Verzeihst du mir? - Isabella Anders - E-Book

Verzeihst du mir? E-Book

Isabella Anders

4,0

Beschreibung

Eine junge Familie wird bei einem Bergrutsch in den Schweizer Alpen verschüttet - einzig ihre neugeborene Tochter Sara überlebt die Katastrophe und findet bei Doris und Herbert Ganter in Konstanz ein liebevolles Zuhause. Inzwischen führt Sara ein kleines Hotel in Radolfzell am Bodensee und ahnt nicht, welches Geheimnis ihre Herkunft umgibt. Erst als Alexander Ruef, gemeinsam mit Detektiv Anton Berger, das Verschwinden seiner Eltern aufklären will, kommt Licht ins Dunkel.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 715

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,0 (1 Bewertung)
0
1
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.

Beliebtheit




Isabella Anders

Verzeihst du mir?

Bodensee-Romanze

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Immer informiert

Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

Gefällt mir!

 

Facebook: @Gmeiner.Verlag

Instagram: @gmeinerverlag

Twitter: @GmeinerVerlag

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2023 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Robert Wiedemann / unsplash

ISBN 978-3-8392-7600-6

Widmung

Wir vergeben fast immer, wenn wir verstehen. Das waren die prägendsten Worte, die mir mein Vater vor seinem Tod mit auf meinen Weg gegeben hat. Sie waren der Grundstein zu diesem Roman. Nicht wissend, dass dies eines der letzten Worte meines Vaters an mich sein sollten. Er verstarb mit 77 Jahren, innerhalb kürzester Zeit, an Bauchspeicheldrüsenkrebs.

Nur wenige Monate zuvor haben sich erstmals diejenigen Gespräche mit meinem Vater ergeben, die auf Augenhöhe stattfanden. Er hat mir gegenüber unbeschönigt seine Schwächen offenbart, und ich habe dabei erstmals seine Stärken erkannt. Dabei konnte ich mich selbst, meine Wurzeln, mehr und mehr verstehen. Wir haben beide begriffen, die bisherigen Streitpunkte sind unsere gemeinsamen Schwächen, die vermeintlichen Gegensätze oftmals Gemeinsamkeiten. Der andere wurde auf einmal zum unmissverständlichen Spiegel der eigenen Seele.

Meine uneingeschränkte Liebe begleitet ihn für immer.

Dieser Roman ist ihm, Ralf Friedrich Herrmann, gewidmet. Es geht um eine lange unerkannte, im Verborgen liegende Vaterliebe. Letztendlich um das Verstehen und Verzeihen.

Ein Jahr zuvor

Radolfzell, 2021

»Und du wirst mir helfen!« Der flehentliche Blick von Alex­ander passte nicht zu den fordernden Worten, die keinen Widerspruch duldeten. »Bis zum bitteren Schluss!« Sein Blick war starr auf Anton Berger gerichtet, seine Unsicherheit nicht zu übersehen.

Im Grunde war es keine Frage. Alexander brauchte Antons Unterstützung, wollte diese aber nochmals bestätigt wissen. Schließlich hatte er nicht umsonst seinen Dienst bei der Kreuzlinger Polizei quittiert.

»Wenn du dich an die Regeln hältst?«, stellte Berger sachlich seine einzige Bedingung, während er ihm den Kaufvertrag über den kleinen Holztisch hinüberschob.

Der anwesende Notar hatte Zeile für Zeile vorgelesen und wartete geduldig das Gespräch seiner Klienten ab. Alexander wollte das kleine Eckhaus am Rande der Radolfzeller Altstadt unbedingt haben. Das stand außer Frage. Dort würde er, mitsamt der Immobilie, auch die Detektei von Anton Berger übernehmen, um endlich ohne die in seinen Augen unfähige Staatsanwaltschaft ermitteln zu können. Schonungslose Aufklärung und harte Bestrafung der Schuldigen, das war sein Motto. Seine Eltern wurden zehn Jahre nach ihrem Verschwinden für tot erklärt, niemand hatte damals lange ermittelt. Selbstverständlich war er als Detektiv an Gesetze gebunden, diese Belehrung hätte sich Anton getrost sparen können. Vor dem Notar wollte er jedoch nicht die möglichen Grauzonen mit Anton diskutieren. Am Ende zählte nur das Ergebnis, sonst nichts. Dafür würde er hin und wieder ein paar Grenzen überschreiten müssen. Gemeinsam mit Anton würde er nun endlich herausfinden, was wirklich mit seinen Eltern geschehen war. Alexanders Nasenflügel bebten, während er den Vertrag schwungvoll unterschrieb und ihn Anton Berger mit einem entschlossenen Nicken zurückgab.

Nachdem Anton seine Unterschrift auf die letzte Seite des Dokuments gesetzt und alle Unterlagen dem Notar zurückgegeben hatte, nickte er Alexander ebenfalls zu, erleichtert und verschwörerisch. Natürlich würde er ihn nicht im Stich lassen. Auch wenn Alexanders Fall auf den ersten Blick aussichtslos schien, reizten Anton die besonderen Umstände. Vor allem Alexander selbst würde ihm große Aufmerksamkeit abverlangen. In Alexanders ungestümer Art befürchtete Anton im Moment die größte Unwägbarkeit, die ihn herausfordern, ihm sicher viel diplomatisches Geschick abverlangen würde. Ohne ihn näher zu kennen, sah er es Alexanders leidenschaftlichen Gesichtszügen an. Der junge Mann hatte sein Temperament nicht unter Kontrolle. Auf seine Menschenkenntnisse konnte sich Anton blind verlassen. Er war lange genug im Geschäft und erkannte mit einem Blick mehr, als es anderen Menschen lieb war. Alexander war, wie er von ihm erfahren hatte, bisher auf sich allein gestellt gewesen. Er war nicht wie andere Kinder beschützt und behütet aufgewachsen. Der Junge brauchte jetzt seine Hilfe. Erst im Anschluss würde er Radolfzell, den herrlichen See und auch seinen sorgenfreien Ruhestand wahrhaftig genießen können. Für den Rest seines Lebens Urlaub am Bodensee. Der Gedanke lockte ihn schon lange. Ein zufriedenes Lächeln huschte über Antons Gesicht. Er liebte Pläne und deren akribische Umsetzung, die an ein Schweizer Uhrwerk erinnerten. Nichts würde ihn, Anton Berger, von seinem letzten traumhaften Plan abbringen.

Kapitel 1

Stuttgart, 2022

Sven schloss leise die Haustür auf. Es war schon spät, niemand schien mehr wach zu sein. Der vertraute Wohlgeruch hieß ihn jedoch sofort zu Hause willkommen. Es war nicht nur der Rosenduft, der ihn draußen im Garten begrüßt hatte, sondern eine unbeschreibliche ihn umgarnende Duftmischung, die ihn bereits im Hausflur behaglich umarmte. Seine Marcella, mit der er nun seit sechs Jahren verheiratet war, hätte er mit verbundenen Augen erkannt – nur sie hatte diese unglaubliche magische Anziehungskraft, und nur sie zauberte ihm diese wohltuende Wärme in sein Herz. Während er die Tür leise hinter sich zuzog, wanderte sein Blick in den oberen Stock, wo die Nachtbeleuchtung für schummriges Licht sorgte. Die Kinder waren schon im Bett. Mia hatte sicher darauf bestanden, noch ein wenig wach zu bleiben, um auf ihren Papi zu warten, doch Marcella hatte die beiden bestimmt längst ins Bett gebracht. Sie selbst fand er auf dem Sofa vor, wo sie unter einer Wolldecke eingeschlummert war. Marcella wartete immer auf ihn, sie wollte nicht ohne ihn ins Bett gehen.

»Ciccino, du bist da.« Sie küsste Sven verschlafen und zog ihn zärtlich zu sich hinunter. »Wie war es bei deinen Terminen? Alles in Ordnung?«

»Ja, mein Liebling!« Mit einem wohligen Seufzer ließ er sich fallen, nachdem er seinen Schatz ebenso liebevoll begrüßt hatte. Genauso hatte er sich sein Zuhause gewünscht. Nach so vielen Jahren war er endlich angekommen. »Jetzt ist alles gut!« Die ganze Anspannung des Tages war mit einem Kuss wie weggewischt. Mit seinem Steueranwalt hatte Sven darüber diskutiert, ob die Nutzungsentgelte für naturschutzrechtliche Ausgleichsmaßnahmen im Zuflussjahr versteuert werden müssten oder nicht. Langweilige Dinge, an die er überhaupt nicht mehr denken wollte. Zuvor hatte er sein Auto aus der Werkstatt in Zuffenhausen abgeholt, danach war er bei seinem Hausjuristen gewesen und eben noch kurz in seinem Büro.

»Und? Wie sieht es aus?«, wollte Marcella etwas munterer wissen, während sie sich aufsetzte. Allein die körperliche Nähe zu Sven gab ihr einen Energieschub. »Wann dürfen unsere Gäste wieder ganz normal am Leben teilnehmen?«

»Zurzeit gelten weiter Einschränkungen.« Sven hatte sich von seinem Anwalt die aktuellen Regelungen bestätigen lassen. »Die neuen Vorgaben habe ich gerade in einer Kurzfassung unserer Hauszeitung hinzugefügt.« Diese Information würde seinen Gästen, wie er die Bewohner von der Parkresidenz Marven nannte, gleich morgen zur Verfügung stehen. Marcella und er hatten die Marven GmbH vor drei Jahren gegründet. Alles lief wie am Schnürchen, bis die Pandemie 2020 die Welt von einem Moment auf den anderen zum Stillstand brachte. Auch die Bewohner der gehobenen Seniorenwohnanlage traf dieser tiefe Einschnitt mit voller Wucht, nichts war mehr wie vorher. Besuche waren nur noch unter strengen Auflagen erlaubt, und es gab kaum Ausflüge und Aktivitäten außer Haus. Wie im Gefängnis fühlte es sich damals an. Niemand wusste, wann der Albtraum enden würde. Mittlerweile, zwei Jahre später, drehte sich die Erde langsam weiter, wie in Zeitlupe. Jeder hoffte, sie würde bald zu ihrem alten Schwung zurückfinden.

Glücklicherweise verfügte die Residenz über eine weitläufige Parkanlage. Mit prächtigen alten Bäumen und neu angelegten Rosenbeeten, die Marcellas Mama, die bei ihnen wohnte, mit Hingabe hegte und pflegte. Und Sven hatte darüber hinaus genug Fantasie, um es seinen Gästen innerhalb des Geländes so schön wie möglich zu machen. Eine Idee von ihm war das tägliche Nachrichtenblatt, welches er jeden Abend zusammenstellte, dann für alle kopieren und um 22 Uhr vor den Zimmertüren verteilen ließ. Wer schlecht schlafen konnte, wartete gespannt und las die Lektüre schon in der Nacht. Andere hoben sich den Lesestoff für den Vormittag auf und hatten somit einen festen Programmpunkt zwischen Frühstück und Mittagessen, über den sie sich anschließend ausführlich mit den anderen austauschen konnten. Sven schrieb in seinem Guten-Morgen-Blatt über die wichtigsten Nachrichten des Tages, die angebotenen Aktivitäten, die Menüauswahl für Mittag- und Abendessen und, was jeder lesen musste, der mitreden wollte, Svens Geschichten aus seiner Escort-Zeit. Bevor er sich in Marcella verliebte, erfüllte er sieben Jahre lang die geheimen Träume fremder Frauen. Das Leben, welches er damals führte, schien heute nicht mehr zu ihm zu gehören, und doch war es ihm nicht unangenehm. Es machte ihm Spaß, darüber zu schreiben, denn ohne diese Zeit wäre er nicht der Mann, der er heute war. Es war eine behutsam formulierte Romanze, über die er schrieb und die sie alle liebten, auch wenn er damals den Glauben an die wahre Liebe fast verloren hatte. Vor allem über den Titel Bleibst du für immer? wurde gerätselt. Wem mochte diese Frage gelten? Würde in seinem Fortsetzungsroman endlich seine hübsche Frau Marcella auftauchen? Die hilfsbereite Allgemeinärztin, die bei allen so beliebt war? Seiner kleinen Fangemeinde gegenüber gab Sven sich geheimnisvoll, denn das erhöhte die Spannung. In den nächsten Wochen würden sie es sowieso erfahren.

Eines Tages sprach ihn Anton Berger auf diese Geschichten an. Anton war erst vor ein paar Monaten in die Parkresidenz Marven gezogen. Ein Jahr zuvor hatte er seine Detektei am Bodensee an einen jungen Mann verkauft, der seinen Job bei der Polizei an den Nagel gehängt hatte, um seine vermissten Eltern zu finden. Anton hatte ihm beim Einzug erzählt, wie sorgfältig er seine Rentenzeit am Schwäbischen Meer geplant hatte. Doch ausgerechnet im letzten Jahr verliebte er sich in seiner alten Heimat Hals über Kopf in die verheiratete Doris. Die Frau, die er eigentlich eines Verbrechens hätte überführen sollen. Jetzt brauchte er diesen Neustart in Stuttgart, wie er sich ausweichend ausdrückte. Von seinem Pech in der Liebe erzählte er nur Sven. Er wäre es nicht gewohnt, viel über sich zu erzählen, wich er entschuldigend und konsequent allen Fragen der meist weiblichen Bewohner aus. Viel wichtiger wäre es, betonte Anton häufig, den anderen zuzuhören, so mache man das eben als Detektiv. Aufgrund seiner empathischen und ruhigen Art war er hier sehr beliebt. Wenn er durch sein Schweigen auch ein wenig unnahbar wirkte, umschwebte ihn dadurch etwas Geheimnisvolles. Das alles war jedoch keine Taktik von Anton, er sprach einfach ungern über seine Erlebnisse.

So zumindest hatte Sven ihn bisher kennengelernt. Wenn er an seine eigene Vergangenheit dachte, verstand er das nur zu gut. Umso überraschter war er, als Anton in sein Büro kam und plötzlich überhaupt nicht mehr verschlossen wirkte.

»Darf ich dich stören?«, fragte Anton aufgeräumt wie immer. Er blieb am Türrahmen stehen, beobachtete Sven, wie der in einem Stapel Papieren wühlte. »Oder soll ich später wiederkommen?«

»Nein, komm ruhig rein.« Sven bot Anton freundlich einen Platz am Besuchertisch an.

»Ich freue mich über jede Ablenkung, denn ich muss gerade Statistiken überprüfen.« Sven verdrehte genervt die Augen. »Das ist meine absolute Lieblingsbeschäftigung! Kommt gleich nach der Steuererklärung!« Sven hatte Anton, wie allen anderen auch, beim Einzug in die Residenz das Du angeboten. Alle sollten sich bei ihm wie eine große Familie fühlen. In diesem Sinne wollte er seine Empfindungen darüber, wie sehr ihn die statistischen Erhebungen im Moment nervten, ganz offen mit Anton teilen. Während er die Unterlagen ein wenig beiseiteschob, lächelte er ihn herzlich an: »Was darf ich für dich tun?«

»Die Frage möchte ich dir stellen«, schmunzelte Anton und setzte sich. »Ich lese jeden Tag die Geschichten aus deinem Leben …« Er machte eine kurze Pause, zwinkerte Sven verschwörerisch zu, »darauf freue ich mich jeden Morgen. Ich stehe extra eine Stunde früher auf. Du hattest ein abenteuerliches Leben.«

»Dankeschön!« Sven grinste. So ähnlich hatte sich Marcella auch ausgedrückt, als er ihr versprechen musste, damit abzuschließen. »Du hast als Detektiv sicher auch aufregende Geschichten erlebt. Überlegst du, sie mir für den nächsten Fortsetzungsroman im Guten Morgen anzuvertrauen?«

Ein bewunderndes Lächeln huschte für einen Moment über Antons Gesicht. »Du bist schnell im Kombinieren! Das ist bemerkenswert«, lobte er ihn väterlich, dabei knetete er nachdenklich sein Ohr. »Du hast viel erlebt«, fuhr Anton fort. »Wahrscheinlich entwickelt man dabei ein Talent für Beobachtungen. Einen siebten Sinn sozusagen. Du wärst ein guter Detektiv geworden.«

Sven hatte den Eindruck, dass der Detektiv gar nicht mehr mit ihm, sondern mit sich selbst sprach. Antons Augen und Worte schienen sich an einen weit entfernten Ort zu richten, als er sagte: »Als Detektiv und als Escort muss man sich in andere Menschen hineinfühlen können.«

Für einen Moment schien es Sven, als wäre Anton in sein altes Leben zurückgekehrt, wenn auch nur gedanklich. Soweit er wusste, hatte der Detektiv zwei Frauen dort zurückgelassen. Erinnerungen, die ihn bestimmt schmerzten. Die eine große Liebe, die er zumindest viele Jahre dafür hielt, hatte er verlassen, genau wie diese andere, besondere Frau, in die er sich erst vor kurzem heftig verliebt hatte. Beides drückte Anton wohl auf sein Gemüt. Auch wenn er hierher geflüchtet war, um mit allem abzuschließen, reiste er mit Ballast, den er nicht so einfach über Bord werfen konnte. Das war wohl auch der wahre Grund dafür, weshalb er den Rentner nur selten über seine Vergangenheit sprechen hörte. Aber wie lange wollte der Mann seinen Kummer unterdrücken? Wie lange wollte er sich im Selbstmitleid mehr oder weniger wohlfühlen? Er war schließlich in anderen Belangen voller Tatendrang und noch so jung – gerade etwas über 70. Antons Geschichten würden ihn sehr interessieren, überlegte Sven weiter, während Anton schweigend und leicht bedrückt vor sich hinstarrte. Er war gewiss mit den unterschiedlichsten Menschen zusammengekommen, hatte dabei in Abgründe geschaut, die keiner freiwillig offenlegte. Er beschloss, Anton aus seiner Lethargie zu holen.

»Dann habe ich also richtig kombiniert?« Sven grinste, nachdem er Antons Blick wieder eingefangen hatte und dieser unbeschwerter wirkte. »Du wirst ein Kapitel von deinem Leben öffnen? Obwohl du bisher so gut wie nichts aus deiner Vergangenheit erzählt hast?«

»Das hat sich bis zu dir herumgesprochen?«, wunderte sich Anton und lächelte ein wenig.

»Natürlich.« Sven schmunzelte, als er sich daran erinnerte, wie gleich nach Antons Ankunft in der Residenz die ersten Damen zu ihm kamen und sich nach dem attraktiven Herrn erkundigten. Nur, um sich einige Zeit später bei ihm zu beschweren, Anton würde sich nicht in die Gemeinschaft einfügen. Er ginge ihnen aus dem Weg, weiche sämtlichen Fragen aus. »Du hast hier den Ruf des Geheimnisvollen. Sie werden sich auf deine Geschichten stürzen!«

»Meinst du wirklich?«, kam es ein wenig ungläubig, fast verlegen von Anton. Dennoch schien Anton das Interesse an seiner Person und an seiner Vergangenheit wohlwollend zur Kenntnis zu nehmen. »Und?«, fragte der Detektiv neugierig, »hast du den Damen etwas über mich erzählt?«

Sven lächelte ihn aufrichtig an: »Nein, es ist nicht meine Aufgabe, über meine Bewohner zu tratschen. Du solltest es ihnen selbst erzählen. Es hat mich nur gefreut, wie beliebt du bist, obwohl du dich bisher so rar gemacht hast«, tadelte er ihn ein wenig, während Anton schelmisch vor sich hinlächelte. Der Rentner schien aufzublühen, zumindest für den Moment. Allein der Gedanke, sich zu öffnen, tat Anton offensichtlich gut. »Was sollte ich auch über dich erzählen, ich weiß doch selbst nicht viel über dich, lieber Anton!«

»Musste es erst mal für mich selbst verarbeiten«, murmelte dieser vor sich hin, seine Stimme zitterte leicht, als er ergänzte: »Jetzt würde ich schon aus meinem Leben erzählen wollen, auch wenn …« Anton senkte den Blick und brach mitten im Satz ab.

»Auch wenn es wehtun wird?« Mitfühlend schaute Sven Anton an, der zögerlich nickte. »Es wird dir besser gehen, wenn du dir das alles von der Seele schreibst und«, er beugte sich zu Anton rüber, »du dann später darüber mit den anderen sprechen kannst. Keiner sollte seinen Kummer für sich allein behalten, daran kann man wirklich zugrunde gehen!«

»Das weiß ich.«

»Dann bekommen wir demnächst etwas von dir zu lesen?«, wollte Sven wissen. »Du vertraust uns deine Erlebnisse an?«

»Du bekommst von mir alles, was du für einen spannenden Fortsetzungsroman brauchst.« Anton nickte energisch und atmete zufrieden aus. Er würde sich seiner Vergangenheit stellen. Eine Last schien bei diesem Gedanken von ihm abzufallen. »Soll ich Stichworte formulieren oder wie möchtest du es gerne haben?«

»Du hast deine Geschichte schon Wort für Wort im Kopf, stimmt’s?«

Anton nickte und, als hätte man eine Schleuse geöffnet, fing er an zu erzählen: »Das also war mein letzter Fall. Die Geschichte handelt nicht nur von mir, sondern auch von Sara und Alexander, zwei sehr sympathischen jungen Leuten aus Radolfzell.« Antons Augen leuchteten auf, während er von den beiden sprach. »Sie waren damals noch Kinder, als sie die Opfer eines schrecklichen Verbrechens wurden. Das Perfide dabei ist, sie waren sich dessen jahrzehntelang überhaupt nicht bewusst. Als sie davon erfuhren, wie sehr sie hintergangen und betrogen worden waren, und sogar Beweise in den Händen hielten, um die Täter anzeigen zu können, waren sie bereits emotional stark mit ihnen verbunden.«

Sven hörte ihm mit wachsendem Interesse zu und stellte sich die Frage, was Sara und Alexander wohl angetan wurde. Waren die beiden ein Paar? Wer waren die Täter? Er stand auf und setzte sich zu Anton an den Besuchertisch.

»Und du hast dich bei diesen Ermittlungen verliebt, so wie du schaust?« Sven war neugierig und wollte den nun redseligen Mann weiter aus der Reserve locken. »Erzähle mir mehr, ich habe Zeit.«

»Du stellst diese Fragen zum falschen Zeitpunkt«, Anton rieb sich am Ohr. Sven hatte das schon häufiger beobachtet, es schien dem Mann beim Nachdenken zu helfen.

»Ich werde dir nach und nach die ganze Geschichte erzählen. Dann wirst du am Ende selbst beurteilen können, was Gerechtigkeit ist und ob ein Gerichtsbeschluss die Taten tatsächlich hätte sühnen können. Manchmal gibt es andere Wege zu strafen, manchmal ist Vergebung der richtige Weg.« Anton ging nicht auf Svens Frage ein, welche Rolle er selbst und seine Gefühle in der Geschichte gespielt hatten, er redete, jetzt, wo er sich dazu entschlossen hatte, einfach weiter: »Oder ob sogar Selbstjustiz die einzige richtige Lösung in so einem Fall sein kann, um die Rachebedürfnisse der Opfer zu stillen. Oder ob die begangenen Verbrechen den Tätern überhaupt vorzuwerfen sind? Also im moralischen Sinne …«

»Anton, du sprichst in Rätseln! War da doch kein Verbrechen? Und wer will Rache?« Sven konnte den verwirrenden Gedankengängen des Detektivs nicht folgen.

»Oh doch! Im juristischen Sinne war es sogar ein sehr hinterhältiges Verbrechen. Keine Frage!« Anton genoss Svens Neugier sichtlich. »Allerdings gibt es andere Sichtweisen. Es gibt Gesetze, es gibt den Verstand und es gibt das Herz. Mit jeder dieser Instanzen kannst du eine Sache unterschiedlich bewerten. Denke daran, die Täter und die Opfer sind am Ende emotional eng miteinander verbunden.«

»Keine Ahnung, worauf du hinaus möchtest, Anton. Erzähle mir doch bitte die ganze Geschichte!«

»Ein Unglück passiert. Eine einzelne Person scheint dafür verantwortlich zu sein. Mutmaßlich das erste Delikt, ein Versäumnis am Bau.« Anton schien sich mit allen Sinnen in die Vergangenheit zurückzuversetzen. Sven spürte, wie es den Rentner aufwühlte. »Aber dann geschieht ein weiteres Verbrechen, von einer zweiten Person begangen, welches aber vielleicht erst durch das erste Unglück ermöglicht wurde.« Anton skizzierte das Geschehen auf einem Blatt Papier, um seine Gedanken für Sven sichtbar zu machen. »Ich schreibe das mal der Reihe nach auf. Also hier, die Nachlässigkeit bezeichne ich als Delikt Nummer eins. Auch wenn es vielleicht keine Straftat war. Dann geschieht ein abscheuliches Verbrechen, von einer Person begangen, die sich das mögliche Delikt Nummer eins zunutze macht. Ich schreibe das hier drüber: Delikt Nummer zwei. Und die Namen Herbert und Doris Ganter sowie Salvatore Massino, der Dritte im Bunde.« Hinter Salvatore schrieb er: Delikt Nummer drei. »Der ist vielleicht ein Charakter, das kannst du dir im Traum nicht vorstellen. Anfangs vermutete ich, er sei ein Ableger der Bonanno-Familie aus Sizilien.« Anton ergänzte schnell, nachdem er Svens fragendes Gesicht sah: »Mafia, in den 70er-Jahren die erfolgreichsten Drogenverteiler weltweit, mit Sitz in Sizilien und New York. Du wirst später beim Lesen an mich denken«, machte er es spannend. Während Anton die Namen schrieb, legte sich seine Stirn in Falten. »Zurück zu meinem Auftrag. Jahrzehntelang passiert nichts«, erzählte er weiter. »Sara G.«, Anton verstand es, Sven mit seinen verdeckten Andeutungen in seinen Bann zu ziehen, »eines der unwissenden Opfer, versteht sich mit den Tätern zunächst ausgezeichnet. Deshalb male ich hier Herzen und eine lachende Sonne in Anführungszeichen auf. Denn es ist nur augenscheinlich alles in Ordnung. Alexander, das zweite Opfer, ist nicht ganz so ahnungslos, hat erst viele Jahre später Kontakt zu dem Täterkreis und zu Sara. Sie mögen, ja lieben sich sogar untereinander, nicht alle, aber es sind enge Verbindungen zwischen den Beteiligten entstanden.« Jetzt verband Anton einzelne Namen durch Linien miteinander, fügte den Namen Alexander Ruef hinzu. Er verband ihn zuerst mit Sara G. und anschließend mit allen anderen Personen. Am Ende folgte sein eigener Name, Anton Berger. »Alexander hatte mich beauftragt, ihn bei der Aufklärung des Verbrechens zu unterstützen«, erklärte er die Striche, die ihn selbst mit Alexander und anschließend mit allen anderen, in Verbindung brachten.

»Und dann?« Von den ganzen Andeutungen völlig gefesselt, starrte Sven auf die Zeichnung, obwohl er immer noch nichts damit anfangen konnte. »Hast du alles aufgeklärt?«

»Irgendwann kommt die Wahrheit immer ans Licht.« Anton machte eine Pause. »Aber genügt es, die Wahrheit zu kennen?«

»Ich verstehe«, versuchte Sven den Gedanken von Anton zu folgen, »Sara und Alexander, die Opfer, möchten Wiedergutmachung.«

»Eine Wiedergutmachung ist ausgeschlossen! Alexander hat das verstanden und wollte die Sache allein regeln.«

»Selbstjustiz? Wirklich? Hat er?« Sven steigerte sich immer mehr in Antons Erzählung hinein. Zumindest hatte er sich längst entschieden, die Geschichte im Guten Morgen zu erzählen. Ein atemberaubender Titel schwirrte ihm für diesen spannenden Fortsetzungskrimi bereits durch den Kopf.

Anton beantwortete die Frage erneut nicht, sondern deutete nur mit dem Finger auf die eingezeichneten Linien zwischen den Personen.

Sven nickte halb verstehend: »Die Opfer haben Skrupel, die Täter offiziell anzuzeigen? Weil sie mit ihnen emotional verbunden sind? Ist es das?«, schloss Sven sein Fazit und schaute Anton erwartungsvoll an.

Anton schrieb auf seinen Zettel das Wort »Unmenschlichkeit«. »Selbstjustiz oder Polizei? Was ist richtig? Bleiben wir mal bei der politisch korrekten Lösung, in der die Opfer zur Polizei gehen. Nehmen wir mal an, die Opfer könnten am Ende ein wenig verstehen, weshalb sich die Täter damals so verhalten haben. Juristisch gesehen wäre die Anzeige in Ordnung. Oder ist der Gang zur Polizei vielmehr auch eine unmenschliche Tat, auf andere Weise natürlich. Diesmal von den Opfern begangen? Würden sie sich damit sogar selbst am meisten schaden?« Anton machte um Unmenschlichkeit einen dicken Kringel. »Ist das nun richtig? Das ist hier eine der entscheidenden Fragen!«

»Dir geht es um Moral und Ethik?«

»Jetzt kommen wir der Sache schon näher«, bestätigte Anton. Er kam immer mehr in Fahrt. Genau darüber dachte er seit Monaten nach. Wie oft hatte er Sara und Alexander dazu bringen wollen, die passenden Antworten selbst zu finden. Was ist moralisch und ethisch das Richtige? Je mehr er den Tätern zuhörte, desto mehr verstand er deren Motivation.

»Sven«, sagte er eindrücklich und schaute ihm dabei tief in die Augen, »das ist die einzige Frage: Wie verhalte ich mich, damit ich mich noch im Spiegel anschauen kann?«

Sven rutschte auf seinem Stuhl nach vorne, er hatte seine Statistiken komplett vergessen. »Was ist die richtige Antwort?«

»Ich werde dir doch nicht das Ende der Geschichte erzählen«, grinste Anton schalkhaft. »Du sollst beim Schreiben auch deinen Spaß haben und dir vor allem diese Frage stellen: Wie würdest du dich an Stelle der Opfer und Täter verhalten? Und glaube mir, deine Meinung wird sich ändern, je mehr du erfahren wirst.«

»Verstanden«, nickte Sven, »aber kannst du mir zumindest verraten, wie du dich in dieser Sache verhalten hast?«

»Meine Meinung ist völlig unerheblich. Jeder muss für sich entscheiden. Aber ich sage dir, wie die Geschichte heißen sollte«, wich Anton der Frage geschickt aus.

»Mensch, Anton …« Sven rutschte ungeduldig auf seinem Stuhl hin und her. »Das ist schon wieder keine Antwort auf meine Frage.«

»Genau!« Anton grinste breit. »Finde selbst heraus, wie sich die Beteiligten schlussendlich entschieden haben. Ich werde jeden Tag ein Häppchen der Geschichte schreiben, und du machst daraus einen spannenden Fortsetzungsroman.« Er stand auf und zwinkerte Sven verschwörerisch zu: »Das bekommst du hin, oder?«

Kapitel 2

Vor drei Jahren hatten Marcella und Sven auf dem ehemaligen Firmengelände der Schwiegermutter, Emilia De Luca, die Parkresidenz Marven aufgebaut. Emilia hatte es sich nicht nehmen lassen, sich um die Grünanlagen zu kümmern. Gemeinsam mit fünf fest angestellten Gärtnern hegte sie ihre Rosenbeete und wachte aufmerksam über alles, was im Park wuchs. Marcella hatte die ärztliche Leitung der Residenz Marven übernommen. Gemeinsam mit anderen Ärzten umsorgte sie die Bewohner. Damit es sich besser rechnete, war zusätzlich eine Hausarztpraxis für die Einwohner des Stuttgarter Stadtteils Weilimdorf eingerichtet worden. Sven kümmerte sich, wie früher bereits in der Escort-Agentur EASE, um die kaufmännischen Angelegenheiten der Marven GmbH. Insgesamt hatte er komfortabel kalkuliert, konnte daher genügend Fachleute mit den Details beauftragen und sich selbst genügend Freiraum für seine Gäste und seine Familie schaffen. Neben der Wohnanlage für Senioren hatten sie Marcellas ehemaliges Elternhaus ausbauen und renovieren lassen. Jetzt hatte Emilia eine kleine Einliegerwohnung mit Blick auf den Park, und im Haupthaus wohnten Marcella, Sven und die beiden Kinder.

Sven kannte Emilia schon länger als Marcella, die er dann, eher zufällig in Lugano kennengelernt hatte. Sie verliebten sich Hals über Kopf und heirateten ein halbes Jahr später. Schnell kam Mia auf die Welt, in die er sich genauso verliebte wie zwei Jahre später in seinen Sohn Linus. Mia war Marcella wie aus dem Gesicht geschnitten, und Linus kam ganz nach seinem Vater. Sie waren alle rundherum glücklich, und wäre da nicht die Pandemie, hätte es in ihrem Leben nicht besser laufen können. Marcella und Sven hatten immer von einer Familie geträumt, ihr Traum war wahr geworden.

»Daran können wir wohl nichts ändern«, seufzte Marcella, nachdem Sven ihr gerade von weiteren Einschränkungen für die Bewohner berichtet hatte. »Das wird hoffentlich bald anders werden.«

»Wir werden es unseren Gästen weiterhin so leicht wie möglich machen«, murmelte Sven abwesend. Er saß auf dem Sofa, streichelte Marcella, die sich gemütlich auf ihm ausgestreckt hatte, gedankenverloren über die Haare. Er hatte gerade in seinem Büro die aktuelle Ausgabe seiner Zeitung um die Informationen zur Pandemie ergänzt und den neuen Teil des Fortsetzungsromans kurz überflogen. Zum ersten Mal tauchte seine rassige Marcella in der Geschichte auf. Seine große Liebe. Er erinnerte sich an jeden Moment, und sein Herz pochte schneller, während er an die erste Begegnung dachte, die nun Thema im Guten Morgen sein würde.

»Via Riviera, hier lag nun das Prachtstück, es war eine Rarität, nicht nur die Lage, auch die Villa war außergewöhnlich schön. Vorne der Luganer See, dahinter die Parkanlage, der Parco San Michele. Das Anwesen nicht zu groß, jedoch einzigartig schön mit seinen Säulen aus Sandstein und der schmalen Allee, die direkt zum Eingangsbereich führte. Wie ein gemalter Traum. Sven erkannte sofort, dass es das Haus von Emilia De Luca sein musste, dieses und kein anderes. Es lag genauso versteckt, wie Sven sich das vorgestellt hatte. Genauso versteckt wie Emilia De Luca, die sich auch meisterlich bedeckt hielt und damit eine besondere Aura um sich herum erschaffen hatte.

Marcella, die Tochter, stand am Eingang von diesem geheimnisvollen, magischen Ort. Eine rassige junge Frau, ihre Haare wehten im Wind. Sie war leicht gebräunt und sommerlich gekleidet, eine verspielte Bluse mit Rüschen, ein langer, luftiger Rock, zeitlose geschnürte Sandaletten, die ihre langen Beine noch mehr betonten. Sie war, mit einem Satz, eine umwerfende Erscheinung. Sven musste sich ernsthaft darauf konzentrieren, die breite Limousine in die schmale Einfahrt zu zirkeln.«1

Während Sven diese zauberhafte erste Begegnung Revue passieren ließ, küsste er seine hinreißende Marcella, deren Liebe er auch nach so langer Zeit nicht als selbstverständlich erachtete. Andere hatten nicht so viel Glück, das war ihm klar, und dann fiel ihm Anton ein, der scheinbar vor der Liebe geflüchtet war. »Habe ich dir von Anton erzählt? Er war gestern in meinem Büro.«

»Anton, der Geheimnisvolle?«, lachte sie, ihre Augen blitzten ihn erwartungsvoll an. »Cucciolone! Ich kenne diesen Blick! Was habt ihr für einen Plan ausgeheckt?«

»Genau dieser Anton«, grinste er, schon voller Vorfreude. »Vor dir kann man aber auch nichts verheimlichen!«, neckte er zurück und lächelte sie verliebt an.

»Gut so! Was ist nun dein neuer Plan? Welche Rolle spielt Anton dabei?«

»Er möchte mir von seinem allerletzten Fall erzählen. Ich glaube, da geht es um seine letzte große Liebe, und, stell dir vor, ich darf seine Geschichte im Guten Morgen veröffentlichen.«

»Das klingt ja spannend!« Ihre Augen strahlten. »Er taut langsam auf, er vertraut dir. Und weißt du, was mich noch mehr freut?«

»Verrate es mir!«

»Cuore mio, deine Augen leuchten. Immer wenn du eine gute Idee hast, dann bekommen sie so einen Glanz.« Sie küsste ihn mit ihren unwiderstehlich weichen Lippen. »Und das hier«, stöhnte sie theatralisch auf, »wie sehr ich das liebe. Oh, wie habe ich deine Küsse vermisst! Du warst viereinhalb Stunden weg.«

Da war sie wieder, die umwerfend süße Marcella, die Sven mehr als sein eigenes Leben liebte. Sven erwiderte ihre Küsse voller Leidenschaft.

»Was glaubst du, wie schnell ich deshalb zurückgefahren bin? Der neue Wagen ist die Wucht! Nachdem er durchgecheckt wurde, habe ich alle abgehängt!« Mit dramatischen Gesten unterstrich er seine stürmischen Gefühle. »Ich musste einfach der Schnellste sein, und es war auch nur eine hellrote Ampel dabei!«

»Tigrotto, du bist zu schnell gefahren!«, schimpfte sie. »Wie oft habe ich dir gesagt …«

»Nur weil ich deine Küsse so vermisst habe«, entschuldigte Sven seine Angeberei mit einem Augenaufschlag. »Ich wollte schnell zu dir, zu meinem süßesten Lieblingsschatz – meinem einzigen Lieblingsschatz!«, setzte er schnell nach und grinste sie mit schiefem Kopf an. »Wie hätte ich da langsam fahren sollen? Marcella, Liebling, sag es mir, wie?«

Sie zögerte kurz mit der Antwort, schaute ihn gespielt skeptisch an: »Wegen meiner Küsse? Deswegen bist du so herumgerast?«

»Nur deswegen!« Er zog die Schultern hoch, als hätte er sein einziges Ass ausgespielt, und hoffte dabei, nicht baden zu gehen. Marcella zeigte ihm ihren schmachtenden Blick, den sie so gut beherrschte. Und mit dem sie ihn jedes Mal aufs Neue verzauberte, wenn er dann mal zu Hause war.

»Wollen wir draußen einen Wein trinken?« Sven genoss jede Sekunde mit ihr. Sie hatte so viel Temperament und wickelte ihn mit ihren Liebesbekundungen genauso spielerisch wie am ersten Tag um ihre schlanken Finger. Er liebte sie wie damals. Nein, noch viel mehr. Vor allem aber liebte er ihre ehrliche und innige Liebe, die er bis in die Tiefen seines Herzens fühlen konnte.

Marcella nickte ihm zu: »Nimmst du die Kissen? Ich bringe uns Gläser und den Wein.« Sie brachte nur ein Glas, wie bei ihrem Treffen in Lugano, im Ferienhaus der De Lucas, als sie beide beim ersten Mal aus einem Glas tranken. Er erinnerte sich sehr genau daran, wie er damals auf dem Balkon saß und hoffte, Marcella würde seiner nur angedeuteten Einladung folgen, ihn auf einen Schluck Wein zu besuchen. Er konnte für einen Moment die Enttäuschung fühlen, als er sie stattdessen ins Bad gehen hörte. Und dann kam sie doch noch. In ihrem bezaubernden Pyjama. An jedes überraschende Detail erinnerte er sich. Sogar an das Lied im Radio.

»Woran denkst du gerade?«, wollte Marcella wissen, während sie Sven, genau wie damals, die Weinflasche und den Öffner aus Messing in die Hand drückte.

»Genau daran!« Sven küsste sie verliebt. »Daran, wie du mich in Lugano gefragt hast, ob ich einen Schlummertrunk mit dir trinken möchte, und du mir dein Glas angeboten hast.«

»Ich habe mich in deiner Nähe sofort wohlgefühlt«, sagte sie, und ihre Stimme hatte wieder diese unglaubliche Wärme, die ihm schon am ersten Abend das Herz geöffnet hatte. »Ich wollte dir vom ersten Moment an meine Zuneigung zeigen«, erinnerte sie sich ebenfalls an den romantischen Abend, »damit du mich nicht so schnell vergessen würdest.«

»Hab keine Sekunde mit dir vergessen!« Er zog sie zu sich heran. »Ich genieße dich heute jedoch viel mehr.«

»Echt?«, kam es neckisch zurück. »Hast du mich damals nicht genießen können, cuore mio?«

»Oh doch!« Zärtlich streichelte er seine Marcella. »Sehr sogar, dennoch wird es jeden Tag schöner mit uns beiden.«

»Das stimmt.« Zufrieden räkelte sie sich in seinen Armen und kuschelte sich so innig an ihn, dass kein einziger Gedanke, der nichts mit ihnen beiden zu tun hatte, zwischen sie gepasst hätte. Er genoss ihre Berührungen, ihren vertrauten Duft – einfach den magischen Moment. Und wieder, wie damals, schlief Marcella nach kurzer Zeit in seinen Armen ein. Sanft streichelte er ihr übers Haar, nahm einen Schluck Wein und war einfach nur glücklich.

1 Quelle: Bleibst du für immer? Gmeiner-Verlag

Kapitel 3

Marcella, die gerade einen kleinen Zettel, garniert mit einem Herzchen, in das Badezimmer gelegt hatte, ging früh aus dem Haus. Sie würde später in der Praxis frühstücken. Sie übernahm wie immer die Frühschicht in der Residenz, während Sven sich morgens um die Kinder kümmerte. In der Gemeinschaftspraxis, die tagsüber auch für externe Patienten geöffnet war, traf sie sich zur Übergabe mit der Nachtschicht. Sie war die Einzige, die sich selbst regelmäßig für die Frühschicht einteilte. So hatte sie am Nachmittag genug Zeit für die Kinder, für ihre Mama und für Sven, wenn er am Abend nach Hause kam.

»Es war eine ruhige Nacht. Hier ist der Plan für heute.« Das waren gute Nachrichten von der Nachtschicht. Marcella schaute auf die Unterlagen, fragte an der einen und anderen Stelle genauer nach. Sie liebte ihre Berufung. Einige der Patienten betreute sie schon drei Jahre und hatte ein gutes Vertrauensverhältnis zu ihnen aufgebaut. Das war ihr das Wichtigste, sie wollte den Menschen helfen. Damit sie das auch wirklich konnte, mussten sich ihre Patienten vorbehaltlos öffnen. Und das war ihre besondere Gabe, mit ihrer herzlichen Art knackte sie so manch harte Schale.

Sven ging erst nach dem gemeinsamen Mittagessen mit Marcella in sein Büro. Den Vormittag überließ er seinen Mitarbeitern. Er hatte sich soeben fertig geduscht, seine Haare tropften noch, da entdeckte er den Zettel mit dem Herzchen. ›Cucciolone, bin ich gestern wieder draußen eingeschlafen? Schön, wie dolcemente du mich in unser Bett getragen hast – ti amo amore mio! Micetta Marcella.‹Was für ein schöner Morgen, dachte Sven vergnügt, trocknete sich schnell ab und zog sich an. Er liebte seine verschmuste Miezekatze, genauso wie seine verschlafenen Kinder, die er heute kaum zum Aufstehen bewegen konnte. Vor allem Mia ließ sich nicht dazu überreden, sich vor dem Frühstück die Zähne zu putzen. Sven ließ fünfe gerade sein. Wie es schien, hatte seine Tochter gestern noch lange auf ihn gewartet und war daher viel zu spät ins Bett gekommen. Von unten duftete es inzwischen nach frischem Kaffee und Ovomaltine. Dana Veselá, die tschechische Haushaltshilfe aus Prag, war bereits da. Seit zwei Jahren unterstützte sie, immer gut gelaunt, die Familie im Haushalt. Die blonde 35-Jährige war eine Bereicherung. Sie passte perfekt in die Familie, bis auf Mia waren alle von ihr angetan. Besonders mochte Dana Sven, er gab ihr das Gefühl, ein echtes Familienmitglied zu sein. Gerade deckte sie wieder fröhlich den Frühstückstisch für Emilia, Sven und die Kinder und sang dabei leise vor sich hin.

»Guten Morgen, Dana!«, begrüßte Sven sie gut gelaunt, als er in die Küche kam. Auf dem einen Arm den verschlafenen Linus, auf dem anderen Mia, die wie immer keine Lust hatte, Dana zu begrüßen. Ihr waren in der großen Essküche viel zu viele Leute. Sie wollte ihren Papi morgens für sich allein haben. Sie spielte verlegen mit ihren Locken und schaute ihn, den Mund zu einer Schnute gezogen, vorwurfsvoll an. Die Wochenenden waren ihr lieber. Da deckte sie mit ihm allein den Frühstückstisch, nachdem sie gemeinsam zum Bäcker gefahren waren, um frische Brötchen und die guten Laugenbrezeln zu kaufen. Auf dem Heimweg naschte sie als Erstes ein Stückchen von den ofenwarmen Brezeln. So liebte sie den Morgen, aber nicht mit Müsli, Vollkornbrot und einer singenden Dana.

»Wollen wir später die Rutsche fertig bauen«, fragte Sven, um ihre vorgeschobene Unterlippe in ein Lächeln umzukehren, »oder lieber im Sandkasten spielen?«

»Rutsche«, kam es wortkarg von der Fünfjährigen. Seit drei Wochen hatte der Kindergarten geschlossen, und vormittags war Sven bei jedem Wetter mit den beiden draußen. Sie beobachteten zusammen die Enten, Bachstelzen und andere Tiere, die sich an dem künstlich angelegten Bachlauf vergnügten. Sven hatte den Bach teilweise zwei, drei Meter breit anlegen lassen. Im nahen Wäldchen speisten zwei starke Pumpen den Bach, der mit einem tosenden Wasserfall in einen Teich mündete. Die Anlage war ein echter Hingucker. Mia konnte zwar schwimmen, doch war ihr das Wasser zu kalt. Dennoch hielt sie sich gerne am Wasser auf. Wenn sie nicht dort spielte, dann baute sie mit Sven an ihrem Abenteuerspielplatz weiter. Den Sandkasten und die Schaukel hatten sie gleich am Anfang aufgebaut. Jetzt kam ein Häuschen dazu und, ganz wichtig, eine Rutsche.

»Guten Morgen zusammen, habt ihr alle gut geschlafen?« Emilia war dazugekommen, begrüßte der Reihe nach Sven und Dana, nahm dann Linus auf den Arm und knuddelte ihn. Mia hatte immer noch keine Lust auf eine Begrüßung, auch nicht, als ihre Oma sie ansprach: »Und meine Süße? Wollen wir heute in den Rosenrabatten nachschauen, welche Blüten über Nacht aufgegangen sind?« Mia zog ihre gut einstudierte Schnute, währenddessen sie sich demonstrativ wegdrehte. Im Moment wollte sie nur ihren Papi sehen und hören. Außerdem hatte sie bereits einen guten Plan für heute.

»Wir tauschen nachher die Rutsche aus«, sagte Sven entschuldigend. »Magst du mitkommen und ein wenig nach den Kindern schauen, während ich sie anbaue?«

»Was meinst du, mein Linus, wollen wir mitgehen?«, dabei nickte sie Sven dankbar zu. »Sehr gerne!« Und versank für einen Moment in ihren Gedanken.

Emilia hatte nicht mehr daran geglaubt, wieder in dem alten Haus zu wohnen. Nachdem ihr Mann gestorben war, musste sie die Spedition verkaufen. Und hätte das eigene Haus auf dem Firmengelände fast aufgegeben. Sven hatte damals für das große Gelände die rettende Idee. Aus dem verfallenen Hotelgebäude, welches die letzten Jahre leer stand, war die Gemeinschaftspraxis für sechs Hausärzte geworden: In der oberen Etage zwölf Dienstwohnungen für Angestellte, die fest vermietet waren. Zusätzlich drei Ärztezimmer, die wie kleine Hotelzimmer eingerichtet waren. Sogar mit einer kleinen Küchennische, damit man sich eine Kleinigkeit zum Essen machen konnte. Diese Zimmer wurden im Bereitschaftsdienst oder übergangsweise auch im Notfall genutzt, wenn neue Mitarbeiter nicht gleich eine Bleibe fanden. In einem der Apartments in der oberen Etage wohnte Dana. Darauf hatte Sven bestanden, sie sollte nicht irgendwo in der Stadt wohnen, sondern in unmittelbarer Nähe zur Familie de Luca. Die alte Lagerhalle, die niemand mehr brauchen konnte, war dem Wohnkomplex gewichen, in dem 15 größere Wohnungen, über 30 kleine Apartments und die Gemeinschafts- und Wirtschaftsräume von Marven entstanden waren. Ihrem Schwiegersohn Sven war sie für all das sehr dankbar. Sie kannte ihn schon lange und hatte ihn, eher unbeabsichtigt, mit ihrer Tochter zusammengeführt. Damals hatte sie kein so gutes Gefühl dabei, wie schnell sich Marcella, so Hals über Kopf, in einen Fremden mit dem ungewöhnlichen Beruf verliebt hatte. Damals bereute sie das Zusammentreffen der beiden. Ihr Bruder Guiseppe hingegen war sofort begeistert von Sven und beruhigte sie. Und nun, was wollte sie mehr. Guiseppe hatte am Ende recht behalten. Alles war gut geworden. Emilia konnte ihre Enkel aufwachsen sehen, Sven war wie ein eigener Sohn für sie und ihre Tochter seither noch glücklicher. Emilia lächelte zufrieden und schaute zu Sven, der ebenfalls glücklich schien.

»Wenn die Rutsche fertig ist und wir sie ausprobiert haben, dann gehen wir mit Oma zu den Rosen«, sagte Sven zu Mia, die ihre Händchen eng um seinen Hals geschlungen hatte. »Oder was meinst du?«

»Hmm!«, antwortete seine Tochter monoton, was so viel wie Ja bedeuten sollte.

Sven grinste Emilia an: »War Marcella früher auch so?«

»Nein«, antwortete sie, »sie war schon immer so ein Sonnenschein, genau wie du einer bist!« Dabei schaute sie verlegen auf den Boden. »Die Schüchternheit hat Mia wohl von mir«, entschuldigte sie Mia und sich selbst.

Sein Grinsen wurde breiter, er mochte die Anhänglichkeit seiner Tochter. »Kinder werden so schnell groß.« Ein leichtes Bedauern schwang in seiner Stimme mit. »Ich genieße das, solange es hält.«

»Keine Sorge«, lachte Emilia, »das kannst du noch lange genießen. Mia wird dich immer ganz besonders lieben! Sie ist und bleibt ein Papa-Kind.«

»Apropos Liebe«, brachte Sven das Thema auf sein neuestes Projekt, »du kennst Anton?«

»Den Geheimnisvollen?«

»Ja«, lachte er, »bald vergesse ich noch seinen richtigen Namen.«

»Klar kenne ich ihn und habe den Eindruck, ihn bedrückt etwas.«

»Nicht mehr lange«, strahlte Sven und konnte seine Freude nicht verbergen, »demnächst beginnt ein neuer Fortsetzungsroman im Guten Morgen. Von Anton und seiner großen Liebe.«

»Anton schreibt?«

»Ja, er schreibt mir jeden Tag ein paar Zeilen auf. Er meinte, es wird spannend für uns.«

»Worum geht es genau?«

»Um seinen letzten Fall. Der fing mit einem Verbrechen an, soll aber auch von einer reiferen und einer ganz jungen Liebe erzählen.« Sven zuckte mit den Schultern. »So ganz hat er es mir nicht verraten. Aber es handelt sich tatsächlich um eine wahre Geschichte.«

»Hast du schon eine Überschrift für die Zeitung?«

»Ja, Anton und ich dachten an: Verzeihst du mir?«

Kapitel 4

Brienz, 1985

Aus schwarzgrauen Regenwolken fielen schwere Tropfen auf den durchweichten Boden. Schon seit drei Tagen konnte man die Sonne nicht mehr sehen. Sintflutartig stürzten die immer mächtiger werdenden Gebirgsbäche zu Tal. Die Bergbewohner schauten mit bangen Blicken zum Himmel und beteten darum, dass die Schlechtwetterfront bald abziehen möge. Die Gebete schienen jedoch nichts zu bewirken. Es war ein früher Sonntagnachmittag am 27. Oktober 1985. Die ersten Häuser waren schon beschädigt. Auch das frisch renovierte Holzhaus von Herbert und Doris Ganter, das in 1.000 Metern Höhe auf dem Brienzergrat in den Emmentaler Alpen lag, war den Naturgewalten völlig ausgeliefert. Gerade hier oben rüttelten die Orkanböen besonders stark am Gebälk, drückten das Wasser durch jede noch so winzige Ritze ins Haus. Doris hatte vor zwei Jahren das halb verfallene Häuschen im Berner Oberland von einem entfernten Onkel geerbt und gemeinsam mit Herbert, der sich gerade in Konstanz mit einem Baugeschäft selbstständig gemacht hatte, in mühevoller Kleinarbeit renoviert. Offensichtlich war Doris die einzige noch lebende Verwandte des Erbonkels gewesen. Sie hatte ihn nur dem Namen nach gekannt, war auch nie zuvor in dem Haus im Berner Oberland gewesen. Doris und Herbert waren jedoch voller Freude über das unerwartete Geschenk, verbrachten jede freie Minute damit, das Holzhaus schön herzurichten.

Dabei hatten die Einheimischen ihnen eindringlich davon abgeraten. Sie sagten ihnen, der Baugrund sei nicht sicher, der Berg würde seit Jahren rutschen, irgendwann das ganze Haus unter sich begraben. Herbert, der sich von solchen Ammenmärchen nicht einschüchtern lassen wollte, lachte sie aus und renovierte fleißig weiter. Seine Frau Doris hingegen fühlte sich ab diesem Moment nicht mehr so wohl in ihrem kleinen Häuschen. Sie sorgte sich nun ständig darum, dass die Prophezeiung sich irgendwann bewahrheiten würde. Herbert kannte seine Frau nur zu gut und wusste, wie er sie ablenken konnte. In den schönsten Farben schilderte er, wie sie hier oben auf 1.000 Höhenmetern, mit Blick auf den Brienzer See, viele traumhafte Wochenenden verbringen würden. »Das Haus steht schon 300 Jahre, was soll denn ausgerechnet jetzt damit passieren. Einfach lächerlich«, sagte er. Zudem war Brienz gerade mal zwei Autostunden von Konstanz entfernt, nur ein Katzensprung. Einfach ideal für ein Wochenendhaus. Vermutlich wollten die Einheimischen sie nur vertreiben und damit günstig an das wertvolle Grundstück kommen, wie dieser Salvatore, Besitzer des kleinen Landmarkts, unten im Dorf. Der hatte Herbert schon gleich nach dem ersten Kennenlernen ein sehr attraktives Kaufangebot unterbreitet.

*

Stuttgart, 2022

Damit begann Sven mit dem Fortsetzungsroman von Anton. Sie hatten sich auf den Titel Verzeihst du mir? geeinigt, auch wenn Sven nicht sicher war, ob es die richtige Überschrift war. Er vertraute Anton jedoch. Freute sich schon auf den neuen Tag, an dem Anton ihm die Infos für den nächsten Teil geben würde. Jeden Tag wollte Anton ihm ein paar Zeilen schicken. Das Smartphone von Sven summte, die Fortsetzung von Anton war angekommen. Er musste die Notizen des Detektives nur noch in Form bringen. Gespannt ließ Sven alles andere liegen, öffnete die Nachricht. Jetzt konnte er nachempfinden, wie es für die Bewohner war; ein wenig wie die Zeit vor Weihnachten, wenn man jeden Tag ein Türchen am Adventskalender öffnen durfte. Nur diesmal war keine Schokolade hinter dem Türchen, sondern eine Liebesgeschichte, die zunächst düster begann, aber Anton hatte ihn vorgewarnt.

*

Brienz, 1985

»Siehst du«, sagte Herbert zu seiner Frau, »sie warnen uns, das Haus zu renovieren, aber gleichzeitig würden sie uns einen dermaßen überhöhten Preis dafür bezahlen. Wir haben ein Filetstück bekommen – die sind einfach nur neidisch!« Doris ließ sich von ihrem Mann für eine lange Zeit beruhigen, denn sie vertraute und liebte ihn. Im Moment jedoch war sie mutlos. Mit jedem schweren Donnerschlag, der in den Bergen besonders bedrohlich klang, ängstigte sie sich mehr und erinnerte Herbert, mit Schuldzuweisungen garniert, an die Vorhersage der alten Männer aus dem Dorf. Sie fühlte sich von Herbert im Stich gelassen, dem nichts Besseres einfiel, als die Sache herunterzuspielen. Fakt war, das ließ sich nicht wegdiskutieren, sie waren den Naturgewalten schutzlos ausgeliefert. Wieder schlug irgendwo hohl und dumpf der Blitz ein. Erschrocken wich Doris einen Schritt zurück, während sie durch das Küchenfenster sorgenvoll die im Wind gebeugten Bäume anschaute:

»Hätten wir damals nur das Angebot von dem Landmarktbesitzer angenommen. Ich habe kein gutes Gefühl. Was ist, wenn die Alten recht behalten? Wenn der Berg ins Rutschen kommt?«

»Das wird er nicht«, beruhigte Herbert sie und tätschelte abwesend ihren Arm. »Das Haus steht schon seit so langer Zeit. Es ist nicht das erste Gewitter, welches es heil überstehen wird.« Tröstend legte er seinen Arm um Doris. »Wir sind hier sicher! Unwetter hören sich in den Bergen einfach so an.« So gleichgültig wie möglich schaute er ebenfalls aus dem Fenster hinaus. Insgeheim sorgte er sich allerdings sehr, vor allem um das Nachbarhaus.

»Wird das Haus von Vreni und Urs dem Sturm ebenfalls standhalten?«, fragte Doris ängstlich, die seinen Blick bemerkt hatte und sich daran erinnerte, wie ihr Mann vor einem Jahr bei den Umbauarbeiten am Nachbarhaus geholfen hatte. Urs Ruef, ihr Nachbar, wollte damals im Erdgeschoss eine Wand entfernt haben und bat Herbert um fachlichen Rat. Obwohl Herbert ihm geraten hatte, die darüberliegende Balkenlage zu verstärken, lehnte der sorglose Urs dankend ab. Die Mehrkosten waren ihm zu hoch. »Auf deine Verantwortung!«, sagte Herbert damals, was er inzwischen sehr bereute.

»Natürlich wird es das«, antwortete Herbert kurz angebunden auf die Frage seiner Frau und ging nach draußen. Der Sturm legte eine kurze Pause ein, er musste dringend den Schaden am Dach reparieren, bevor es reinregnete. Das Thema Nachbarhaus war ihm mehr als unangenehm. Natürlich machte er sich deshalb Sorgen, vor allem Vorwürfe. Er hätte sich als Fachmann niemals von Urs überzeugen lassen dürfen. Ob Freundschaftsdienst oder nicht, er war schließlich der Fachmann. Leider konnte er nicht einfach in das Haus der Nachbarn eindringen und nachschauen oder auf die Schnelle die Stützbalken verstärken, denn Urs und Vreni waren mal wieder auf unbestimmte Zeit verreist und hatten alles fest verschlossen. Zudem hätte er kein Material gehabt. Die paar Latten, die übrig waren, reichten gerade mal für ein paar Flickarbeiten. Vreni und Urs waren die einzigen Nachbarn hier oben, alle anderen Häuser waren einige 100 Meter tiefer im Tal gebaut worden. Das Ehepaar war im selben Alter wie Doris und Herbert. Urs wohnte zuerst mit seinem Vater, seit ein paar Jahren nur noch mit seiner Frau Vreni in dem Haus. Während Herbert darüber nachsann, wie er seiner Verantwortung für das Nachbarhaus nachkommen könnte, riss ihn eine Stimme aus seinen Gedanken.

»Herbert!«, rief Urs von weitem. »Ist dein Dach undicht geworden?«

»Urs?« Überrascht schaute Herbert von seiner Arbeit auf. »Was machst du denn hier?«

»Vreni und ich waren gerade in Norditalien, als wir hörten, dass seit Tagen in der Zentralschweiz die Welt untergeht. Wir sind schnell hergefahren, um nachzusehen, ob alles steht.«

»Noch steht alles!« Herbert kletterte die Leiter hinab und zeigte mit sorgenvoller Miene zum Berg. »Hier oben rutschen jedoch die ersten Bäume ab und auf der Westseite, schau«, sagte er und zeigte Urs die losen Latten, »ist mein Dach vom Sturm ziemlich beschädigt worden.«

»Ich helfe dir gleich, ich ziehe mir nur schnell meine Arbeitssachen an.«

»Danke«, antwortete Herbert, erleichtert darüber, auch im Nachbarhaus nach dem Rechten schauen zu können. »Danach gehen wir gleich zu dir rüber und schauen, ob bei dir alles an seinem Platz ist.«

»Mach dir doch nicht diese unnötigen Sorgen!«, antwortete Urs unbekümmert wie immer. »Wenn der Sturm das Häuschen bis jetzt nicht weggefegt hat, dann wird das auch in den nächsten 100 Jahren nicht passieren.«

Kapitel 5

Urs war 32 Jahre alt, arbeitete als freier Journalist für verschiedene Schweizer Ferienmagazine und war seit dem Tod seines Vaters mit seiner 27-jährigen Frau fast das ganze Jahr unterwegs. Meistens mit dem eigenen Wohnwagen. Ihren offiziellen Wohnsitz hatten sie hier in den Bergen. Das hatte den Vorteil, dass sie Schweizer Pässe besaßen, damit ohne Visa in viele Länder der Erde reisen konnten. Ihren Zweitwohnsitz, an dem sie sich inoffiziell viel häufiger aufhielten, war ein kleines Ferienhaus an der griechischen Westküste. Bei schönem Wetter konnte man bis zur Insel Korfu hinübersehen. Hin und wieder waren sie für ein paar Tage in Brienz. Meistens dann, wenn sie ihren elfjährigen Sohn Alexander, den sie vor fünf Jahren adoptiert hatten, aus dem deutschen Internat am Bodensee abholten oder ihn zurückbrachten. Alex, wie sie ihn nannten, lebte seit einem Jahr in diesem Internat und war nur in den Ferien bei seinen Eltern. Bis auf die Postkarten, die er aus den verschiedenen Ländern bekam, hatte er während der Schulzeit kaum Kontakt zu ihnen. Doris, die zwei Jahre älter als Vreni war, regte sich schrecklich darüber auf.

»Wie kann man nur ein Kind adoptieren und es dann in ein Internat abschieben?«, beschwerte sie sich immer öfter bei Herbert. Sie war sowieso eifersüchtig auf das sorglose Leben von Vreni. Insgeheim wünschte sie sich auch, die Welt zu entdecken und Kinder zu haben. Doch niemals hätte sie ihr Kind in ein Internat gegeben. Dafür war sie eine viel zu große Glucke. Und genau deshalb hatte sie kein bisschen Verständnis für andere Mütter, die ihre Kinder nicht nach ihren Wertvorstellungen bemutterten. Doris hätte Vreni liebend gerne mal ihre Meinung ins Gesicht geschleudert, aber Herbert konnte sie bisher davon abhalten. Er wollte nicht, dass sie sich einmischten, er liebte die Harmonie. Sie hatten keine Kinder, was wussten er und Doris also schon groß über das Elternsein?

»Vreni ist eine verantwortungslose, selbstsüchtige Frau, man hätte ihr die Adoption niemals erlauben dürfen!«, keifte Doris ihn dann an. Bis vor einem Jahr hatten die Nachbarn den kleinen Alexander bei sich gehabt, zuerst in Brienz, später mit auf ihre Reisen genommen und selbst unterrichtet.

»Halte bitte mal die Leiter«, sagte Herbert erleichtert, als Urs wiederkam. »Mich fegt der Sturm fast um.« Der Wind war zurückgekommen, die Pause vorbei. Sie mussten sich beeilen. Herbert versuchte gerade, eine Plane am Dach zu befestigen, damit kein Wasser in das Haus eindringen konnte. Heftige Böen rissen sie jedoch ständig wieder ab. Mit Urs’ Hilfe nagelte er sie notdürftig mit Latten über den beschädigten Dachflächen an. Auch die Fensterläden hatte er vorsichtshalber zugenagelt, denn der Sturm nahm an Fahrt auf. Urs half, wo er konnte, manchmal hielt er nur die Leiter, damit Herbert einen festen Stand hatte, oder reichte ihm von unten die Nägel an. Der Sturm wurde heftiger, lange würde man draußen nicht mehr arbeiten können. Nachdem sie bei Herbert fertig waren, begutachteten sie das Haus von Urs. Herbert betrachtete sorgenvoll die inneren Sichtbalken und schüttelte bedenklich den Kopf. »Auch wenn das jetzt noch hält«, sagte er, »wir müssen mal dran, ob du nun willst oder nicht. Am liebsten würde ich dir provisorisch einen zusätzlichen Träger einziehen. Wenn wir nur Material hätten!«

»Die alte Leier!«, machte sich Urs lustig. Er wirkte nicht besorgt. »Du hast doch keine Ahnung, unter welchen Dächern ich in meinem Leben schon übernachtet habe. Weißt du, wie in anderen Ländern gebaut wird? Und das hält einiges aus. Lass endlich gut sein, du Deutscher!«, neckte er Herbert.

»Dann beauftragen wir zumindest einen Statiker.« Herbert ließ sich nicht beirren. »Ich bezahle den auch, wenn er es am Ende so sehen sollte wie du.«

»Darüber reden wir morgen«, würgte Urs das Gespräch ab, da er keine Lust auf Statiker, Mehrkosten und ängstliche Gespräche zu haben schien. Urs war im Herzen längst Südländer, dachte Herbert, während er mit Urs die wacklige Stiege Richtung Dachboden nahm.

»Lass uns besser das Dach kontrollieren. Ich habe vorher geschaut. Auf der Westseite ist es innen etwas nass geworden.« Das bisschen entpuppte sich aus Herberts Sicht als halber See. Bis zum Abend hatten die beiden Männer jedoch die Häuser so gut es ging gegen den Sturm gesichert. Die beiden Frauen hielten sich im Haus von Doris und Herbert auf. Das Kaminfeuer hatte alles mollig aufgeheizt. Beide bereiteten gemeinsam das Abendessen vor, während Doris ihre Nachbarin abfällig von der Seite musterte:

»Du hast ziemlich zugenommen.«

»Ich bekomme mein erstes Kind«, verriet Vreni freudestrahlend, die Stichelei ignorierend.

»Was?« Doris war zunächst sprachlos, weil sie Vreni jedes Verantwortungsgefühl absprach und man ihr die Schwangerschaft nicht so deutlich ansah. »Du bist schwanger? Man sieht doch gar nichts!«

»Doch, du hast es doch auch entdeckt«, lachte Vreni vergnügt und präsentierte stolz ihr kleines Bäuchlein. »Hier, schau genauer hin!«

»Ich sehe nichts.« Doris wollte es nicht sehen. Es durfte nicht wahr sein. Diese egoistische Person, die das ganze Jahr nur Urlaub machte und sich ein fremdes Kind anschaffte, um es dann wegzuschicken … Die Welt war so ungerecht! Wie gerne wäre sie selbst Mutter geworden und würde es besser machen als Vreni! Aber da war die Firma, die Herbert so sehr beschäftigte, dass er das Thema verschob. »Ich kann es nicht glauben! Warum hast du nichts davon erzählt?«

»Du bist die Erste, der ich es erzähle. Bisher wissen nur mein Mann und der Arzt davon. Kann sein, dass das Kind in den nächsten Tagen auf die Welt kommt. Ich habe so ein Gefühl!«

»Das ist sicher nur die Aufregung«, unterbrach Doris unwirsch und schüttelte dabei den Kopf. »Das bildest du dir nur ein, du wirst schon noch ein paar Monate warten müssen!« Vreni schaute sie mit hochgezogenen Augenbrauen an, aber Doris war das egal. Das fehlte noch, dass diese verantwortungslose Person ihr Kind hier in der Hütte bekam.

»Nein, im Ernst«, reagierte Vreni sichtlich verärgert, »ich war in Griechenland vor sechs Monaten bei einem Arzt, der mir den Geburtstermin ausgerechnet hat. Der Zeitpunkt für die Entbindung ist bald. Das hat nichts mit Einbildung oder Aufregung zu tun.« Vorwurfsvoll schaute sie Doris an. »Natürlich sieht man es mir nicht so extrem an, das weiß ich selbst. Aber ich spüre immer deutlicher, dass mein Kind in den nächsten Tagen zur Welt kommt.« In dem Moment kamen die beiden Männer tropfnass in die Wohnstube gelaufen.

»Zieht euch sofort um!«, herrschte Vreni die beiden an. »Ihr macht alles nass. Habt ihr keine Augen im Kopf?« Ihre Laune war scheinbar auf dem absoluten Tiefpunkt. Doris freute sich ein bisschen, auch wenn das gemein war. Wenigstens war dieses überirdische Strahlen aus Vrenis Gesicht gewichen. Urs sah seiner Frau die schlechte Laune ebenfalls an und ging wortlos hinter Herbert die Treppe hinauf, um sich umzuziehen.

Als schließlich alle mit trockener Kleidung am Tisch saßen, verzehrten sie zunächst schweigend die belegten Brote. Doris knabberte nur an der Rinde herum und warf Herbert finstere Blicke zu. Immerhin war es seine Schuld, dass sie kinderlos waren. »Werdet ihr auch nach Deutschland fahren und Alex­ander besuchen?«

Doris kannte ihren Mann gut, Herbert beabsichtigte sie mit der rhetorischen Frage zu beruhigen. Vreni und Urs würden ihren Adoptivsohn Alexander selbstverständlich nicht besuchen, Doris war sich da ganz sicher.

»Unser Sohn weiß nicht, dass wir hier sind«, kam von Urs die erwartete Antwort, nachdem seine Vreni die Frage einfach komplett ignorierte. »Er ist auf einem Schulausflug in Österreich.«

»Wie macht ihr das dann mit dem Nachwuchs?« Diese zynische Frage lag Doris schon eine Weile auf der Zunge. Sie konnte sie nicht mehr zurückhalten. »Werdet ihr dann endlich sesshaft? Oder wie stellt ihr euch das vor?« Herbert und Urs schauten irritiert auf, ein wenig erschrocken über den harschen Ton von Doris. Fragend schauten sie Vreni an.

»Um welchen Nachwuchs geht es?«, fragte Herbert unbedarft nach, der von Vrenis Schwangerschaft und ihrem vermehrten Umfang nichts bemerkt hatte.

»Sie bekommt ein Kind!« Doris deutete auf Vreni und zeigte ihrem Mann mit leicht verdrehten Augen, was sie darüber dachte. An Vreni gewandt, setzte sie mit gehässigem Ton nach: »Habt ihr eure Freunde schon informiert, dass sie sich die nächsten Jahre um ein Kind kümmern müssen, während ihr auf Reisen seid? Oder gibt’s ein Internat für Säuglinge?«

»Doris«, schimpfte Herbert, »sei sofort still. Vreni, jetzt erzähl in Ruhe. Du bekommst ein Kind?«

»Ich erzähle überhaupt nichts mehr!«, platzte es aus Vreni heraus, während sie ihren Stuhl nach hinten schob. »Wir werden das alles sehr gut allein hinbekommen und«, setzte sie ironisch hinzu und schaute Doris verächtlich an, »vielen, vielen Dank für deine ach so große Fürsorge für mein Kind!« Doris wollte etwas erwidern, Vreni schnitt ihr jedoch sofort das Wort ab: »Die im Übrigen völlig unangebracht ist. Kannst du dir künftig komplett sparen. Wir gehen jetzt, ich brauche meine Ruhe. Kommst du, Urs?« Sie stand auf und sah auf einmal sehr müde aus.

»Möchtest du dich nicht lieber hier ausruhen?«, fragte Urs besorgt. »Hier ist schön warm!«

»Nein!«, entgegnete sie entschieden. »Mach einfach, was ich dir sage, ich will hier nicht sein. Pack dir von dem Essen ein, wenn du magst.«

»Entschuldigt«, stotterte Urs ratlos, »ich komme später noch mal zu euch rüber.« Er fing sich damit einen bösen Blick von seiner Vreni ein und ging mit ihr schnell in ihr eigenes Haus hinüber. Der Sturm wurde inzwischen heftiger. Während Doris wütend den Tisch abräumte, beobachtete sie Herbert, der besorgt einen Augenblick an der Haustür stehen blieb und auf das Nachbarhaus starrte.

Kapitel 6

»Was ist passiert?«, fragte Herbert seine Frau, nachdem er die Türe geschlossen hatte und sie allein waren. »Warum gehst du so auf sie los?«

»Sie ist schwanger«, antwortete sie mit vorwurfsvollem Ton. »Stell dir das mal vor, jetzt bekommen sie auch noch ein eigenes Kind. Dabei sind sie immer unterwegs, haben niemanden, der sich um das Kind kümmert. Sie hat nie etwas von ihren Eltern erzählt. Seine Eltern sind eh längst tot. Womöglich haben sie keine Familie mehr oder zumindest keinen Kontakt mehr zu ihnen. Vreni ist völlig verantwortungslos. So einer Person sollte man das Kind sofort nach der Geburt wegnehmen! Und das adoptierte gleich dazu! Ich habe es immer gesagt!«

»Doris!« Herbert schien erschüttert zu sein. »Wie kannst du so was auch nur denken?«

»Das andere Kind haben sie ins Internat abgeschoben, wozu möchten die denn noch eines haben?«

»Das ist nicht unsere Sache«, versuchte Herbert zu beruhigen. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter, doch Doris stieß sie unwirsch zur Seite. »Ich sehe das auch wie du, dass sie sich im letzten Jahr nicht sehr viel um ihren Sohn gekümmert haben und all das. Aber wir mischen uns da nicht ein. Einverstanden? Wir haben zudem gerade eigene Sorgen, ich hoffe, der Sturm wird nicht noch stärker.«

»Du hast ja recht!« Doris war müde, kam sich nun albern vor. »Ich habe Angst. Hoffentlich kommen wir heil wieder raus! Deshalb bin ich so dünnhäutig. Ich wollte mich nicht so aufregen, das hat mich nur alles überrascht. Und weißt du, ich möchte selbst gerne ein Kind. Immer muss ich vernünftig sein und warten. Bei uns gehen das Baugeschäft und die Renovierung ständig vor. Alles ist wichtiger! Und die anderen? Die machen einfach, was ihnen gerade im Kopf herumgeht. Ist das gerecht?«

»Wir sind bald aus dem Gröbsten raus.« Herbert schien die Lösung dankbar anzunehmen, die Doris ihm anbot. »Es spricht nichts mehr gegen ein Kind«, versprach er deshalb schnell und wollte das Thema abhaken.

»Dann wären wir eine richtige Familie, jetzt, wo alles so schön fertig geworden ist. Was meinst du? Dann bist du mit einem Kind einverstanden? Wenn wir das Unwetter heil überstehen?« Doris wollte es erneut von ihm hören, mit einem konkreten Zeitplan. Sie wollte ein Versprechen.

»Dagegen spricht nichts«, wiederholte Herbert, erfreut darüber, seine Zusage, dass sich zumindest in seinem Haus die Gewitterwolken schnell verzogen hatten. Auch wenn er mit Nachwuchs gerne gewartet hätte.