Bittertrauben - Karin Joachim - E-Book

Bittertrauben E-Book

Karin Joachim

4,8

Beschreibung

Im Ahrtal laufen die Vorbereitungen zum »Tag der offenen Weinkeller«. Jana Vogt, Tatortfotografin aus Köln, arrangiert gerade ihre Landschaftsfotografien für eine Ausstellung, da wird sie Ohrenzeugin eines Komplotts. Wird es Jana gemeinsam mit dem Koblenzer Kriminalkommissar Clemens Wieland gelingen, das Verbrechen zu verhindern? Der Wein und die aufkeimende Liebe benebeln die Sinne, und um Mitternacht liegt plötzlich ein Toter auf der Brücke über die Ahr. Befindet sich der Mörder unter den Gästen des Weinguts?

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Karin Joachim

Bittertrauben

Kriminalroman

Zum Buch

Komplott Die Kölner Tatortfotografin Jana Vogt ist mit ihrem Berufsleben alles andere als zufrieden. Daher überlegt sie als freie Fotografin noch einmal neu durchzustarten. Beim Wettbewerb einer rheinischen Weinzeitung gewinnt sie mit ihren Landschaftsfotografien die Teilnahme an einer Ausstellung in einem Weingut an der Ahr. Am Vorabend des »Tages der offenen Weinkeller“ fährt sie mit ihrem Hund Usti nach Rech und wird während ihrer Ausstellungsvorbereitung im Weinkeller Ohrenzeugin eines Komplotts.

Neben der Rätselhaftigkeit des Gehörten gibt es ein weiteres Problem: Am nächsten Tag werden Scharen von Weinliebhabern in den Ort an der Ahr strömen. Sind diese in Gefahr? Wird es Jana gemeinsam mit dem Koblenzer Kriminalkommissar Clemens Wieland gelingen, das Verbrechen zu verhindern? Um Mitternacht liegt plötzlich ein Toter auf der Brücke über die Ahr. Und der Mörder scheint sich unter den Gästen des Weinguts zu befinden.

Karin Joachim wurde in Bonn-Bad Godesberg geboren und lebt seit über 20 Jahren im Ahrtal. Die studierte Germanistin und Anglistin leitete 14 Jahre lang das archäologische Museum Roemervilla in Bad Neuenahr-Ahrweiler und ist heute als freiberufliche Autorin und Lektorin tätig. 2016 erschien ihr erster Regionalkrimi »Krähenzeit“ im Gmeiner Verlag.

Homepage der Autorin: www.karinjoachim.de

Autorenseite bei Facebook:

www.facebook.com/KarinJoachimAutorin

Autorenseite bei LovelyBooks:

www.lovelybooks.de/autor/Karin-Joachim/

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Krähenzeit (2016)

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2018 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2018

Lektorat: Sven Lang

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Kartengestaltung: Benjamin Arnold

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Visions-AD/fotolia.com

ISBN 978-3-8392-5584-1

Widmung

In Erinnerung an Lina

Karte

 

Prolog

1984

Verlegen malte der Junge mit seiner Schuhspitze Muster in den Staub. So eine Frechheit!, dachte er. Was bildete er sich nur ein?

»Du wirst es nie zu etwas bringen«, wiederholte der Freund, der einige Jahre älter war als er selbst, und sich neben ihm auf die Bank fläzte. »Schau dich doch nur an. Deine Klamotten sind so was von nicht cool.«

Er schluckte. Natürlich hatte er recht, seine Klamotten waren nicht cool. Verstohlen blickte er auf die Nike-Turnschuhe seines Freundes.

»Ja, da guckst du. Die sind in Amerika gerade voll im Trend!«

Er senkte verlegen seinen Kopf. Immer wenn er mit seinem Freund zusammen war, fühlte er sich klein. Konnte so jemand überhaupt ein Freund sein, der ihm immer das Gefühl gab, nichts wert zu sein? Ständig nörgelte er an seinen Klamotten herum. Auch wenn seine Turnschuhe nicht der Hit waren, so trug er sie doch gerne. Aber so richtig beneidete er seinen Freund um dessen Walkman.

»Willst du mal hören?«

Gönnerhaft reichte er ihm den Kopfhörer. Auf seinem Gesicht zeichnete sich ein überhebliches Grinsen ab.

»Darf ich?« Fast zitterten seine Hände, als er den Kopfhörer entgegennahm.

Dann hörte er zum ersten Mal diese Musik, die ihm wie aus einer fernen Welt zu kommen schien. In seiner Umgebung hörten die Leute ganz andere Musik als diese.

»Wie heißt der Sänger?«, fragte er schüchtern.

»Michael Jackson.« Sein Freund wurde ungeduldig. »Nun gib schon wieder her!«

Eine Weile saßen sie stumm nebeneinander. Sein Freund fuchtelte selbstbewusst mit den Händen herum und wippte mit den Füßen im Takt der Musik, die durch den Schaumgummi der Kopfhörer nur als ein blechernes Säuseln zu ihm drang. Ab und an kreischte er seltsame Wörter wie »thriller« oder »beat it«, Worte, die wie Fremdkörper über das Tal segelten.

»Hier, probier mal das Bonbon«, mit einer selbstbewussten Geste reichte er ihm ein Bonbon, das in grünes Papier eingewickelt war. Schüchtern nahm er es entgegen.

»Schmecken ganz okay«, sagte sein Freund.

Er wickelte das Bonbon aus dem Papier und schob es in seinen Mund, um es nur wenige Sekunden später auszuspucken. »Bäh! Willst du mich verarschen? Das ist voll sauer!«

Schon wieder so eine Gemeinheit. Heute fühlte er sich klein und mickrig. Irgendwann würde er es allen zeigen, die ihn hänselten und ihn für einen Verlierer hielten.

Tag 1 – Freitagnachmittag

Die Bremsen ihres Wagens quietschten, bis er zum Stehen kam. Hinter sich hörte sie ein leises Stöhnen. Obwohl Usti auf der Rücksitzbank angegurtet war, hatte ihn das Bremsmanöver ordentlich durchgeschüttelt. Er begann vor Aufregung zu hecheln. Glücklicherweise hatte sie das Auto, das von der Brücke auf die Bundesstraße einbiegen wollte, noch rechtzeitig bemerkt. Rechtzeitig war jedoch relativ, denn nur wenige Zentimeter trennten die beiden Motorhauben voneinander. Jana hatte völlig unterschätzt, wie eng die Brückendurchfahrt war. Wenigstens hatte sie das Lenkrad nicht verrissen, sonst wäre sie vermutlich in der steinernen Brüstung gelandet. Reumütig suchte sie den Blickkontakt zum Fahrer des Autos, das immer noch auf der Brücke stand und nicht weiterfahren konnte, da sie die Straße blockierte. Das aufgeregte Wedeln hinter der Windschutzscheibe ließ nur einen Schluss zu: Sie sollte schleunigst den Rückzug antreten. Aber wie? Mittlerweile hatte sich hinter Jana eine Schlange gebildet. Sie versperrte allen Fahrzeugen den Weg, auch jenen, die aus der anderen Richtung kamen. Erstes Hupen war zu hören. Zerknirscht legte sie den Rückwärtsgang ein und manövrierte langsam zurück, bis der Rückfahrassistent energisch zu piepen begann. Noch einmal setzte sie nach vorn und dann wieder zurück, bis sie die Fahrbahn endlich frei gemacht hatte. Der Fahrer, den sie so unsanft ausgebremst hatte, warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu, während er ahrabwärts an ihr vorbeizog. Hinter ihr erklang erneut ein Hupen, diesmal wesentlich bestimmter als zuvor. Sie hasste es, als schlechte Autofahrerin aufzufallen, die sie nicht war. Die Tarnkappe, die sie sich wünschte, ließ auf sich warten. Immerhin realisierte sie, dass zumindest ein Fahrer ihr durchaus wohlgesinnt war. Mit Lichtzeichen und Winken gewährte ihr der Mann im ersten Wagen auf der Gegenfahrbahn Vorfahrt. Jana bedankte sich artig, legte den ersten Gang ein und steuerte vorsichtig auf die Brücke über die Ahr. Vor ihr lag der kleine Ort Rech. Sie seufzte leise und atmete erleichtert auf, als ihr Navi signalisierte, dass sie ihr Ziel in wenigen Metern erreicht haben würde.

Vor dem Weingut mit den frei liegenden Holzbalken brachte sie ihr Auto zum Stehen. Nachdem sie sich versichert hatte, dass ihrem Hund beim kleinen Zwischenfall von eben nichts passiert war, stieg sie aus und ging zum Eingang des Weingutes. Vergeblich suchte sie nach einer Klingel. Schließlich drückte sie die Klinke der schweren Eingangstür herunter und stellte fest, dass sich diese öffnen ließ. In der dahinter liegenden Halle schlug ihr ein leichter Weingeruch entgegen. Die Tür war noch nicht ins Schloss gefallen, da näherte sich Jana bereits ein Mädchen, das dort zu arbeiten schien.

»Guten Tag, Sie wünschen?«, fragte es und wischte seine feingliedrigen Hände an der weinroten Schürze ab.

»Ich bin Jana Vogt und möchte meine Fotos für die morgige Ausstellung vorbeibringen.«

»Ach ja«, antwortete das Mädchen. Eine dunkelblonde Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht, die sie versuchte wegzupusten. »Frau Bönisch hat mir davon erzählt. Die kommen in den Weinkeller. Wo haben Sie die denn?«

»Mein Auto steht vor der Tür.«

»Oh, das werden Sie wegfahren müssen, die Straße ist an der Stelle sehr eng. Ich komme mal mit raus.«

Mit großen Schritten, die gar nicht zu dem zarten Mädchen passten, eilte es zur Tür, um sie für Jana aufzuhalten. Jana bedankte sich und ging zum Kofferraum, aus dem sie die ersten der auf ein festes Trägermaterial aufgezogenen Fotos entnahm. Gerade wollte sie diese auf den Boden stellen, als auf der Straße ein heller Kastenwagen auf sie zugerollt kam.

»Ich glaube, Sie müssen hier weg. Der kommt nicht durch«, bemerkte das Mädchen. »Am besten Sie fahren auf den Parkplatz hinter dem Haus. Ich kann ja schon mal diese Fotos ins Weingut bringen.«

»Wie komme ich denn dahin?«

»Sie wenden vor der Kirche, fahren dann einige Meter zurück bis zur ersten Straße, die links abgeht. Da fahren Sie rein und wenn Sie am alten Schulgebäude vorbeigefahren sind, erreichen Sie den Parkplatz.«

Jana bedankte sich und signalisierte dem ungeduldig wartenden Fahrer des Kastenwagens, dass sie Platz machen würde. Während sie in ihr Auto einstieg, rief ihr das Mädchen zu: »Wenn Sie gleich wiederkommen, hat die Chefin bestimmt Zeit für Sie!«

»Winzerschmaus« stand auf der Schiefertafel, die an der Rückseite des Weingutes aufgestellt war. Ein Pfeil wies den Weg zum Vordereingang. Jana hatte augenblicklich Bilder von einer Schinken-Käse-Platte garniert mit Weintrauben und Tomaten im Kopf. Vielleicht gab es dazu Bratkartoffeln. Ab und an mochte sie die kleinen, deftigen Gerichte, die einer Region ihren eigenen Charakter verliehen. Sie spielte gedankenversunken mit ihrem Autoschlüssel und atmete die kühle Frühlingsluft ein. Die Ruhe tat ihr gut und der kleine Zwischenfall eben an der Brücke war bereits vergessen. Als sie vorhin in Köln losgefahren war, hatte der übliche Freitagsstau auf den Ringen geherrscht und sie fast in den Wahnsinn getrieben. In ihrem Herz machte sich ein leichtes, wohliges Ziehen bemerkbar, als sie die Berge zu beiden Seiten der Ahr betrachtete. Immer wenn sie sich im Ahrtal aufhielt, entwickelte sich in ihr dieses entspannende Gefühl. Sie seufzte leise. Selbst als sie im Herbst nur wenige Wochen nach der Überführung des Doppelmörders wieder ins Tal zurückgekehrt war, ließ der Zauber der Landschaft keine unangenehmen Erinnerungen wach werden.

Letztes Jahr im Spätsommer hatte sich ihr Leben radikal verändert. Zunächst hatte sie dem Vorfall in einer Kölner Halle keine große Bedeutung beimessen wollen, aber das war ein Fehler gewesen, wie sie sich heute rückblickend eingestehen musste. Das Gefühl der schneidenden Messerklinge hatte sie noch Wochen später an ihrem Hals gespürt, auch als die Wunde längst verheilt und nur eine Narbe zurückgeblieben war, die sie mit einem Halstuch zu kaschieren versuchte. Die sichtbare Narbe kannten die Kollegen, nicht aber die seelische. Sie wussten zudem nicht, was mit ihr passiert war, nachdem ihr jemand das Messer an den Hals gesetzt hatte. Selbst Simone nicht, ihre Freundin und Kollegin in der Dienststelle bei der Kölner Kriminalpolizei.

Jana hatte versucht, so zu tun, als wäre sie die Alte, aber dem war einfach nicht mehr so.

Nach ihrer Rückkehr aus Ahrweiler hatte es zunächst so ausgesehen, als habe sie die traumatischen Ereignisse – sowohl den Zwischenfall in der Kölner Halle als auch das unerwartete Ende des Ahrweiler Falles – seelisch gut überstanden. Doch dann mehrten sich die Anzeichen dafür, dass dem nicht so war. Unbedeutende Bemerkungen der Kollegen ließen sie viel zu harsch reagieren, Einsätze, die ihr sonst nichts ausmachten, belasteten sie plötzlich, Kritik konnte sie kaum noch ertragen. Schließlich rastete sie bei einer Dienstbesprechung, bei der ihr Chef sie auf eine Nachlässigkeit ihrerseits hingewiesen hatte, vor allen Kollegen völlig aus, worauf ihr Chef ein Gespräch mit ihr führte und sie dazu drängte, einen Termin beim Polizeipsychologen wahrzunehmen. »So jedenfalls kann ich dich nicht mehr zu Einsätzen schicken«, hatte ihr Chef gemeint und ihr offenbart, dass er, der als Einziger über die wahren Begebenheiten in der Kölner Halle im Bilde war, sie in den Innendienst versetzen musste. »Zu deinem eigenen Schutz«, hatte er ergänzt. Nach dieser unerwartet deutlichen Ansage fiel es ihr nicht leicht, unbefangen mit ihm umzugehen und so vermied sie fortan lieber jedes Gespräch mit ihm, obwohl sie zu gerne in Erfahrung gebracht hätte, wen er eigentlich schützen wollte. Sich, weil er ihr kein Disziplinarverfahren angehängt hatte, oder sie vor sich selbst. Die Verärgerung über seine bevorzugte Mitarbeiterin konnte Jana nach einigem Abstand zu den Ereignissen nur allzu gut verstehen: Dass sie sich in Ahrweiler, in einem anderen Bundesland noch dazu, in die Ermittlungen von Kommissar Wieland eingemischt hatte, hätte sie ihren Job kosten können. Der Vorfall in Köln konnte für ein derartiges Fehlverhalten kaum als Entschuldigung herhalten, auch wenn sie psychisch angeknackst war. Sie hatte ihn enttäuscht.

Jana lehnte sich an die Kofferraumtür ihres Autos. Drinnen hörte sie Usti leise brummeln. Sie ließ ihren Blick schweifen. Jetzt im April wirkten die Weinberge noch recht verschlafen. Aber die vom blauen Nachmittagshimmel entsandten Sonnenstrahlen kitzelten Frühlingsgefühle wach. Und sie wärmten. Jana streifte ihre Strickjacke ab, öffnete den Kofferraum und legte die Strickjacke neben ihre Für-alle-Fälle-Tasche. Zwei große braune Augen schauten sie von der Rücksitzbank aus erwartungsvoll an. Sie konnte Ustis schmachtendem Blick nicht länger widerstehen, öffnete die Autotür, löste den Gurt von seinem Geschirr und ließ ihn herausspringen. Um alle Anspannung loszuwerden, schüttelte er sich kräftig und machte dabei ein paar Schritte vorwärts, was ziemlich komisch aussah.

»Hier geblieben!«, rief Jana und schaffte es gerade noch, den Karabiner der Leine an seinem Geschirr zu befestigen, bevor er sich davonschleichen konnte. An der Leine führte sie Usti zum Kofferraum, in dem noch die restlichen Fotos lagen. Es war so schön hier. Jana ließ sich auf die Ladefläche plumpsen und kraulte Usti gedankenversunken am Kinn, während sie mit einem Auge auf den blauen Himmel und einen dort oben im Segelflug kreisenden Mäusebussard schielte. Von der anderen Ahrseite drangen die Fahrgeräusche der Autos von der Bundesstraße an ihr Ohr. Aber abgesehen davon lag über Rech eine Glocke beschaulicher Zufriedenheit. Nur einmal hatte Jana bisher einen Abstecher hierher gemacht, als sie auf dem Rotweinwanderweg, der auf der gegenüberliegenden Seite der Ahr verlief, unterwegs gewesen war. Die mächtige Steinbrücke und die Kirchturmspitze in der Ortsmitte hatten damals ihre Aufmerksamkeit erregt.

Nun schien Usti genug vom Kraulen zu haben, denn sein genießerisches Grunzen ging in ein leises, ungeduldiges Fiepen über. Jana klemmte die Fotoleinwände unter den Arm, warf die Kofferraumklappe zu, orientierte sich kurz und folgte dann dem Hinweisschild vom Parkplatz zum Haupteingang des Weingutes, vorbei an einem älteren Nebengebäude.

Sie lief durch die offen stehende Tür in die Eingangshalle des Weinguts und stellte ihre Fotografien auf den Boden zu den anderen, die das Mädchen dort deponiert hatte. Da niemand anzutreffen war, entschied sie sich zu warten. Was blieb ihr auch anderes übrig, denn irgendjemand musste ihr zeigen, wohin sie ihre Fotografien bringen sollte. Auf eine gewisse Weise betrat sie gerade Neuland. Dass sie hier mit eigenen Fotografien stand, die andere für ausstellungswürdig hielten, vermittelte ihr ein zuversichtliches Gefühl. Vielleicht war das hier ja der erste Schritt in ein anderes Leben? Ein Neuanfang als selbstständige Fotografin? Warum nicht statt Spurenträgern, Asservaten und Leichen Landschaften fotografieren? Während der vergangenen Monate war Janas Fotoarchiv mit dem Titel »Ahrtal« mehr und mehr gewachsen. Als sie dann in der Zeitschrift »WeinGenuss&mehr« die Ankündigung eines Wettbewerbs gelesen hatte, konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, dabei mitzumachen. Die Auswahl war angesichts der Fülle an Material gar nicht so einfach gewesen, aber schließlich hatte sie drei geeignete Landschaftsaufnahmen ausgewählt und an die Redaktion des Magazins geschickt. Einige Wochen waren ins Land gezogen und sie hatte den Wettbewerb beinahe vergessen, als sie eines Abends beim Nachhause-Kommen nach einem langweiligen Tag im Innendienst in ihren Briefkasten gegriffen und darin das Schreiben der Redaktion von »WeinGenuss&mehr« vorgefunden hatte:

»Herzlichen Glückwunsch, sehr geehrte Frau Vogt,

wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass Sie eine unserer Gewinnerinnen des Fotowettbewerbs anlässlich des Tags der offenen Weinkeller sind, der in diesem Jahr erneut an der Ahr stattfindet. Für Sie haben wir das Weingut Zerres in Rech ausgewählt. Sie dürfen dorthin nicht nur die von Ihnen eingereichten drei Fotografien mitbringen, sondern sieben weitere Motive Ihrer Wahl.

Nehmen Sie bitte in den nächsten Tagen Kontakt mit unserer Marketingabteilung auf, damit wir alles Weitere besprechen können.

Mit freundlichen Grüßen

Kai-Uwe Radwahn

Redaktionsleiter und Weinkritiker«

Ungeduldig schaute Jana auf die Uhr. Die Chefin des Weinguts ließ sich nicht blicken, auch das vorhin so zuvorkommende Mädchen nicht. Hatte sie draußen zu lange herumgetrödelt? Wie dumm von ihr, wollte sie doch später noch nach Köln zurückfahren, in ihrer Wohnung ein heißes Bad nehmen und den Tag gemütlich ausklingen lassen. Morgen würde sie zeitig nach Rech fahren, um noch vor dem großen Besucheransturm wieder im Weingut zu sein. Das war der Plan. Bestimmt hatte sie die Weingutsbesitzerin verpasst. Wo aber sollte sie die Fotos aufstellen? Neben ihr lag Usti auf dem gekachelten Fußboden und fiepte leise vor sich hin. Das tat er immer, wenn er nicht genügend Aufmerksamkeit bekam oder nicht wusste, wie es nun weiterging. Dass er spazieren gehen wollte, statt hier herumzuliegen, konnte sich Jana denken.

Von der kleinen Eingangshalle des schätzungsweise mehr als 100 Jahre alten Gebäudes gingen mehrere Türen ab. Eine recht breite, aus dunklem Holz gefertigte Treppe führte bestimmt in den Weinkeller. Als sie an den Treppenabsatz herantrat, konnte sie den Geruch von altem Holz, Most und Feuchtigkeit, der aus der Tiefe aufstieg, wahrnehmen. Ohne lange zu überlegen, stieg sie die Stufen hinab, bis sie auf einem Absatz ankam, von dem rechter Hand ein Gang abzweigte. Sie hielt es für klug, nicht weiter herumzulaufen und zu Usti und ihren Fotografien zurückzukehren, als sie am Ende des Ganges ein Rascheln vernahm und wenig später eine männliche Stimme hörte: »Wir können nicht länger warten. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Wir müssen ihn mit unserem Wissen konfrontieren.« Eine kurze Pause folgte. »Die Polizei wird er wohl kaum einschalten, dann würde er ja auffliegen!«

Jana zuckte zusammen. Das klang nicht wirklich beruhigend. Und der letzte Satz deutete durchaus darauf hin, dass eine Straftat geplant wurde. In Gedanken ging sie die möglichen Delikte durch. Es klang wie Nötigung oder Erpressung. Um sich sicher zu sein, brauchte sie mehr Informationen. Sie horchte in die Dunkelheit des Ganges hinein, doch keiner sagte mehr etwas. Was, wenn man sie bemerkt und deshalb das Gespräch abgebrochen hatte? Janas Herz begann schneller zu schlagen, sie hielt die Luft an. Sie konnte nicht sagen, ob mehrere Personen zusammenstanden oder ob lediglich jemand telefoniert hatte. Und was sie planten, wenn sie denn etwas planten … Sie entschied, den Rückzug anzutreten. In einen Hinterhalt wollte sie keinesfalls wieder geraten. Außerdem kam ihr das doch alles sehr absurd vor. Kaum hatte sie das Weingut betreten, wurde ein Verbrechen geplant mit ihr als Ohrenzeugin?

»Jana, misch dich nicht schon wieder in Dinge ein, die dich nichts angehen!«, ermahnte sie sich nachdrücklich und machte auf dem Absatz kehrt, als hinten in der Dunkelheit erneut jemand zu reden begann. Sie konnte beim besten Willen nicht ausmachen, ob es sich um die zuerst gehörte Stimme handelte. Aber was sie hörte, beunruhigte sie: »Morgen ist hier zu viel los, wir müssen es heute noch erledigen. Er wird schon zahlen! Zur Not helfen wir ein wenig nach.«

Es kam ihr immer wahrscheinlicher vor, dass gerade eine Straftat besprochen und geplant wurde. Sie überlegte, was sie tun sollte, als ein fieses, allerdings ziemlich aufgesetzt wirkendes Lachen erschall. Besser war es, sie machte sich jetzt vom Acker. Während sie sich umdrehte, wäre sie fast gestolpert. Sie konnte sich gerade noch am Treppengeländer festhalten. Ihr entwischte ein Fluch.

»Oh, nein«, flüsterte sie, dümmer konnte sie sich wohl wirklich nicht anstellen. Sie horchte, doch die nun immer hektischer klingende Stimme schien sich zu entfernen. Nur noch zwei Worte ließen sich herausfiltern: »Zeichen beachten.«

Jana holte tief Luft. Alles sprach für die Verabredung hinsichtlich eines Verbrechens. Was sollte sie machen? Mit wem könnte sie darüber reden, ohne sich lächerlich zu machen? Sie müsste sich beraten, aber mit wem? In der Eile fiel ihr nur eine Person ein, die bisher immer Verständnis für ihre Assoziationen und unkonventionellen Theorien gehabt hatte: Clemens Wieland, den Koblenzer Hauptkommissar. Sie holte ihr Handy hervor.

War es wirklich eine gute Idee, ihn einfach so anzurufen? Schließlich hatten sie sich nach ihrer gemeinsamen Mordermittlung in Ahrweiler nicht mehr wiedergesehen. Dabei hatte alles so verheißungsvoll begonnen, jedenfalls für Jana. Sie war vor ihrer Begegnung mit Clemens davon ausgegangen, dass sie als Single glücklich sei und ihr irgendwann, in ferner Zukunft, schon der Richtige begegnen würde. Und dann das: Als sie an diesem einen Herbsttag in den Weinbergen Clemens Wieland gegenübergestanden hatte, hatte sie für einige Augenblicke geglaubt, dass er dieser Mr. Right wäre. Bis heute war ihr schleierhaft, warum sie sich damals nicht wirklich nähergekommen waren. Sie hatten sich seitdem nicht mehr wiedergesehen. Die Male, die sie es versucht hatte, war immer die Mailbox angesprungen und auf ihre zaghaften Bitten, er möge sich bei ihr melden, folgte kein einziger Rückruf. Doch, einmal hatte auch er ihr auf die Mailbox gesprochen und sie darüber informiert, dass er viel beschäftigt sei und schwierige Ermittlungen zu leiten habe. Diese Aussage ließ kaum einen anderen Schluss zu, als dass er keinerlei Interesse an ihr hatte.

Sollte sie für sich behalten, was sie gehört hatte? Nein, das ging nicht. Was zwischen ihnen war, war jetzt irrelevant. Selbst wenn ein Hauptkommissar der Mordkommission nicht der richtige Ansprechpartner war, so wollte sie doch unbedingt seinen Rat hören. Sie suchte in ihrem Smartphone nach seiner Telefonnummer, während sie die Stufen emporstieg und wartete, bis die Verbindung hergestellt war. Fast hätte sie nach einigen Sekunden wieder aufgelegt, aber auf einmal war er persönlich dran. Für einen kurzen Augenblick geriet ihr Herz aus dem Takt und pochte schneller.

»Hallo, Clemens, ich bin es, Jana Vogt.«

Und nun weiter? Was sollte sie ihm erklären? Dass sie ein komisches Gespräch belauscht hatte?

»Ich bin in Rech an der Ahr und habe gerade im Weingut Zerres ein komisches Gespräch belauscht.«

Für einige Sekunden war Stille am anderen Ende. Wie peinlich, dachte Jana.

»Hallo, Jana, schön, deine Stimme zu hören. Du bist an der Ahr und hast ein komisches Gespräch mitgehört?« Er lachte. Aber in seinem Lachen schwang kein süffisanter Unterton mit, keine Überheblichkeit und schon gar keine Ablehnung, wie Jana insgeheim befürchtet hatte.

Erleichtert nickte sie, und da er diese Reaktion nicht sehen konnte, schickte sie ein schüchternes »Ja, klingt seltsam, ich weiß« hinterher.

»Oder möchtest du wieder einen Mord melden?«

»Du bist doof!« Mittlerweile hatte sie mit dem Handy in der Hand die Eingangshalle erreicht.

»Um was geht es denn?«, wollte Clemens wissen. Anhand seiner Stimmlage schloss Jana, dass er ganz Ohr war und sie ernst nahm. Angrenzende Türen genau beobachtend begann sie mit gedämpfter Stimme ihre Schilderung, die sie nach nur wenigen Minuten beendet hatte. Während sie seiner Antwort lauschte, behielt sie weiterhin die Kellertreppe im Blick.

»Ich habe heute Nachmittag frei und am Wochenende wollte ich sowieso mal hier raus. Ich komme, wenn du mir sagst, wo genau du bist.«

Sie hatte nicht erwartet, dass er so spontan war und dass sie sich so über seine Ankündigung freuen würde. Noch mehr überraschte sie das leichte Kribbeln in ihrem Magen. Nachdem sie Clemens den Weg zum Weingut beschrieben hatte, verabschiedete sie sich von ihm und zuckte zusammen, nachdem sie fast ein wenig sehnsuchtsvoll hinterhergeschoben hatte: »Ich freue mich, dass du kommst.«

Hoffentlich verschreckte sie Clemens damit nicht, wenn er merkte, wie wichtig es ihr war, ihn wiederzusehen.

»Dann bis später, Jana. Ich denke, dass ich in anderthalb, zwei Stunden da sein werde, ich muss vorher noch etwas erledigen«, sagte er ein wenig zu unverbindlich. Er hatte also sehr wohl registriert, wie sehr sie sich auf ihn freute. Männer fühlten sich häufig von weiblichen Erwartungen in die Enge getrieben. Ob er ihre Beobachtungen nun doch anzweifelte und dahinter einen Vorwand vermutete, ihn wiederzusehen?

»Ja, bis später, Clemens«, antwortete sie verunsichert. Sie interpretierte vermutlich wieder zu viel in alles hinein, als Usti, der die ganze Zeit, ohne einen Mucks zu machen, da gelegen hatte, leise zu knurren begann. Erst jetzt bemerkte Jana den Mann, der auf sie zukam und ihr zur Begrüßung die Hand entgegenstreckte:

»Sind Sie Frau Vogt, die Dame, die bei uns ihre Fotos ausstellen wird?«

»Ja, die bin ich«, antwortete Jana während sie seinen Händedruck erwiderte. »Ich warte auf Frau …« Sie versuchte sich an den Namen der Inhaberin des Weingutes, die eben nicht Zerres hieß, zu erinnern.

»Sie meinen sicherlich meine Schwägerin Marita Bönisch.«

Usti hatte sich nach anfänglichem Knurren beruhigt, nicht nur das, er ließ sich mittlerweile von dem Fremden unter dem Kinn kraulen.

»Ich bin übrigens Johannes Bönisch, das Mädchen für alles hier im Weingut«, er lachte, aber in seinem Lachen schwang ein merkwürdiger Unterton mit, den Jana nicht deuten konnte. Was sie aber ganz klar heraushörte, war, dass Johannes Bönisch nicht gebürtig aus dem Ahrtal stammte. Sie versuchte auszumachen, welchem Dialekt die minimale regionale Färbung seiner Aussprache am ehesten zuzuordnen war, schwankte allerdings zwischen mehreren Möglichkeiten.

»Wissen Sie, wo ich meine Fotos aufstellen kann? Ich würde nämlich gerne bald …«, sie brach ab, denn aus ihrem ursprünglichen Plan, zurück nach Köln zu fahren, würde vermutlich nichts mehr werden. Erst einmal wollte sie auf Clemens warten, auf den sie sich richtig freute.

»Ja, kommen Sie bitte mit«, antwortete Johannes Bönisch, der zunächst noch einige Augenblicke auf die Vollendung des angefangenen Satzes gewartet hatte, und zeigte auf die Kellertreppe. »Wenn es Ihrem Hund nicht zu steil ist, kann er gerne mitkommen.«

Beide blickten fast gleichzeitig auf Usti, der sich wieder auf den Fußboden gelegt hatte und nur ein müdes Zwinkern mit dem rechten Auge für sie übrig hatte. Dann schmatzte er, was wahrscheinlich so viel hieß wie: »Lass mich hier einfach pennen.«

»Wenn Sie möchten, trage ich Ihnen die Fotos nach unten«, bot Johannes Bönisch an. Jana nahm das Angebot dankbar entgegen. Als sie den ersten Treppenabsatz erreicht hatten, spähte sie in den Gang zu ihrer Rechten und lauschte, jedoch war außer ihrer beider Schritte nichts zu hören. Sie folgte Bönisch hinunter bis zum Ende der Treppe. Dort öffnete er eine Tür, auf der ein glänzendes Messingschild mit der Aufschrift »Probenraum« angeschraubt war. Der dahinter liegende Raum war größer und heller, als Jana es erwartet hatte. Es roch nach Wein und frischem Holz. Die Temperatur war angenehm, nicht so kühl, wie sie es sich vorgestellt hatte. Aber ein Probenraum war ja auch kein Weinkeller.

Johannes Bönisch legte die Fotografien vorsichtig auf einen großen Holztisch, dessen Platte eine tadellose Oberfläche hatte und genauso neu wirkte, wie die gesamte restliche Einrichtung.

»Diesen Raum haben wir erst vor Kurzem für unsere Weinproben eingerichtet«, sagte er stolz. »Meine Schwägerin meinte ja, dass wir diese Investition hätten sein lassen können«, er schaute Jana an. Ihr war so, als würde er am liebsten mit den Augen rollen.

»Die habe ich extra für Sie hergestellt.« Johannes Bönisch zeigte auf mehrere hölzerne Staffeleien, die neben einem Weinregal an der Wand lehnten. Er hatte sich wirklich Mühe gemacht. So konnte sie ihre Fotos gut in Szene setzen.

»Oh, das ist perfekt, vielen Dank.«

»Ich muss jetzt leider wieder nach oben, aber meine Schwägerin wird sicher bald kommen. Vielleicht brauchen Sie sowieso einige Zeit allein, um sich umzusehen und den Raum auf sich wirken zu lassen.«

Der Mann schien Ahnung von Ausstellungen zu haben.

»Ja, danke, das mache ich. Die Fotos kommen hier bestimmt gut zur Geltung. Ich habe mir den Raum viel dunkler und feuchter vorgestellt.«

»Oh, das wäre aber nicht gut für die Fotos – und für unsere Gäste auch nicht«, lachte Johannes Bönisch und machte Anstalten, zur Treppe zu gehen.

»Ich habe noch eine Frage.«

Johannes Bönisch blieb stehen. »Ja, bitte?«

»Wo bewahren Sie denn Ihre Weine auf, ich meine, wo ist der richtige Weinkeller?«

Johannes Bönisch schmunzelte. »Sie meinen mein Reich? – Nebenan. Ich zeige Ihnen die Räume gern später, aber jetzt … – ich muss wirklich.«

Jana hörte, wie sich seine Schritte entfernten. Dann legte sie die Fotos einzeln auf den großen Tisch und überlegte, wie sie diese am wirkungsvollsten im Raum arrangieren sollte. Sie war so vertieft in ihre Arbeit, dass sie erschrak, als sie etwas Feuchtes an ihrer Hand spürte. Es war Ustis Nase. Sie lachte gerührt vor sich hin.

Nachdem sie fertig war, zog sie einen Stuhl in die Mitte des Raumes und ließ alles auf sich wirken. Sie war mit dem Ergebnis zufrieden. Hoffentlich gefielen den Gästen morgen ihre Fotos. Damit wäre ein erster Schritt in ein anderes Leben gemacht. Schon seit einiger Zeit liebäugelte sie mit dem Gedanken, ihr eigenes Fotostudio aufzubauen. Dann könnte sie den Polizeidienst an den Nagel hängen. Eine Option, die ihr den Alltag erträglicher machen würde. Sie schob den Stuhl wieder zurück und ging hinauf in die Eingangshalle. Dort hielt sie erneut Ausschau nach Frau Bönisch, die sie noch immer nicht zu Gesicht bekommen hatte. Schließlich musste die mit dem Arrangement der Fotos einverstanden sein. Sie betätigte eine Tischklingel auf dem Empfangstresen, vor der ein kleines Schildchen mit der Aufschrift »Bitte hier klingeln!« angebracht war. Doch trotz des durchdringenden Tons rührte sich niemand. Die Stille im gesamten Haus mutete ihr seltsam an. Sie hätte erwartet, dass vor der anstehenden Großveranstaltung ein hektisches Treiben im Weingut herrschen würde. Wieso war niemand hier? Im Weinberg waren die Mitarbeiter jetzt im Frühling doch wohl nicht beschäftigt. Vielleicht ja im Weinkeller. Sie musste eingestehen, dass sie keine Ahnung hatte, welche Tätigkeiten gerade anstanden. Ihr würde nichts anderes übrig bleiben, als hier zu warten. Warum eigentlich? Bis Clemens eintraf, würde es noch eine Weile dauern. Und darauf warten, dass die an der Vorbereitung einer Straftat Beteiligten ihr begegnen würden, wollte sie nicht. Sie riss einen Zettel von einem Notizblock des Weingutes und schrieb ihren Namen und ihre Handynummer darauf. Zur Erklärung fügte sie hinzu, dass sie einen Spaziergang machen würde und bald zurück wäre. Während sie ihren Kugelschreiber wieder einsteckte, bemerkte sie ein leises Kribbeln, das sich in ihr ausbreitete. Sie hielt es allerdings für ratsam, diesmal nicht dieser kriminalistischen Neugier nachzugeben und sich stattdessen an die Vorschriften zu halten. Kein eigenmächtiges Handeln – so sehr es sie auch juckte, sich im Weingut umzuschauen.

Zu Ustis Freude tat sie das einzig Richtige und verließ das Weingut durch die Eingangstür. Nachdem sie die lange Laufleine aus dem Auto geholt hatte, wanderte sie los, die gegenüberliegenden Weinberge fest im Blick. Um dorthin zu gelangen, musste sie die alte Ahr-Brücke nehmen, über die sie vorhin mit dem Auto gekommen war. Nebenbei warf sie dem steinernen Brückenheiligen einen interessierten Blick zu, wartete am Zebrastreifen an der Bundesstraße, bis die Autos anhielten, um sie queren zu lassen, und folgte dann dem Schild mit der roten Traube. Hinter dem Bahnhof wurde der Weg immer steiler, bis er auf den Rotweinwanderweg stieß. Dieses Teilstück kannte Jana bereits von einer früheren Wanderung. Sie nahm sich vor, nicht allzu weit zu laufen, um Clemens’ Ankunft nicht zu verpassen. Die Reben standen noch recht traurig da, so ganz ohne schützendes Blätterkleid. Kleine Knospen verrieten, dass die Vegetationsphase begonnen hatte. In manchen Weinbergen blühten Tausende Löwenzähne, die jedoch anfingen, ihre Blüten für die Nacht zu schließen. Jana atmete tief ein und ließ ihren Blick über das Tal schweifen. In einem Weinberg nahe beim Ort verkündeten weiße Großbuchstaben »Weinort Rech«. Die Analogie zum Schriftzug in den Hollywood Hills von Los Angeles kam Jana sogleich in den Sinn. Ob dies beabsichtigt war? Sie musste schmunzeln. Von hier oben erkannte sie das Weingut Zerres in der Nähe der Pfarrkirche St. Luzia und Agatha, in der – so hatte sie es gelesen – alljährlich im Dezember das Fest der Heiligen Lucia mit einem festlichen Umzug der schwedischen Lichtgöttin gefeiert wurde. Sie schielte mit einem Auge auf ihre Armbanduhr und beschloss, weiter auf dem Rotweinwanderweg zu laufen. Als sie Mayschoß fast erreicht hatte, warf sie einen Blick auf die Ruine der Burg Saffenburg und schlug dann den Rückweg ein, um Clemens’ Ankunft nicht zu verpassen. Usti gefiel das ganz und gar nicht, aber Murren half nichts, er hatte keine Wahl. Schon bald schien er sich mit der Situation abgefunden zu haben und untersuchte erneut die für Jana unsichtbaren Markierungen am Wegesrand, die er auf dem Hinweg mit der Nase tief am Boden inspiziert hatte.

Die Sonne stand jetzt tief über den Bergkuppen, die Schatten wurden immer länger. Es wurde kühler. Jana beschleunigte das Tempo und hatte schon bald den Abstieg nach Rech erreicht. Sie trennten nur noch wenige Meter von der Bundesstraße, als sie einen Wagen mit Koblenzer Kennzeichen entdeckte, der mit geringer Geschwindigkeit auf die Brücke in den Ort einbog. Sollte das Clemens sein? Wenn sie ihre Erinnerung nicht täuschte, war das genau der Wagen, mit dem sie beide nach Marienthal gefahren waren. Jana beeilte sich, über den Zebrastreifen zu kommen, und lief dem Auto hinterher, das an dieser Stelle kaum schneller als Schrittgeschwindigkeit fahren konnte. Doch dann beschleunigte der Wagen ein wenig und Jana hatte Mühe, ihm zu folgen. Dabei wollte sie Clemens doch am Parkplatz hinter dem Weingut abpassen. Während Usti die Verfolgungsjagd genoss, wurde Jana bewusst, dass es um ihre Kondition nicht zum Besten stand. Um nicht zu sehr zu keuchen, wenn sie Clemens zum ersten Mal seit Monaten gegenüberstand, mäßigte sie ihr Tempo, als sie den Parkplatz fast erreicht hatten. Der Wagen war bereits zum Stehen gekommen. Die Fahrertür öffnete sich.

Als Usti erkannte, wem sie gefolgt waren, gab es für ihn kein Halten mehr. Jana ließ das Ende der Hundeleine los und beobachte gerührt die Begrüßungsszene, die sich neben Clemens’ Auto abspielte. Usti jaulte und sprang an Clemens hoch, als wäre er sein Herrchen, das er Jahre nicht gesehen hatte. Als sie näher kam, blickte Clemens zu ihr auf, während er halbherzig versuchte, den stürmischen Usti zu bändigen.

»Usti, mein Freund, ist ja gut!«

Usti quietschte vor Vergnügen.

»Nun ist aber gut, Usti. Du machst Clemens doch ganz schmutzig!«, mahnte Jana, ihre schnelle Atmung nur mit Mühe unterdrückend.

»Hallo, Jana!« Seine grün-braunen Augen strahlten. »Ist nicht schlimm. Wie war das noch: Superspürnase im Dienst?«

»Jaja, da war doch was!«, lachte Jana.

Sie hatte sich so auf ein Wiedersehen gefreut und nun stand sie vor ihm wie ein unsicheres Schulmädchen. Usti dagegen leckte unbekümmert weiter an Clemens’ Hand. Es schien so, als zögerte Clemens die eigentliche Begrüßung ebenfalls hinaus. Schließlich war er es, der die Initiative ergriff und Jana unbeholfen umarmte.

»Hallo, Clemens«, flüsterte sie und genoss für einige Sekunden die angenehme Nähe. Dann schauten beide einander wortlos noch eine Weile in die Augen. Auf sie wirkte Clemens viel entspannter als bei ihrer allerersten Begegnung. Alles auf Anfang?, kam ihr der Gedanke in den Sinn. Vielleicht hatten sie ja jetzt eine Chance.

»Gut siehst du aus, irgendwie verändert«, stellte Clemens fest und beendete damit die zwischen ihnen herrschende Sprachlosigkeit.

Sie hätte gerne nachgefragt, was genau er damit meinte, traute sich aber nicht. Unwillkürlich zupfte sie stattdessen an ihrem Halstuch und hoffte, dass man die Narbe an ihrem Hals nicht sehen konnte. Dabei kannte Clemens diesen Makel. Seine Reaktion verriet ihr, dass er ihre Handbewegung sehr wohl beobachtet hatte. Er sagte nichts, sondern verschloss wortlos die Autotür und betätigte anschließend die Verriegelung.

»Lass uns ein paar Schritte gehen. Wir können uns vielleicht noch ein wenig ans Ufer setzen. Dort lässt es sich gut reden«, schlug Jana vor. »Du willst sicher wissen, was ich bislang herausgefunden habe.«

»Ach ja, ich bin ja gar nicht wegen dir hier«, lachte Clemens und knuffte sie sanft in die Seite.

»Also das ist alles, was ich berichten kann«, beendete Jana ihre Schilderungen. Sie hatten am Ahrufer in Sichtweite der Brücke ein lauschiges Plätzchen gefunden. Der steinerne Nepomuk hatte ihnen dabei den Rücken zugewandt.

»Du meinst also, dass du die Vorbereitung zu einer Straftat mit angehört hast?«

Jana nickte. »Aber ich habe echt keinen Plan, worum es geht. Und eben auch nicht, wer da gesprochen hat. Ich habe bislang nur mit einem Mann im Weingut geredet, und dessen Stimme war es definitiv nicht. Also der Schwager der Inhaberin, Johannes Bönisch, der war es nicht.«

»Jetzt erklär mir bitte noch einmal genau, was das morgen eigentlich für eine Veranstaltung ist.«

»Okay, also. Das ist der Tag der offenen Weinkeller. Dafür muss man eine Eintrittskarte kaufen, und wie ich erfahren habe, ist das ein begehrtes Event. Stell dir vor, das war schon im Herbst des letzten Jahres ausverkauft.«

»Oh!«

»Das hat mir die Frau, diese Marketingtante des Magazins gesagt, bei deren Wettbewerb ich mitgemacht habe.«

»Und du hast was genau gewonnen?«

»Na, dass ich in einem der Weingüter meine Fotos ausstellen darf.«

»Du fotografierst also nicht nur beruflich?«

»Nein, ich … hatte ich dir das nicht schon einmal erzählt, dass ich Landschaften fotografiere?«

Clemens schaute verunsichert drein. »Ich glaube nicht.«

»So gut kennen wir uns halt doch nicht«, murmelte sie vor sich hin.

»Was?«

Es war kein guter Zeitpunkt, mit Clemens über ihre Beziehung zueinander zu sprechen, und schon gar nicht, nachdem sie so lange überhaupt keinen Kontakt gehabt hatten.

»Wie läuft denn dieses Event genau ab?«, lenkte Clemens das Gespräch wieder in eine andere Richtung.

»Man kann den ganzen Samstag lang die teilnehmenden Weingüter besichtigen, Wein und kleinere Speisen probieren. Außerdem gibt es einen Shuttleservice, der die einzelnen Orte anfährt. Das geht von Bad Neuenahr bis nach … keine Ahnung. Aber es kommen wohl ziemlich viele Leute. Es gibt Musik, Kunst und so was alles. Jetzt stell dir mal vor, während Hunderte von Leuten auf den Beinen sind, findet eine Erpressung oder gar Schlimmeres statt …«

»Du weißt, dass wir ohne konkretere Anhaltspunkte nichts machen können. Und Erpressung fällt ja nicht in meinen Zuständigkeitsbereich.«

»Mit den Zuständigkeiten hast du es doch nicht so!« Jana schämte sich im selben Moment für diese spitze Bemerkung.

»Du meinst, wegen Ahrweiler, oder? Ja, ich bin dir noch eine Erklärung schuldig.«

»Allerdings«, sagte sie scharf. Eigentlich tat ihr das leid, jedoch spürte sie, dass dieser Einsatz in Ahrweiler erst aufgearbeitet werden musste. Auch wenn sie nie mit ihrem Chef über die Geschehnisse gesprochen hatte, so wusste sie genau, dass diese für die miserable Stimmung in ihrer Dienststelle verantwortlich waren.

»Später, ja?«