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Kurz vor dem zweiten Weltkrieg arbeitet Bettina als Landwirtschaftslehrerin auf einem Gut in Ostdeutschland. Sie verliebt sich in den Gutsbesitzersohn Alex von Büssow, den sie auch schon bald heiratet. Nach Ende des zweiten Weltkriegs kehrt Alex unversehrt aus der Kriegsgefangenschaft zurück, verunglückt jedoch tödlich bei der Enteignung des sächsischen Guts. Bettina ist gezwungen mit ihren Kindern zu fliehen und trifft dabei auf Valentin, einen Jugendfreund. Er hilft ihr und den Kindern über die deutsch-deutsche Grenze in den Westen zu gelangen... – ein hoffnungsvoller Roman, der über eine turbulente Zeit des zersplitterten Vor- und Nachkriegsdeutschland berichtet. Lesenswert!-
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Seitenzahl: 491
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Lise Gast
Roman
Saga
Bittersüss wie Schlehenduft
© 1977 Lise Gast
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711508381
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com
Bettina warf die Schublade ihres Schreibtisches so heftig zu, daß alles darin durcheinanderflog. Die Schublade war sonst ihr Stolz, ihr Stückchen Zuhause, in dem alle geliebten Dinge schön säuberlich nebeneinander lagen: Fotos und Briefe, kleine, hübsch gebundene Bücher, bunte Kästchen. Heute aber hatte sie eine solche Wut ...
Was war »Cäsar« nur eingefallen, Luther die Verknechtung des Willens zuzuschreiben! Ihm, der über die »Freiheit eines Christenmenschen« geschrieben hatte! Nein, nie und nimmer hatte »Cäsar« hier recht, in dieser Sache fühlte sie sich völlig unangreifbar. In der Sache – ob auch in der Form? Es war eigentlich ungeheuerlich, daß »Cäsar«, der Direktor des Holgershofes, eine Pädagogikstunde einfach abgebrochen hatte, weil sie, Bettina Knappe, ihm ihre Meinung so ungeschminkt entgegengeschleudert hatte. »Quatsch«, war ihr auch entfahren, sie entsann sich dessen genau. Das war mehr als ungeschickt gewesen.
Bettina stützte den Kopf auf die Fäuste und starrte vor sich hin. Wenn sie nun von der Schule verwiesen wurde? Wenn man sie einfach hinauswarf aus dem Seminar, wegen unbotmäßigen Benehmens? Man konnte es durchaus so nennen, das wußte sie. Und sie hatte schon einiges auf dem Kerbholz. Dies wäre vielleicht der berühmte Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte?
Damals, gerade als sie hierhergekommen war, das Reiten – das war ihr auch so verübelt worden. Sie hatte mit einer Mitschülerin zusammen das Reit- und Fahrturnier im Nachbardorf besucht und, als alles vorbei war, mit ihr noch auf dem Abreiteplatz gestanden. Ein Mitglied des Reitvereins hatte sie angesprochen, ein Jungbauer, dem das Hirn wohl schon etwas vernebelt war vom Siegesalkohol.
»Na, Gleene, willste mal ruff?«
Ilse zupfte sie am Ärmel, aber Bettina konnte nicht widerstehen. Im Sattel zu sitzen, zu reiten, nach so langer, langer Zeit! Sie ließ das Pferd zuerst im Schritt gehen und trabte dann an. Es war ein Bauernpferd, doch nicht von ganz schwerem Schlag, und gut zugeritten schien es auch zu sein. Sie war fast schwindlig vor Glück – bis sie nach zwei Runden durchparierte und absaß.
»Danke!« stammelte sie. Der Jungbauer griff nach dem Zügel und sah sie auffordernd an.
»Danke, mehr nich?« fragte er und handelte nun seinerseits, patschte ihr einen Kuß ins Gesicht, ehe sie sich’s versah, und wollte sie dann noch an sich ziehen. Da aber war Bettina zu sich gekommen, sie wich aus und rannte davon, Ilse hinter ihr her.
»Rennen Sie doch nicht so –« Ilse war ein paar Jahre älter als sie.
»Der kommt schon nicht nach.«
»Aber – wenn das jemand gesehen hat?«
Natürlich hatte es jemand gesehen. Noch dazu jemand, der petzte. Am Abend wußte es das gesamte Kollegium, und was dann folgte ...
Nein, einfach war es nicht hier im Internat. Man machte dauernd etwas verkehrt, ohne es zu wollen und zu wissen, doch künftige Lehrerinnen mußten immer und überall Vorbild sein, es war die erste Bedingung für den pädagogischen Beruf. Das wurde ihnen jeden Tag aufs neue gesagt. Und im Oberseminar würde es sicherlich noch schwieriger werden, nicht anzuecken. Die Seminarleiterin, Margret Marcel, genannt MM, forderte angeblich bedingungslosen Gehorsam. Zur Zeit war sie nicht da. Sie hatte Sonderurlaub zur weiteren Fortbildung, Bettina kannte sie nur aus der Ferne. MM war promovierter Diplomlandwirt und führte das Oberseminar ganz allein, ohne sich von »Cäsar« hineinreden zu lassen, reichlich selbstherrlich, wurde erzählt. Bettina saß und überdachte dies alles, und dabei ließen ihre Spannung und Aufregung ein wenig nach.
Im Grunde wäre es lächerlich, sie wegen dieser Sache aus der Schule zu weisen. Sie liebte nun einmal Luther sehr, seine starke, wenn auch oft etwas starre Art, sein Bauerntum – und sein Bekenntnis zur Freiheit eines Christenmenschen. Gerade hier, wo man so gar nichts von Freiheit spürte, dachte sie sehnsüchtig daran. In diesem Augenblick kam Ilse herein.
»Na, diesmal haben Sie es ›Cäsar‹ ja gegeben«, sagte sie und lachte durch die Nase, während sie ihren Schreibtisch aufschloß, »er war direkt am Boden. Was machen wir, wenn er nicht überlebt?« Ilse war blond, kühl, gescheit, eine richtige Norddeutsche. Bettina sah sie erschrocken an.
»Glauben Sie? Dann werde ich bestimmt hinausgeworfen.«
»So schnell nicht«, sagte Ilse, setzte sich und begann in ihrer Schublade zu kramen, »übrigens ist MM zurück, eben ging sie durch den Garten.«
»Tatsächlich? Ich dachte gerade an sie«, sagte Bettina unruhig. Ihr Herz, durch Ilses gleichmütige und etwas wegwerfende Art ein wenig getröstet, sprang sofort wieder an. Doppeltes Pech: nun erfuhr MM sofort, was für ein Greuel vor Gott und den Menschen sie, Bettina Knappe, darstellte; denn daß diese Affäre aus der Pädagogikstunde sofort vom ganzen Kollegium besprochen werden würde, war klar. Ach ja, ein Unglück kommt selten allein. Der Gong rief zum zweiten Frühstück.
»Bringen Sie mir meine Post mit rauf, Ilse, ja? Ich mag jetzt nicht hinuntergehen und mich anstarren lassen von allen Seiten –«, sie sagte es kläglich, und dann brach sie in Tränen aus. Ilse sah sie mitleidig an.
»Nun nehmen Sie es doch nicht so schwer. ›Cäsar‹ hat auch recht, jedenfalls in einer Beziehung«, sagte sie nachdenklich. »Verglichen mit den Humanisten, die so leidenschaftlich für die freie Entfaltung der Persönlichkeit eintraten, ist Luther wohl eher jemand, der keine Freiheit des Willens gestattet.«
»Meinen Sie das wirklich?« fragte Bettina verstört. Sie war fest überzeugt davon gewesen, wenigstens in der Sache recht zu haben. »Doch, ja. Man kann natürlich hier wie fast überall verschiedener Meinung sein, aber wenn Sie mich fragen ... Nein, bleiben Sie lieber hier, ich ginge jetzt auch nicht hinunter. Ich bring’ Ihnen was zu essen mit.«
»Danke, mir ist der Appetit vergangen –«
Ilses Art tat Bettina gut. Sie versuchte, die Tränen herunterzuschlucken. Sie durfte nicht aus der Schule fliegen, nachdem die Eltern soviel Geld daran gewendet hatten. Noch war es ja nicht so weit. Aber die Beamtenstellen für landwirtschaftliche Lehrerinnen waren sehr dünn gesät und es lag nahe, so wenig Anwärterinnen wie möglich auszubilden. Da war es günstig, wenn eine ausschied ...
Bettinas Herz war zentnerschwer. Nach Tisch trat das Kollegium zu einer Stehkonferenz zusammen, und was da besprochen wurde, konnte man sich natürlich denken. Fräulein Fröhlich, die Gruppenmutter des Unterseminars, sah ganz erhitzt und unglücklich aus, als man sich trennte, sie nahm sehr an den Schicksalen ihrer Küken teil. Aber sie war noch jung, erst zwei Jahre im Amt, und hatte nicht viel zu sagen. Die anderen aus dem Unterseminar betrachteten Bettina mit jener Mischung aus Mitleid und Bewunderung, die jedem gezollt wird, der das concilium abeundi erhalten oder zu erwarten hat. Es war ein rabenschwarzer Tag, zweifellos. Nein, sie hielt es nicht im Zimmer aus. Obwohl es nicht gern gesehen wurde, daß jemand in der Mittagszeit draußen war, das heißt, nicht arbeitete, verdrückte sich Bettina in den Park, Richtung Luftbad. Es war noch schön warm, ein sonniger September, ihr liebster Monat. Heute erschien er ihr fahl und blaß.
›Wenn ich von der Schule fliege, werde ich Stallbursche, Pferdepfleger‹, dachte sie, halb verzweifelt, halb sehnsüchtig, ›aber wo? Wer hat heute noch Pferde? Des Generaldirektors Töchterlein oder die Polizei –‹ ja, berittene Polizei gab es noch. Sonst aber – die Bauern, die ihre Pferde selbst versorgten, brauchten keinen Stallburschen. Selbst dieser Beruf war Mangelware, heute, zur Zeit der Einsparungen und Entlassungen, der wachsenden Arbeitslosigkeit in aller Welt, und in dem verarmten Deutschland erst recht ...
Sie fuhr zusammen. Dieses ewige schlechte Gewissen – direkt verboten war es ja nun auch nicht, einmal an die frische Luft zu gehen. MM, die Seminarleiterin, war mit unhörbaren, federnden Schritten herangekommen, stand neben Bettina, die sich auf die oberste Stufe der Treppe zum Luftbad gesetzt hatte und eben aufspringen wollte.
»Bleib doch«, sagte MM halblaut. Bettina verschlug es den Atem. Es war natürlich möglich, daß MM sich versprochen hatte, sagte Bettina sich sogleich. Aber es konnte auch sein ... MM duzte einige aus dem Oberseminar, das wußten alle. Es galt als besondere Auszeichnung. Meist waren es Seminaristinnen, die entweder gut musizierten oder großartige Lehrproben hielten oder Theaterspielen konnten wie keine andere – MM gab sehr viel auf Musisches –, aber all so etwas konnte Bettina ja wirklich nicht bieten. Sie war Durchschnitt, nichts als Durchschnitt, in jeder Beziehung.
»Das ist allerdings eine dumme Geschichte, dieser Streit mit ›Cäsar‹«, sagte Fräulein Marcel und setzte sich neben Bettina, die stumm zur Seite gerückt war, »dumm – und ungeschickt. So was sollte man nicht tun, auch wenn man recht hat. Es lohnt nicht. Sei sanft und ironisch, das ist viel wirkungsvoller. Na, wenn man jung ist –«, sie lachte. »Darf ich auch eine haben?«
Bettina war jetzt vollkommen verwirrt. Die Schachtel mit den Zigaretten glitt aus ihrer Schürzentasche und entließ die weißen Giftstäbe, die sich über die Erdstufen verteilten. Hastig versuchte sie, die Zigaretten wieder einzusammeln.
»Bitte!«
Natürlich war Rauchen in Holgershof verboten. Aber ebenso natürlich rauchten manche Schülerinnen heimlich, sogar Lehrerinnen. Möglichst nur im Freien – –. Aber daß MM eine Schülerin um eine Zigarette bat, das war einzig dastehend.
Bettina betrachtete sie verstohlen, während sie ihr Feuer reichte. MM sah großartig aus, schlank wie Diana, mit einem fast klassisch wirkenden reinen Profil unter dem tizianroten Haar. Sie trug es kurz, wie es jetzt Mode war, in weichen Wellen, die wundervoll glänzten. Waren es echte Wellen? Bettina konnte es nicht entscheiden. Und die schönen, langen, beweglichen Hände, die die Zigarette hielten ...
Bettina fühlte ihr Herz klopfen. Vielleicht war MM gar nicht so, wie es immer hieß, so hochmütig und herrschsüchtig und nur darauf aus, alle Seminaristinnen nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen. Vielleicht war sie eben eine solche Persönlichkeit, daß man sich ihr freiwillig unterordnete, sie lieben und bewundern konnte ...
»Auf jeden Fall hoffe ich, du wirst dich durch diesen Sturm im Wasserglas Holgershof –« Fräulein Marcel sprach diese Worte so geringschätzig aus, daß Bettina unwillkürlich lachen mußte, »nicht davon abbringen lassen, eine eigene Meinung zu haben und sie auch zu vertreten.«
Sie stand auf, warf die halbgerauchte Zigarette fort und stieg ruhig die Treppe hinunter, ohne sich noch einmal umzudrehen. Bettina blieb sitzen, in stürmischem Entzücken. Ja, in Entzücken und Erleichterung, in einem ganz plötzlichen Glück. MM hatte sie geduzt, es war kein Irrtum möglich. Es war Absicht, das Zeichen: ich halte zu dir. Ich beschütze dich. Ich lasse nicht zu, daß man dir etwas tut –
Der Tag hatte sich gewendet. Immer sah Bettina, wenn sie an ihn zurückdachte, einen seidig blauen Herbsthimmel, goldenes Birkenlaub in glasklarer Luft ...
Der Eßsaal mit seinen sechs langen Tischen, an denen die »Maiden« saßen, in einer Art Uniform, grau mit weißer Schürze, weißen Manschetten und weißem Kragen – der ganze Eßsaal verstummte und horchte auf, als Fräulein Schuster, die Bürokraft, hereintrat.
»Telefon. Fräulein Bettina Knappe wird verlangt, von einem Herrn Kluge.«
Bettina wurde dunkelrot. Val – daß er es nicht lassen konnte, zu solch unpassender Zeit anzurufen. Sie hatte es ihm doch gesagt – oder nur sagen wollen? Diesmal aber würde sie es ihm deutlich machen!
Natürlich beneidete man sie, wenn er kam – mit dem Motorrad, um sie mitzunehmen. Und wer läßt sich nicht gern beneiden, noch dazu um einen Mann, vor allem in solch einer Schule, in der es nur Frauen gab. »Cäsar« prangte als einziger Mann in diesem Blütenstrauß mehr oder weniger schöner Weiblichkeit. Es war erfreulich, merken zu lassen: ich habe einen Freund, auch wenn es eigentlich keiner in diesem Sinne war ...
Aber es machte böses Blut, vor allem bei den Lehrerinnen. Und gerade jetzt, wo Bettina sich sowieso als schwarzes Schaf der Herde fühlte.
Sie stand auf und versuchte, möglichst gleichmütig und ruhig zur Tür zu gehen. Alle starrten ihr nach. Es war scheußlich. Und dann rutschte ihr noch die Klinke aus der Hand und die Tür flog, bauz!, hinter ihr ins Schloß.
Es war ohne Absicht geschehen, aber wer würde ihr das glauben? Und verteidigen konnte man sich nicht, nie –. Unglücklich und gereizt trat sie ins Büro, nahm den Hörer, antwortete.
»Ja. Nein. Wie du meinst ...« Fräulein Schuster stand hinter ihr und hörte mit. Val kapierte das mal wieder nicht.
Schließlich konnte sie auflegen.
»Danke, Fräulein Schuster«, sagte sie patzig und ging hinter der anderen her, in den Eßsaal zurück. Diese Schusterin, neugierig wie ›des Schneiders Weib‹, die große Klatschzentrale der Schule – was sie wieder für ein Gesicht machte! Süffisant und verschlagen – – – »Na, wieder eine Verabredung?« fragte die Lehrerin, die am Kopfende von Bettinas Tisch thronte, spitz und ziemlich strafend, »zu unserer Zeit wurde an den Wochenenden gearbeitet und nicht Motorrad gefahren –« es war ein Samstag heute. Bettina ärgerte sich.
»Damals gab es wahrscheinlich noch keine Motorräder, vor so langer Zeit«, knirschte sie und gab die Schüssel mit dem Pudding an ihre Nebensitzerin weiter. »Nein danke«, sagte sie laut. Dieses süße Geschlabber, man wurde dick davon, und satt machte es nicht. Ihre beiden Nachbarinnen hatten den ersten Satz verstanden und verkniffen sich ein Lachen. Die Lehrerin war wirklich nicht neuesten Datums.
Da die beiden ihr Lachen kaum unterdrücken konnten, fürchtete Bettina, davon angesteckt zu werden – nichts steckt so an wie Grippe oder verbotenes Lachen. Sie versuchte, ernst zu bleiben. Im Grund war ihr eher beklommen zumute. Gerade jetzt, nach dieser Luther-Affäre, mußte Val kommen, es war zu dumm.
Er war Mutters »Mittagsstudent« in Leipzig gewesen, ein Pastorensohn aus Vaters Sängerschaft. Viele Studenten besuchten solche Mittagstische in Familien der alten Herren, so daß sie wenigstens ein paarmal in der Woche warm essen konnten. Val – Valentin Kluge, stud. chem., fünfundzwanzig Jahre alt – ging seit langem bei Knappes ein und aus und wurde als Freund des Hauses betrachtet, duzte sich mit Bettinas Bruder und wohnte auch manchmal wochenlang bei ihnen, wenn er gerade keine Bude hatte. Daß er Bettina hier besuchte, war schon häufig vorgekommen, auch während des Praktikums hatte er sie besucht, als sie in der Landwirtschaft arbeitete, manchmal mit ihrem Bruder, öfter allein.
Endlich gab Frau Direktor das Zeichen zum Aufstehen. Bettina lief hinaus. Val stand an der Brücke, jenseits des Hofes, das aufgebockte Motorrad neben sich. Valentin Kluge, groß, hager, mit schmalen Schultern und einem nicht sehr jungen, scharfgeschnittenen Gesicht. Magere Wangen, eine schmale, feste Nase, dunkelblondes, ziemlich kurzgehaltenes Haar. Das schönste an ihm schienen ihr seine Augen. Sie waren von einem gleichzeitig warmen und intensiven Blau – so wie Chagall es gemalt hat, den aber kannte Bettina noch nicht. Alle anderen Vergleiche – himmelblau, friderizianisch oder ritterspornblau, trafen die Farbe nicht genau. Wenn Bettina ihm richtig in die Augen sah, gab es ihr stets einen merkwürdigen Stoß ins Herz, einen Stoß, der weh tat und dennoch nicht unangenehm war – sie sah dann sofort wieder weg. Auch an diesem Tag, als sie ihn begrüßte. Da vielleicht noch schneller als sonst.
»Na? Was passiert? Läuschen über Leberchen gelaufen?« fragte Val denn auch sofort. Er fragte es nett und teilnehmend, nicht spöttisch, auch nicht übertrieben mitleidig. Trotzdem ärgerte sich Bettina, nervös wie sie zur Zeit war.
»Ja. Daß du es weißt. Riesenlaus. Ich fliege nächstens von der Schule – ach Val, das ist ein Stall hier, ein Weiberstall, keine gönnt der anderen was. Und schon gar nicht einen Mann. Was glaubst du, wie ich Spießruten laufen mußte. Ruf ja nicht nochmal um diese Zeit an, bitte!«
»Entschuldige.«
Sie merkte, daß er ziemlich erschrocken war, und hätte gern etwas Tröstliches, Abschwächendes gesagt. Was aber? Sie wußte ja selbst keinen Trost. Und er stand und wartete – worauf eigentlich?
»Wollen wir nicht losfahren?« fragte sie schließlich. Er sah sie abwartend an.
»Ich dachte – ich wollte dich heute nämlich mitnehmen, zu meinen Eltern. Du warst doch noch nicht bei uns zu Hause, nur Mart, den hatte ich einmal mit. Bis morgen.«
»Nein, Val, das geht nicht.« Bettina versuchte, so gleichmütig wie möglich zu sprechen. »Da müßte ich erst die Erlaubnis meiner Eltern einholen, das heißt, Frau Direktor bitten, daß sie bei uns anruft. Wir dürfen über Nacht nur weg, wenn vorher rückgefragt wird, verstehst du.«
»Und eure Chefin würde das nicht tun?«
»Doch, vielleicht – – ach, sie würde schon. Aber ich mag sie nicht darum bitten. Ich hab’ Ärger gehabt – – bitte, Valentin –« Bettina weinte fast. Sie verstand sich selbst nicht ganz. Sie hatte zwar eine Vermahnung bekommen, aber keine, die ins Zeugnis kommen würde ... Mit Mühe nahm sie sich zusammen und sagte:
»Können wir nicht einfach so hinfahren? Nur heute? Daß wir am Abend zurück sind? Dann brauche ich keine Erlaubnis. Samstagnachmittag haben wir frei. Oder ist es zu weit?«
»Nicht einmal – in Sachsen ist eigentlich nichts weit. Aber es ist schade, ich hatte mich so darauf gefreut.«
»Auf jeden Fall erstmal hier weg«, sagte Bettina nervös, »alles stiert aus den Fenstern zu uns herüber – ja, glaub es nur. Ach, es ist gräßlich hier –« sie merkte jetzt erst, daß sie noch in Tracht war. »Ich muß mich noch umziehen, fahr rauf zum Strohfein, du weißt ja, hinterm Luftbad. Ich komme durch den Park –«
Sie versuchte, ihm freundlich zuzunicken, und rannte dem Haupthaus zu. Val schob das Motorrad an und schwang das rechte Bein hinüber. Er fuhr durchs Dorf, dann einen kleinen Feldweg entlang. Am Strohfein hielt er und wartete. Endlich kam sie.
»Ich hab’ ein Päckchen von deiner Mutter mit, war vorgestern in Leipzig«, sagte er, »hier, willst du es gleich aufmachen?«
»Nein, erstmal hier fort.« Sie schwang sich, in Windjacke und Trainingshose, auf den Soziussitz, packte den Bügel. Val fuhr an. Sie umrundeten das Dorf und nahmen dann die große Straße. Nach einer Weile deutete er zum Waldrand hinüber und bog ein und hielt am Ende des Feldweges. Sie stiegen ab. Bettina seufzte und sah sich um.
Es war nicht das erste Mal, daß sie hier rasteten. Vor einem halben Jahr etwa, als sein Motorrad ganz neu war, hatte er sie hierher gefahren. Damals blühte der Waldrand über und über von Schlehen, wie weißer Schaum sahen die Büsche aus, und der feine bittersüße Schlehenduft wehte manchmal her, wenn der Wind von drüben kam.
Val erinnerte sich noch genau an damals. Er hatte sich vorgenommen gehabt, endlich einmal das auszusprechen, wovor er sich immer und immer gescheut hatte, und brachte es wiederum nicht fertig, auch damals nicht, wie heute. Bettina war da und doch nicht da. Was lag vor, hatte sie Sorgen? Warum sagte sie nichts? Konnte er ihr nicht vielleicht doch helfen? Nichts hätte er lieber getan als das. Wie nahe man sich sein konnte, und man erreichte sich doch nicht.
Es hätte so schön sein können, aber es war nicht schön. Es war nicht ›richtig‹. Irgend etwas störte Bettina, sie fand sich selbst unleidlich und konnte es doch nicht ändern. Er gab ihr das Päckchen, und sie packte aus. Schokolade für sie, Zigaretten für Val. Und ein Brief. Sie vertiefte sich hinein.
Er betrachtete ihr Profil als sie so dasaß, den Brief auf den angezogenen Knien. Immer wieder rührte ihn ihr kindliches Gesicht, er konnte eigentlich nicht erklären, wieso. Bettina war keineswegs auffallend schön, aber ihr Gesicht hatte etwas Eigenes, fand er, etwas, das man nicht vergaß. Die makellose Haut spannte sich straff über den Backenknochen, ein wenig zu straff vielleicht, das gab dem Gesicht etwas Jungenhaftes. Eine feine Nase und ein sehr herber Mund – eigentlich paßte alles sehr gut zueinander, auch das kurze, nach hinten gebürstete Haar. Es war dunkel und ein klein wenig gewellt, aber nicht lockig – Val fand nicht den richtigen Ausdruck dafür. Neben dem rechten Mundwinkel hatte sie ein winziges Muttermal, dunkel, halbmondförmig, man sah es nur aus der Nähe. Es rührte ihn heut wieder wie immer, er betrachtete es nicht zum ersten Mal, obwohl er nie etwas davon gesagt hatte. Es stand ein wenig schräg.
Nie würde er dieses Gesicht vergessen, dachte er. Wie es wohl in zwanzig oder dreißig Jahren aussehen würde? Wahrscheinlich nicht sehr verändert, meist ändern sich nur die Gesichter, die jung, weich, lieblich sind. Dieses Gesicht war nicht lieblich, nicht weich – er ertappte sich bei dem Gedanken, wie es sein würde, wenn man diesen herben Mund küßte, nicht nur einmal, sondern immer wieder, lange, bis er nachgeben und weich und süß werden würde. Ach nein. Er rief sich innerlich zur Ordnung. Gehörte er zu den Männern, die überall gleich küssen, an sich reißen, genießen müssen? Er wollte jedenfalls nicht zu ihnen gehören.
Vielleicht war das dumm gedacht. Vielleicht war er ein Esel ... Er seufzte. Bettina sah kurz zu ihm hin, da fiel etwas aus dem zusammengefalteten Brief. Ein Zehnmarkschein.
»Da!« Val hob ihn auf, gab ihn ihr. »Hat Mutter dir wieder mal was zugesteckt, was Väterchen nicht wissen darf?«
Sie lachten beide. Bettina freute sich.
»Menschenskind, zehn Mark! Ein ganzes Taschengeld! Ich bekomme nämlich monatlich zehn Mark, und das fällt den Eltern schwer genug. Du, Val, kannst du mir’s wechseln?«
»Mal sehen. Warum denn?« fragte er und langte nach seiner Brieftasche.
»Weil – wir haben eine im Seminar, die ist so schrecklich arm. Na, viel haben wir anderen ja auch nicht, aber die – also wenn der mal ein Knopf fehlt, dann muß sie irgendwo anders einen abschneiden, da, wo man es nicht so sieht – und den näht sie dann an. Und nicht mal eine Briefmarke hat sie, wenn sie mal schreiben will. Neulich hab’ ich ihr eine gegeben, da sträubte sie sich erst wer weiß wie. – Die kriegt fünf Mark davon. Ich werd’ es schon erreichen, daß sie sie nimmt. Was glaubst du, wie die sich dann freut!«
Sie steckte die beiden Scheine vergnügt ein. Val sah sie an.
»Du, Bettina, du hast doch jetzt bald Geburtstag, oder?« fragte er nach einer Weile. Sie knabberte Schokolade, und er rauchte eine von den geschenkten Zigaretten. Er lag, auf den linken Ellbogen gestützt, und sah zu ihr auf.
»Ja. Im November. Am elften November. Weshalb fragst du?«
»Natürlich, mir war so, ich wußte es nur nicht genau. Am elften, das ist der Sankt Martinstag. – – Sag mal, warum haben sie dich eigentlich nicht Martina genannt, deine Eltern? Wenn du schon an diesem Tag geboren bist?«
»Weiß ich’s? Gefragt haben sie mich jedenfalls nicht. Und außerdem heißt mein Bruder schon Martin, ist ein alter Familienname bei uns. Wenn er sich auch Mart nennen läßt seit einem Jahr. Er findet Mart toll –«
»Na, Martin und Martina, das wäre doch gerade hübsch. – Bist ein richtiger kleiner Sankt Martin, der den halben Mantel gibt«, sagte er zärtlich. Bettina krauste die Stirn.
»Ach, wegen der fünf Mark. Halben Mantel, du hast einen Vogel. Und sag ja meiner Mutter nichts davon, sonst krieg’ ich nie wieder was extra. Ist sowieso wunderselten. Los, fahren wir weiter. Wenn wir abends zurück sein müssen –«
Val seufzte leicht und stand auf. Bettina klopfte die Tannennadeln von ihrer Hose.
»Kann ich denn so zu euch kommen, in Hosen?« fragte sie. »Dein Vater ist doch Pastor, und was wird deine Mutter sagen –«
»Das ahnst du nicht.« Er lachte. Sie fuhren los. Es war ein heiterer, heller Tag, der Himmel sehr hoch, die Luft so leicht zu atmen, wie das nur an solch silbernen Herbsttagen möglich ist. ›Wie froh könnte man sein‹, dachte Bettina, ›wie froh, wenn nicht –‹
Gab es immer ein ›wenn nicht‹ im Leben? Ein ›nur beinah‹, eine Trübung? Oder würde man eines Tages einmal richtig glücklich sein? Ohne Einschränkung? Den Mann gefunden haben, zu dem man gehörte, den Kreis, den man ausfüllte, Kinder, für die man da war ... sie wünschte sich Kinder, immer schon, einen richtigen, ordentlichen Stall voll Kinder. Und Pferde natürlich. Einen Landwirt heiraten, jeden Tag reiten können –
»Da sind wir. Das ist unser Dorf«, sagte Val in ihre Gedanken hinein. Bettina schrak ein wenig zusammen, sie hatte überhaupt nichts mehr von der Gegend wahrgenommen. Jetzt sah sie sich um.
Und da sah sie sofort etwas, was ihr so gefiel, daß sie alles andere darüber vergaß. Eine Kutsche kam ihnen entgegen – Val bremste und hielt am Straßenrand, lachte und winkte – Bettina starrte nur, sagte gar nichts. Es war eine Zweispännerkutsche, und nicht ein Mann lenkte sie, sondern eine Frau. Eine Frau, deren Gesicht Bettina an jemanden erinnerte, sie kam in der Eile nicht darauf, an wen. Es war schmal, braun, mit einer Kappe darüber, unter der widerspenstige Haare hervorkamen, das Ganze nicht mehr jung, aber seltsam zeitlos, und lachend vor Lebenslust und Vergnügen an den Pferden. Im Wagen saß behaglich ein alter Herr, dunkel gekleidet, Vollbart, Brille. Schon war das Bild an ihnen vorbei.
»Na? Was sagst du?« fragte Val über die Schulter zurück. Bettina sah ihn ein wenig verständnislos an.
»Was soll ich denn sagen? Schön muß es sein, so kutschieren zu dürfen –«
»Das sind meine Eltern«, sagte Val schlicht, aber groß. Bettina schwieg. Seine Eltern! Nein, alles hatte sie erwartet von einem Pastorenehepaar, das nicht!
»Val! Und davon hast du mir nie was erzählt!«
»Hab’ ich nicht? Man muß ja nicht alles vorwegnehmen. Mutter ist Ostpreußin, verstehst du, und dort gehen ja bekanntlich nur die Hunde zu Fuß. Sie ist auf Pferderücken groß geworden, und das prägt einen wohl fürs ganze Leben. Jetzt reitet sie nicht mehr oder nur noch selten, aber fahren tut sie ebenso gern. Sie fährt Vater jeden Tag aus, und sonntags, wenn er in der Umgebung predigt, bringt sie ihn hin. In Ostpreußen wäre das keine Seltenheit, hier schon. Die Leute mußten sich erst gewöhnen, aber Mutter hat sich durchgesetzt. Mutter widersteht so leicht keiner. Gelt, da staunst du!«
»Wunderbar«, sagte Bettina, es war wie ein tiefer Seufzer, »wunderbar ...«
»Komm, wir fahren ihnen nach –«
Sie fuhren eine Auffahrt hinauf, das Pfarrhaus lag auf einem Hügel – neben der Kirche, die merkwürdigerweise zwei Türme hatte, einen an der Querseite und einen kleinen, eigentlich unnötigen Dachreiter – und beherrschte das Dorf. Bettina sah dies alles, aber mehr am Rande, immerzu sah sie noch die Kutsche, die beiden blanken Pferde, die Frau, die sie führte. Inzwischen hatten sie das Gefährt erreicht, sahen, wie die Frau durchparierte, hielt, vom Bock sprang und ihnen zuwinkte, ohne die Zügel loszulassen.
»Grüß dich, Val, das ist eine Überraschung, daß du doch noch kommst«, sagte Frau Kluge und nickte gleichzeitig Bettina zu, »kommt, helft ausspannen, damit wir bald Kaffee trinken können ...«
Das ließ sich Bettina nicht zweimal sagen. Im Nu war sie abgesprungen und hingelaufen, begrüßte Vals Eltern und faßte zu, öffnete Schnallen und hakte Zugstränge aus. Und dabei sog sie tief diesen unvergleichlichen Geruch ein, den Dunst warmgelaufener Pferde; für Minuten war sie, ohne es zu wissen, genau das, was zu sein sie sich vorhin so sehnsüchtig gewünscht hatte: glücklich ohne Einschränkung. Ein Zauberkreis, in den sie getreten war, umgab sie, ein Kontakt war geschlossen.
Neben Val, der das andere Pferd führte, trat sie in den dämmrigen Stall, wo seine Mutter bereits stand.
»Ja, hier gehört er her, der Hans – er findet seinen Platz schon, gut so. Man merkt, daß Sie mit Pferden umgehen können«, sagte Vals Mutter, das Stallhalfter des einen Pferdes schließend. Bettina war bei dem anderen vorn im Stand stehen geblieben, halblaut mit ihm sprechend, seine Nüstern leise streichelnd, als kenne sie es schon lange.
»Wir hatten Pferde – Großvater hatte Pferde«, sagte sie wie im Traum, »ja, du bist mein Schönster. Ich bring’ dir nachher was; – wenn ich das gewußt hätte, hätte ich mir Zucker eingesteckt. Wir waren im Krieg bei meinen Großeltern auf einem Gut in Schlesien. Dort bin ich aufgewachsen, jedenfalls ein paar Jahre lang.« Sie sprach halblaut wie zu dem Pferd, die Worte kamen ihr wie von selbst. Frau Kluge lehnte am Flankierbaum, spielte mit einem Strohhalm und hörte zu. Bettina sah sie an, ohne sie wahrzunehmen. »Das Gut kam dann an einen Neffen, einen Vetter meiner Mutter, als Großvater starb. Sie konnte es nicht erben, weil sie ein Mädchen war. Großvater hatte nur diese eine Tochter, keinen Sohn. Aber damals, im Krieg, als wir dort waren ... ich bin auch da zur Schule gegangen, bis mein Vater zurückkam. Dort war ich zu Hause«, sie brach ab. Heiß ging es über ihr Herz: dort, ja, dort war ihre Heimat. Dorthin hatte sie gehört, aufs Land, zu den Pferden. Und zu den Pferden würde sie hinstreben, sie wußte das ganz deutlich, immer, so lange ihr Herz schlug. Sie lehnte die Wange an den Pferdekopf, fühlte das kurze warme Fell an ihrer Haut, hatte die Augen geschlossen – gleich würde Großvaters Schritt zu hören sein, wenn er die Stallgasse entlang kam, sein kurzer, kräftiger Schritt, vom regelmäßigen Aufsetzen der Stockzwinge begleitet, die Hunde neben ihm. Der Herr, wie man dort sagte, Großvater, den sie so geliebt hatte ...
»Komm, wir wollen doch noch Kaffee trinken und uns auch ein bißchen mit Vater unterhalten – und mit Mutter natürlich auch weiter«, sagte Val nach einer Weile vorsichtig. Er war zu ihr in den Stand getreten und legte seine Hand unter ihren Ellbogen. Bettina blinzelte und schüttelte ein wenig den Kopf, als erwache sie.
»Ja natürlich«, sagte sie hastig, »ich komm’ ja schon –«
Dann saßen sie am Kaffeetisch in der großen, gemütlichen Wohnstube, deren Fenster von Efeu umwachsen waren, so daß ein Dämmerlicht herrschte, ein grünes, goldgrünes. Blauweiße Kaffeetassen, ein nach Zimt duftender Apfelkuchen, schwarzer Kaffee und gelbe Sahne. Mitten auf dem Tisch ein Glas mit drei Kletterrosen. Noch nie, so meinte Bettina, habe sie sich so fraglos und ohne Mühe bei ihr bisher fremden Menschen heimisch gefühlt. Sie war sonst immer sehr verlegen und gehemmt. Hier aber fiel es ihr überhaupt nicht schwer, zu antworten, zu berichten, zu erzählen.
»Ja, wir wohnen in Leipzig. Mein Vater ist Chefredakteur am Lexikon –«, sie nannte das Institut, in dem er arbeitete – »und mein Bruder studiert. Im ersten Semester, Jura. Dann hab’ ich noch eine kleine Schwester, die zur Schule geht, wir sind nur drei Geschwister. Aber ich gehöre nicht in die Stadt.«
»Wenn Sie so lange in Schlesien waren, auf einem Gut, und gerade während der entscheidenden Jahre, der Jahre, in denen man anfängt, bewußt zu leben«, sagte Vals Mutter, »das kann man verstehen. Ich könnte auch nicht in der Stadt leben. Deshalb sind Sie landwirtschaftliche Lehrerin geworden?«
»Oh, noch nicht! Noch nicht ›geworden‹. Ich bin erst im Seminar. – Ja, deswegen. Wegen der Pferde.«
Sie hatte das noch nie ausgesprochen. Noch nie. Ihre Eltern hatten ihr von diesem Beruf abgeraten, sehr ernsthaft, fast unglücklich. Fanden ihn nicht passend, nicht angemessen, Mart verachtete ihn geradezu und machte daraus kein Hehl. Er war überhaupt mit seiner Schwester Bettina sehr wenig einverstanden. Mit der kleineren verstand er sich besser, er verwöhnte und bewunderte sie. Bettina setzte ihren Wunsch trotzdem durch, sehr bald allerdings merkte sie, daß die Eltern recht gehabt hatten.
Im Praktikum kamen Pferde normalerweise für sie nicht vor. Sie mußte kochen, Milch kühlen, buttern, Hühner versorgen, die sie haßte, und im Garten helfen. Auf einer Stelle – die Arbeitsplätze mußten mehrfach gewechselt werden – in einer oberschlesischen Försterei allerdings hatte sie Glück. Dort gab es zwei Pferde, kleine halbe Polengäulchen, und der ›Kutscher‹ war erst sechzehn, ein Junge. Manchmal gelang es ihr, mit ihm durch den Wald zu reiten, heimlich, aber meist kam es heraus, und dann setzte es wütende Schelte vom Herrn des Hauses. Dennoch tat sie es immer wieder. Danach aber war es aus mit den Pferden, auf größeren Gütern wurden sie von Gespannführern versorgt, und die ließen niemanden auch nur in den Stall, geschweige an die ihnen anvertrauten Tiere.
Wegen der Pferde. Jetzt hatte sie es ausgesprochen. Hier konnte man das, hier wurde man verstanden. Sie lächelte Frau Kluge an, strahlend glücklich in der Gewißheit, Verständnis zu finden. Wegen der Pferde konnte man die größten Dummheiten machen, die weitesten Umwege –
»Umwege können ganz schön sein«, hörte sie in diesem Augenblick Vals Mutter vergnügt sagen, als habe sie ihre Gedanken Wort für Wort gelesen, »was glauben Sie, was für Umwege ich manchmal geritten bin! Weite, unnötige – aber herrliche! Umwege können zum Besten gehören, was das Leben bietet ...«
Sie kamen erst sehr spät in Holgershof an, und Bettina saß auf ihrem Soziussitz wie auf Kohlen, aber sie hatte nicht weggefunden. Jetzt war ihr angst und bange, ob sie noch hineinkam.
»Tschüs, Val, und tausend Dank – ich muß sehen, daß ich nicht erwischt werde –« weg war sie. Val stand und horchte ihr nach, bis ihre Schritte verklungen waren. Er hatte sich den Abschied anders erhofft – wie eigentlich? Nun, vielleicht ein bißchen zärtlich –
Ilse saß im Park und lauerte, sie hatte ein Kellerfenster offen gelassen, durch das krochen sie und schlossen es wieder von innen. »Sie Kaninchen – immer auf Liebespfaden! Und ich komm’ nicht ins Bett«, grollte sie. »Muß es denn immer so spät werden –«
Sie hasteten lautlos hintereinander die Treppe hinauf, bogen im Dunkeln um die Ecke, husch, ins Zimmer. Bettina ließ sich aufatmend aufs Bett fallen. Sie war noch in Windjacke und Hosen. »Es waren gar keine Liebespfade –«
»Na, wer das glaubt –« Ilse kramte in ihrem Schreibtisch. »Ich hatte doch noch welche –«
»Ich hab’ jemanden kennengelernt, Ilse, also so was glauben Sie nicht! Ganz, ganz toll –«
»Den Mann Ihres Lebens, ich sag’ es ja. Na endlich«, brummte Ilse, »den Märchenprinzen! Gleich kommt er in einer gläsernen Kutsche mit vier Pferden davor –«
»Zwei. Mit zwei Pferden«, sagte Bettina, ohne auf Ilse einzugehen. »Und sie kutschiert selbst und versorgt die Pferde selbst –«
»Sie?« fragte Ilse aufhorchend und runzelte die Stirn, »sind Sie so durchgedreht, daß Sie Männlein und Weiblein nicht mehr unterscheiden können?« Sie hatte endlich die Packung Zigaretten gefunden, die sie suchte, und zog eine heraus. Bettina stand mechanisch auf und warf ihren Bademantel vor den Türspalt auf die Erde, stopfte ein Taschentuch ins Schlüsselloch.
»Krieg’ ich auch eine? Danke. Heut’ ist mir so danach. Streichhölzer hab’ ich hier –«
»Es ist nämlich eine Frau, eine Pfarrfrau noch dazu«, erzählte sie dann, »und sie ist – sie ist –« und nun mußte Ilse Bettinas ganze Pferdebegeisterung über sich ergehen lassen. Sie rauchte und hörte zu, schweigend.
»Sie also auch«, sagte sie schließlich, als Bettina sich zu wiederholen begann.
»Wieso auch?« fragte diese, nun ihrerseits konsterniert.
»Auch. Ich war genauso dumm wie Sie. Ich wollte auch zum Reiten kommen, deshalb hab’ ich mir diesen Beruf ausgesucht.« Bettina sah sie an, Ilse erwiderte ihren Blick. Dann lachten sie beide. Es klang eher kläglich als lustig. Nach einer ziemlich langen Zeit setzte Bettina wieder an.
»Aber – man kann doch – man kann sicherlich auf viele Arten, auf Wegen, die man vorher nicht sah, dorthin kommen«, sagte sie unsicher. »Glauben Sie, daß diese Pfarrfrau, diese Frau Kluge, als sie den alten Mann heiratete, gedacht hat, daß sie jemals –«
»Erstens war er damals vermutlich noch kein alter Mann, vielleicht ist er es jetzt nicht einmal«, sagte Ilse und strich die Asche an einer Blumenvase ab, »daß er einen Bart trägt, bedeutet noch nichts. Und zweitens – Sie sagen ja, sie stammt aus Ostpreußen.«
Sie schwieg. Dann fuhr sie fort:
»Ich stamme auch aus einem Pferdeland, Schleswig-Holstein. Viel Pferde gibt’s dort auch nicht mehr, aber – ja, und nun sitze ich hier und lerne Kochrezepte auswendig, büffle Bodenchemie, die mich nicht im mindesten interessiert –«
Es klang bitter. Daß Ilse, ein paar Jahre älter und sehr gescheit, dies so hoffnungslos fand, verstörte Bettina. Sie wollte aber nicht aufgeben.
»Wenn wir erst das Examen haben und Lehrerin sind –«
»Denken Sie, dann wird es anders? Oh, Sie Kindskopf! Dann ist erst recht Feierabend mit allen Plänen. Hier sind wir wenigstens im Grünen –« sie wies zum Fenster hin, das auf den Gutshof ging. Der Holgershof war früher ein Privatgut gewesen – »aber dann! Ist es Ihnen neu, daß sich alle landwirtschaftlichen Schulen in Kleinstädten befinden? Haben Sie sich nicht umgeguckt, als wir die Seminarreise machten, von einer Schule zur anderen? Und alle in der Stadt?«
»Doch doch«, gab Bettina kleinlaut zu, »aber –«
»Kein Aber. Sind wir erst dort, dann vertrocknen und verschimmeln wir genauso wie die, die vor zwei oder fünf Jahren den Holgershof bevölkerten und sich wunder was von der Zukunft erträumten. Und die jetzt ›am Ziel‹ sind. Rehmann und Hinze und wie sie alle heißen. Besinnen Sie sich noch auf den bunten Reigen? In jeder Lehrküche gab es Kohlrouladen, und überall stank es gleich ...«
Es war wirklich so gewesen. Wo sie auf dieser Rundreise auch eine Schule besichtigten, gab es dieses herrliche Gericht. Es war mit Schönschrift an die Tafel geschrieben, es duftete aus den modernen Kochtöpfen der Schule, die die Schülerinnen, die meist aus ärmlichen landwirtschaftlichen Betrieben stammten, sich später nie würden kaufen können. Die Lehrerinnen hatten erhitzte Gesichter und stotterten vor Aufregung und führten Cäsar und den Schwarm der Seminaristinnen herum, als zeigten sie ihnen das Paradies. Eine schöne Aussicht!
»Uff, Ilse«, sagte Bettina und grub ihren Zigarettenrest in die Erde einer kümmerlichen Blattpflanze, die auf dem Fensterbrett dahinsiechte, »Sie haben eine bestrickende Art, einem Zukunftsbilder vorzugaukeln. Lieber werde ich Pferdeknecht.«
»Ich auch. Leider ist dieser Beruf ausgestorben«, sagte Ilse trokken. »Oder wissen Sie eine Stelle? Ich auch nicht. Gute Nacht, und das nächste Mal kommen Sie bitte etwas eher zurück, ich brauche meinen Schlaf. Jaja, ist schon gut, ich meine nur. Wenn es nämlich nichtmal um Liebe geht ...«
In dieser Nacht hatte Bettina einen Traum. Sie sah MM auf einem Wagen sitzen, einem Zweispänner, den sie kutschierte – Bettina sah genau die schmalen, festen Frauenhände mit den Zügeln. Und die Pferde liefen, daß es eine Freude war; manchmal klappten die Hufe genau im Takt und dann wieder durcheinander, immer abwechselnd. Bettina wachte auf, noch voller Entzücken über das Gefühl, mitfahren zu dürfen.
Im selben Augenblick wußte sie, an wen Vals Mutter sie erinnert hatte: an MM. Dieselbe Art, dieselbe Frische – sie sahen einander nicht ähnlich, aber es war, als seien sie vom selben Schlag. Schlank, straff, munter – und so herrlich selbstbewußt. Nicht herrschsüchtig, oh nein, aber heiter in sich ruhend: ich bin nun einmal so, es ist mir gleichgültig, was ihr von mir denkt. Wenn man so wäre, so werden könnte! Bettina atmete tief und schloß dann wieder die Augen. So lange Vals Mutter die Zügel hielt – sie meinte natürlich MM –
Am andern Morgen war ihr der Traum noch sehr gegenwärtig, sie fühlte noch die Beschwingtheit, das Mitgerissensein und die klare, herbe Luft, die sie eingeatmet hatte. Wunderbar war das gewesen, wirkliches, richtiges Leben, ganz anders als das gedrückte Dasein hier, wo man sich nicht traute, man selbst zu sein, weil man damit ja dauernd aneckte. Wenn Val so wäre wie seine Mutter –
Val – es war, als zöge es sie wieder auf die Erde zurück, sobald sie an ihn dachte. Früher war er oft gekommen; seit sie in Holgershof war, kam er fast jedes Wochenende, das sie nicht zu Hause verbrachte, manchmal brachte er sie auch mit dem Motorrad hin. Jetzt kam er seltner, und wenn, war er oft still und merkwürdig. Sie merkte natürlich, daß die gesamte Maidenschaft sich den Hals verdrehte, daß die Lehrerinnen aufmerkten, wenn ein Motorrad in den Hof einfuhr, und sie hätte gern die Rolle gespielt, die man von ihr erwartete: die Liebende, die auf den Mann ihres Herzens wartet. Wer läßt sich nicht gern beneiden! Und sie wartete ja auch, aber –
Vielleicht liebte sie ihn nicht. Wer kann schon wissen, was Liebe ist, wenn er es noch nie erfahren hat? Manchmal überlief es sie heiß, wenn er ihre Hand mit der seinen streifte, und mitunter drückte es ihr fast das Herz ab, wenn sie allein war und an ihn dachte. War er aber da, so benahm sie sich unfreundlich und stachlig und ärgerte sich über ihn, obwohl er geduldig und rührend war – gerade daß er es war, brachte sie auf. Alle ihre Launen ertrug er, immer blieb er freundlich, höchstens, daß er stiller wurde, sich in sich zurückzog, betrübt, aber nicht verletzt. Nein, übel nahm er nicht.
Wenn er doch wäre wie seine Mutter! Diese Frau hatte in ihrer Erinnerung einen Strahlenkranz bekommen, der um sie leuchtete und sie schöner und schöner machte – ganz ähnlich wie MM. Nein, Geduld und Rücksichtnahme waren nicht das richtige für einen Mann. Bettina versuchte, sich mit dieser Formel abzufinden. Val war kein Mann in diesem Sinne, jedenfalls keiner, wie sie ihn sich wünschte. Wenn er einmal, ein einziges Mal energisch geworden wäre oder auch nur ärgerlich, wenn er ein einziges Mal versucht hätte, sie zu küssen, obwohl sie sich wehren würde – sie hätte sich vielleicht nicht ernstlich gewehrt. Aber er tat es nicht. Er sehnte sich nach ihr, er litt – sie merkte das genau. Es machte sie wütend und verzweifelt – litt sie nicht auch? Er war der Mann, er hatte die Initiative zu ergreifen ...
Dann kam die Entscheidung, von außen, von einer Seite, wo sie es nicht erwartet hatte. Eines Tages erschien ihr Bruder Mart in Holgershof, das war noch nie dagewesen. Bettina ahnte gleich nichts Gutes, und es erwies sich sofort, daß sie recht gehabt hatte. Sie wurde beim Sonntagsfrühstück aufgerufen, sie solle in den Hof kommen, zwei Herren wollten sie sprechen. Sie ging hinaus, Fräulein Fröhlich, ihre Gruppenmutter, neben sich.
»Das ist mein Bruder«, sagte sie, ziemlich entgeistert, »was machst du denn hier, Mart?«
»Ein Bekannter nahm mich mit dem Auto mit. Darf ich vorstellen«, er nannte den Namen des anderen, der sich aber bald verabschiedete, er würde Mart wieder hier abholen. Fräulein Fröhlich wandte sich wieder dem Hause zu, und Bettina führte Mart in den Park.
»Was ist denn los? Ist was mit den Eltern passiert?«
»Ich muß mit dir reden«, sagte Mart, und nun erfuhr Bettina, daß ihre Vorahnung richtig gewesen war. Gutes bedeutete Marts Besuch nicht.
Sie hatte ihren Bruder immer sehr bewundert und auch ein wenig scheu geliebt. Er war älter als sie, er war gescheiter – Mart war über Durchschnitt begabt, das zeigte sich schon in der Schule, und später im Beruf erst recht, er machte eine große Karriere –, und er war ein Junge, während sie ›nur‹ ein Mädchen war und blieb. Eine Zeitlang, als sie sehr klein war, hatte sie gehofft, eines Tages auch ein Junge zu werden, vielleicht schon an ihrem sechsten Geburtstag, weil er ›so lange sechs‹ gewesen war. Sie besann sich noch genau auf das Lachen ihrer Eltern und ihre bittere Enttäuschung, als sie dies äußerte. Ausgelacht zu werden hatte ihr immer sehr weh getan.
In der Tanzstundenzeit hatte sie sich dann noch mehr an Mart angeschlossen, in jener Zeit, da man von den Eltern innerlich abrückt. Dann aber wurde sein Verhalten ihr gegenüber anders, er kritisierte und verspottete sie, vor allem aber machte er alle jungen Männer herunter, die sich ihr zu nähern versuchten. »In dich verlieben sich nur Flaschen«, sagte er – ›Flasche‹ war damals das gängige Wort für alles, was man zutiefst verachtete –, und das traf sie tief. Es war ja bisher auch noch keiner dabei gewesen, der ihr wirklich gefiel. Diese Worte aber hatten sie verletzt, so sehr, daß sie es sogar fertig brachte, bei einer Gelegenheit mit Mutter darüber zu sprechen. So etwas tat sie sonst nie, aber es hatte ihr allzu weh getan. Mutter sah sie ein wenig mitleidig an und lachte.
»Das mußt du nicht so ernst nehmen. Er meint halt, für dich muß ein ganz besonderer Mann kommen. Brüder, die ihre Schwestern lieben, denken so.«
Die ihre Schwestern lieben? Bettina bezweifelte das. Mutter hatte keinen Bruder gehabt, sie konnte sich da wohl nicht so hineindenken. Bettina selbst fand sich nicht schön, sie wäre lieber so gescheit gewesen wie er, denn sie hatte wenig Geschick, sich hübsch herzurichten, und Marts damaliger Bekanntenkreis legte großen Wert darauf. Dazu kam, daß er den Beruf, den sie sich ausgesucht hatte, blödsinnig fand und sich genierte, bei seinen Freunden zuzugeben, daß sie aufs Land wollte – sie hatte ja nie ausgesprochen, warum. In diesem Punkt stimmte er mit den Eltern völlig überein. Sie schüttelten nach wie vor den Kopf darüber, sogar Mutter, die doch vom Lande stammte. Sie war wohl nie das gewesen, was man unter einem Landmenschen verstand, und nun lebte sie schon lange in der Stadt.
Und jetzt war Mart also gekommen und fragte, ob dieser – schon, daß er ›dieser‹ sagte, verhieß nichts Gutes, Bettina fühlte es genau – dieser Valentin Kluge oft hier wäre.
»Manchmal«, sagte Bettina mit dem Versuch, trotzig zu erscheinen, und wagte sogar, hinzuzufügen: »Und warum nicht?«
»Weil es uns nicht paßt, den Eltern und mir, daß er herkommt und dir den Kopf voller Flausen setzt«, sagte Mart scharf. »Er gefällt uns nicht, verstehst du. Sein ganzes Verhalten«
»Aber er war doch immer – er kam doch immer zu uns. Wir kennen ihn doch durch Vater und seine Sängerschaft –«
»Um so schlimmer. – Hast du was mit ihm?« fragte Mart jetzt geradezu. Bettina fühlte, wie sie rot wurde und ärgerte sich darüber.
»Was geht dich das an! Das wäre ja meine Sache«, sagte sie wütend. »Du hast mir überhaupt keine Vorschriften zu machen.«
»So, und die Eltern? Auch nicht?« fragte Mart zornig. »Dieser Mann ist nicht integer. Nimm das bitte zur Kenntnis! Er will ins Ausland gehen. Findest du das vielleicht gut? Sich hier in Deutschland ausbilden zu lassen, als Chemiker, jeder Student kostet den Staat Tausende, daß du es nur weißt! Und dann sein Wissen anderen Ländern zur Verfügung zu stellen? Ist das etwa Vaterlandsliebe? Das ist Verrat!«
»Das will er ja gar nicht«, sagte Bettina verstört, »mir hat er gesagt –« sie stockte.
»Was denn? Was hat er denn gesagt?« fragte Mart leise, aber heftig.
»Daß er Lehrer werden will – eventuell. Sobald er den Doktor hat –«
»Und damit hat er dich eingewickelt!«
»Überhaupt nicht eingewickelt. Wie kannst du so was behaupten –« Bettina fing an zu weinen. Damit hatte sie verloren, das wußte sie. Sie war Mart nicht gewachsen. Insgeheim war sie sich nicht sicher, ob er vielleicht doch recht hätte, klüger und gescheiter und weitblickender als sie, wie er war.
»Ich lass’ mir von dir keine Vorschriften machen«, sagte sie mit dem kläglichen Versuch, sich zu behaupten. Aber Mart ging darüber hinweg.
»Von mir? Von den Eltern vielleicht doch, oder etwa nicht? Die deine Ausbildung bezahlen, die kurz treten und sparen, damit du in diesem nicht billigen Internat sein kannst –«
›Dich bilden sie ja auch aus‹, dachte Bettina verzweifelt, ›du durftest sogar ein Semester im Ausland studieren.‹ Aber sie sagte es nicht. Sie kam gar nicht zu Worte. Mart fuhr fort:
»Wenn du also derart uneinsichtig bist, müssen wir uns eben an diesen Mann selbst wenden. Ich spreche mit ihm, verstanden? Ich sage den Eltern, daß mit dir keine Diskussion möglich ist, und nehme ihn mir dann vor. Das ist deine Schuld, ich kann es nicht ändern.«
So war diese ›Diskussion‹ verlaufen. Mart fuhr bald wieder ab und Bettina blieb zurück, verstört und ratlos. War Val wirklich so, wie Mart ihn sah? Ein Vaterlandsverräter? Dann war es natürlich klar, daß sie mit ihm nichts mehr zu tun haben konnte.
Es war das erstemal, daß die Politik in Bettinas Leben eingriff. Sie merkte das nicht, ahnte es nicht einmal – obwohl es die Zeit war, da sich die Geister schieden. Val kam auch nicht mehr. Nur einmal noch, aber da war es nicht möglich, über diese Fragen mit ihm zu sprechen. Er war wortkarg und schien sehr bedrückt, und sie konnte auch nur ein paar Minuten für ihn erübrigen, da sie das Aufsichtsamt innehatte. Ob Mart mit ihm gesprochen hatte und worüber, vermochte sie nicht herauszuhören, fragen wollte sie nicht. Jedenfalls hatte er vor, ins Ausland zu gehen, darin behielt Mart recht. Später – sehr viel später – erfuhr sie, daß Mart und Val politisch verschiedener Meinung waren. Über diese Kluft kam keiner hinweg; Kinder und Eltern, beste Freunde und Liebende entzweiten sich, weil ihre politischen Meinungen sie auseinandertrieben. Es war eine schlimme und tödlich gefährliche Zeit, und sie führte ja auch in einen Abgrund, wie er seit dem Dreißigjährigen Kriege nicht tiefer gewesen war. Mart hatte es begriffen, Bettina nicht. Bettina meinte, Politik ginge sie nichts an. Damals waren viele Frauen dieser Ansicht, vor allem die jungen. Sie sahen nur, wie die Not im Lande wuchs und wuchs, und wie jeder, der eine Möglichkeit hatte, sich und die Seinen durchzubringen, krampfhaft daran festhielt. Für sie, Bettina Knappe, gab es nur die Möglichkeit, landwirtschaftliche Lehrerin zu werden und sich damit durchs Leben zu bringen, sie hatte diesen Beruf ja selbst gewählt. Kleine, verschwindend kleine Aussicht vielleicht, einmal zu heiraten. Aber heiraten wollte und konnte sie nur, wenn sie einen Mann wirklich liebte. Das wußte sie von sich, und sie kannte sich gut genug, sicher zu sein, daß sie hier keine Kompromisse machen würde.
Ja, und mit Val, mit Valentin Kluge, das war nun auch vorbei. Hätte sie ihn geliebt, so wäre sie mit ihm gegangen, wohin auch immer, das fühlte sie. Aber auch er schien sie nicht zu lieben. Hatte er je ein Wort davon gesagt?
Am ersten Oktober trat eine neue Schülerin in Bettinas Seminar ein, obwohl in Holgershof das Schuljahr im Frühjahr begann. Dies allein war schon ungewöhnlich, außerdem brauste ihrem Kommen ein Ruf voraus wie Donnerhall, wie die Maiden es nannten. Erstens war sie adlig, als einzige bisher, zweitens hatte sie, so raunte man, vor ziemlich kurzer Zeit einen schweren Unfall gehabt, Autounfall, das war damals sehr selten. Und drittens und letztens wartete im Büro bereits ein Stoß Post auf sie, der zweifellos von Männerhand stammte, von verschiedenen Männerhänden auch noch. Dies vor allem machte sie bei den »Maiden« interessant, beim Kollegium verdächtig. Wer viel Liebe im Kopf hat, kann keinesfalls eine strebsame Schülerin sein, folgerte man. Der Ausdruck »Maid« hatte übrigens mit den späteren Arbeitsmaiden nichts zu tun. »Maid« wurde jede Schülerin einer Reiffensteinschen Schule – falls sie sich würdig genug benahm. Bettina hatte man damals nach ihrem Ritt angedroht, die Maidenbrosche zu entziehen. Es blieb bei der Drohung, war aber sozusagen die letzte Warnung. Es war einer der Gründe, warum sie sich so bedrückt fühlte. Als sie das erstemal mit dieser Marianne von Geldern sprach, war ihr, als ginge ein frischer Wind durch ihr Herz. Sie saß ihr bei Tisch gegenüber.
»Ihr habt ja alle einen Vogel hier«, sagte die Neue, »nichts im Kopf als Stunden und Schularbeiten und das Examen, das doch noch lange nicht kommt. Mir sind andere Dinge wichtiger«, und damit nahm sie sich eine wahrhaft horrende Portion rote Grütze auf den Teller. Alle am Tisch aßen sehr bescheiden, weil niemand dick werden wollte, dafür wurde unheimlich viel genascht. Bettina verbiß sich ein Lachen.
»Wie kommst du eigentlich hierher? Du paßt doch gar nicht in diesen Stall«, sagte sie mit vollem Mund zu Bettina. Bettina, die genau merkte, daß die Lehrerin am Tischende mithörte, antwortete ehrbar: »Du meinst, weil ich aus der Stadt bin? Ich muß noch viel lernen.«
»Sag mal, bist du wirklich so blöd oder stellst du dich nur so?« fragte Marianne, als man aufgestanden war. »Ich denke nicht dran, Lehrerin zu werden, eher nehm’ ich mir einen Strick und erschieß mich. Sieh sie doch an, die Vogelscheuchen!« Sie wies zum Kollegium hin, das in einer Stehkonferenz um den ersten Tisch versammelt war.
»Nicht so laut«, wehrte Bettina ab, »hier hört alles mit. Wir müssen uns mal allein darüber unterhalten.«
»Gut, ich komm heute abend mal zu dir. Mit wem wohnst du denn zusammen?«
»Mit Ilse Bart. Die ist über das Wochenende nicht da«, sagte Bettina vergnügt. »Ja, komm nur.« Sie hatte sich vor dem einsamen Abend etwas gegrault.
Es wurde eine sehr lustige Nacht. Marianne erzählte die ganze Zeit über; sie hatte Kuchenreste, eine Flasche Saft und belegte Brote mit, alles aus der »Verwaltung«, also illegal erworben. Dazu lud sie Bettina ein, wie sie sagte. Hinterher verstopften sie wieder das Schlüsselloch und rauchten.
Bettina fragte ziemlich bald nach dem Unfall, von dem erzählt worden war, sie war natürlich neugierig.
»Ja, das stimmt, nach einer Tanzerei ist das passiert«, erzählte Marianne, »und ich hatte auch noch ein geborgtes Kleid an. Immer passieren mir solche Sachen, wenn ich was Geborgtes trage. Die Reparatur kostete dann schrecklich viel, aber zum Glück wurde der Fahrer verurteilt und ich bekam Schmerzensgeld; er hatte schon einmal eine Familie kaputtgefahren. Wir kamen von einem Hausball, eine befreundete Familie und ich, und das Auto segelte einen Hang hinunter, weil das Licht ausging, und schlug um. Es war ein schweres Ding, offen. Mir fiel es gerade auf den Bauch, die andere flog hinaus, sie hatte dann nur eine Fleischwunde. Aber der alte Herr, der mit war, bekam es auf die Schulter, und seine Frau war gleich tot. Ich wußte es sofort, als ich sie sah, aber er dachte immer noch, sie lebte, als wir ins Krankenhaus fuhren, und sagte dauernd: »Marianne, halt meine Frau fest, damit ihr nichts passiert –«
Bettina schauderte. »Na, und weiter?«
»Ich bin ziemlich bald unter dem Wagen rausgekommen und hat’ mit der anderen zusammen versucht, ihn anzuheben. Aber er war furchtbar schwer, wir zählten immer: eins – zwei – drei – hopp!, aber wir schafften es nicht. Und da –«
»Kam denn niemand zur Hilfe?«
»Erst nicht, wir versuchten zwar, Radfahrer anzuhalten, aber ich konnte nicht schnell laufen, und wenn wir die Lichter sahen, waren sie schon wieder halb vorbei. Und nur oben auf der Straße stehen und warten wollten wir auch nicht, weil sie unten so stöhnten und wir ihnen helfen wollten. Einer weigerte sich auch, den ich anhielt, er dachte vielleicht, es wäre eine Falle.«
»Und dann?«
»Ja, zuletzt kamen dann doch Leute und halfen uns, aber da konnte ich schon nicht mehr, ich hatte ja einen Beckenbruch, auch wenn die Ärzte später sogar abgestritten haben, daß ich überhaupt noch hätte laufen können. Aber das muß ich wohl besser wissen. Wir kamen ins Leisniger Krankenhaus und standen am nächsten Tag in der Zeitung, ganz vorn, fettgedruckt. Das war doch mal was! Und dann sagten sie mir, es würde nie wieder gut, und ich müßte lebenslänglich im Rollstuhl fahren.«
»Um Gottes willen«, stammelte Bettina, »war das nicht fürchterlich für dich?«
»Ach, da hätte ich mir das Leben genommen, wenn das wahr gewesen wäre«, sagte Marianne sachlich, »so ein Leben ist doch keins. Nicht heiraten können und keine Kinder kriegen und so – aber ich dachte, ich warte erstmal ab. Meine Mutter kam am nächsten Morgen und besuchte mich, ich war in Gips, bis über die Hüften, bloß das eine Bein war locker, das fiel mir in der Nacht dauernd raus. Ich mußte immerzu nach der Schwester klingeln, sie dachte bestimmt, es wäre Schikane. Na, und meine Mutter! Die hat mit mir überhaupt dauernd Ärger, meine Schwestern sind ganz anders als ich.«
»Du auch? Bei mir ist das ganz ähnlich«, seufzte Bettina, »wenn ich auch nicht verunglückt bin. Aber meine Geschwister machen meinen Eltern niemals Ärger –«
»Das hier scheint mir ein Verein gestrandeter Existenzen zu sein«, sagte Marianne vergnügt, »laß mal, ich fühl mich ganz wohl bei den Außenseitern. Ist der Ruf erst ruiniert, lebt man gänzlich ungeniert.«
»Na, ich weiß nicht. Wie lange mußtest du da liegen?«
»Zehn Wochen. Aber der Arzt war furchtbar nett, noch jung, und nannte mich immer Wurschtel. Auch die Schwestern. Weil ich nicht still liegen konnte und sich alles Bettzeug unter mir immer verwurschtelte. Und meine Mutter schimpfte. Aber das mit dem Kleid hat sie Gott sei Dank nicht erfahren, es war unterdes heilgemacht, und ich konnte es auch bezahlen. Das war wichtig, ich hatte es mir nämlich geborgt, ohne zu fragen.«
»Aber der alte Herr hat überlebt?«
»Ja, und wieder geheiratet. Männer trösten sich, das ist nun mal so. – Sag mal, du hattest doch einen, der immer mit dem Motorrad kam, haben sie mir erzählt. Stimmt das? Und warum kommt er nicht mehr?«
»Weil – ich –«
»Hast du einen anderen?«
»Aber wo. Nur –«
»Ja, manchmal klappt es eben nicht so«, sagte Marianne verständnisvoll, »ich hab’ auch ein paar zur Auswahl, aber der eine ist noch nichts und der andere hat eine andere, jedenfalls – na, einen werd’ ich mir schon greifen. Und dann kann mir der ganze Holgershof im Mondschein begegnen. Heiraten will ich, auf jeden Fall heiraten. Landwirtschaftliche Lehrerinnen werden gern geheiratet, weil sie so praktisch sind und alles können. Das hat mir den letzten Dreh zu diesem Beruf gegeben. Ich möchte gern aufs Land heiraten, weil ich viele Kinder haben will. Da ziehen sie sich leichter auf. Möchtest du auch Kinder?«
»Ja. Lauter Söhne.«
»Natürlich Söhne. Denkst du, ich wünschte mir Töchter, die dann womöglich so wie ihre Mutter werden? Nee, vielen Dank. Lieber Söhne, und alle groß und stark –« sie lachte und nahm noch eine Zigarette. »Die Namen weiß ich auch schon. Ich weiß viele schöne Jungennamen.«
»Ich auch.« Bettina schwieg. Marianne schwieg auch eine Weile. Dann sagte sie, vorsichtig, um nicht unzart zu sein: »Val hieß er? Der, der immer kam?«
»Ja, Val. Eigentlich Valentin. – Ich finde den Namen übrigens schön, wenn er auch ausgefallen ist.« Es klang ein wenig borstig. Marianne lachte.
»Klar ist er schön. Und er hatte ein Motorrad? Schade. Na, es kann ja noch mancher kommen –«
Von da an sprachen sie öfter miteinander, wenn auch nicht allzu oft, denn Bettina wohnte mit Ilse zusammen, und man schließt sich ja meist der Zimmergenossin an. Doch Mariannes Anwesenheit gab ihr ein neues Gefühl der Sicherheit, ein Wissen: alles ist nicht so schlimm. Es gibt noch andere Dinge als die Meinungen der Lehrerinnen in Holgershof.
Weihnachten kam näher und Bettina freute sich auf das Fest. Dann war es zu Hause immer sehr schön, voller Wärme, voller Liebe, auch voll Musik – Leipzig bot in dieser Hinsicht mehr als andere Städte; das Jahr über gab es die Gewandhauskonzerte, im Winter die herrlichen Motetten in der Thomaskirche. Und anschließend wollte sie wieder ins Winterlager gehen. Sie war früher jugendbewegt gewesen wie eigentlich alle unternehmenden jungen Menschen ihrer Zeit, beim Wandervogel, den Mart belächelte, später dann bei einer Gruppe von Jungen aus Marts Schule, die merkwürdigerweise ein Lehrer gegründet hatte. Man ging im Sommer auf Fahrt, las gemeinsam Shakespeare oder Spitteier, hörte Musik, fast ausschließlich Bruckner und Bach, und diskutierte. Im Winter wurde Ski gelaufen, früher im Erzgebirge, jetzt wegen der größeren Schneesicherheit im Riesengebirge. Man wohnte bei Waldarbeitern, schlief im Heu, kochte selbst und kaufte die Nahrungsmittel im Böhmischen, weil sie da billiger waren. Auf gemeinschaftlichen Fahrschein fuhr man für wenig Geld von Leipzig nach Krummhübel, und außer Bettina war meist kein Mädchen dabei, sie als Marts Schwester wurde ›geduldet‹. Die jungen Männer waren zwischen achtzehn und fünfundzwanzig Jahre alt, jeder eigen in seiner Art, manche reichlich verschroben. Für Bettina war es so ziemlich der Höhepunkt des Jahres, herrlich in seiner klaren Kameradschaft und dem manchmal sehr anstrengenden Sport; Skilaufen mit solchen Jungen war eine tolle Schinderei. Alles dies, die blaugeschlagenen Hüften, der Muskelkater, die Schrammen – wie sehr wünschte sich Bettina jedes Jahr eine ordentliche Narbe im Gesicht, mit der man angeben könnte! –, das alles gehörte dazu und erschien ihr wunderschön. Bettina hatte dann manchmal das Gefühl, als sei sie gar nicht so unzulänglich, sondern ein ganz tüchtiger Kerl, ja, manchmal dachte sie in Hochstimmung: ›Was kostet die Welt!‹, wenn ihr eine Abfahrt gelungen war. Und man konnte von diesem spartanischen Lager so gut auf alle engstirnigen, stubenhockenden oder in teuren Hotels eingemieteten Leute herabsehen. »Gelobt sei, was hart macht!« wurde häufig zitiert.
In diesem Jahr nun wollte Marianne mit. Sie hatte Bettina kurz vor den Ferien darauf angesprochen und ihr einfach die Pistole auf die Brust gesetzt: »Du, sag mal ganz ehrlich ja oder nein. Ich nehme nichts übel, das weißt du. Kann ich dieses Jahr mit euch ins Winterlager? Ich hab’ sonst keine so billige Gelegenheit zum Skilaufen.«