. Er schenkte sich vom kräftigen Wein nach und versuchte, das Denken aufzugeben. Ein Teil der Westminster Tonfolge erklang, dann erstarb die vertraute Melodie. Er schaute prüfend zur Uhr, die Viertel vor 12 Uhr anzeigte, soweit er es im Halbdunkel erkennen konnte. Das Pendel bewegte sich ungewöhnlich langsam. Gab die Standuhr ihren Geist auf? War die gemeinsame Zeit mit Marcella abgelaufen? Mit einem schlechten Gewissen und einem noch schlechteren Gefühl im Magen schlich er sich nach oben ins Badezimmer. Anschließend ging er ins Schlafzimmer und setzte sich leise auf die Bettkante. Seine Frau atmete gleichmäßig. Schlief sie? Oder stellte sie sich schlafend? Es spielte keine Rolle. Sie hatten sich nichts zu sagen. Zudem hielt ihn etwas Unerklärliches ab, mit ihr reinen Tisch zu machen. Hatte er Angst, seine Familie zu verlieren? Bedrückt legte er sich neben sie, zog seine Bettdecke bis zum Kinn und dachte über sein Leben nach, welches sich falsch anfühlte.
Als Sven am nächsten Morgen aufwachte, war Marcella bereits aus dem Haus gegangen. Sie leitete als Ärztin die Hausarztpraxis auf dem Gelände der Marven und kümmerte sich mit einem der Teams um die Gäste, wie er die Bewohner der Seniorenresidenz nannte. Seine Frau teilte sich seit Monaten zum Frühdienst ein. Offenbar ging sie ihm ebenfalls aus dem Weg, dachte er missmutig und rieb sich verschlafen die Augen. Zumindest arbeitete sie nicht zusätzlich in der Spätschicht. Marcellas Gesundheit hielt dieser Belastung nicht mehr stand, obwohl sie erst 37 Jahre jung war. Vor einem Jahr war sie in eine Medikamentenabhängigkeit hineingerutscht. Mit antriebssteigernden Präparaten hatte sie angefangen, um dem Stress von Doppelschichten gewachsen zu sein. Inzwischen musste sie kürzertreten und überlegte, sich in ärztliche Behandlung zu begeben. Am Bodensee. Weit weg von den Kollegen, die von ihrem Medikamentenmissbrauch nichts erfahren sollten. Allerdings hatte sie sich bisher nicht zur stationären Therapie durchgerungen. Wollte seine Frau ihn mit Dana nicht alleinlassen? Ihr unausgesprochenes Misstrauen ärgerte ihn. Er ertrug ihre stummen Vorwürfe nicht mehr. Mit einer ruckartigen Bewegung, als ob er sich von seinen Gedanken mühsam losreißen müsste, stand er auf. Er wollte sich nicht bereits am frühen Morgen mit negativen Gedanken belasten. Er lief in das gegenüberliegende Badezimmer, drehte die Regenbrause auf und duschte sich die Sorgen ab. Ein Blick zum Spiegel zeigte, wie schlecht er Alkohol und Sorgen vertrug. Mit Marcellas reichhaltiger Tagescreme versuchte er, seine Haut aufzufrischen. Zurück im Schlafzimmer, zog er sich verwaschene Jeans und das dunkelblaue Hemd an, welches Dana am besten gefiel. Aus dem Schrank zog er ein farblich passendes Sakko und nickte aufmunternd seinem Spiegelbild zu. Mit seinem frechen kurzen Haarschnitt und dem jungenhaften Gesicht sah er wieder halbwegs fit aus, stellte er erleichtert fest und wünschte sich Glück für den anstehenden Tag.
Von unten hörte er Dana beschwingt einen Schlager mitsingen, der im Radio lief. Wenn er an sie und seine Kinder dachte, die ebenfalls lautstark mitträllerten, wurde ihm warm ums Herz. Sie war der Grund, weshalb die Stimmung zu seiner Frau unterkühlt war. Im vergangenen Jahr waren Dana Veselá, die tschechische Nanny, und er sich zu nahegekommen. Der Flirt mit ihr war nicht beabsichtigt. Eines kam zum anderen. Kein Wunder, dachte er. Sie war so leicht und lebensfroh. Die blond gelockte Dana erinnerte ihn an vergangene Zeiten. Dieselbe Leichtigkeit hatte seine Frau versprüht. Deswegen hatte er sich in die rassige Südländerin verliebt. Damals. Zudem hatte ihn Marcellas Warmherzigkeit vom ersten Moment an verzaubert. Er fühlte sich geliebt. Ihr italienisches Temperament ließ ihn das Leben spüren. Beinahe wäre ihm jedoch ihr feuriger Charakter zum Verhängnis geworden. Keine Frau hätte sich sein Verhalten gefallen lassen, schossen ihm die Worte seines Freundes Anton durch den Kopf, und es zog ihm erneut den Magen zusammen, während er voller Selbstmitleid an die bitteren Konsequenzen dachte. Seitdem war nichts mehr, wie es war. Marcella hatte ihm und Dana den Flirt verziehen – sagte sie. Es fühlte sich jedoch nicht so an. Weshalb blieb sie bei ihm? Wollte sie den Kindern nicht den Papa nehmen, oder war ihr inzwischen alles gleichgültig? Zuerst hatte seine Frau Bedingungen gestellt und auf Danas Kündigung bestanden. Allerdings war Marcella zunehmend mit ihren Aufgaben überfordert, und die Nanny hatte ihr immer mehr abgenommen und sich unentbehrlich gemacht. Klugerweise schenkte Dana ihm keine Blicke, zumindest solange seine Frau im Haus war. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, wenn er an Dana dachte. Zudem hingen die beiden Kinder, Mia und Linus, wie Kletten an der liebevollen Nanny. So auch an diesem Morgen.
»Frühstück!«, rief Dana laut aus der Küche, nachdem die sechsjährige Mia und ihr zwei Jahre jüngerer Bruder Linus mit ihr den Frühstückstisch fertig gedeckt hatten. Jeden Morgen bestand Dana darauf, dass alle ein ordentliches Frühstück bekamen und sie gemeinsam am Tisch saßen. Zumindest die Kinder und Sven. Seiner Ehefrau kochte sie eine Stunde zuvor einen Kaffee, auf mehr hatte Marcella keinen Appetit. »Wollen wir den Papi aus dem Bett werfen?«, fragte sie und war Sekunden später mit den Kleinen lautstark auf dem Weg in den oberen Stock der Villa, während sie ihre Drohung für Sven hörbar wiederholte.
»Ich ergebe mich. Guten Morgen zusammen«, entgegnete Sven lachend, während er die Tür mit fröhlichem Gesichtsausdruck aufriss und die müde Mia und später den munteren Linus begrüßte, der zuerst noch eine Extrarunde im elterlichen Schlafzimmer drehen musste und dabei den Sportwagen seines Vaters lautstark imitierte.
»Du bist schon angezogen?«, fragte Dana erstaunt, zupfte ihm den Hemdkragen zurecht und strich unsichtbare Flusen von seinem Revers. »Ich dachte, du hättest verschlafen.«
»Wie kommst du darauf? Ich habe heute nur darauf gewartet, von meiner Prinzessin und meinem Räuber abgeholt zu werden.« Während er sie gut gelaunt anstrahlte, wuschelte er Linus durchs Haar und nahm die anhängliche Mia auf den Arm.
»Du solltest früher ins Bett gehen«, schimpfte Dana mit ihm und lächelte ihn dabei verträumt an.
»Woher willst du wissen, wann ich gestern schlafen gegangen bin?« Sein zufriedenes Grinsen verriet, wie gut ihm ihre Fürsorge tat.
»Ich erkenne es an deinen kleinen Augen«, klärte sie ihn fidel auf. »Zudem sehe ich von meinem Apartment auf dein Büro und sehe, wie lange dein Licht brennt.«
»Ich musste gestern noch einen Artikel für das Seniorenmagazin Guten Morgen fertig schreiben, alles ausdrucken und …«, verteidigte er sich.
»Kümmert sich der Nachtdienst nicht mehr um den Ausdruck?«, hakte sie nach.
»Doch, ich wollte nur den Artikel fertig schreiben. Das ist mein Job, den überlasse ich niemand anderem.« Das Schreiben seiner Fortsetzungsromane würde er niemals delegieren. Er konnte für einen Moment abtauchen, in glückliche und aufregende Zeiten. Mia, die mit ihren halblangen, dunklen Haaren Marcella gleichsah, schlang ihre kleinen Arme um ihn und zeigte ihm wortlos ihre Zuneigung. Dana streichelte Mia gedankenverloren und lief anschließend mit Linus voraus. Nachdem sich alle in der Küche an den Tisch gesetzt hatten, schenkte sie den Kindern und Sven eine Ovomaltine ein und strich jedem ein Marmeladenbrötchen.
»Was für ein Service. Da schmeckt es mir gleich doppelt so …«, lobte Sven und kam ins Stocken, nachdem er sein Brötchen in Empfang genommen und dabei Danas Hand berührt hatte.
»Das ist mein Job«, sagte sie und zwinkerte ihm vergnügt zu.
»Tatsächlich? Dann möchte ich ebenfalls so ein leckeres Pausenbrot wie das hier haben«, überspielte er den magischen Moment und deutete auf die bunten Snackboxen der Kinder.
»Mein Job ist es, dich am Morgen zu unterstützen. Damit du rechtzeitig die Kinder in die Schule und zum Kindi bringen kannst. Deshalb habe ich dir heute ausnahmsweise dein Brötchen geschmiert«, erklärte sie es ihm neckend. Dabei strahlte sie ihn mit ihren unwiderstehlichen blauen Augen selbstbewusst an, die seine vergrabenen Glückshormone aus dem Stand Purzelbäume schlagen ließen.
»Nur deshalb? Weißt du, wie viel Termine ich heute habe?«, jammerte Sven enttäuscht, der sein Gesicht theatralisch verzog, als ob man ihn verhungern lassen wollte.
»Habe ich dir jemals einen Wunsch abgeschlagen?«, antwortete sie leise. Der warme Schmelz in ihrer Stimme und seine Reaktion darauf brachten ihn wieder zur Besinnung. Er würde mit Dana nie wieder flirten, das hatte er Marcella hoch und heilig versprochen. Zumindest müsste er zuvor für Klarheit sorgen. Das war er beiden schuldig.
In Wahrheit hatte Sven heute nur einen Termin, der ihm allerdings im Magen lag. Bis eben hatten die Plaudereien seiner Kinder ihn abgelenkt. Jetzt waren die Gedanken wieder da. Wie sollte es beruflich und privat weitergehen? Was war aus seinen Träumen geworden? Er schaute seiner Tochter hinterher, die fröhlich zu ihren Freundinnen rannte. Seine Kinder waren das Einzige, was er nicht bereute. Er hatte, wie jeden Morgen, Linus zum Kindergarten und anschließend Mia zur Schule begleitet. Mia hätte die kurze Wegstrecke bis zur Schule bereits allein gehen können, aber sie liebte den morgendlichen Spaziergang mit ihrem Papi. Zudem gab es eine Gefahrenstelle, weshalb er sie brachte und Dana die Kleinen jeden Tag abholte: die Überquerung der stark befahrenen Solitudestraße, die den Stuttgarter Stadtteil Weilimdorf in der Mitte teilte.
Svens Gedanken kreisten. Er fühlte sich verloren. In allem sah er eine Metapher, die sich auf sein aktuelles Leben bezog. Diese Straße, auf der er früher oft von Konstanz nach Stuttgart gefahren war, stand einerseits für Freiheit, andererseits für die Einsamkeit. Es kam auf die Perspektive an. Fuhr man auf ihr erwartungsvoll seinem Ziel entgegen oder stand man verlassen am Straßenrand.
Die Straße, die im weiteren Verlauf Solitude-Allee hieß, verband das kleine Lustschloss Solitude auf der Gemarkung von Stuttgart mit dem 13 Kilometer entfernten Residenzschloss Ludwigsburg. Die schnurgerade Allee verband die Schlösser bereits in alten Zeiten. Die bauliche Entwicklung der beiden Städte und die teilweise Umbenennung der alten Allee hatten die Spuren dieser Verbundenheit nie verwischt. Die Solitude, deren französischer Name »Einsamkeit« oder »Abgeschiedenheit« bedeutete, ruhte auf dem Höhenrücken und blickte unverwandt zum Residenzschloss Ludwigsburg hinüber. Er schaute hinauf zum Schloss, welches im Morgenlicht besonders anmutig aussah, und zog einen Vergleich. Dana hatte ihn ebenso im Blick, und er trug sie seit ein paar Wochen in seinem Herzen. Er erinnerte sich daran, wie sie die Serpentinen zur Solitude hinaufgefahren und weiter über die Autobahn zum Flughafen Zürich geflitzt waren, um ein unvergessliches Wochenende in New York zu verbringen, während seine Frau, Emilia und die Kinder ohne ihn nach Lugano gefahren waren. Auf dieser Straße hatte nicht nur der aufregende Flirt mit Dana begonnen. Diese Straße erzählte auch von anderen Abenteuern. Vor allem aus seiner Zeit als Escort. Marcellas Mama war eine seiner besten Kundinnen in Stuttgart, die sich von ihm mehrmals im Jahr nach Rom chauffieren ließ. Früher war auch nicht alles einfach, kam es ihm in den Sinn. Mit Wehmut dachte er daran, mit welcher Leichtigkeit er jedoch damals alles weggesteckt, mit welcher Zielstrebigkeit er seine Wünsche verfolgt und Herausforderungen gemeistert hatte. Er erinnerte sich, wie er seine Frau kennen und lieben gelernt hatte. Und heute? Er wusste genau genommen nicht einmal, was er wollte und wie viel seiner Liebe zu ihr noch übrig war. Ihm war lediglich klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Wenn er an Marcella dachte, zog es ihm schmerzhaft den Magen zusammen. Sie machte ihm keine Vorwürfe und war aufgesetzt freundlich zu Dana. Die zurückgebliebenen Narben waren jedoch nicht zu übersehen. Heute hatte sie offiziell einen Termin mit ihm vereinbart. Im Büro. Früher hätte es so was niemals gegeben. Er wusste zu jeder Zeit, was in ihr vorging, und sie kannte ihn ebenso in- und auswendig. Formelle Termine waren hierfür nicht nötig. Weshalb wollte sie ihn sprechen? Würde sie die Scheidung ankündigen? Wäre sein Leben danach angenehmer? Mit einem flauen Gefühl im Magen lief er über das großzügige Marven-Gelände, welches im nördlichen Bereich von einem dichten Wald begrenzt war, der zum alten Glemswald gehörte. Dieser staatliche Forst war eines der größten Waldgebiete in Baden-Württemberg, welches auch die Solitude wie eine Festung umgab und das Kleinod behütete. Er fühlte sich hingegen schutzlos der unterkühlten Situation ausgeliefert. Sein Magen rebellierte.
Im Büro angekommen, stellte er die von Dana gefüllte Lunchbox in seine Schreibtischschublade und blickte ungeduldig auf seine Armbanduhr. Marcella hatte es nicht einmal für nötig erachtet, die Betreffzeile des Termins auszufüllen. Was wollte sie von ihm? Wo waren die Zeiten geblieben, als Marcella ohne Anlass zu ihm ins Büro schlich, sich mit einem verführerischen Blick auf die Ecke seines Schreibtisches setzte, ihn mit Küssen von der Arbeit abhielt und er sie zum Abschluss gnadenlos durchkitzelte, bis sie um Gnade flehte? Das war lange vorbei. Man sah sich manchmal, wechselte ein paar belanglose Worte und lag Nacht für Nacht im selben Bett, mit einer unsichtbaren Trennwand dazwischen. Jeder lag stumm und unbeweglich auf seiner Seite, gefangen in den eigenen Sorgen. Er versuchte, sich an die Zeiten zu erinnern, in denen sie am Abend auf ihn wartete, ihn mit samtweicher Stimme lockte, ihre Arme nach ihm ausstreckte, er sich fallenließ und sie sich innig an ihn schmiegte. Er schluckte wehmütig. Die Erinnerungen wärmten dennoch sein Herz. Er lächelte versonnen. Für einen Moment. Erneut zog sich sein Magen zusammen, als er Marcellas Schritte auf dem Flur erkannte. Er stand auf, während sie hereinkam und rasch die Tür hinter sich schloss. Die Begrüßung fiel flüchtig aus. Sie rang nach Luft, als ob sie gerannt wäre. Ihr Telefon klingelte.
»Ja?«, meldete sie sich kurzatmig, hörte zu, gab eine kurze Anweisung und legte wieder auf. Sven rückte ihr wortlos den Stuhl zurecht, sie nickte ihm zu, nahm Platz und atmete tief durch.
»Wie geht es dir?«, fragte sie Sven beiläufig und tastete nebenbei die Taschen ihres Arztkittels ab. Ihr abwesender Gesichtsausdruck verriet ihm, wie wenig ihr an seiner Antwort gelegen war. Zumindest deutete er Marcellas Verhalten entsprechend.
»Das Uhrwerk der Standuhr hat das Zeitliche gesegnet«, antwortete er zweideutig, während er sie angespannt betrachtete. Ihre dunklen Haare, die großen Rehaugen und ihre mädchenhafte Figur verliehen ihr ein jugendliches Aussehen. Er bemerkte jedoch auch die dunklen Ringe unter ihren Augen. Das Weiß ihres Arztkittels unterstrich die Blässe ihres Gesichts.
»Meinst du unsere?« Sie schaute ihn fragend an, er nickte. »Sie läuft wie am ersten Tag. Die Gewichte haben den Boden berührt. Bevor ich zur Frühschicht ging, habe ich sie aufgezogen.«
»Das habe ich übersehen.« Er machte eine Pause, in der Erwartung, sie würde ihr Anliegen vorbringen. Sie schwieg jedoch und nestelte nervös an etwas in ihrer Tasche. »Weshalb wolltest du mit mir sprechen? Geht es um deine Praxis?« Sie schaute ihn an und schüttelte den Kopf. Er sah in ihren Augen die Traurigkeit, das Feuer von früher war erloschen.
»Ich kann und werde so nicht weitermachen«, begann Marcella überstürzt. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Würde seine Frau die Karten auf den Tisch legen? Sollte er ihr heute ebenso ehrlich sagen, dass er keine Lust mehr auf diese Ehe und noch weniger auf seinen Job hatte? Sollte er die monatliche Bilanz der Marven, die ihm am Morgen das Controlling mit roten Markierungen auf seinen Schreibtisch gelegt hatte, seiner ahnungslosen Frau zeigen?
»Magst du etwas trinken?«, fragte er stattdessen und schenkte ihr am Besuchertisch, an dem sie sich gegenübersaßen, ein Glas Wasser ein. Sie nickte, zog hastig eine Blisterkarte aus ihrer Kitteltasche, drückte eine Tablette heraus und schluckte sie mit etwas Wasser hinunter.
»Ich will nicht, dass die Kinder etwas von unserem Gespräch mitbekommen«, erklärte sie nervös den Treffpunkt im Büro. »Ich fühle mich wie eine alte, kranke Frau. Bei der kleinsten Anstrengung bleibt mir die Luft weg, alles geht mir auf den Kreislauf. Schlafen kann ich nicht. Tagsüber bin ich unkonzentriert und bekomme nichts auf die Reihe. Zudem hilft kein Präparat gegen meine grässlichen Kopfschmerzen.«
»Sind das die Nebenwirkungen deiner vielen Tabletten?«, fragte er besorgt, und sie nickte.
»Ich halte das nicht mehr aus. Wenn ich nichts unternehme, verliere ich alles, was mir lieb ist«, klagte sie und verstummte erneut. Behutsam nahm er ihre Hand und drückte sie wortlos. Würde seine Frau sich endlich einer Behandlung unterziehen? Sie hatte es ihm mehrfach angekündigt und jedes Mal verschoben. War es ihr diesmal ernst? In dem Fall dürfte er sie nicht zusätzlich mit seiner Unsicherheit und seinen Sorgen belasten, entschied er in Sekundenschnelle. Sein Blick umfasste sie mit einer lange nicht empfundenen Zärtlichkeit.
»Was kann ich tun?«, fragte er einfühlsam.
»Indem du bei mir bist und mich weiterhin erträgst«, gab sie sich offenherzig. »Glaube mir, ich würde die Uhr zurückdrehen, wenn ich könnte. Ich schaffe es nur nicht allein.«
»Fühlst du dich allein gelassen?«
»Spürst du das nicht?«
»Du bist so weit weg. Ich weiß nicht mehr, wie ich dir beistehen kann«, rechtfertigte er sich, während ihm gleichzeitig bewusst wurde, wie stark seine Gefühle noch waren und wie sehr er seine Frau vernachlässigt hatte. »Liebst du mich noch?«, stellte er die drängendste Frage und zog sie gleich darauf zurück. »Du brauchst nichts zu sagen, ich spüre dich. Hier.« Dabei legte er seine andere Hand auf sein Herz und schaute sie an, als ob er sie lange nicht mehr gesehen hätte.
»Hast du gedacht, ich hätte das zwischen uns vergessen? Du bist mein Alles. Aber ich habe keine Kraft mehr.« Sie versuchte, die Tränen abzuwischen, die ihr unaufhörlich die Wangen herunterkullerten. »Daran ist meine Unvernunft schuld«, machte sie sich selbst Vorwürfe. »Sei bei mir«, wiederholte sie leise ihren einzigen Wunsch.
»Du hattest während Corona und in den Jahren danach so viel in der Praxis und in der Residenz zu tun. Du bist eine starke Frau. Aber was zu viel ist … «, übernahm er die Verteidigung und hielt weiterhin ihre Hand, während sich ihre dunklen Augen weiter mit Tränen füllten. Endlich fand er die richtigen Worte: »Ich bin bei dir.«
»Ich liebe dich«, schluchzte Marcella. Nachdem Sven aufgestanden war und sie wortlos in den Arm genommen hatte, brachen bei ihr alle Dämme. Sie weinte hemmungslos und drückte sich an ihn. Sven fühlte ihren Schmerz und sich gleichzeitig machtlos.
»Anton, bist du fertig? Hast du Zeit für einen Spaziergang im Park?« Wie immer, wenn Sven einen guten Rat benötigte, wandte er sich an seinen väterlichen Freund. Mit Anton Berger, der seit zwei Jahren Bewohner der Seniorenresidenz war, hatte er sich auf Anhieb gut verstanden. Inzwischen war der rüstige Rentner ihm unentbehrlich geworden. Der Angesprochene, den Sven im Restaurant der Marven gesucht und gefunden hatte, nickte und folgte ihm in den weitläufigen Park. Nach ein paar schweigsamen Minuten begann Sven zu erzählen:
»Du weißt, wie angespannt das Verhältnis zwischen Dana, Marcella und mir ist.«
»Angespannt? Davon weiß ich nichts«, frotzelte Anton unbekümmert.
»Wovon sprichst du?«, fragte er irritiert.
»Ich habe heute Morgen zufällig gesehen, wie herzlich Dana sich von dir verabschiedet hat.« Nachdem Sven ihn fragend anschaute, erklärte Anton es genauer: »Du hast die Kinder begleitet, ihr habt euch dreimal umgedreht und ihr überschwänglich zugewunken.«
»Spionierst du mir nach?«
»Ich war am Morgen spazieren. Als Privatdetektiv ist man niemals im Ruhestand, und ich habe Augen im Kopf. Zwischen dir und Dana ist jedenfalls keine Spur von Spannung. Zumindest nicht in der Art, wie du es mir gerade weismachen möchtest. Aber rede weiter, du wirst sicher auf den Punkt kommen.«
»Wäre ich längst, wenn du mich nicht unterbrochen hättest«, beschwerte er sich genervt. »Ich meine natürlich das Verhältnis zu Marcella. Bis gestern bin ich ihr aus dem Weg gegangen. Ihr Schweigen fühlte sich wie ein Vorwurf an. Obwohl ich mich für sie entschieden hatte, war sie seit Wochen unterkühlt, abweisend. Ging ich auf sie zu, wich sie mir aus.«
»Wundert es dich? Du warst mit Dana ein Wochenende in New York, hast anschließend mit ihr die Schweiz und Italien erkundet. Dabei blieb es nicht, du hast …«
»Ist gut, ich weiß, was ich getan habe.«
»Am Ende hast du darauf bestanden, dass Dana nicht gekündigt wurde. Es ist nicht lange her. An Marcellas Stelle hätte ich dich nicht mit Schweigen bestraft, sondern dir den Kopf abgerissen. Weshalb Dana weiterhin als Kindermädchen und Haushälterin bei euch arbeiten darf, verstehe ich bis heute nicht.«
»Du musst es nicht verstehen«, kürzte Sven Antons Zusammenfassung rüde ab. »Darum geht es nicht. Gerade hat sich Marcella mir gegenüber geöffnet. Sie hat mir heute ihre verletzliche Seite gezeigt, sie will sich behandeln lassen, und ich werde ihr beistehen. Ich spüre sie wieder.«
»Worin besteht dein Problem? Sie braucht dich, du fühlst sie. Ihr seid auf einem guten Weg. Du musst lediglich die Finger von Dana lassen und Marcella gegenüber ehrlich sein.«
»Das ist der springende Punkt. Ich kann nicht ehrlich zu ihr sein. Dana spukt in meinem Kopf herum, und gleichzeitig will ich Marcella auf keinen Fall enttäuschen.«
»Du redest verworrenes Zeug. Willst du deine Frau nicht enttäuschen oder liebst du sie?«
»Vorher, im Büro, spürte ich wieder das Gefühl von Liebe. Nachdem sie weggegangen war, kam mir Dana in den Sinn. Kann man zwei Frauen gleichzeitig lieben?«
»Niemals auf dieselbe Weise.«
»Auf welche Weise liebe ich Dana?«
»Sie stand dir in einer schwierigen Phase bei. Du verwechselst Dankbarkeit mit Liebe.«
»Sicher nicht.«
»Dann war sie ein Flirt. Ein Abenteuer – welches vorbei ist. Endgültig. Du liebst deine Frau, deine Kinder und wirst kein zweites Mal deine Ehe riskieren – oder?«, fragte Anton mit hochgezogenen Augenbrauen, die keine Widerrede zuließen.
»Auf keinen Fall«, stimmte er zu, um das Thema abzukürzen. Sein Freund schien ihn nicht zu verstehen. »Um die Parkresidenz steht es finanziell nicht gut. Damit kann ich sie im Moment auch nicht belasten. Manchmal möchte ich am liebsten die Zeit zurückdrehen, die Marven verkaufen und wieder als Escort arbeiten.«
»Darum geht es? Warst du damals glücklich?«, brachte es Anton auf den Punkt und nahm mit seinem Kopfschütteln die Antwort vorweg.
»Ich war zumindest frei und hatte keine Albträume«, kam Svens trotzige Reaktion, der Antons wegweisende Fragen verabscheute. Natürlich erfüllten ihn die oberflächlichen Begegnungen nicht. Spätestens nachdem er Marcella begegnet war, wollte er mehr vom Leben.
»Das ist nicht die Antwort auf meine Frage.«
»Mein ganzes Glück ist meine Familie. Daher möchte ich für meine Frau da sein, sie beschützen und lieben.«
»Dann weißt du scheinbar, was du willst. Das ist ein Fortschritt und kein Problem«, resümierte Anton nüchtern und beobachtete ihn nachdenklich.
»Eben nicht. Ich stehe gefühlt in einem dichten Wald und weiß nicht, wohin der Weg führt«, sagte der Jüngere fahrig und fuhr sich durch die blonden Haare.
»Ich soll dir den Weg zeigen?«, stellte der Freund die rhetorische Frage. »Beginnen wir mit Marcella. Verbringe Zeit mit ihr, baue wieder Nähe auf und stelle das alte Vertrauen her. So einfach.«
»Das geht nicht. Marcella fährt in einer Woche an den Bodensee. Sie muss sich durchchecken lassen.«
»Du bleibst mit Dana in Stuttgart? Jetzt verstehe ich dein Dilemma. Du traust dir selbst nicht über den Weg«, brachte es sein Freund kopfschüttelnd auf den Punkt.
»Lass deine Sprüche«, beschwerte sich Sven. »Ich bin froh, dass Marcella sich endlich um ihre Gesundheit kümmert und sie mir das mit Dana endgültig verziehen hat. Sie hat mir erklärt, dass sie mich über alles liebt, aber die Tabletten sie zu einem anderen Menschen gemacht haben. Sie will ihre Sucht in den Griff bekommen. Zudem hoffe ich, dass die Eiszeit endgültig vorbei ist, und irgendwie, ich kann es nicht unterdrücken, freue ich mich …«
»Du freust dich auf die Zeit mit Dana?«, vervollständigte er Svens Satz fragend.
»Ich würde es anders ausdrücken. Ich freue mich auf die unbeschwerte Zeit mit ihr. Mit ihr ist alles leicht«, antwortete er ehrlich. »Wenn Marcella am Bodensee ist, kann ich zur Ruhe kommen, auftanken und nachdenken. Ich muss mir klar werden, was ich will. In jeglicher Hinsicht. Was ich meiner Frau gegenüber wirklich empfinde, welche Rolle Dana für mich spielt. Zudem sehe ich keinen Sinn mehr, jeden Tag den Unternehmensergebnissen hinterherzulaufen.«
»Was ist passiert?«
»Die Inflation hat der Marven zugesetzt. Mir fehlt die Motivation, das Ruder herumzureißen. Ich sehe weder den Weg noch das Ziel. Ich fühle mich ausgebrannt und leer. Was würdest du an meiner Stelle tun?«
»Musst du heute Abend nicht ins Büro?«, fragte Marcella erfreut ihren Ehemann, der diesmal nach der obligatorischen Gute-Nacht-Geschichte keine Anstalten machte, das Haus zu verlassen. Die Stimmung beim Abendessen war seit langem wieder angenehm gewesen. Dana, die wie jeden Tag bis zum Abendessen im Haus der De Lucas geblieben war, hatte während des Essens verwundert gefragt, was los sei. Sie bekam keine Antwort. Die Eiszeit zwischen den Eheleuten war vorbei. Marcella jedoch ignorierte Danas Frage. Auch Sven blieb ihr eine Antwort schuldig. In welcher Phase sie waren, konnte er nicht in Worte fassen. An einen unbeschwerten Neustart glaubte er nicht. Ihm war klar, welche schwere Zeit seiner Frau bevorstand und, was ihn wesentlich stärker beunruhigte, er wusste weiterhin nicht, was er selbst wollte.
»Nein. Bis zu deiner Abreise werde ich jeden Abend mit dir verbringen«, gab Sven zur Antwort und dachte dabei an Anton, der ihn mit guten Tipps versorgt hatte. Einer davon war der Lieblingsspruch seiner eigenen Mutter: »Handle nicht aus Pflicht, sondern aus wahrhafter Liebe und Überzeugung.« Die bedeutsame Frage war, wofür sein Herz brannte. Die Marven war es nicht mehr. Sein Schreibtisch lockte ihn nicht. Marcella gegenüber fühlte er sich aus unerklärlichen Gründen blockiert, obwohl sie sich ihm geöffnet und er seine Gefühle für sie wiederentdeckt hatte. Vermutlich lag es an Dana. Obwohl er nicht an sie denken wollte, war sie allgegenwärtig. Im Moment mit ihrem angenehmen Parfum, welches noch in der Luft lag, obwohl sie bereits vor einer halben Stunde gegangen war.
»Das ist lieb von dir. Vernachlässige jedoch meinetwegen deine Arbeit nicht. Du hast sicher viel zu tun.«
»Sobald du am Bodensee bist, hole ich alles nach. Wie lange bleibst du?«, lenkte er das Gespräch in ihre Richtung. Er wollte seiner Frau gegenüber weiterhin seine mangelnde Motivation und die roten Zahlen verschweigen. Zumindest bis es ihr besser ging oder er klarer sah.
»Der Arzt aus Radolfzell konnte mir nichts Konkretes sagen. Es leitet ein Sanatorium und hat nicht jeden Tag Fälle wie mich. Wir werden abwarten, wie mein Körper auf die Entgiftung reagiert.«
»Weshalb gehst du nicht zu einem Spezialisten?«
»Er ist gut und geht auf meine Wünsche ein. Zudem will ich nicht in eine große Klinik, in der ich eine Nummer bin und jeder ahnt, worum es geht. Das Sanatorium ist übersichtlich und liegt schön, wie unsere Parkresidenz.«
»Dann wirst du dich dort fast wie zu Hause fühlen?«
»Das hoffe ich. Zudem wird kein Mitarbeiter der Marven etwas mitbekommen. Offiziell bin ich ab nächsten Montag auf Fortbildung.«
»Anton weiß Bescheid. Ich habe ihn um Rat gefragt. Ich hoffe, es ist okay für dich.«
»Er weiß von meiner Medikamentenabhängigkeit und wird weiterhin mit niemandem darüber sprechen. Fast wäre ich in der Ärztekammer zum Gesprächsthema geworden. Erinnerst du dich an diesen unverschämten Arzt Dennis Richter, der mich mit meiner Erkrankung erpresst hatte?«
»Zum Glück war der Arzt in der Probezeit.«
»Es imponiert mir noch heute, wie schnell du ihm gekündigt und ihn eingeschüchtert hattest«, antwortete sie und kuschelte sich zum zweiten Mal an diesem Tag zu ihm.
»Das hast du mir nie gesagt«, monierte er lächelnd.
»Jetzt weißt du es.«
»Der wird dir nie wieder etwas antun«, versicherte er und küsste sie auf die Stirn.
»Welchen Rat wolltest du von Anton?«
»Wie ich dir am besten beistehen kann.«
»Dazu brauchst du Anton?«, stichelte sie und schaute ihn vorwurfsvoll an. »Ciccino, das fühlt man.«
»Nächste Woche sind Schulferien«, überging er vorsichtshalber ihre spöttische Bemerkung, um keinen Streit zu provozieren. »Wenn du magst, begleite ich dich mit den Kindern zu deiner ersten Untersuchung.«
»Das ist eine schöne Idee«, bemühte sich offenbar auch seine Frau, die gute Stimmung zu bewahren. »Allerdings möchte ich nicht, dass die Kinder etwas von meinem Klinikaufenthalt mitbekommen und es ausplaudern.«
»Genau darüber habe ich mit Anton gesprochen. Er hat immer die besten Ideen.«
»Meistens. Wenn ihm nicht Doris den Kopf verdreht«, warf sie lachend ein.
»Doris ist genau das richtige Stichwort«, fuhr Sven fort, der erleichtert über die anhaltend entspannte Atmosphäre war. »Dana soll sich bei Doris’ Tochter Sara einquartieren. Ihr Hotel liegt nur wenige Minuten Fahrzeit von deiner Klinik entfernt.«
»Du willst Dana mitnehmen? Weshalb?«, fragte sie stirnrunzelnd und setzte sich aufrecht hin. Mit einem Schlag war sie wieder da. Die Spannung zwischen ihnen. Sie saßen inzwischen auf der Couch im Wohnzimmer, wo ebenfalls Danas Parfum süße Leichtigkeit verströmte und bei ihm unbewusst Sehnsucht nach unbeschwerter Nähe auslöste. Im Radio sang Marius Müller-Westernhagen: »Steh’ auf.«
»Bleib bei mir, es war gerade so schön«, forderte er sie auf und zog sie sanft zu sich her, während Marius sang »Ich will dich, ich brauch’ dich, lass mich nicht allein« und seinen Refrain zum Ende des Liedes immer eindringlicher wiederholte. »Ich will dir beistehen. Darum geht es mir. Dana kann in Stuttgart bleiben. Das ist mir gleichgültig«, beruhigte er sie. »Deine Therapie beginnt nicht am ersten Tag, sondern dein Arzt wird dich untersuchen. Bis die Ergebnisse aus dem Labor vorliegen, hast du Zeit. Ich will dich ablenken, bei dir sein.« Marcella nickte und schmiegte sich wieder entspannter an ihn. »Geht es dir gut, unternehmen wir beide mit den Kinder etwas gemeinsam. Ohne Dana. Geht es dir weniger gut, dann kümmert sich unsere Nanny um die Kinder, und ich bleibe bei dir. Anton hatte die Idee, dass wir mit den Kindern in einem Hotel neben der Klinik übernachten könnten. Oder musst du nachts in der Klinik bleiben?«
»Anton hat gute Ideen. Vermutlich hat er selbst Sehnsucht nach dem Bodensee. Wollte er mitkommen und Doris besuchen?«
»Nein, er hat mir ein paar Vorschläge gemacht, wie wir zur Ruhe kommen und gesund werden«, antwortete Sven und zog sein Smartphone aus der Tasche. »Schau, er hat mir ein Seminar empfohlen. Die Reise zu dir im Kloster Benediktbeuern.«
»Dort willst du hin? Für was?«
»Das geht von Freitagabend bis Sonntag und soll einen von innen reinigen. Wenn du nicht zu Hause bist, dann könnte ich übernächstes Wochenende ins Allgäu und abschalten.«
»Willst du Dana aus dem Weg gehen?«
»Das ist einer von zwei Gründen: Ich will dir keinen Anlass zur Sorge geben«, gab er es zu, weil Anton ihm ins Gewissen geredet hatte, ehrlich zu sein. Zumindest so weit wie möglich.
»Was ist der zweite Grund?«, fragte sie argwöhnisch.
»So ein Seminar wollte ich schon immer besuchen. Es bietet sich an, wenn du nicht zu Hause bist.« Er schaute sie treuherzig an und nahm sie erneut in den Arm.
»Das sehe ich genau anders«, entgegnete sie lächelnd, während sich ihre Muskulatur für ihn spürbar entspannte. »Wenn ich nicht da bin, dann ist die Anwesenheit des Papas umso wichtiger.«
»Sie lieben Dana«, antwortete er engagiert und spürte, wie ihr Körper bei dem Wort »Liebe« in Verbindung mit der Nanny steif wurde. »Ich werde es den Kleinen schmackhaft machen«, versuchte er, den unachtsam ausgesprochenen Satz zu überspielen.
»Sie lieben alle Dana. Fast alle.« Marcellas Worte klangen nachdenklich, sie machte eine Pause, während das Westminster-Schlagwerk der Standuhr sich auffordernd einmischte.
»Ich liebe dich. Denke an London«, bugsierte er sie behutsam in ihre Vergangenheit. Die feierliche Melodie des Big Ben rief ihm sein Eheversprechen ins Gedächtnis. Die beschwingten Dur-Töne erinnerten ihn jedoch nicht nur an die Hochzeit und Emilias Wunsch, sondern auch an seinen Heiratsantrag im Flugzeug nach London und die aufregenden Erlebnisse in der pulsierenden Stadt.1 Sven fiel ein, was er ihr versprochen hatte, und er fühlte in diesem Moment dasselbe wie damals: »Erinnerst du dich an mein Versprechen, hoch über den Wolken?«
»Du willst immer bei mir bleiben und mir deine Liebe schenken«, wiederholte sie seine Worte von damals. »Ich will keine Sekunde mehr an dir zweifeln«, warf Marcella erneut ihre Bedenken über Bord und kuschelte sich enger an ihn. Er genoss den Moment und hoffte, auch seine Zweifel würden dauerhaft aus seinem Kopf verschwinden. »Daher musst du meinetwegen nicht über das Wochenende ins Kloster oder mich mit den Kindern am See besuchen«, sagte sie schmunzelnd und küsste ihn, schüchtern wie beim ersten Mal.
»Wie ich das vermisst habe«, seufzte er, nachdem er ihre vertrauten Küsse ebenso zart und beinahe verlegen erwidert hatte. »Das Seminar möchte ich dennoch besuchen. Zeit für mich. Es wird mir guttun.« Sie reagierte nicht, weshalb er den Grund weiter ausführte: »Damit es mir nicht irgendwann so geht wie dir.« Anton hatte ihm geraten, in Ruhe über seine Wünsche nachzudenken, um sich selbst zu finden. Spürte Marcella, dass er ihr diesen Punkt verheimlichte?
»Das ist etwas anderes. Lass uns morgen Dana fragen, ob sie mitkommen mag, und anschließend sprechen wir mit den Kindern.« Sven nickte erleichtert und zog sie zu sich. Aus dem Radio erklang inzwischen der melodiöse Song von Michelle: »Tauch in mich hinein.« Als sie sang: »Lass mich mit meiner Sehnsucht nicht allein«, spürte er eine Woge der Sehnsucht. Sie schmiegte sich an ihn. Erneut waren seine Zweifel verflogen. Er küsste sie leidenschaftlich und ließ sich fallen.
1Bleibst du für immer? Gmeiner-Verlag
Zwei Wochen später
»Bist du wach?«, fragte Eric Hartmann, nachdem das Anlassen eines Viertakters zu hören war. Sven richtete sich mühsam auf und schaute Eric verdutzt an.
»Wo sind wir?«, stellte Sven irritiert die Gegenfrage, löste das Seil, welches stramm um seine Waden und Oberschenkel geschnürt war, und stand taumelnd auf. Unsicher versuchte er, sich auf den Beinen zu halten, und betrachtete verwundert seine schmutzigen Knie und Hände. Plötzlich bewegte sich der Boden, beinahe wäre er gestürzt. Die altmodische Jacht, in deren Kajüte sie sich befanden, schwankte in den Wellen eines anfahrenden Bootes. Er hielt sich an einem Einbauschrank fest und betrachtete den blonden Eric, der fest verschnürt unter einer der Sitzbänke lag und hilflos mit den Beinen strampelte. »Was ist mit dir los?« Es roch modrig, als ob lange nicht gelüftet worden wäre. Er ging in die Hocke. Ihm war schwindelig. Dennoch wollte er Erics Seile lösen, die fachmännisch verknotet waren.
»Lass das«, lehnte Eric angespannt ab. »Steh schnell auf und schau, wohin sie fahren!« Er richtete sich mühsam auf, stützte sich auf der hölzernen Sitzbank ab und schaute hinaus. »Was siehst du?«, stellte der andere hektisch die nächste Frage.
»Nicht viel«, gab der 41-Jährige Auskunft. Er spähte angestrengt durch ein verschmutztes Bullauge mit einer Umrandung aus angelaufenem Messing. Er hatte keine Ahnung, wo genau er sich mit Eric befand, dem er vor geschätzten 18 Stunden vorgestellt worden war. Gestern, am Freitagmittag, hatte er ihn zum ersten Mal gesehen. Eric war einer der Teilnehmer des Klosterseminars in Benediktbeuern in Bayern. Aufgrund eines Rohrbruchs in einem der Gästezimmer hatte er sich mit Eric das letzte freie Zimmer teilen müssen. Bis Mitternacht war nichts Auffälliges geschehen. Sven versuchte krampfhaft, sich an die letzte Nacht zu erinnern: Plötzlich waren die Männer in ihrem Zimmer gestanden und hatten ihn unmissverständlich aufgefordert, das eingeschenkte Wasser zu trinken. Zehn Minuten später war er offenbar bewusstlos geworden. Bis jetzt. Draußen über dem Wasser waberten grauweiße Nebelschwaden, die seinem Gehirnnebel ähnlich waren. Schemenhaft erkannte er ein kleines Fischerboot, welches sich knatternd entfernte. Der Morgen dämmerte, genauso wie Svens Erinnerungen an den merkwürdigen Überfall. War das Teil des Seminars? Der Abt hatte ihnen eine Erfahrung angekündigt, die sie niemals vergessen und aus der sie Erkenntnis schöpfen würden. In voraussichtlich einer halben Stunde würden sie zumindest die Umgebung besser erkennen und sich orientieren können, hoffte er. »Zwei Männer fahren in den Nebel hinein. Viel mehr kann ich nicht erkennen«, berichtete er.
»Bis auf das Plätschern der Wellen ist nichts mehr zu hören. Wir sind vermutlich allein auf der Jacht«, sagte Eric und strampelte erneut mit den Beinen.
»Möglich.«
»Dann binde mich los«, bat Eric, der auf dem vergrauten Holzboden lag und trotz aller Anstrengungen die verknoteten Seile an Händen und Füßen nicht selbst lösen konnte. »Fang hier an, es schmerzt«, forderte er ihn jammernd auf und streckte ihm seine Beine entgegen.
Sven begab sich erneut in die Hocke. Wie verlangt, kümmerte er sich zuerst um die Fußfesseln. Erics Waden waren dermaßen eng mit den Seilen verschnürt, dass sichtbar das Blut stockte. Als er die ersten Knoten löste, atmete Eric geräuschvoll aus. Sie waren beide mit T-Shirt und Boxershorts bekleidet. So wie sie am Vorabend zu Bett gegangen waren. Dann hatte man sie aus dem Schlaf gerissen. Ihn und seinen Zimmerkollegen Eric Hartmann. Sie hatten sich nicht gewehrt. Zumindest hatte man ihn aus dem Tiefschlaf gerissen. Was in Erics Kopf vorgegangen war, wusste er nicht. Er erinnerte sich an die beiden Männer, die kleiner und kräftiger waren als er. Der eine hatte einen Riss im Overall gehabt, weißes Pulver oder Staub auf den Unterarmen und eine blutige Verletzung an der Hand. Er hatte die Nachttischlampe angeknipst, nachdem zuerst ein seltsames knarzendes Geräusch und dann das Klirren von Glasscherben zu hören gewesen waren. Für einen Moment hatte er die bizarren Gestalten gesehen, die in schwarzen Overalls und Sturmhauben blitzschnell durch das ebenerdige Fenster eingestiegen waren, welches sie von außen aufgedrückt hatten. Sie schienen sich auszukennen. Einer der Männer hatte sich sofort auf seine Lampe gestürzt, der andere war zu Eric gegangen, der von dem Geräusch ebenfalls aufgeschreckt worden war und sich im Bett aufgesetzt hatte.
Wie waren die beiden in ihr Zimmer gekommen? Ihr spartanisch eingerichtetes Zimmer lag im Souterrain des Klosters. Es war gut geschützt. Zudem hatte der Abt alles unter Kontrolle. Ohne seine Erlaubnis würde kein Fremder auf das Gelände kommen, überlegte er und fragte Eric:
»Erinnerst du dich an das Gitter vor unserem Fenster? Da war eines – oder nicht?« Eric gab keine Antwort, hielt ihm ungeduldig seine Hände entgegen und bewegte seine befreiten Beine. Er hatte für eine Sekunde in die schwarzen Augen eines Mannes sehen können. Der Mann hatte am Kabel den Lampenstecker aus der Steckdose gerissen, seine Taschenlampe auf ihn und anschließend auf einen Zettel gerichtet. Dann hatte der Eindringling Svens Wasserglas, welches auf seinem Nachttisch stand, auf den Steinfußboden ausgeleert und ihm aus einer mitgebrachten Flasche etwas eingefüllt. Die Eindringlinge sprachen nichts. Er hatte alles getrunken, wie ihm wortlos befohlen worden war. Dann schob man ihn aus dem Fenster, er krabbelte auf allen vieren ins klösterliche Gemüsebeet. Das vermeintliche Wasser hatte salzig und seifig geschmeckt. Unangenehm. Vor allem die Erinnerungslücke danach fühlte sich eklig an. War es ein vom Abt angekündigtes Ritual, welches den Körper reinigen sollte? Er hatte vor einigen Wochen etwas über einen Schamanen gelesen, der mit einer Mischung aus Tabak und Heilkräutern die Menschen von ihrem Ballast befreite. Dem Abt waren ähnliche Methoden zuzutrauen. Einer der Teilnehmer hatte Sonderbares über ihn berichtet. Befanden sie sich in der Nähe des Klosters? Waren sie auf dem Starnberger See? Dieser lag eine Viertelstunde vom Kloster entfernt. Sven erinnerte sich nur nicht daran, dass in der Wettervorhersage Nebel angekündigt worden war. Waren sie womöglich weiter weg? Oder war er mehrere Tage bewusstlos gewesen? Mia und Linus, schoss es ihm in den Kopf. Er hatte seinen Kindern versprochen, sich jeden Abend telefonisch zu melden. Mit der obligatorischen Gute-Nacht-Geschichte. Wo befand er sich und, die weitaus wichtigere Frage, wie würde die Geschichte weitergehen? Sein Gehirn fühlte sich matschig an, er konnte keinen klaren Gedanken fassen.
Sven rieb sich über das Gesicht, um seinen Kreislauf anzukurbeln. Er war erst vor wenigen Minuten wach geworden, als er mitbekommen hatte, wie er von einem der Männer an den Beinen gefesselt worden war. Während er Erics letzte Verschnürungen aufknotete, fragte er ihn:
»Hast du eine Ahnung, weshalb wir hierhergebracht wurden?«
»Nein. Zumindest fällt mir auf Anhieb nichts ein«, kam es zögerlich von dem 34-Jährigen, der seine befreiten Hände rieb und ein wehleidiges Gesicht machte.
»Ist das die angekündigte Überraschung des Abts? Oder bist du reich, und wir sind entführt worden?«, half er ihm auf die Sprünge. »Ich kenne dich erst seit gestern, wenn ich mich recht erinnere, und habe seitdem Erinnerungslücken.«
»Keine Ahnung«, reagierte Eric ärgerlich. »Wer bist du? Frage dich selbst, ob es einen Grund für eine Entführung gibt.«
Sven gab keine Antwort und tastete seinen schmerzenden Kopf ab. Er hatte Durst. Dennoch, so gut funktionierte sein Verstand bereits, er würde vor diesem Fremden seine Vergangenheit nicht ausbreiten. Während er Eric musterte, als ob er ihn zum ersten Mal sehen würde, ging er zurück zum Bullauge, setzte sich auf die längs der Bordwand eingebaute Sitzbank und beobachtete die ruhige See. Alles war friedlich. Der Nebel hatte die beiden Männer längst verschluckt.
»Ich jedenfalls könnte mir vorstellen, dass es ein schräger Einfall unseres wunderlichen Abts ist«, fuhr Eric lachend fort, nachdem sein Seminarkollege schweigsam blieb. »Mir hat jemand von seinen kuriosen Methoden erzählt.«
Weshalb hatte der Abt Eric und ihn auf diese Reise geschickt? Der Abt hatte ihnen ein gemeinsames Zimmer zugewiesen und angedeutet, dass sie sich gegenseitig die Augen öffnen würden. Welche Verbindung sah der Abt zwischen Eric und ihm? Offenbar verband sie mehr als nur ihre nordischen Vornamen, mit deren Bedeutung sie sich am Vortag im Kloster auseinandergesetzt hatten, grübelte Sven, der zunächst ohne Erics Hilfe den Hintergrund des seltsamen Ausfluges herausfinden wollte. Er versuchte, sich an das erste Aufeinandertreffen mit den anderen Teilnehmern zu erinnern. Sie hatten alle im Kreis gesessen und sich vorgestellt. Eric hatte sich selbst als vielseitig talentiert beschrieben, auf der Suche nach sich selbst. Wie im Grunde alle anderen Seminarteilnehmer. Der Abt hatte jeden bei seinem Vornamen begrüßt, die Namensherkunft erklärt und eine dazu passende Aufgabe gestellt. Sven, das hatte der eigenartige Seminarleiter erläutert, bedeute »Junger Krieger«. Er solle seinen Namen erneut mit Leben füllen und sich aufschreiben, für welche Ziele er sich in der Zukunft einsetzen wolle. Wofür es sich zu kämpfen lohne und was ihn möglicherweise hindern könne, sein neu gestecktes Ziel zu erreichen. Die Antworten waren für ihn eindeutig. Seine Ehe wollte er retten. Herausfinden, weshalb er sich seiner Frau gegenüber nicht wie früher öffnen konnte. Lag es an ihrer angeschlagenen Gesundheit, die ihn davon abhielt, ehrlich über seine Sorgen zu sprechen? Diese elendige Sinnkrise musste er schleunigst überwinden, bevor die Marven bankrott war. Deshalb hatte er das Wochenendseminar bei den Mönchen gebucht. Wenn er gewusst hätte, zu welcher Tortur es ausarten würde, hätte er den Sinn des Lebens in aller Ruhe mit Danas leckerer Lunchbox am Schreibtisch seines Büros gesucht. Ein leises Lächeln huschte über sein Gesicht und vertrieb seine Sorgenfalten. Diese Dana, sie schmuggelte sich bei jeder unpassenden Gelegenheit in seinen Kopf.
Es schien, als ob die Zeit stehen blieb. Sven sinnierte kaum hörbar über Antons mahnende Worte nach: »Nichts wiegt schwerer als ein leeres Herz.« Das hatte er bitter fühlen müssen. In Lugano, an den Tagen, als er geglaubt hatte, seine Frau nie wiederzusehen. Die er zuvor leichtfertig betrogen hatte. Zumindest beinahe, verfiel er in seine alte Rechtfertigung. Viel war nicht passiert. Marcella hatte ihm verziehen. Sie meinte es diesmal ehrlich. Dennoch war es lediglich ein Kredit. Ein Vorschuss, den er keinesfalls verspielen durfte. Noch befand er sich auf dünnem Eis. Es war ihm sonnenklar, ein zweites Mal würde seine temperamentvolle Ehefrau, deren italienische Wurzeln er normalerweise liebte, ihm diese Nähe zu Dana nicht mehr verzeihen. Er müsste sich von ihr fernhalten, auch wenn sie gegen seinen Willen in seinem Kopf herumspukte. Dana war lediglich eine Angestellte. Die Haushaltshilfe und Nanny ihrer beiden Kinder, zählte er gebetsmühlenartig auf. Mehr nicht. Dana war die beste Nanny der Welt, fügte er rechtfertigend hinzu, weshalb er ihr nicht kündigen wollte. Zudem hatte Dana seiner Frau das Leben gerettet. Mehr oder weniger. Dana hatte seine Familie durch ihr unüberlegtes Handeln gleichzeitig in große Schwierigkeiten gebracht. Aber sie war mutig, und ihr Plan war am Ende aufgegangen, erinnerte er sich grinsend an das letzte abenteuerliche Erlebnis mit ihr. Die Bewohner der Seniorenresidenz, denen er im Guten Morgen die Geschichte als Fortsetzungsroman erzählt hatte, konnten nachts nicht mehr schlafen. Marcella konnte deren Bluthochdruck kaum einfangen. Sie schimpfte mit ihm, weshalb er eine Romanze angekündigt und einen Thriller geschrieben hätte. Vermutlich ärgerte sie sich, die Geschichte lesen zu müssen. Was sollte er tun? Schließlich konnte er nichts für Danas Eskapaden, die er in seiner Geschichte Wie du es willst! in allen Details nacherzählt hatte. Anton hatte jedenfalls seinen Spaß beim Lesen. Nur das zählte. Er war sein Mentor. Lediglich in einem Punkt waren Anton und er inzwischen nicht mehr einer Meinung. Sein väterlicher Freund hatte sich auf die Seite seiner Frau gestellt und ihm geraten, Dana zu entlassen. Weshalb verstand niemand, dass er beide Frauen in seinem Leben brauchte. Ohne Dana ging es nicht mehr. Sie organisierte ihr Leben. Die Kinder liebten sie. Deshalb konnte er ihr niemals kündigen.
Hauptsächlich wegen Marcella hatte er sich übers Wochenende für das Klosterseminar angemeldet. Er wollte seiner Ehefrau mit dieser Geste zeigen, wie ernst es ihm war, die Ehe zu retten. Zudem wollte er Dana aus dem Weg gehen, die sich nicht aus seinem Kopf vertreiben ließ. Neben ihr konnte er keinen klaren Gedanken fassen – er fühlte sich zu ihr hingezogen. Von ihrer erfrischenden und einnehmenden Art. Ob er wollte oder nicht. Die Nanny ihrer Kinder, die jetzt in Stuttgart den kompletten Haushalt führte, während sich Marcella in einer Reha-Klinik am Bodensee von den Strapazen der Vergangenheit auskurierte, ging ihm nicht aus dem Sinn.
Der Nebel umhüllte ihr Schiff. Eric starrte Löcher in die Luft. Die triste Langeweile war mit nichts zu vertreiben. Sven hatte nur seine Gedanken. War das die Absicht des Abts? Sollte er sich, abgeschieden von der Welt, mit sich auseinandersetzen? Würden sich auf diese Weise seine Probleme lösen lassen? Sicher nicht. Sein erster Gedanke war erneut Dana. Sie war nicht das Problem. Er ebenfalls nicht. Marcellas Medikamentenabhängigkeit war der Auslöser für ihre eheliche Krise, schob er die Schuld weit von sich weg. Seit sie ihren beruflichen Stress mit starken Medikamenten übertüncht hatte, war sie anders zu ihm. Ungerecht, dünnhäutig und, das Schlimmste, sie hatte sich von ihm zurückgezogen. Zugegeben, führte er seinen gedanklichen Monolog fort, sie hatte sich inzwischen geöffnet, Nähe zugelassen und ihm ihre Liebe gezeigt. Aber jetzt, allein auf dem Schiff, fühlte er sich wieder allein gelassen. Verloren. Wie im vergangenen Jahr, und es kam, wie es kommen musste. In seinen Gedanken war Dana bei ihm. Er hatte ihr Parfum in der Nase. Sie war mit ihrer Leichtigkeit bei ihm. Fröhlich, übermotiviert, unberechenbar, und sie nahm es mit Moral und Wahrheit nicht übertrieben genau. Sie nahm vieles nicht so ernst. Diese herrlich unkomplizierte Art liebte er besonders an ihr. Dana zog ihn … nein, sie hatte ihn magisch angezogen, in einem schwachen Moment, korrigierte er sich in seinen Gedanken. Es war vorbei. Sonst war da nichts – zumindest nicht mehr. Ein warmes Gefühl, welches ein wohliges Lächeln auslöste, huschte ihm erneut über sein ungewaschenes Gesicht. Er legte sich auf die schmale Sitzbank und zermarterte sich angestrengt den Kopf, auch, weshalb man es auf Eric abgesehen haben könnte. Der Gedanke, sie könnten entführt worden sein, tauchte wieder wie eine dunkle Wolke auf.
Er wusste von Eric nur, was der Abt über dessen Namen berichtet hatte. Eirìk oder Airikr, die ursprüngliche skandinavische Schreibweise, setzte sich aus den Worten »ain«, »æn« und »ríkr« zusammen. Das erste Wort bedeutete »allein« und »einzig«, das zweite »groß«, »mächtig« oder »Herrscher«. Der Mönch hatte Eric befragt, über was er die Alleinherrschaft zurückerobern wolle. Sven kannte Erics Antwort nicht. Eric hatte, wie er und die anderen, die Aufgabe bekommen, in seine Zelle zu gehen und seine Gedanken aufzuschreiben. Keiner sollte an diesem Abend mit den anderen darüber sprechen. Jeder der insgesamt elf Seminarteilnehmer sollte in sich hineinhören und nach den Hintergründen forschen. Sie würden in sich selbst auf alles eine Antwort finden, hatte der Abt ihnen am Abend versprochen. Erst am nächsten Tag dürften sie sich untereinander austauschen. Das waren die letzten Worte, bevor der Vorsteher des Mönchsklosters alle zum Schweigen aufgefordert und sie mit einer Scheibe Schwarzbrot und einem Krug Wasser ihrem Schicksal überlassen hatte, das – in gewisser Hinsicht – mit der Situation hier auf dem Boot vergleichbar war. Im Kloster waren sie mit ihren Gedanken eingesperrt. Bei schmaler Kost und wenig Aussicht. Der Unterschied: Im Kloster hatten sie Ausblick auf das Gemüsebeet und zumindest etwas zu essen gehabt. Hier war nichts. Nur ringsherum das Meer, welches im Nebel gespenstisch und einschüchternd wirkte. Die Suche nach dem Sinn blieb dieselbe.
»Es ist eingebrochen worden!«, platzte Deimos in die Stille der Klosterkirche, in der sich alle bereits um 5 Uhr andächtig zum ersten Morgengebet versammelt hatten. Er war einer der elf Seminarteilnehmer, die am Vortag zum Mittagessen angereist waren und den Wochenendkurs Die Reise zu dir gebucht hatten. Der Vorsteher des Klosters schaute irritiert auf und sagte streng:
»Schweig, Deimos.«
»Herr Abt«, ließ sich der aufgeregte Mann, dessen schwarze Locken sein furchtsames Gesicht umrahmten, nicht abwimmeln. »Die zwei sind entführt worden. Eric und Sven. Ich bin mir sicher. Sie müssen die Polizei rufen.«
»Du weißt, was ich dir gestern gesagt habe?«
»Ich werde hier nicht bleiben!« Deimos’ schwarze Augen wanderten verängstigt von einem Teilnehmer zum anderen, als ob er etwas suchte. Verbündete, die ihn verstanden. »Es ist etwas Schlimmes passiert. Ich bin an der offenen Zimmertür vorbeigelaufen …«