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Köln-Marienburg 1926: Karolina Offermann träumt von einer Filmkarriere im fernen Berlin. Doch die Sehnsucht nach einem selbstbestimmten Leben kollidiert mit den Vorstellungen ihres Vaters. Der Fabrikant hat einen anderen Weg für sie vorgesehen. Allen Hindernissen zum Trotz nimmt sie unentdeckt von ihm Schauspielunterricht. Als er dies erfährt, eskalieren die familiären Konflikte und münden in eine Tragödie. Und der Traum vom Film rückt in immer weitere Ferne.
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Seitenzahl: 446
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Karin Joachim
Domschattenträume
Roman
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Bittertrauben (2018), Krähenzeit (2016)
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2018
Lektorat: Sven Lang
Herstellung: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © ullstein bild – mauritius
ISBN 978-3-8392-5782-1
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Karolina Offermann
Carl Anton Offermann: Karolinas Vater
Helene Offermann, geb. Leyendecke: Ihre Mutter
Arnold Offermann: Ihr Bruder
Carl Anton Offermann, senior: Ihr Großvater väterlicherseits
Hubertine Offermann, geb. Brassert:: Ihre Großmutter väterlicherseits
Hedwig Schmitz: Dienstbotin, Köchin und gute Seele
Alexander Wolf: Gärtner
Felix Leyendecker: Karolinas Cousin
Johann Leyendecker: Ihr Onkel, Bruder der Mutter
Olga Leyendecker: Ihre Tante, Frau von Johann Leyendecker
Heinrich Leyendecker: Ihr Großvater mütterlicherseits
Ruth Leyendecker, geb. Voss: Ihre Großmutter mütterlicherseits
Ingrid Pflückbaum: Karolinas Freundin
Gertrud Mesenich: Eine weitere Freundin
Metha Bär: Frau des Kaufhausbesitzers Jakob Bär
Paula Poll: Schauspielerin und Schauspiellehrerin
Margot Künstle: Sekretärin
Otto Thelen: Teppichfabrikant
Rudolf Thelen: Sohn des Teppichfabrikanten
Freddy Brunner: Produzent aus Berlin
Ludwig Mönke: Freund von Onkel Johann
Ernst Kramer: Kinobesitzer
Dr. Theodor Schlüter: Pensionierter Lehrer
Käte Frings: Hotelinhaberin
Josef Haubrich: Kölner Jurist und Kunstsammler: : (1889–1961)
Arthur Bredow: Aufnahmeleiter (1876–?)
Rolf Randolf: Regisseur (1878–1941)
Henry Stuart: Schauspieler (1885–1942)
Hanni Weisse: Schauspielerin (1892–1967)
Henny Porten: Schauspielerin (1890–1960)
Unzählige Male stand ich als Kind voller Bewunderung vor dem mächtigen Kölner Dom. Den Kopf nach hinten gelegt, ließ ich meinen Blick wehmütig zu den Spitzen der beiden Türme wandern und starrte hinauf, bis mein Nacken zu schmerzen begann. Dort, wo die Kreuzblumen den Himmel berührten, dort wollte ich sein. Immer, seit ich denken konnte, lebte diese Sehnsucht in mir, meine Heimatstadt von oben zu sehen. Doch solange ich meine Hand in die meines Vaters schob und wir gemeinsam hinaufschauten, half alles Bitten und Quengeln nichts. Wieder verstrich ein Sonntag, dann noch einer. Ich wurde älter und wuchs, Zentimeter um Zentimeter, und damit änderte sich nach und nach auch meine Perspektive, allerdings nur geringfügig. Der Dom blieb, was er war: ein steinernes Monument von schier unbegreiflichem Ausmaß.
Eines Tages standen wir wieder an seinem Fuße, in seinem Schatten. Ich hatte am Morgen keinerlei Anzeichen erkannt, die darauf hätten hinweisen können, dass heute der Tag sein würde, an dem meine Sehnsüchte gestillt wurden. Doch als mein Vater dieses Mal aus eigenem Antrieb heraus meine Hand ergriff, wusste ich, dass dieser Tag ein besonderer werden würde.
»Heute bist du alt genug.« Er sagte nur diese fünf Worte und blickte vielsagend auf den Dom, der sich vor uns emporhob. Was ihn dazu veranlasst hatte, genau diesen Tag für den Aufstieg zu wählen, kann ich auch heute, nach all den Jahren, nicht nachvollziehen. Damals hielten mich meine Aufregung und Vorfreude davon ab, über seine Entscheidung nachzudenken.
Die Minuten, die es dauerte, bis mein Vater die Karten für die Turmbesteigung im Häuschen links vom Südportal erstand, waren die längsten meines Lebens. Ungeduldig hüpfte ich von einem Bein auf das andere. Meine hellbraunen Zöpfe rutschten dabei immer wieder über meine Schultern, sodass ich sie mehrmals zurückwerfen musste. Doch dann war es endlich so weit. Mein Herz klopfte – nicht nur wegen der körperlichen Anstrengung –, als wir den engen Treppenturm hinaufstiegen. Dieses Gefühl der Enge, das unerwartet im steinernen Treppenhaus auf mich einwirkte, überraschte mich, wollte ich doch ans Licht, ins Freie, um den Wolken nah zu sein. Heute habe ich verstanden, dass dieses Erlebnis geradezu symbolhaft meinen Lebensweg vorausnahm. Ans Licht würde ich nur gelangen, wenn ich die dunkle Enge mutig durchschritt. Doch damals war keine Zeit für ausgiebige Grübeleien. Die Aussichtsplattform, deren Erreichen ich so sehr herbeisehnte, befand sich zwar nicht annähernd auf der Höhe der Turmspitzen, aber trotzdem war ich bald am Ziel meiner Wünsche und Sehnsüchte angelangt.
»Geht es dir gut?«, fragte mein Vater, als wir endlich oben angekommen waren.
Warum sollte es mir nicht gut gehen, dachte ich, jetzt, da Wirklichkeit geworden war, worauf ich so lange gewartet hatte.
Vor lauter Aufregung und Staunen brachte ich jedoch nur ein schüchternes »Ja« heraus. Denn das, was ich sah, ließ mich den Atem anhalten: Die Stadt lag unter mir. Wie Spielzeuge muteten die Häuser, die Straßen, die Menschen, die Fahrzeuge an. Der Rhein glitzerte im Sonnenlicht. Ich drückte mich immer enger an das Gitter und versuchte, meinen Kopf hindurchzuzwängen, in der Hoffnung, unter mir in der Tiefe noch mehr Details zu entdecken. Während der ganzen Zeit hielt mein Vater meine Hand fest, einmal sogar berührte er mich mit einer nie gekannten Sanftheit an den Schultern. Ich spürte seinen Atem, der wie ein warmes Sommerlüftchen über meine Haare streifte. Wir waren uns nie wieder so nah wie in diesem Moment der Erhabenheit. Nie wieder war unser Umgang miteinander so einvernehmlich und unbefangen.
Heute, jetzt in diesem Augenblick, erlebe ich erneut dieses Gefühl des Losgelöstseins und der wolkennahen Freiheit. Gerade verwirbelt eine Windböe mein Haar, das aus der Lederkappe herausragt, während ich unter mir die Landschaft vorbeiziehen sehe. Unter mir liegen kleine Ortschaften, Felder, Flüsse und Berge. Manchmal schlägt mir so viel Luft auf einmal entgegen, dass ich nicht einatmen kann. Direkt vor mir drehen sich die Rotorblätter und der Motor macht einen ohrenbetäubenden Lärm, der zugleich überaus beruhigend wirkt. Denn solange dieses Geräusch zu hören ist, müssen wir uns nicht sorgen. Ich hätte mit der Eisenbahn fahren können, aber so ist es angenehmer. Ich mag das Bahnfahren nicht, nicht nur, weil es mich anstrengt. Vielleicht passt auch diese Art der Fortbewegung nicht mehr zu meinem neuen Leben, das gerade Fahrt aufnimmt. Doch nun hat mich die Vergangenheit mit Vehemenz eingeholt. Könnte ich nur immer hier oben bleiben und den Grund vergessen, warum ich diesen Flug mehr oder weniger Hals über Kopf angetreten habe. Es geht zurück in mein altes Leben voller unbeantworteter Fragen und schrecklicher Antworten. Der Pilot, der hinter mir sitzt, ist ein Kollege vom Film, der während des Krieges als Offizier gedient hat. Bald werde ich meinen Vater wiedersehen, der ebenso wenig derselbe ist, wie ich es bin, als wir uns das letzte Mal vor nur wenigen Monaten begegnet sind. Und doch kommt mir diese kurze Zeitspanne wie eine kleine Ewigkeit vor. Meine Familie gibt es nicht mehr. Meine Gedanken beginnen, in die Tiefen der menschlichen Verfehlungen abzutauchen, da klopft mir Peter auf die Schulter und ruft mir etwas zu, was ich kaum verstehe. Aber aus seinen Handzeichen lese ich alles heraus: Wir sind da!
Vor uns tauchen die beiden Türme des Kölner Doms auf. Im Abendlicht wirkt er noch majestätischer, als er ohnehin ist. Wenn ich nach links blicke, entdecke ich vielleicht sogar unser Haus in Marienburg. Aber nun fliegt Peter eine Kurve. Der Dom liegt nicht mehr vor, sondern links von uns. Wir fliegen unmittelbar über den Rhein, der im Sonnenlicht glitzert, wie damals, als ich als Kind zum ersten Mal auf der Aussichtsplattform des Kölner Doms die Stadt aus einer mir neuen Perspektive betrachten durfte. In geringer Entfernung kann ich bereits die Landebahn des Butzweiler Hofes erkennen. Peter signalisiert mir, dass er zur Landung ansetzen wird. Ich bin gespannt, wie sich diese mit einem so kleinen Flugzeug anfühlen wird, holprig sicherlich. Ich rücke die Brille zurecht, justiere noch einmal den Ledergurt meiner Fliegerkappe und hoffe, dass alles gut gehen wird. Wird es doch …
Das Licht brannte schon eine Weile im Vorführraum des Modernen Theaters, dem ersten Kinoneubau Kölns. Das Publikum hatte das Lichtspieltheater in der Breite Straße bereits größtenteils verlassen, das Orchester hatte längst seine Instrumente zusammengepackt. Nur Karolina saß noch auf ihrem Sessel und blickte auf die silberne Leinwand, auf der sich zuvor Henny Porten mit ihrer viel gelobten Natürlichkeit in einer Doppelrolle fast die Seele aus dem Leib gespielt hatte. »Wehe, wenn sie losgelassen« hieß der Film, den sie heute zum ersten Mal gesehen hatte. Alle früheren Henny-Porten-Filme kannte sie in- und auswendig. Dieser aber war besonders, weil Henny Porten eine weitere Facette ihres Könnens zeigte, die der Komikerin. Mehrfach hatte heute der Saal vor Lachen gebebt. Das hässliche Dienstmädchen und die hübsche Hausfrau, diese beiden Frauentypen verkörperte Henny einfach auf eine unnachahmliche Weise. Ihrem Cousin Felix hatte Karolina es zu verdanken, dass sie bereits heute, wenige Tage nach der Uraufführung, Karten für die Vorstellung bekommen hatte. Wie er das nur immer anstellte? Henny Porten war eine Leinwanddarstellerin der ersten Stunde, so hatte es Karolina neulich in einem der Filmmagazine gelesen. Schon vor dem Krieg hatte sie mit ihrer Schauspielkunst das Publikum in den Bann gezogen. Gestern allerdings hatte Karolina ein Artikel in einer Zeitung regelrecht verärgert, in dem stand, dass ihr Idol zur alten Garde der Filmschauspielerinnen zu rechnen sei und die Zukunft neuen, moderneren Darstellerinnen aus Deutschland und Hollywood gehöre. Davon allerdings wollte Karolina nichts wissen. Eine eigenartige Anziehungskraft ging von dieser Schauspielerin aus, die zugegebenermaßen mit ihren 36 Jahren kein junges Mädchen mehr, sondern eine gestandene Frau war. Karolina wollte einmal genauso spielen können wie sie. Und dafür tat sie einiges. Aber davon durfte niemand etwas wissen, nur wenige Eingeweihte kannten ihre Träume. Nicht einmal Felix, der belustigt an der Wand in der Nähe des Ausgangs lehnte, mit einer Zigarette spielte und sie beobachtete. »Fräulein Offermann!«, rief er fröhlich und doch ein wenig ungeduldig, als er merkte, dass sie heute besonders lange brauchte, um das Erlebte zu verarbeiten.
»Hör auf, mich so zu nennen, Felix!«, rief Karolina und drehte sich auf ihrem Sessel zu ihm um. Erst jetzt nahm sie, immer noch gebannt von dem Erlebten, die Leere im Zuschauerraum wahr.
»Wieso?«, feixte ihr Cousin und trat von einem Bein auf das andere. »Du bist doch Fräulein Offermann.«
Karolina erhob sich lachend, warf der silbernen Leinwand einen letzten Blick zu, schlängelte sich durch die leeren Sitzreihen und hüpfte mit nahezu kindlicher Anmut zu ihrem Cousin, der sich nun, da sie endlich wieder in der Realität angekommen war, zum Gehen wandte. Als er in der Bewegung innehielt, hakte sie sich bei ihm ein und ließ sich von ihm aus dem Zuschauerraum führen. Im Foyer entdeckte sie an einer Wand eine Fotografie, die Henny Porten zeigte. Sie ließ den Arm ihres Cousins los und rannte dorthin, um das Schild zu lesen, das unter der Fotografie angebracht worden war: »Fräulein Henny Porten bei des Eröffnung der Modernen Theaters am 31. Oktober 1912.«
»Felix, wusstest du das?«, rief Karolina.
Felix gesellte sich zu ihr. »Ja, richtig, das hatte mein Freund mir erzählt. Ich sollte es dir zeigen …«
»Ihr habt über mich geredet?«
»Ja, durfte ich nicht sagen, dass du Henny Porten verehrst?«
»Doch, doch«, murmelte Karolina, ergriff wieder Felix’ Arm und verließ mit ihm das Lichtspieltheater vorbei an der Schlange derer, die auf die letzte Abendvorstellung warteten.
Auf der Straße vor dem Kino toste der Verkehr. Automobile und Motorräder knatterten an ihnen vorbei, manche hupten, ob zum Gruße oder als Warnung war nicht auszumachen. Auf den Gehwegen schlenderten gut gekleidete Menschen, Paare zumeist, aber auch vereinzelt Frauen ohne Begleitung und Grüppchen junger Männer. Das Leben hatte in den letzten Jahren eine erstaunliche Leichtigkeit bekommen, zumindest in Karolinas Kreisen. Und seit dem Abzug der britischen Besatzer vor wenigen Monaten machte sich überall eine gewisse Aufbruchsstimmung breit. Doch sie wusste, dass nicht alle Kölner ein ähnlich unbeschwertes Leben wie ihre Familie führten. So zum Beispiel Felix’ Familie, die sich kein Haus im Stadtteil Marienburg leisten konnte. Auch Karolinas Vater, der angesehene Möbelfabrikant, dessen Herrenzimmer im ganzen Deutschen Reich vertrieben wurden, musste ohne Zweifel hart arbeiten und kam an manchem Abend erst spät nach Hause, wenn die Familie das Abendessen schon längst beendet hatte. Doch er und der väterliche Teil der Familie Offermann gehörten zu den obersten Kreisen. Karolina würde es nicht verwundern, wenn ihr Vater demnächst für den Kölner Stadtrat kandidierte. Dann ginge er beim Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer vielleicht bald ein und aus.
Ihr Leben im Villenviertel südlich der Altstadt war, jedenfalls solange sie noch zur Schule gegangen war, ganz nach Karolinas Vorstellungen verlaufen. Doch seit sie das Lyzeum mit einem akzeptablen Abschlusszeugnis verlassen hatte, waren zwei Jahre vergangen, während derer sie mehr oder weniger in den Tag hineingelebt hatte, so schien es von außen betrachtet zumindest. Doch im Geheimen arbeitete sie mit Fleiß und Herzblut an ihrer Schauspielkarriere.
»Karo, pass auf!«, rief Felix und unterbrach ihre Gedanken. Sie strauchelte, während er sie vom Gehsteig wegzog, dessen Bordsteinkante sie zu nahe gekommen war. Schon rauschte ein Automobil an ihnen vorbei. Obwohl es so viele motorisierte Gefährte gab, wie in nur wenigen anderen Städten des Deutschen Reiches, und Karolina dran gewöhnt sein musste, dass es in der Nähe der Fahrbahn nicht ungefährlich war, so hatte sie manchmal Schwierigkeiten, die Geschwindigkeit herannahender Automobile richtig einzuschätzen, besonders wenn, wie jetzt, die Dämmerung eingesetzt hatte.
»Danke, Felix«, flüsterte sie beklommen und klopfte etwas Staub von ihrem Rock ab. Ihre Spangenschuhe sahen ebenfalls nicht mehr ganz sauber aus, aber weit und breit war kein Schuhputzer zu sehen. Vielleicht ja an einem ruhigeren Ort als hier in der belebten Breite Straße.
»Du bist aber recht häufig abwesend, wenn ich das einmal bemerken darf«, sagte Felix, während Karolina sich wieder bei ihm unterhakte. Mit der anderen Hand packte sie ihre Kuverttasche noch etwas fester, damit sie ihr bei einem möglichen neuerlichen Ausweichmanöver nicht doch noch entglitt. Felix’ Sakkoärmel kratze ein wenig an ihrer Haut, die aus dem Ärmel ihres Jumpers hervorlugte.
Als sie nicht auf seine Bemerkung antwortete, bohrte ihr Cousin weiter: »Also, dich beschäftigt doch etwas …«
Karolina überlegte fieberhaft, ob sie ihn in ihr Geheimnis einweihen sollte. Da seine Eltern ohnehin Bescheid wussten, war es sowieso nur eine Frage der Zeit, wann Felix es herausfinden würde.
»Also«, begann sie ihre Beichte. Gerade als sie sprechen wollte, kam ihnen ein Pärchen entgegen, das freundlich grüßte.
»Kanntest du die?«, fragte Karolina, nachdem die beiden, ohne stehen zu bleiben, an ihnen vorbeigegangen waren.
»Ja, Freunde«, sagte Felix, ohne eine weitere Erklärung hinzuzufügen. Stattdessen boxte er seine Cousine mit dem Ellbogen leicht in die Rippen. »Nun lenk nicht ab, sondern erzähl.« Er zog an seiner Zigarette, die er sich eben angezündet hatte, während Karolina ihre Kleidung richtete. Der Rauch wehte an ihrem Gesicht vorbei.
Karolina nahm nun allen Mut zusammen und sprach aus, wovon sie träumte und was sie seit ihrem Schulabschluss unternahm, um diesem Traum ein Stück näher zu kommen. Und dass sie es hinter dem Rücken ihres Vaters betrieb, was Felix ohne Verwunderung zur Kenntnis nahm.
»Paula Poll also, soso …«, bemerkte Felix stattdessen anerkennend. »Die Paula Poll?«
»Nicht so laut, Felix …«
»Und alles findet im Hause der Besitzer des Kaufhauses Bär statt? Alle Achtung. Und wieso weiß ich davon nichts? Ich nehme doch an, dass meine Eltern Bescheid wissen, da du doch in unserem Laden arbeitest.«
Karolina nickte beschämt und ärgerte sich fast ein wenig darüber, dass sie Felix’ Drängen nach einer Erklärung für ihren Gemütszustand nachgegeben hatte. Mittlerweile hatten sie das Museum Wallraf-Richartz erreicht und würden gleich auf die viel befahrene Hohe Straße stoßen. Unvermittelt blieb Felix stehen und drehte sich zu ihr. Seine honigfarbenen Augen blitzten im Schein eines herannahenden Motorrades auf.
»Ich meinte das nicht als Vorwurf.«
Karolina senkte den Blick. Der einzige Grund, warum sie Felix bislang noch nicht ins Vertrauen gezogen hatte, war ihr Bruder Arnold. Beide Jungen hatten früher unentwegt zusammen etwas unternommen und erst seit ein oder zwei Jahren hatten sie immer seltener miteinander zu tun. Dennoch war Karolina vorsichtig geblieben, denn wusste Arnold erst einmal Bescheid, würde ihr Vater binnen Minuten ebenfalls darüber im Bilde sein, was sie ohne sein Einverständnis in ihrer Freizeit trieb. Mit der unausweichlichen Folge, dass ihr Traum sofort platzen würde. Was das für ihre Mutter Helene, die nur zu gut wusste, was Karolinas Vater von Filmschauspielern hielt, und erst recht für sie selbst bedeuten würde, konnte sie nur ahnen. Und da die Leyendeckers ebenfalls eingeweiht waren, fürchtete sie damit eine nachhaltige Bedrohung des Familienfriedens, die sich leicht über die gesamte Verwandtschaft ausdehnen konnte. Nichts lag ihr ferner, als dafür der Auslöser zu sein.
Ohne zu sehr ins Detail zu gehen, äußerte Karolina schließlich genau diese Sorgen. Felix hörte ihr aufmerksam zu und lächelte bedrückt.
»Ich halte dicht, darauf kannst du dich verlassen. Dein Bruder und ich, sagen wir mal, wir haben uns in der letzten Zeit in unterschiedliche Richtungen entwickelt. Er kann nicht verstehen, dass ich die Kunst so sehr liebe, und ich kann nicht verstehen, wie ein junger Mensch so sehr am Rockzipfel seines, seien wir mal ehrlich, doch recht konservativen Vaters hängt. Zumal er ja schon großjährig ist.«
So deutlich hatte Felix bislang noch nie Stellung bezogen, fast war Karolina geneigt, eingeschnappt darüber zu sein, wie er über ihren Vater redete. Doch er hatte mit allem recht, besonders was Arnold anbelangte. Sein überdeutliches Bemühen, dem Vater in allen Belangen zu gefallen, behagte ihr ebenfalls nicht. Vater hier, Vater da, Vater hat gesagt, Vater meint, Vater sieht es aber anders … Wie sie das satt hatte. Und wenn sie einmal anderer Meinung war und sich traute, diese zu äußern, so erntete sie stets nur ein verständnisloses Kopfschütteln. Selbst wenn das Familienoberhaupt gar nicht anwesend war, trug Arnold seinen vorauseilenden Gehorsam wie ein Triumphzeichen vor sich her. Die alte Vertrautheit zwischen den Geschwistern war eines Tages abhanden gekommen. »Ihr Frauen«, hatte er neulich doch allen Ernstes gesagt, »denkt wohl, ihr könntet euch überall einmischen, jetzt, da ihr das Wahlrecht habt. Aber o weh, du darfst ja noch gar nicht wählen.«
Das war gemein gewesen und das wusste er auch. Zum Glück würde es nur noch wenige Monate dauern, bis sie zwanzig war. Dann könnte sie wählen – zumindest theoretisch. Denn in absehbarer Zeit standen keine Reichstagswahlen an. Nur zu gerne hätte sie lieber heute als morgen ihre Stimme abgegeben. Die erste Möglichkeit hierzu hatte sie am 20. Juni, denn dann würde über das Fürstenenteignungsgesetz abgestimmt werden. Doch auch wenn es gerade die Schlagzeilen beherrschte, erschlossen sich ihr die Zusammenhänge und die Auswirkungen des Gesetzes erst nach und nach. Warum war Politik nur so schrecklich kompliziert? Während Karolina über Arnolds Chauvinismus und das Frauenwahlrecht grübelte, waren sie am Dom angelangt. Auf der Domplatte blies ein heftiger Wind und Regen setzte ein.
»Mistwetter!«, schimpfte Felix. Er griff nach Karolinas Arm und lief mit ihr zu seinem Motorrad, das er in der Nähe abgestellt hatte. »Wir werden zwar beide nass, aber für heute Nacht ist kein besseres Wetter angesagt. Wir sollten uns lieber beeilen, damit wenigstens du noch einigermaßen trocken nach Hause kommst. Bevor Karolina etwas erwidern konnte, hatte er ihr schon einen Regenmantel über die Schultern gelegt, den er auf dem Gepäckträger verstaut hatte.
»Zieh ihn aber richtig an.« Während sie in die Ärmel schlüpfte, reichte er ihr seine Motorradkappe.
»Ich kann doch auch mit der Straßenbahn fahren«, schlug Karolina vor.
»So weit kommt es noch! Ich lass dich doch in diesen Zeiten nicht allein in der Nacht mit der Straßenbahn nach Hause fahren. Und bis du von dort aus zu Fuß zu Hause bist, wärest du nicht nur nass, sondern …«
»Was meinst du?«
»Nichts, es ist unsicher. Nun zieh die Kappe schon auf, sonst wird dein Haar durchnässt sein, wenn wir in Marienburg ankommen.«
Karolina konnte sich keinen Reim auf seine Bemerkungen machen, beeilte sich jedoch, den Anweisungen ihres Cousins zu folgen. Schon heulte der Motor seiner Maschine auf.
»Halt dich gut fest, es geht los!«
Felix kannte offensichtlich einige Schleichwege, und so hatten sie bald das elterliche Haus erreicht, besser gesagt die Kirschallee. Denn etwa in Höhe des Hauses von Bankier Mesenich ließ er den Motor ausgehen und das Motorrad ausrollen. Kurz vor dem Grundstück der Familie Offermann kamen sie zum Stehen. Glücklicherweise hatte der Regen zwischenzeitlich wieder nachgelassen. Felix half ihr vom Motorrad herunter und nahm die Kappe entgegen, die Karolina ihm wortlos reichte. Bis auf einige feuchte Strähnen war ihr Haar trocken geblieben. Während sie sich aus dem Regenmantel schälte, lugte Felix vorsichtig auf das Offermann’sche Anwesen, die Kappe in der Hand hin und her schwenkend.
»Dein Vater scheint gar nicht da zu sein, jedenfalls sehe ich von hier aus kein Automobil«, sagte er leise, als er Karolina den Mantel abnahm und ihn selbst überzog.
Sie drückte ihm zum Abschied einen sanften Kuss auf die Wange.
»Wofür war der jetzt?«
»Dafür, dass du da bist. Es wird wohl lange dauern, bis ich einen Mann finde, der so ist wie du, Felix.«
Er lächelte verschämt, soweit sie es erkennen konnte.
»Was machst du heute Abend noch?«, rief sie. Aber da hatte er den Motor schon gestartet und war dabei, das Motorrad zu wenden. Er winkte ihr noch einmal zu, dann fuhr er gemächlich davon.
Als Karolina das elterliche Grundstück betrat, stellte sie fest, dass das Automobil ihres Vaters tatsächlich nicht in der Einfahrt stand. Sie könnte klingeln, traute sich aber nicht, denn noch existierte die – wenn auch geringe – Möglichkeit, dass ihr Bruder mit dem Automobil unterwegs war. Dann würde ihr Vater ihre Rückkehr bemerken und Fragen stellen. Fragen, die sie in Verlegenheit brachten. »Wo warst du, und mit wem?« Auch wenn er sich abfällig über den Beruf des Filmschauspielers äußerte, so hatte er bislang keineswegs versucht, ihre Besuche der Lichtspieltheater zu unterbinden, allerdings schien ihm neuerdings die Regelmäßigkeit, mit der sie ausging und sich Filme anschaute, nicht zu behagen. Neulich hatte er sogar den Verdacht geäußert, sie lasse sich die Eintrittskarten von einem Mann bezahlen. Das stimmte, zum Teil zumindest. Felix bezahlte hin und wieder eine Karte, meistens kam das Geld dafür aber von ihrer Mutter oder aus der eigenen Tasche. Schließlich verdiente sie sich ein paar Mark in der Buchhandlung von Onkel Johann hinzu. Warum sie Felix mit keiner Silbe erwähnte, konnte sie gar nicht genau sagen. Sie spürte lediglich gewisse Ressentiments ihres Vaters gegenüber allem, was mit ihrem Cousin und dessen Familie zusammenhing. Auf dem Weg am Haus vorbei zum Hintereingang wurde ihr bewusst, dass sie spätestens im kommenden Jahr eine neue Strategie entwickeln musste. Denn mit dem berühmten Architekten, der ebenfalls in Marienburg wohnte, waren mehrere Umbauarbeiten am Haus vereinbart worden. Eine dieser Maßnahmen stellte der Anbau einer Garage dar. Dann würde sie nicht mehr auf Anhieb erkennen, ob ihr Vater zu Hause war. Sie fühlte sich wie ein kleines Mädchen, dem man nicht gestattete, erwachsen zu werden. Oder warum sonst verwehrte ihr Vater ihr den Besitz eines eigenen Haustürschlüssels? »Du bekommst ihn, wenn du großjährig bist«, war alles, was er dazu zu sagen hatte. Bei dem Gedanken, dass ihr Leben sich im kommenden Jahr immer noch in den gewohnten Bahnen bewegen würde, beschlich sie ein Gefühl der Hilflosigkeit. Würde sie es jemals schaffen, in einem Film mitzuspielen? Oder waren ihre Bemühungen lediglich ein netter Zeitvertreib ohne Aussicht auf Erfolg? Es begann wieder zu regnen. Die Wassertropfen, die auf die Blätter der Bäume fielen, machten knisternde Geräusche. Ein Lächeln huschte über Karolinas Gesicht, als sie die Außentür aufdrückte, die geradewegs in die Küche führte. Hedwig, die gute Seele, hatte ihr wie schon so oft auch heute Abend die Hintertür offen gehalten.
Nachdem sie die Küche durchquert hatte, in der Hedwig, die offensichtlich schon nach Hause gegangen war, alles sorgsam aufgeräumt hatte, schlich sie auf Zehenspitzen in die erleuchtete Eingangshalle. Ein leises Rascheln verriet ihr Tiffanys Anwesenheit. Ihr Zwergspaniel hatte sie bereits gehört, stürmte aufgeregt auf Karolina zu und sprang an ihren Beinen hoch.
»Tiffany!«, juchzte Karolina, so leise es ging, und nahm ihre Hündin auf den Arm, bevor diese mit ihren Krallen Laufmaschen in ihre Strumpfhosen machte. Aus dem Salon drangen vereinzelt Klänge einer Schallplatte an Karolinas Ohr. Sie entließ ihr Hündchen aus ihren Armen, das mit kleinen Trippelschritten schnurstracks auf die angelehnte Tür zum Salon zulief und sie mit der Nase aufstupste. Aus dem Raum dudelte die Musik des Edith-Lorand-Orchesters. Dann war ihr Vater ganz sicher nicht zu Hause.
»Karolina? Bist du es?«, hörte sie die Stimme ihrer Mutter, noch bevor Karolina die Tür erreicht hatte.
»Ja, Mutter, ich bin es.«
Helene Offermann saß nur mit einem Hausanzug bekleidet auf dem Sofa und hielt eine Schachtel Stollwerck-Pralinen in der Hand. »Setz dich zu mir.«
»Wo ist denn Vater?«, fragte Karolina, während sie Platz nahm und nach einer Praline griff. Tiffany rollte sich vor ihren Füßen zusammen und schlief unverzüglich ein.
Helene Offermann antwortete nicht. Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass ihr die Frage im Moment nicht behagte.
»Mama?«
»Oh, entschuldige, ich habe der Musik gelauscht, das war gerade meine Lieblingsstelle.«
Karolina ahnte, dass ihre Mutter nicht die Wahrheit sagte. »Mama?« Warum zierte sie sich, auf diese einfache Frage zu antworten? Tatsächlich schien sie mit ihren Gedanken an einem anderen Ort zu verweilen. Von ihr hatte sie wohl das Träumerische.
»Also, Vater wollte mit seinen Herren noch etwas wegen der Fronleichnamsprozession am Donnerstag besprechen«, sagte sie erst nach einer Weile. Karolina hatte indessen die zweite Praline verspeist.
»Er geht also wieder mit?«
»Welch eine Frage«, antwortete Helene Offermann schroff. Karolina wusste, dass der strenge Tonfall nicht ihr galt. »Dein Vater ist doch einer der Honoratioren der Stadt.« Die Art, wie sie die letzten Worte sagte, verdeutlichte Karolina, dass es überflüssig war, weiter darüber zu reden, denn für ihre Mutter bedurfte das Thema keiner weiteren Erörterung. Dafür kannte Karolina sie viel zu gut.
»Wo warst du heute? Hast du etwas Schönes unternommen?«, fragte sie stattdessen. Karolina berichtete ausführlich von dem Film, den sie heute im Lichtspieltheater gesehen und der sie so beeindruckt hatte. »So möchte ich auch einmal spielen können«, seufzte sie, nachdem sie Henny Portens Schauspielkünste in allen Einzelheiten beschrieben hatte.
»Wirst du«, sagte ihre Mutter mit sanfter Stimme und streichelte ihr über das Haar. »Deine Haare sind ja ein wenig feucht. Regnet es draußen?«
»Ja, aber Felix hat mich auf dem Motorrad nach Hause gebracht.«
Ihre Mutter legte die Pralinenschachtel auf den Glastisch vor ihnen ab. »Sei ein bisschen vorsichtig …«, sagte sie und blickte Karolina von der Seite an.
»Oh, Felix fährt sehr vorsichtig.«
»Das meine ich nicht.«
Wollte sie etwa zu verstehen geben, dass ihr Cousin nicht der richtige Umgang für sie war?
»Ich meine, du solltest Felix nicht zu positiv sehen, also nicht nur. Ich weiß, dass du für ihn schwärmst.«
Diese verklausulierte Warnung ihrer Mutter überraschte Karolina. Felix war ihr gegenüber immer tadellos aufgetreten. Sie hätte ihre Mutter nach den wirklichen Beweggründen befragen sollen, aber sie traute sich nicht, denn insgeheim fürchtete sie sich davor, etwas über Felix zu erfahren, das geeignet war, das positive Bild von ihrem Cousin ins Wanken zu bringen. Felix war gerade ihr wichtigster Vertrauter. Außerdem half er ihr, wo es nur ging, und er war es, der oftmals die Eintrittskarten organisierte, obwohl viele Vorstellungen bereits ausverkauft waren. Manchmal schenkte er ihr sogar die eine oder andere Karte. Dabei war sich Karolina sicher, dass er selbst über keine Reichtümer verfügte. Er war eben ein feiner Kerl.
»Weißt du, was er unternimmt, nachdem er dich hier abgesetzt hat?«
Darüber machte ihre Mutter sich ernsthafte Gedanken? Das war doch seine Sache, und Felix war weiß Gott kein kleiner Junge mehr. Zu ihrer Schande musste Karolina allerdings zugeben, dass sie es wirklich nicht wusste.
»Siehst du«, meinte ihre Mutter, als könne sie ihre Gedanken lesen.
Nun war es Karolina, die es vorzog, das Thema der Unterhaltung nicht weiter zu vertiefen.
»Es ist nicht gut, wenn du so spätabends noch unterwegs bist«, sagte ihre Mutter und verriet damit den wahren Grund ihrer Besorgnis.
»Aber das musst du doch nicht, wirklich. Felix …«
»Es geht nicht darum, dass ich meine, Felix würde nicht gut auf dich aufpassen … Da ist noch etwas anderes.« Helene Offermann stand auf, ging zu einem Tischchen an der Wand, um die Tageszeitung zu holen.
»Hast du das nicht gelesen?«, fragte sie und blätterte die Seiten um, bis sie gefunden hatte, wonach sie offensichtlich suchte. »Unten rechts, der kurze Artikel.«
Karolina las laut vor:
»›In der gestrigen Nacht kam es in der Kölner Südstadt zu einer Schießerei.‹«
Sie musste schlucken, bevor sie weiterlesen konnte.
»›Mehrere Stahlhelmleute pöbelten in angetrunkenem Zustand Passanten an. Als sich ein Kommunist einmischte, eskalierte die Situation. Es fielen Schüsse. Der Kommunist wurde schwer, der Stahlhelmmann, der geschossen hatte, leicht an der Hand verletzt.‹«
Karolina kamen sofort Bilder in den Sinn, Bilder, die ihr Angst machten. Während sie sich ausmalte, was alles passieren könnte, wenn sie einmal in eine solche Auseinandersetzung geriet, begann ihr Herz wie wild zu schlagen. In der Südstadt war sie oft des Nachts unterwegs und vor den Stahlhelmleuten hatte sie ohnehin Respekt, wenn nicht sogar Angst wegen ihres rabiaten Auftretens. Nachdem Karolina zu Ende gelesen hatte, merkte sie, dass ihre Mutter sie nachdenklich betrachtete. Schließlich griff Helene nach dem Weinglas, das sie bisher nicht angerührt hatte, und nippte daran.
»Das meinte ich«, sagte Helene Offermann und stellte das Glas wieder ab. »Ich dachte, es wird einfacher, wenn die Besatzer aus Köln abgezogen sind. Und es kehrt endlich Frieden ein. Aber das zu lesen, macht mir Angst.«
Dass diese Leute gefährlich waren, darüber ließ der Zeitungsartikel keine Zweifel. Und die Vorstellung, dass man in der eigenen Stadt damit rechnen musste, als Unbeteiligter in einen Schusswechsel hineinzugeraten, rief bei Karolina ein Gefühl der Unsicherheit hervor. Der Abend hätte so angenehm ausklingen können, doch mit einem Mal erfüllte eine diffuse Beklemmung den Raum.
»Aber dass du einen schönen Abend hattest, das freut mich ehrlich«, sagte Helene Offermann nach einer ganzen Weile, so als wäre doch alles in bester Ordnung. Die Schallplatte hatte zu spielen aufgehört, Karolinas Mutter machte allerdings keine Anstalten, den Raum wieder mit Musik erfüllen zu lassen.
»Ich habe eine andere, freundlichere Nachricht gefunden.« Helene Offermann nahm die Zeitung, die noch zwischen ihnen auf dem Sofa lag, in die Hand, vermied es genau wie Karolina, den Artikel über die besorgniserregenden Ereignisse erneut eines Blickes zu würdigen, so als könnte sie dadurch ausblenden, dass die Welt da draußen ihre Schattenseiten aufwies. Während Helene Offermann in der Zeitung nach der Nachricht suchte, begann sie zu berichten.
»Die Enkelin von König Georg dem Fünften von England, Elizabeth Alexandra Mary«, sie sprach die Vornamen in bestem Oxfordenglisch aus, »wurde heute getauft.«
»Mama, du und deine Königsleute«, lachte Karolina, doch ihr Lachen klang nicht so fröhlich wie sonst. Sie musste nachdenken und das konnte sie am besten in ihrem Zimmer, allein. Sie umarmte ihre Mutter, genoss dabei den Moment, der nach Tosca roch, ein wenig länger als üblich, und wünschte ihr eine gute Nacht. Als sie mit ihrem Hündchen, das schlaftrunken hinter ihr her trippelte, gerade die Tür zur Eingangshalle erreicht hatte, drehte sie sich noch einmal zu ihrer Mutter um.
»Wo ist eigentlich Arnold?«
Ihre Mutter stellte das Weinglas, das sie in den letzten Sekunden geleert haben musste, auf den Tisch. »Dein Vater hat ihn heute mitgenommen zu seinem Herrenabend.«
Arnold schien also alles richtig zu machen. Sein Vater war anscheinend stolz auf ihn. Er führte ihn folgerichtig in die Gesellschaft ein. Und was war mit ihr? Was war ihre Rolle? Waren ihre Eltern auf sie stolz? Vielleicht ihre Mutter, ein klein wenig. Gesagt hatte sie es bisher noch nie.
Am Morgen war es kühl und der Himmel wolkenverhangen. Der Frühling ließ auf sich warten. Nach einem gemeinsam mit ihrer Mutter eingenommenen Frühstück – liebevoll umsorgt von Hedwig, der guten Seele –, war Karolina gegen 9 Uhr zu Fuß zur Haltestelle am Rhein gelaufen, wo sie die Straßenbahn in die Altstadt bestieg. Sie dachte über den gestrigen Sonntag nach, in dessen Verlauf ihre Gefühle einmal mehr durcheinandergewirbelt worden waren. Was ein unbeschwerter sonntäglicher Familienausflug werden sollte, hatte sich zu einem denkwürdigen Tag entwickelt, in dessen Verlauf Karolina erkennen musste, dass es mit ihren Träumereien schon bald vorbei sein konnte. Der Tag hatte angenehm begonnen. Seit Langem einmal wieder hatte sich die ganze Familie zusammengefunden, um den Sonntag miteinander zu verbringen, fast so wie in alten Zeiten, als Karolina noch ein kleines Mädchen war. Vater und Bruder waren in der Nacht von Sonnabend auf Sonntag erst spät nach Hause gekommen. Karolina hatte ihre stiefelschweren Schritte auf dem Eichenparkett gehört, während sie in dem neuesten Roman von Hermann Hesse gelesen hatte. Allerdings hatte sie sich kaum konzentrieren können und musste manche Zeile wiederholt lesen, um den Sinn der Worte zu verstehen, was nicht an dem Autor lag, sondern allein dem Umstand geschuldet war, dass Karolina ein ungutes Gefühl beschlich. Sie konnte nicht sagen warum, aber zum ersten Mal in ihrem Leben verspürte sie eine Beklemmung hinsichtlich der weiteren Entwicklung ihres Lebensweges. Als sie den Vater die Treppe heraufgehen hörte, hatte sie – aus alter Gewohnheit – eilig ihre Nachttischlampe ausgeknipst. Früher, ja früher, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, da hatte er bei seiner Rückkehr leise die Tür geöffnet und zu ihr hereingeschaut, um sie in der Tür stehend zu beobachten. Manchmal war er sogar bis an ihr Bett geschlichen, hatte sie zugedeckt, wenn ihre Füße oder ihre Arme unter dem Laken hervorblitzen. Wie schwer war es ihr gefallen, dann so zu tun, als schliefe sie tief und fest. Aber sie wusste, dass ihr Vater nur dann besonders zärtliche Gedanken zuließ, wenn er sich unbeobachtet fühlte. Und so gönnte sie ihrem Vater und sich diese wenigen innigen Momente, in denen es keine gesprochenen Worte gab. Gestern war er erwartungsgemäß an ihrem Zimmer vorbeigelaufen, das schon längst kein Mädchenzimmer mehr war. Wenn auch nicht auf dem Papier, so war Karolina doch bereits eine erwachsene Frau, mit allen fraulichen Attributen. Die allzu sichtbaren versuchte sie jedoch, gemäß der aktuellen Mode, mit einem Brustband, so gut es ging zu verstecken.
Am Sonntagmorgen hatte es ein ausgiebiges Frühstück gegeben. Hedwig hatte sich wieder einmal selbst übertroffen. Dass Karolina neuerdings keine Wurst mehr essen wollte, behagte der Familie zwar nicht wirklich, aber man ließ sie letztendlich gewähren. Man tat es als Laune ab, auch wenn ihr Vater sich eine spitze Bemerkung nicht verkneifen konnte.
»Die Zeiten, in denen wir uns kriegsbedingt einschränken mussten, sind gottlob vorbei.«
Ihre Mutter ließ ihren Vater reden, ohne Partei zu ergreifen.
»Dann bleibt mehr von dem Aufschnitt für mich«, freute sich hingegen Karolinas Bruder.
Wenn sie ihre Beweggründe hätte erklären sollen, so hätte sie angeführt, dass sie Tiere zu sehr liebe, um sie zu essen. Aber niemand wollte das ernsthaft wissen. Hedwig war die Einzige, mit der sie ab und zu über das Thema sprach. Waren sie nicht allein, so zwinkerte die Hausangestellte ihr nicht selten konspirativ zu. Als sie vor wenigen Tagen in der Küche zusammenstanden, hatte Hedwig ein neues vegetarisches Kochbuch aus einer Schublade hervorgezogen und Karolina angeboten, für sie fleischlos zu kochen, wenn der Rest der Familie außer Haus war. Während Karolina daraufhin das Kochbuch durchblätterte und Überschriften wie »Grünkernbratlinge«, »Kürbisbratlinge«, »Gefüllter Weißkohl« oder »Makkaronischnittchen« las, war ihr das Wasser im Munde zusammengeflossen. Von den Süßspeisen, die sie im hinteren Teil des Buches entdeckt hatte, ganz zu schweigen.
Nach dem Sonntagsfrühstück war die Familie mit dem Automobil in die Altstadt gefahren. Da der Fronleichnamstag unmittelbar bevorstand und Carl Anton Offermann zu den Honoratioren von Köln gehörte, konnte sich Karolina dem Sonntagsgottesdienst im Kölner Dom nicht entziehen. Es gehörte sich, dass die gesamte Familie daran teilnahm, vor allem wenn man es auf dem gesellschaftlichen Parkett noch weit bringen wollte. Karolina war nicht besonders gläubig, auch wenn ihr Vater sie katholisch erzogen hatte. Karolinas Mutter ebenso wie ihre Großmutter mütterlicherseits hatten ihr auch das Judentum und seine Feiertage nähergebracht, doch insgesamt pflegte man in der Familie einen eher pragmatischen Umgang mit der Religion.
Helene machte auch an diesem Tag an der Seite von Carl Anton Offermann eine ausgesprochen gute Figur. Dass sie allerdings einen Pelzüberwurf um ihre Schultern trug, gefiel Karolina nicht. Erstens roch dieser penetrant nach Mottenkugeln, egal, wie viel Parfüm ihre Mutter auflegte, und zweitens waren Nerze doch schließlich auch Tiere. Wer Pelz trug, gehörte für Karolinas Mutter eben zur guten Gesellschaft, davon ließ sie sich keinesfalls abbringen, mochte Karolina noch so sehr klagen. Bis sie nach dem Gottesdienst endlich den Weg zum Gildehaus, in dem sie zu Mittag essen wollten, antreten konnten, dauerte es eine Weile. Denn sowohl Vater als auch Sohn Offermann führten mit den anderen angesehenen Bürgern der Stadt bedeutsame Gespräche, eins nach dem anderen, und keiner der Herren ließ sich von seiner Gattin zum Gehen drängen. Karolinas Mutter stand etwas abseits und beobachtete die Szenerie aus der Ferne. Sie konnte mit den meisten Bankiers- und Fabrikantengattinnen wenig anfangen. Ähnlich erging es Karolina, die sich darüber hinaus nicht zum ersten Mal fragte, ob sie nicht bald selbst dazugehören würde. Als die Frau an der Seite eines einflussreichen Kölner Fabrikanten oder Politikers. Manches Mal, wenn im Hause Offermann über diesen oder jenen jungen Mann gesprochen wurde, hatte Karolina den Verdacht, dass ihr Vater gewisse Vorstellungen bezüglich ihrer Zukunft hegte. Doch bislang war er nie konkreter geworden. Karolina fürchtete den Tag, an dem es anders werden würde.
Nach dem Mittagessen im Gildehaus, ganz in der Nähe des Doms, waren sie am Rheinufer spazieren gegangen, ganz so wie früher, und kehrten in der Bastei ein, einem Ausflugslokal, das auf einem alten Rheinstromfestungswerk errichtet worden war. Von dort aus hatte man einen schier erhabenen Ausblick auf den Fluss, das gegenüberliegende Ufer und die Hohenzollernbrücke sowie den Dom. Zunächst waren ihre Gespräche eher unverfänglich verlaufen. Man klatschte beim Kaffee über Verwandte, neueste Zeitungsschlagzeilen und das Wetter. Doch dann kam das Unvermeidliche: Als habe sie es geahnt, stand Karolinas Zukunft zur Debatte. In den eigenen vier Wänden wäre es wohl bald zum Streit zwischen den Eltern gekommen. So jedoch machten ihre Mutter und ihr Vater lediglich gute Miene zu dem Argument des jeweils anderen. Während ihre Mutter dafür plädierte, Karolina, die Wissbegierige, doch noch auf das Oberlyzeum zu schicken, sah ihr Vater eine baldige Heirat für sie vor. »Das Kind muss endlich heiraten!« Dieser Satz hatte Karolina ins Mark getroffen und ein ähnliches Herzklopfen wie jenes nach der Lektüre des Stahlhelmträgerartikels hervorgerufen. Nachdem sie sich wieder etwas beruhigt hatte, blieb ein nie da gewesenes Gefühl der Enge in ihrem Brustkorb zurück. Die Jahre der Freiheit schienen gezählt zu sein. Und dann verriet ihr Vater – wohl unbeabsichtigt – den Namen des Mannes, den er als geeigneten Ehepartner für sie vorgesehen hatte.
»Fräulein, dürfte ich bitte Ihre Fahrkarte abknipsen?«, fragte der Straßenbahnschaffner und riss Karolina unsanft aus ihren Gedanken. Sie hielt ihm ihre Karte entgegen. Erst als sie nur kurze Zeit später ausstieg, kam Karolina wieder zu sich und in der Realität an. Sie schlug den Weg zur Schildergasse ein und musste auf den Straßenverkehr aufpassen. Auf dem Gehweg huschten Männer und Frauen an ihr vorbei oder überholten sie hastig, während ihr der süße Duft von der Schokoladenfabrik, der über die Gassen wehte, in die Nase stieg. Alle außer ihr hatten es eilig. Die meisten schafften es vermutlich gerade noch, pünktlich zum Arbeitsbeginn auf ihrer Arbeitsstelle zu erscheinen. Da hatte sie es besser. Ob sie fünf oder zehn Minuten später den Laden ihres Onkels betrat, spielte keine große Rolle, obwohl sie sich schon allein aus Respekt bemühte, spätestens zur Ladenöffnung da zu sein. Auch wenn sie es gut hatte und sie keinerlei finanzielle Sorgen umtrieben, so war ihr Leben gerade alles andere als perfekt. Sie spürte – nicht erst seit dem vergangenen Wochenende, aber seitdem verstärkt – eine nie gekannte Unruhe in sich brennen, eine Unruhe, die nicht allein mit ihrem persönlichen Lebensplan oder vielmehr dessen Diskrepanz zu dem Lebensweg zusammenhing, den ihr Vater für sie vorsah. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass dieses Brennen schon vor einer Weile begonnen hatte, als sie in der Zeitung die Ankündigung des zehnten Kongresses für das Frauenstimmrecht, der gerade in Paris abgehalten wurde, gelesen hatte. Wieso mussten Frauen für etwas kämpfen, das Männern wie selbstverständlich gewährt wurde? Warum um alles in der Welt sollten Frauen eigentlich nicht aktiv über die Zusammensetzung von Parlamenten und Regierungen abstimmen dürfen? Wie naiv war sie doch bisher gewesen, die behütete Tochter aus gutem Hause. Ein Prozess war in Gang gebracht worden. Karolina veränderte sich, denn all das, was um sie herum geschah, konnte sie nicht unbeeindruckt lassen. Sie kam nicht dazu, sich weiter darüber den Kopf zu zerbrechen, denn sie hatte die Buchhandlung ihres Onkels erreicht. »Leyendecker – Bücher und Verlag« stand in ornamentalen Lettern über dem Eingang. Ihr Onkel Johann war gerade dabei, das schwere Eisengitter vor der Eingangstür zu öffnen. Gleich nebenan befand sich die Einfahrt für Fuhrwerke. Im Hinterhof hörte man die Maschinen der Druckerei rattern, die ihrem Großvater gehörte. Mit seinen 66 Jahren arbeitete er immer noch regelmäßig, wenn er es auch immer häufiger seinen Mitarbeitern überließ, die schweren Arbeiten auszuführen. An einer Wand im Hof lehnte Felix’ Motorrad. Ihr Cousin begann stets früher mit der Arbeit als Karolina. Außerdem arbeitete er aus reiner Notwendigkeit, während Karolina ihrem Onkel lediglich half, um der Langeweile zu entgehen, die ihr Leben seit ihrem Schulabgang bestimmte – und um ein Alibi zu haben. Meistens stand das Motorrad ihres Cousins bei Karolinas Ankunft jedoch gar nicht im Hof, denn seine Hauptaufgabe bestand darin, Sonderaufträge auszuführen und Drucksachen auszuliefern. Karolina vermutete allerdings, dass er die Auslieferungsfahrten noch zu anderen Zwecken nutzte. Ein ums andere Mal hatte sie seine Abfahrt und sein Wiederkommen durch das Schaufenster der Buchhandlung beobachtet und war zu dem Schluss gekommen, dass er ungewöhnlich lange wegblieb. Das allein wäre kein Indiz dafür gewesen, denn über seine genauen Aufträge und Ziele war sie meistens nicht informiert. Oft hatte sie sich für ihr Misstrauen geschämt und jeglichen Verdacht beiseitegeschoben. Es ging sie ja eigentlich auch gar nichts an. Sollten sich Kunden oder sein Großvater über seine mangelnde Arbeitsmoral beschweren, sofern sie denn überhaupt existierte, so war auch das allein Felix’ Angelegenheit. Allerdings bekam ihr Verdacht, Felix tue Dinge, von denen niemand aus der Familie etwas ahnte, regelmäßig neue Nahrung. Denn so manches Mal, wenn ihr Onkel mangels Kunden wochentags freigab und sie in der Stadt umherspazierte oder in der Straßenbahn nach Marienburg saß, sah sie sein Motorrad oder ihn selbst an Orten oder Straßenecken stehen, in deren unmittelbarer Nähe gewöhnlich keine Kunden der Druckerei zu vermuten waren. Hatte ihre Mutter also doch mit ihrem Einwurf von Samstagabend recht? Ja, Felix war ihr Vertrauter, aber vor einem gewissen Hang, sich treiben zu lassen, konnte Karolina die Augen nicht verschließen. Verdiente er sich möglicherweise etwas hinzu? Wie konnte er sich sonst die vielen Abendvergnügungen leisten? Dass er in der Druckerei nicht allzu viel verdiente, konnte sich Karolina denken. Während die Auslieferungsfahrten ihm – aus welchen Gründen auch immer – zu liegen schienen, verrichtete Felix die Arbeit an den Druckmaschinen eher widerwillig. Das Unbehagen über diese Arbeit konnte sie deutlich in seinem Gesicht ablesen, wenn sie ihn, was äußerst selten vorkam, in der Druckerei besuchte. Er beklagte sich nie, sondern tat seine Arbeit, ohne Begeisterung zwar, aber ebenfalls ohne sich zu beschweren. In solchen Momenten fragte sich Karolina, was ihr Cousin eigentlich vom Leben erwartete. Er sprach einfach nie von seinen Träumen, was sie im Übrigen ebenfalls nur auf vehementes Nachfragen hin tat.
»Guten Morgen, Onkel Johann«, rief Karolina, als ihr Onkel das Eisengitter in die dafür vorgesehene Vorrichtung schob.
»Guten Morgen, Karolina. Wie war dein Wochenende?«
»Heiter bis wolkig«, lachte sie.
Mehr musste sie nicht sagen. Zu ihm, dem Bruder ihrer Mutter, hatte sie neben Felix das meiste Vertrauen in der Familie. Erst neulich hatte sie ihm über die zuweilen angespannte Stimmung im Hause Offermann berichtet.
»Wir haben einige neue Lieferungen erhalten. Würdest du diese heute Morgen bitte einräumen, Karolina? Heute Nachmittag kannst du dann pünktlich zu deinen Schauspielstunden gehen«, sagte Onkel Johann, während er sie freundschaftlich vor sich her in den Laden schob, in dem es nach Papier und Druckerschwärze roch. Immer noch zuckte Karolina zusammen, wenn jemand in aller Öffentlichkeit über ihre innersten Träume sprach. Da sie jedoch gerade allein in der Buchhandlung waren, blieb das Geheimnis wohlgehütet. Selbstverständlich würde Karolina tun, was man ihr auftrug. Doch es gab einen Wermutstropfen, denn Metha und Jakob Bär, in deren Villa üblicherweise die Unterrichtsstunden abgehalten wurden, befanden sich zurzeit auf einer Geschäftsreise, die dazu diente, für ihr Kaufhaus neue Artikel im In- und Ausland für die kommende Frühjahrssaison auszuwählen. Viel schwerer aber wog, dass Paula Poll, ihre Lehrerin und aktive Theaterschauspielerin, gerade selbst für einen wichtigen Auftritt in der übernächsten Woche probte, und man sich deshalb darauf geeinigt hatte, die Stunden ausfallen zu lassen. Karolina hatte sich vorgenommen, die Zeit ohne Unterricht nicht unnütz verstreichen zu lassen, sondern sich weiterzubilden. Sie hatte sich bereits vor einigen Tagen einen Stapel Klassiker ausgeliehen. Außerdem wollte sie einzelne Übungen, die ihr Paula Poll gezeigt hatte, wiederholen und vertiefen. Doch dafür würde sie einen Ort finden müssen, an dem niemand ihr zusah oder sie belauschen konnte. Diesen Ort hatte sie allerdings auch nach intensivem Nachdenken noch nicht entdeckt. Die heimische Villa schied schon deshalb aus, weil sie sich darin nicht wirklich frei fühlte, selbst wenn gerade niemand zu Hause war. Sie hoffte darauf, dass ihre weltoffene und in Künstlerkreisen verkehrende Tante Olga ihr einen Vorschlag würde unterbreiten können. So traf es sich gut, dass gegen Mittag Tante Olga zur Tür hereinkam. Karolina hatte den Vormittag damit verbracht, alle Neuzugänge in die Regale einzusortieren. Ihr Onkel hatte schon vor Längerem ihren literarischen Sachverstand gelobt und ihr ein gutes Händchen für die Gestaltung des Ladens bescheinigt, weshalb er sie weitgehend eigenständig handeln ließ. Um der Novität, den »Gesammelten Werken in Einzelausgaben« von Hermann Hesse, in den alphabetisch geordneten Regalen Platz zu machen, hatte sie einige Ladenhüter aussortieren müssen. Jene Bücher, die kürzlich erst in den Literaturbeilagen der Zeitungen besprochen worden waren, legte sie auf einen Tisch in der Nähe des Eingangs. Dort wurde es langsam eng, denn zu den bekannten Namen wie Victor Hugo, Heinrich Mann und Franz Werfel gesellten sich immer mehr vom Englischen ins Deutsche übersetzte Bücher, wie etwa die Forsyte-Sage von John Galsworthy. Überhaupt hatten sie den internationalen Werken viel Raum reserviert, denn schließlich war Köln eine Großstadt mit vielen Touristen und ausländischem Publikum. Wenn Karolina einmal Langeweile verspürte, was nicht allzu oft vorkam, dann konnte sie auf literarischen Pfaden durch die Welt spazieren: Charles Dickens, Rudyard Kipling, Upton Sinclair, Eugene O’Neill, Edgar Allan Poe … All diese Autoren eröffneten ihr neue Horizonte. Und wenn sie eines begriffen hatte, dann dass sie sich weiterbilden musste. Das brauchte ihre Schauspiellehrerin ihr gar nicht erst immer wieder eindringlich nahelegen. Eine Buchhandlung war dafür wahrlich kein ungeeigneter Ort.
Wenn Tante Olga einen Raum betrat, dann nahm man sie sogleich wahr. Nicht nur wegen ihres hochgewachsenen Körpers, der sie jedoch keineswegs wuchtig wirken ließ. Auch nicht wegen ihrer blonden lockigen Haare, ihrer auffallenden, ein wenig zum Mondänen neigenden Kleidung, auch nicht wegen ihrer Stimme mit dem russischen Akzent. Nein, eine ganz besondere Aura umgab sie. Ihre Anwesenheit ließ jedermann innehalten, sie betrachten und erst dann lief die Zeit weiter. Tante Olga fiel auf, sogar in der Großstadt Köln. Karolina liebte Menschen, die in der Lage waren, andere zu begeistern. Umso mehr zweifelte sie daran, dass ihr selbst dies eines fernen Tages gelingen würde. Woher sollte sie nur diese besondere Ausstrahlung und Tante Olgas Selbstbewusstsein nehmen? Während Tante Olga sie herzlich mit einer Umarmung und einem Küsschen auf die Wange begrüßte, berührte Karolina ihr Cape. Es fühlte sich so weich und kuschelig an, es musste sicher teuer gewesen sein. Eine Duftwolke umgab sie, von der sich einzelne Moleküle lösten, während Tante Olga zur Kassentheke schwebte, um ihren Mann zu begrüßen. Karolina sog diesen ihr unbekannten Duft ein, der ihr wie eine Verheißung aus einer anderen, mondäneren Welt vorkam.
»Tante Olga, du duftest so gut! Wie heißt das Parfüm?«, rief Karolina ihr hinterher.
»Chanel N° 5«, rief Tante Olga, die gleich darauf einen fast kindlichen Freudenschrei ausstieß.
»Es ist da?«, rief sie verzückt. »Danke, dass du es bestellt hast!« Sie umarmte ihren Mann überschwänglich und nahm dann den großformatigen Bildband entgegen, den ihr Onkel Johann entgegenhielt. Er war so schwer, dass Tante Olga ihn auf den Verkaufstresen legen musste, um in Ruhe darin zu stöbern. Als Karolina neugierig näher kam, sah sie, dass es sich um einen Bildband über moderne Kunst handelte. Noch etwas anderes stellte Karolina fest, nämlich dass die heutige Wirkung ihrer Tante mit ihren Schuhen zusammenhing. Mit den ungewöhnlich hohen Absätzen überragte sie sogar ihren Mann um einige Zentimeter.
»Schau mal«, wandte sich Onkel Johann nun an Karolina: »Für dich haben wir auch etwas bestellt«, er blinzelte seiner Frau konspirativ zu und zog ein Buch unter der Theke hervor. Karolina begann, augenblicklich vor Aufregung leicht zu frösteln, denn das Buch handelte vom Kino, sie hatte es sich schon sehr lange gewünscht.
»Du kannst es hier lesen, wenn du magst«, bot ihr Onkel an.
»Wir verwahren es hier für dich, aber es gehört dir«, ergänzte Tante Olga und streichelte Karolina, die sich leise bedankte, über den Arm.
Wie nett es doch war, dass die beiden an sie gedacht hatten und ihre Träume so eifrig unterstützten. Am liebsten hätte Karolina gleich mit der Lektüre begonnen, doch sie wollte ihre Arbeit nicht vernachlässigen. Bevor sie jedoch weiterarbeitete, schilderte sie ihrer Tante ihr dringliches Anliegen.
»Wieso übst du nicht zu Hause, dein Vater ist doch ohnehin kaum dort anzutreffen?«, fragte ihre Tante.
»Ich fühle mich in der Villa nicht frei, außerdem fehlt mir die künstlerische Inspiration«, antwortete Karolina.
»Man müsste wirklich einmal grundlegend renovieren, viele eurer Möbel sind doch sehr aus der Mode gekommen«, entgegnete Tante Olga. Wie abwertend das klang. Fast war Karolina geneigt, in der Bemerkung ihrer Tante eine unterschwellige Kritik an dem Geschmack ihrer Mutter herauszuhören. Dabei hatte Helene Offermann den Salon, in dem sich Karolina ausgesprochen wohlfühlte, erst in dem Jahr, in dem Karolina ihre Schulausbildung beendet hatte, umgestalten lassen. Doch die meisten Räume hatte tatsächlich ihr Vater einrichten lassen, mit Möbeln, die noch aus der Zeit vor dem Großen Krieg stammten. So atmete die Villa eine gewisse dunkle Behäbigkeit, die einer angehenden Künstlerin nur wenig Inspiration bot. Für Karolinas Vater stand es außer Frage, dass die wuchtigen Möbel einem Möbelfabrikanten würdig waren. Musste er nicht langsam umdenken? Selbst Karolina war nämlich nicht verborgen geblieben, dass Herrenzimmer, so wie die Fabrik Offermann sie im Programm führte, immer seltener in den Anzeigen der Tageszeitungen angeboten wurden. Sie nahm deshalb an, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie ganz aus der Mode kommen würden. Hatte nicht erst neulich ihr Vater über den rückgängigen Absatz geschimpft? Hatte er nicht die zunehmende Automatisierung vieler Betriebe beklagt, aufgrund derer die Arbeiter bald ohne Arbeit dastehen würden, und betont, dass er, so lange es ging, seine hochwertigen Möbel weiterproduzieren würde? Was wäre aber, wenn dafür niemand mehr in der Lage war, Geld auszugeben?
»… leider kann ich dir im Moment nicht weiterhelfen«, beendete Tante Olga ihre Antwort, von der Karolina offensichtlich nur einen Bruchteil mitbekommen hatte. Sie drückte Karolina zum Abschied einen Kuss auf die Wange, winkte ihrem Gatten noch einmal über den Tresen hinweg zu und verschwand schließlich mit ihrem Kunstband unter dem Arm durch die Tür und trat auf die belebte Schildergasse hinaus. Der Duft von Chanel N° 5 blieb in der Buchhandlung zurück, vermischte sich jedoch bald bis zur Unkenntlichkeit mit den typischen vorherrschenden Gerüchen. Da heute nur wenige Kunden eine Beratung wünschten, kam Karolina zügig mit dem Einräumen voran. Bald schon konnte sie sich ein ruhiges Plätzchen suchen, das sie in einem Gang neben den Regalen mit den Klassikern fand. Dort, in diesem abseitigen Winkel der Buchhandlung, blätterte sie in ihrem neuen Buch und vergaß dabei alles, was um sie herum geschah. Ihr Onkel bediente die wenigen Kunden, beobachtete seine Nichte immer wieder mit einem Lächeln auf den Lippen, und als mittags gerade niemand im Laden war, hockte er sich neben sie.
»Was hältst du davon, wenn du in der Natur deine Schauspielübungen machst, im Stadtwald zum Beispiel?«
Verwundert blickte Karolina auf. Onkel Johann hatte also auch darüber nachgedacht.
»Meinst du, da finde ich ein ruhiges Plätzchen? Es soll ja im Sommer dort sehr viele Ausflügler und Spaziergänger geben.«
»Das Areal ist so weitläufig. Wenn du an den Tiergehegen vorbei etwas weiter gehst, findest du bestimmt einen geeigneten Ort. Außerdem könnte ich mir vorstellen, dass es dort wochentags ruhiger zugeht. Und bevor du wieder zurückfährst, kehrst du noch in der Waldschenke ein«, schlug er vor. »Das tut dir gut, wenn du junge Leute kennenlernst.«
Noch war Karolina nicht ganz überzeugt, und das mit den jungen Leuten, die sie kennenlernen sollte, hatte sie geflissentlich überhört. »Aber wie soll ich denn da hinkommen?«
»Das ist ganz einfach, liebe Karolina. Du steigst am Neumarkt in die Linie eins, die bringt dich direkt nach Lindenthal.«