Johannisglut - Karin Joachim - E-Book

Johannisglut E-Book

Karin Joachim

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Beschreibung

Tatortfotografin Jana Vogt wandert mit einer Freundin von Aremberg nach Schuld an der Ahr. Die beiden begleiten Mitglieder einer universitären Theatergruppe, die sich seit vielen Jahren nicht mehr gesehen haben. Jana erkennt schnell, dass Misstrauen und ein dunkles Geheimnis die Gruppe umgeben. Sie erfährt, dass vor 30 Jahren eine der Schauspielerinnen spurlos verschwand. Als am nächsten Morgen eine Mitwanderin tot aufgefunden wird, ist sie sich sicher, dass der Mörder unter ihnen ist.

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Seitenzahl: 328

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Karin Joachim

Johannisglut

Jana Vogts dritter Fall

Zum Buch

Ungesühnt Tatortfotografin Jana Vogt erlebt gerade einen beruflichen und privaten Neuanfang. Als Mitarbeiterin in Clemens Wielands Ermittlerteam ist sie damit beschäftigt, Fotos von ungeklärten Kriminalfällen neu zu bewerten. An einem Wochenende im Juni begleiten Jana und ihre Freundin Meike Jacob die ehemaligen Mitglieder einer universitären Theatergruppe auf einer Ahrsteig-Wanderung. Jana soll Fotos machen, während Meike die Gruppe durch das Gebirge führt. Schnell wird jedoch klar, dass die Mitglieder der Gruppe ein dunkles Geheimnis zu hüten scheinen. Vor genau 30 Jahren ist eine der Schauspielerinnen spurlos verschwunden. Haben sie in den Eifelwäldern nicht nur die Szenen eines Theaterstücks geprobt, sondern auch okkulte Riten aufleben lassen? Ungeahnt gerät Jana in einen ihrer Altfälle hinein. Kann sie die Schuldzuweisungen und Stimmen aus der Vergangenheit richtig deuten? Wandert der Mörder von damals jetzt mit ihr Seite an Seite?

Karin Joachim wurde in Bonn-Bad Godesberg geboren und lebt seit über 20 Jahren im Ahrtal. Die studierte Germanistin und Anglistin sowie ehemalige Leiterin eines archäologischen Museums ist heute als freiberufliche Autorin tätig. In ihrer Freizeit ist sie mit ihrem Border Terrier unterwegs, mit dem sie die Natur erkundet und historische Orte besichtigt.

www.karinjoachim.de

www.lovelybooks.de/autor/Karin-Joachim/

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Domschattenträume (2018)

Bittertrauben (2018)

Krähenzeit (2016)

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2019

Lektorat: Sven Lang

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Karte: Julia Franze/Benjamin Arnold

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung der Fotos von: © Joergens.mi/Wikipedia

https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/legalcode

und © 758139 / pixabay.com

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-5944-3

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Karte Ahrweiler – Aremberg

 

Prolog –Johannisnacht 1988

Orangefarbene Funken stoben in den dunkelblauen Abendhimmel. Jemand musste Holzscheite nachgelegt haben, denn das Feuer brannte wieder lichterloh. Der Schein erleuchtete den Turm, der als einziges Bauwerk auf dem Bergplateau die Erinnerung an vergangene Zeiten wachhielt. Auf seinen Mauern tanzten die riesenhaften Schatten zweier Menschen, die dem Feuer viel zu nahe kamen. Ein Holzscheit krachte, Funken regneten auf die beiden herab, sodass sie erschreckt flüchteten.

Einer von ihnen trug ein Bündel auf dem Arm, das er vor der Hitze des Feuers zu schützen schien. Nach einer Weile verloren sie sich in der Dunkelheit. Das Feuer loderte weiter. Die Bäume mit ihren mächtigen Kronen wirkten mit einem Mal wie gespenstische Fabelwesen. Plötzlich hallten Rufe über den Berg, die Person mit dem Bündel löste sich aus der Dunkelheit, um nur Sekunden später verfolgt von der zweiten wieder darin zu verschwinden, dabei verzweifelt rufend. Dann ein Schreckensschrei und beinahe im selben Moment klang es, als ob ein Körper auf einem steinernen Untergrund aufgeprallt wäre. Stille, Schritte, Stille, ein dumpfer Ton, ein Stöhnen. Bis auf das Knistern des Feuers, dessen Kraft allmählich schwand, war nichts zu hören, und doch … leise zwar … Erst übertönten noch die knackenden Äste es, bis man es deutlich wahrnehmen konnte: das Weinen eines kleinen Kindes.

In einiger Entfernung näherte sich ein Auto, jemand fluchte, es raschelte im Unterholz. Man hörte Schritte auf den feuchten Pflastersteinen, die zum Bergplateau führten. Eine Taschenlampe warf ihr Licht in die Dunkelheit und beleuchtete – so als habe das Licht eigenständig hierhergefunden – den am Boden liegenden Körper.

Einige Tage vor dem Johannistag

Glutrot versank die Sonne über den Ahrbergen. In der Luft hing noch die Wärme des sommerlichen Tages. Immer länger wurden die Schatten und so verschmolzen die Weinberge an den hier so lieblichen Hängen mit den Wiesen und Wäldern ringsum. Unvorstellbar, dass nur wenige Hundert Meter weiter steile Felsen, die zur Ahr hin abfielen, ein ganz anderes Panorama schufen. Dort hatte Jana Vogts erstes Abenteuer an der Ahr begonnen. Dort hatte sie Clemens Wieland kennengelernt. Sie atmete tief ein und seufzte laut.

»Was ist los?«, fragte Meike Jacob über den Rand ihres Weinglases hinweg. Der Spätburgunder darin fing einen der letzten Sonnenstrahlen des Tages ein. Meike saß neben Jana. Beide blickten bewundert von der Terrasse des Ausflugslokals in den Weinbergen oberhalb von Walporzheim aus auf die Landschaft.

»Du weißt doch, es waren anstrengende Wochen. Meine Versetzung, der Wechsel nach Koblenz, der Umzug nach Ahrweiler …«, sagte Jana, während sie Ustis Kopf kraulte.

»Das wollte ich dich schon eine ganze Weile fragen. Warum bist du eigentlich nicht gleich nach Koblenz gezogen … oder …?«

»Du meinst, zu Clemens?«, fragte Jana.

»Hm, auch …«

»Ich brauche meine Freiheit und den Abstand zur Dienststelle. Vielleicht irgendwann einmal, aber jetzt muss ich erst einmal wieder gänzlich bei mir selbst ankommen.«

»Das kann ich verstehen. Alles zu seiner Zeit«, antwortete Meike nachdenklich.

»Auch wenn die Fahrerei manchmal schon anstrengend ist. Aber so kann ich abschalten. Und hier lebt es sich wirklich gut«, sie machte mit ihrem Arm eine ausholende Bewegung, als ob sie das Panorama einsammeln wollte.

»Ihr seht euch aber regelmäßig?«

»Du meinst, Clemens und ich?«

Meike nickte und leerte ihr Weinglas. Jana nahm ihres und trank einen Schluck. »Wir sehen uns oft in der Polizeidirektion. Auch wenn er neuerdings als Dozent für die Landespolizeischule tätig ist.«

»Das meinte ich nicht …«

»Ach, privat? Ja, er ist ziemlich oft hier bei mir.« Jana hielt inne. Sie kannte Meike zwar schon eine Weile, aber sie wollte mit ihr nicht ausführlich über ihr Privatleben sprechen. Immer noch musste Jana an ihren ersten Fall im Ahrtal denken und Meikes Rolle darin. »Schade, dass Clemens immer weniger Lust zum Wandern hat«, schob sie hinterher, damit Meike nicht merkte, was in ihr vorging.

»Und das fehlt dir?«, fragte Meike.

»Ja, schon. Ich würde gerne mal an der Oberen Ahr wandern. Neulich erst habe ich einen Bericht über den Ahrsteig im Fernsehen gesehen und muss gestehen, dass ich manche Ecken noch gar nicht kenne …«

»Das trifft sich gut. Ich habe am Wochenende eine Gruppenführung angenommen. In Aremberg soll es losgehen, mit Übernachtung in Schuld.«

»Aremberg, das ist doch dieser Berg …« Irgendwas klingelte bei Jana.

»Ja, der höchste des Ahrgebirges.«

»Aber der Ort heißt auch so, oder?«, fragte Jana, der eingefallen war, dass sie den Ortsnamen neulich erst in einem ihrer Altfälle gelesen hatte. Sie hatte sich einen Stapel von Akten kommen lassen, mit Fällen, die noch nicht aufgeklärt worden waren. Nicht, um diese Aufgabe nun zu übernehmen, sondern um die Methodik der fotografischen Erfassung von Spurenträgern vor zehn, 20 oder 30 Jahren mit den heutigen zu vergleichen. In Aremberg war etwas passiert, kein Tötungsdelikt, sofern sie sich richtig erinnerte. Sie hatte die Akte eigentlich bereits aussortiert, da nichts Verwertbares für ihre Fragestellung darin enthalten war.

»Willst du vielleicht mitkommen?«, fragte Meike.

»Häh?«

»Hast du mir nicht zugehört?«, fragte Meike lachend.

»Entschuldige, ich war in Gedanken.«

»Das habe ich gemerkt. Also, möchtest du mitwandern?«

»Du meinst, das wäre möglich? Die Gruppe möchte doch bestimmt keinen Fremden dabeihaben …«

»Ah, lass mich mal machen. Außerdem fragte Herr Großmann mich gestern erst, ob ich einen Fotografen organisieren könne, der mitkommt.«

»Wer ist dieser Herr Großmann?«, unterbrach sie Jana.

»Der Mann, der die Führung und alles Drumherum organisiert. Aber ehrlich gesagt, das macht doch kein Fotograf, zumindest nicht für einen ganzen Tag. Ob er das Honorar bezahlen könnte, habe ich ihn gefragt …«

»Ach, daher weht der Wind«, sagte Jana und stupste Meike neckisch in die Seite.

»Nein, ich möchte dich nicht ausnutzen, er würde sogar ein gutes Honorar zahlen. Hättest du mich zu Ende reden lassen, dann hätte ich dir das schon noch erzählt.« Meike lachte.

»Oh, entschuldige. Ich bin schon ziemlich vorlaut.«

»So kenne ich dich«, entgegnete Meike. Ihre Worte klangen freundschaftlich.

Jana wusste nicht, was sie sagen sollte. Es traf zu, dass sie mitunter vorlaut und schroff war. Aber sie hatte sich schon gebessert, hoffte sie zumindest.

»Ich dachte, das wäre eine gute Möglichkeit, deine Anwesenheit zu erklären. Und du könntest noch deiner Leidenschaft nachgehen.«

»Was soll denn fotografiert werden? Ich nehme an, die Leute aus der Gruppe … Das ist eigentlich nicht so wirklich das, was ich gut kann …«

»Keine Ahnung«, entgegnete Meike.

»Was meinst du?«, fragte Jana und rechnete damit, dass Meike etwas Negatives über ihre Art zu fotografieren sagen würde.

»Er sagte nicht genau, welche Aufgabenstellung er für den Fotografen angedacht hatte. Ich weiß nur, dass es wohl ein Jubiläum ist, das sie feiern möchten.«

»Ich komme mit«, sagte Jana. Denn langsam beschlich sie die Vermutung, dass der Altfall, der Cold Case, der auf dem Stapel auf ihrem Schreibtisch lag, bald nicht mehr ganz so kalt sein würde.

1. Tag: Vormittag

Heute sollte die Wanderung über den Ahrsteig stattfinden. Leider hatte Jana nur einmal kurz in die Akte blicken können, an die sie bei der Nennung des Ortsnamens Aremberg denken musste. Und vor lauter Hektik am gestrigen Abend hatte sie diese auch noch in der Polizeidirektion liegen gelassen. Die wichtigsten Eckpunkte allerdings hatte sie sich gemerkt. Vermutlich war es aber auch gar nicht wichtig, was darin stand. Denn was sollte sie 30 Jahre später bei einer Wanderung herausfinden, was die Kollegen nicht bereits vor ihr hatten ermitteln können? So freute sie sich darauf, endlich einmal etwas anderes zu sehen als Akten, Fachliteratur und alte Fotografien und auch die Natur länger genießen zu können als für ein paar Kilometer, die sie sonst mit ihrem Hund Usti marschierte. Auf der »Etappe 3« des Ahrsteigs würde es über Wiesen und durch Wälder an der oberen Ahr entlanggehen. Meike hatte Jana heute in aller Früh mit ihrem Auto in Ahrweiler abgeholt. Jetzt fuhren sie zu ihrem Startpunkt. In Aremberg würden sie auf die Gruppe stoßen, die Meike als Wanderführerin engagiert hatte. Von dort aus wollten sie über Eichenbach nach Schuld laufen.

»Insul ist eigentlich der Schlusspunkt dieser Etappe«, sagte Meike. »Aber Herr Großmann, der die Führung gebucht hat, wollte unbedingt, dass die Gruppe in Schuld übernachtet. Morgen geht es dann weiter über Insul nach Altenahr.« Jana würde die Gruppe auf der heutigen Etappe begleiten, denn der Auftraggeber wollte eine Foto-Dokumentation als Erinnerung zusammenstellen. Meike hatte tatsächlich dafür gesorgt, dass Jana als Fotografin engagiert worden war, allerdings nicht unter ihrem wahren Namen. Im Laufe der vergangenen Monate waren immer wieder einzelne von Janas Fotografien in Reisemagazinen abgedruckt worden. Einladungen zu Ausstellungen hatte sie vorerst nicht mehr angenommen und im Internet firmierte sie mittlerweile unter dem Pseudonym Anna Graf. Den Lebenslauf auf ihrer Internetseite hatte sie so knapp gehalten wie möglich, und die Angaben im Impressum führten zu einer Anwaltskanzlei. Kontaktieren konnte man sie ausschließlich per Mail. Diese Vorsichtsmaßnahme hatte einen einzigen Grund: Der Prozess gegen die beiden Verbrecher, die ihr auf grausame Weise die eigene Verletzlichkeit vor Augen geführt hatten, stand unmittelbar bevor, und Jana war die Einzige, die beide identifizieren konnte. Mehr oder weniger. Die Hintermänner, die es mit Sicherheit gab, durften sie nicht finden. Janas früher so unerschöpflicher Optimismus und diese nie gekannte Sorge um die eigene Unversehrtheit hatten in der Vergangenheit so manchen Kampf miteinander ausgefochten. Manchmal musste sie sich zwingen, einen besonderen Augenblick zu genießen. Doch nicht jetzt, denn sie konnte sich an den pittoresken Orten und der abwechslungsreichen Landschaft nicht sattsehen. Immer wieder tauchte die im Morgenlicht glitzernde Ahr neben der Landstraße auf. Je weiter sie kamen, desto schmaler wurde der Fluss. Hinter jeder Kurve änderte sich das Bild, das sich ihnen bot, und zu gerne hätte sie Meike an dieser oder jener Stelle gebeten, anzuhalten, um die Eindrücke festzuhalten. Die Kamera, die sie auf ihrem Schoß hielt, war ein Geschenk von Clemens, das er ihr zum Einstand überreicht hatte. Dass sie sich entschieden hatte, Köln den Rücken zu kehren, bereute sie nicht. Ganz im Gegenteil. Beruflich ging es seitdem bergauf. Das Betriebsklima im Team der Koblenzer Kriminalpolizei war anders, sie konnte noch nicht einmal erklären, worin diese Andersartigkeit genau bestand. Simone jedenfalls fehlte ihr kein bisschen und sie hatte den Verdacht, dass ihre beste Freundin nicht ganz unschuldig an den Missstimmungen unter den Kollegen gewesen war. Manchmal musste man Freundschaften, die einem das Gefühl der persönlichen Unzulänglichkeit vermittelten, beenden. Jana hatte eine Weile mit diesem vorerst endgültigen Schritt gehadert, doch letztendlich fühlte sie sich freier, so ganz ohne die strengen Blicke der ehemals besten Freundin in ihrem Rücken. Seitdem sie den Kontakt mit Simone abgebrochen hatte – es war ihr allerdings schwergefallen, wenigstens noch für ihr Patenkind da zu sein –, ging es ihr bedeutend besser. Dazu trug ihre neue Wohnung in Ahrweiler genauso bei wie ihre neue Arbeitsstelle. Sie hätte es gar nicht besser treffen können, denn ihre aktuelle Aufgabe war ihr wie auf den Leib geschneidert. Da sie mit ungeklärten Altfällen beschäftigt war und Clemens bei seiner neuen Aufgabe als Dozent tatkräftig unterstützen durfte, war sie geistig gefordert. Das tat ihr gut. Hinzu kam, dass sie regelmäßige Arbeitszeiten hatte und an den Wochenenden kaum noch arbeiten musste. So konnte sie viel Zeit in der freien Natur verbringen, was ihr mehr als zuträglich war. Wenn nur nicht der bevorstehende Prozess wie eine schwere Last auf ihren Schultern läge und an ihren alten Wunden kratzte.

Insul, Schuld und Fuchshofen hatten sie bereits hinter sich gelassen, gerade bogen sie in Antweiler von der Landstraße ab. Gleich hinter den letzten Häusern tat sich eine atemberaubende Landschaft auf. Neugierig drehte sich Jana um und blickte durch die Rückscheibe, vorbei an den beiden Hunden, ihrem Airedale Terrier Usti und Meikes schokobrauner Labradorhündin Gini, die es sich im Kofferraum des Kombis bequem gemacht hatten. Wie schnell sie doch an Höhe gewannen! Schließlich geriet linker Hand auch die Kuppe des Arembergs in ihr Blickfeld. Als die ersten Häuser des Bergdorfes in Sichtweite kamen, lenkte Meike den Wagen auf einen Parkplatz unmittelbar neben der Kreisstraße.

»Alles aussteigen!«, rief sie. »Wir sind am Ziel. Bis zum Treffpunkt auf dem Aremberg ist es zwar noch ein Stück, aber dort finden wir keinen Parkplatz.«

Jana hatte mittlerweile die Beifahrertür aufgestoßen und atmete tief ein. Die kühle Luft, die der Wind über die Felder und Wiesen wehte, war erstaunlich würzig. Es roch nach frischem Heu. »Wow, hier kann man ja weit gucken«, sagte sie und stieg aus. »Was ist das für ein Berg?«, fragte sie, während der Auslöser ihrer Kamera summte.

»Welchen meinst du?«, fragte Meike amüsiert.

»Da hinten, der mit dem Turm.«

»Ah, das ist die Nürburg.«

»Die kann man von hier aus sehen? Unglaublich. Wie weit ist sie weg?«

»Keine Ahnung, wie viele Kilometer Luftlinie das sind, aber mit dem Auto sind es rund 20 Kilometer bis zum Nürburgring.«

Jana drehte sich um die eigene Achse und schwärmte: »Das ist eine grandiose Landschaft hier. Alles ist so weit und frei, so lieblich. Wohin führt denn diese Allee?«, fragte sie und zeigte auf eine schnurgerade Straße, an der Lindenbäume Spalier standen.

»Zur Schutzengelkapelle«, antwortete Meike und entließ Gini aus dem Auto.

»Schutzengelkapelle? Glaubt man hier an Schutzengel?«

»Möglich«, antwortete Meike und lächelte verschmitzt. »Drinnen befindet sich ein Altar mit der Statue eines Schutzengels, der ein Kind bewacht.«

»Oh, kann man hineingehen?«

»Leider nicht, die Kapelle wird nur zu besonderen Anlässen aufgeschlossen. Sag mal, willst du nicht langsam Usti rauslassen?«

»Oh ja, natürlich«, antwortete Jana und folgte Meike zum Kofferraum. Usti blickte sie vorwurfsvoll an und schien zu fragen, warum er warten musste, während Gini schon längst den Boden beschnüffeln durfte. Das Licht der Morgensonne brachte seine dunkelbraunen Augen zum Leuchten. Jana ließ ihn von der Ladefläche hüpfen, nachdem sie ihn eilig angeleint hatte. Sie kannte ihn zu gut und einmal freigelassen, würde er sogleich über die riesige Wiesenfläche stromern, um sich auf die Suche nach Mäusen zu machen. In der letzten Zeit war sein Freiheitsdrang immer mehr gewachsen, und sie hatte zu wenig unternommen, diesem entgegenzuwirken. »Ich war viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt«, murmelte sie.

»Was?«, fragte Meike.

Jana winkte ab.

»Wir müssen uns sputen, wenn wir noch vor der Gruppe oben auf dem Burgplateau ankommen wollen«, mahnte Meike. »Ich bin immer gerne als Erste da«, sagte sie, während sich die vier in Bewegung setzten. Ein einziges Auto überholte sie, als sie die steile Straße entlangliefen, die auf die Kirche von Aremberg zulief. Es war ein Taxi.

»Das sind bestimmt einige der Mitwanderer«, sagte Meike und forcierte ihr Tempo.

»Meinst du?«, fragte Jana irritiert, während sie versuchte, mit Meike mitzuhalten.

»Ja, Herr Großmann sagte, dass sie sich am Hotel treffen wollten.«

Endlich fiel bei Jana der Groschen. Ein Herr Großmann wurde namentlich in dem Altfall genannt. Ob das als Zufall zu werten war? »Weißt du mehr über diesen Herrn Großmann?«, fragte Jana und machte einige Fotos von der Straße.

»Hm?«, fragte Meike, die weitergelaufen war. Sie ging zu Jana zurück, die gerade das Objektiv ihrer Kamera auf den Hauseingang und den dahinter liegenden Hof richtete.

»Der Herr Großmann, weißt du was über ihn?«

»Nein, nur dass er etwas mit Politik zu tun hat. Warum willst du das wissen?«

»Nur so … schöne alte Häuser sind das hier«, murmelte Jana.

»Du interessierst dich für die Ortsgeschichte, oder? Das kann ich verstehen, aber nicht jetzt, bitte …« Sie zupfte an Janas Blusenärmel. »Komm bitte …«, sagte Meike und lief weiter. Jana folgte ihr in einigem Abstand.

»Ich sehe hier nur so gelbe Schilder mit dem Logo vom Ahrsteig. Ist der nicht eigentlich blau markiert?«, bemerkte Jana, als sie Meike eingeholt hatte.

»Das hier nennt sich Zuweg. Der Ahrsteig selbst läuft weiter südlich am Ort vorbei, ungefähr da, wo wir geparkt haben. Aber hier entlang ist es kürzer«, sagte Meike und lächelte. »Wir stoßen später unterhalb des Burgberges auf den Weg.«

»Ach so«, entgegnete Jana, während sie auf die Kirche zuliefen, die einige Meter über dem Straßenniveau lag und zu der man über eine steinerne Treppe gelangte.

»In der Kirche befinden sich übrigens einige Ausstattungsgegenstände aus dem Kloster Marienthal, die man hierhergebracht hat, nachdem es 1802 von den Franzosen aufgelöst worden war«, sagte Meike.

»Das Marienthal?«, fragte Jana. Sie dachte wieder an Meikes Verstrickungen in Janas ersten Kriminalfall, den sie gemeinsam mit Clemens vor einer Weile in Ahrweiler gelöst hatte.

»Ja«, entgegnete Meike kleinlaut.

Ohne weiter darauf einzugehen, blieb Jana stehen und hüpfte auf die andere Straßenseite.

»Du willst doch jetzt nicht etwa die Kirche besichtigen«, rief Meike ihr hinterher. »Dazu haben wir doch keine Zeit.«

Doch Jana winkte ab. »Bin gleich wieder zurück.« Sie hatte ohnehin nur vor, sich einen Überblick zu verschaffen. Usti folgte ihr ohne Murren, sprang mit ihr die Stufen empor und blieb beinahe ehrfürchtig vor dem Friedhof stehen, der links neben der Kirche angelegt worden war. Jana machte währenddessen einige Fotos von der Kirche sowie den umliegenden Häusern. Blickte man über den Friedhof hinweg, so öffnete sich eine weite, hügelige Landschaft. Schräg gegenüber der Kirche, auf der anderen Straßenseite, beobachtete Jana mehrere Personen, die sich vor dem Eingang der Burgschänke versammelt hatten. Ein hochgewachsener Mann mittleren Alters redete zu ihnen gestenreich. Ein paar Wortfetzen drangen an Janas Ohr. Sie nahm an, dass es sich um ihre Mitwanderer handelte, denn gerade verließ das Taxi den Hof, das zuvor an ihnen vorbeigefahren war. Jana beeilte sich, wieder zu Meike aufzuschließen, die ihre Rückkehr mit einem freundlichen Kopfschütteln quittierte. »Ich frag mal nicht nach, was du hier treibst«, sagte sie.

»Dienstlich«, entgegnete Jana.

»Das dachte ich mir schon. Und ich dachte, du bist mitgekommen, um abzuschalten.«

»Versteh mich bitte nicht falsch«, antwortete Jana und strich ihrer Freundin über den Arm.

»Schon gut«, fiel ihr Meike ins Wort. »Ich will es gar nicht wissen.«

Was hätte Jana auch erklären sollen? Noch war ohnehin alles viel zu vage: Der Name Großmann, der in den Akten des Altfalles als Zeuge aufgetaucht war, hatte gar nichts zu bedeuten. Und rechtfertigte nicht, sich näher mit dem Fall zu befassen. Allenfalls eine Namensgleichheit mit dem Mann, der diese Wanderung organisiert hatte und dessen Vornamen sie noch gar nicht kannte. Trotzdem hatte Jana die ganze Zeit Ausschau nach dem Haus gehalten, in dem die Vermisste, um die es in der Akte ging, gewohnt hatte. Noch hatte sie das Elternhaus der jungen Frau nicht gefunden. Ob man zwischenzeitlich eine Neuordnung der Hausnummern vorgenommen hatte?

Am Beginn eines besonders steilen Straßenabschnitts entdeckte Jana ein altes, scheinbar unbewohntes Haus, auf dessen Frontseite eine schwarze Platte montiert war. Sie konnte einige wappenähnliche Symbole darauf erkennen.

»Was ist das?« Jana betätigte mehrfach den Auslöser, während Usti weiterzog, um zu Gini aufzuschließen.

»Eine Takenplatte, das erklär ich dir später«, rief Meike, die bereits ein gutes Stück der Steigung zurückgelegt hatte. »Nun komm! Da oben am Junkerhaus müssen wir abbiegen.«

Jana nahm japsend den Anstieg und verfluchte in dem Moment ihren viel zu vollgepackten Rucksack.

»Bald wird es angenehmer«, sagte Meike.

Nach wenigen Schritten konnte Jana in der Tat aufatmen.

»Hier sind wir. Das ist das Junkerhaus«, sagte Meike und blieb stehen. Nicht nur das rosafarbene Gebäude, sondern auch der angrenzende Garten gefiel Jana. Er passte zu dem Haus, beides jedoch nicht zu dem heutigen Ort.

»Was ist ein Junkerhaus?«

»Heute nennt man es so. Es hatte viele Funktionen, so wie auch die Anlage auf dem Burgberg eine wechselvolle Geschichte hinter sich hat. Mal war es ein Burg­mannenhaus, dann ein Forstamt und Rentamt. Das Doppelwappen aus Sandstein weist auf eine Familie Lersch hin, aus dem 18. Jahrhundert ist es«, erklärte Meike, während sie weiterging. Jana musste hinterher und so marschierten sie unter hohen Bäumen weiter. Der Weg, auf dem sie nun immer noch leicht bergan schritten, war nicht mehr asphaltiert, sondern bestand aus alten dunkelgrauen Steinquadern. An einer Stelle konnte man auf den Ort blicken. Jana nahm dies zum Anlass, anzuhalten und tief Luft zu holen. Sie sollte an ihrer Kondition arbeiten. Es ging weiter, durch einen kühlen Mischwald. Mehrmals passierten sie einige Informationstafeln, auf denen die Geschichte des Ortes ausführlich dargelegt wurde. Doch für die Lektüre fehlte die Zeit.

»Bald haben wir es geschafft«, ermunterte Meike sie, als es wieder deutlich steiler wurde. Nachdem sie einen Wegweiser passiert hatten, der die Strecke nach Eichenbach, ihrer nächsten Etappe auf dem Ahrsteig, anzeigte, betraten sie erneut gepflasterten Untergrund.

»Warum ist hier alles gepflastert?«, fragte Jana und blieb schnaufend stehen.

»So detailliert weiß ich das leider auch nicht. Ich könnte mir vorstellen, dass das Pflaster aus der Festungszeit stammt«, rief Meike von oben. An einer verwunschenen Lindenallee machte der Weg eine Rechtskurve, um dann gleich wieder nach links zu schwenken. Schließlich liefen sie geradewegs auf ein mächtiges Steingebäude zu. Zunächst hatte Jana gedacht, es handelte sich um ein Wohnhaus, doch als sie daran vorbeiliefen und auf dem Bergplateau ankamen, erkannte Jana, dass sie vor dem Turmhaus standen. Es war mit einer Holztür, zwei Fenstern und einem etwa auf halber Höhe angebrachten Wappen aus Sandstein ausgestattet. Neben dem Eingang lud eine verwitterte Holzbank zum Verweilen ein. Mit einer derartigen Weitläufigkeit des Areals hatte Jana nicht gerechnet. Durch die Baumkronen glitzerte der blaue Himmel. Mächtige Rotbuchen vermittelten Jana ein Gefühl der Sicherheit, sie schienen mit ihren ausladenden Ästen alles unter sich zu beschützen. Jana steuerte eine Sitzgruppe einige Meter weiter vom Turmgebäude entfernt an. Dort war es noch schön schattig. Ihren Rucksack stellte sie auf dem Tisch ab.

»Sag mal«, lachte Meike. »Mit deiner Kondition ist es aber auch nicht weit her.«

Jana spielte die Beleidigte, während sie aus ihrem Rucksack eine Wasserflasche hervorholte. Sie nippte daran und goss aus einer weiteren Flasche Wasser in Ustis Faltnapf, aus dem er gierig trank.

»Wie hoch sind wir hier eigentlich?«, fragte Jana nach einer Weile. Meike hatte sich mittlerweile ihr gegenüber auf die zweite Bank gesetzt und las in ihren Unterlagen.

»Der Berg ist 623 Meter hoch, vor dem letzten Anstieg, dort, wo der Weg nach Eichenbach abgeht, waren es noch 611 Meter.«

»Auf der kurzen Distanz ein solcher Höhenunterschied?«, murmelte Jana, die nun die Erklärung dafür gefunden hatte, warum sie außer Puste geraten war. Meike antwortete nicht, offensichtlich bereitete sie sich auf die Begrüßung der Wandergruppe vor. Jana nutzte die Ruhepause, um sich die Fakten, die ihr von dem Cold Case noch in Erinnerung waren, ins Gedächtnis zu rufen. Ärgerlich, dass sie im Vorbeigehen ausgerechnet die Hausnummer des Elternhauses der damals vermissten Frau nicht hatte entdecken können, aber eigentlich auch nicht weiter wichtig. Dennoch ließ Jana das Schicksal der jungen Frau nicht kalt, die offensichtlich nie wieder aufgetaucht war. Sie würde den Fall hier und jetzt nicht lösen können. So ließ sie ihren Blick über das Burgplateau schweifen. Weiter hinten lugten aus dem Dickicht die stark verfallenen Ruinen der früheren Gebäude hervor.

»Müssten die Wanderer nicht langsam mal hier auftauchen?«, fragte Jana verwundert und blickte auf ihre Armbanduhr.

»Hm, sie sind sicher bald da.« Meike suchte offensichtlich gerade etwas in ihrem Rucksack. Das Geraschel weckte Gini, die nun mit einem Auge ihr Frauchen beobachtete. Bislang hatten die beiden Hunde in der Sonne gedöst und ein friedliches Bild abgegeben.

Plötzlich erregte etwas Janas Aufmerksamkeit. Unter einer der Rotbuchen entdeckte sie, beleuchtet von einem Sonnenstrahl, eine einzelne weiße Rose. Neugierig geworden stand Jana auf. Usti folgte ihr, um zu sehen, wonach sie sich bückte. Die Blütenblätter wirkten frisch, die Rose konnte noch nicht lange hier liegen. Am Stiel hing ein kleines Papierschildchen, auf dem etwas stand: »In Erinnerung an A.«

»Weißt du, ob hier einmal ein Unfall passiert ist?«, fragte Jana, während sie sich in Meikes Richtung umdrehte.

»Hm?«, antwortete Meike, ohne von ihren Unterlagen aufzuschauen. Um sie nicht weiter zu stören, beließ es Jana bei der einen Frage und zog ihre Kamera von der Schulter. Als handele es sich um einen Spurenträger, machte sie Aufnahmen von der Rose und der Fundsituation. Ein Automatismus, der ihr in so mancher Situation in der Vergangenheit wertvolle Dienste geleistet hatte. Clemens würde sich über ihr Verhalten nicht wundern, wäre er denn heute hier. Sie vermisste ihn mit einem Mal. Nachdenklich und beinahe bedrückt kehrte Jana zu der Sitzgruppe zurück. Hatte sie die Rose so berührt oder doch nur die Sehnsucht nach Clemens? Usti schnupperte noch einmal an der Blume, bevor er ihr folgte. Dort versetzte er seiner Hundefreundin Gini, die immer noch mit einem geschlossenen Augen vor sich hin döste, mit seiner schwarzen Nase einen sanften Stups.

»Entschuldige, was hast du eben gefragt? Ob hier mal was passiert ist?«, fragte Meike und lächelte aufgrund Ustis Werben um Ginis Aufmerksamkeit.

»Ja, da vorne habe ich eine Rose entdeckt und offensichtlich liegt sie da, um an eine Person zu erinnern, deren Name mit dem Buchstaben A beginnt«, antwortete Jana.

»Tatsache.« Meike blickte halbherzig auf. »Merkwürdig. Ist kein Werbegeschenk oder so was?«, murmelte sie.

»Ne, wohl kaum. Die Rose kann noch nicht lange da liegen und für ein Werbegeschenk fehlt eindeutig der Werbeaufdruck.«

»Vielleicht ist das ja eine neue Art der Werbung«, entgegnete Meike nun aufmerksamer und schaute Jana an. »Also mir ist nichts bekannt, aber das muss nichts bedeuten. Es gibt Leute, die sich besser in dieser Gegend auskennen als ich. Interessiert es dich?«

»Was heißt interessieren? Aber merkwürdig ist es schon. Wer mag diese Rose da so offensichtlich hingelegt haben?«

»Komm, ich kenne dich mittlerweile ganz gut, denke ich zumindest. Arbeitest du an einem aktuellen Fall?« Sie wartete auf eine Antwort, aber Jana wiegte nur den Kopf hin und her. »Arbeitest du an einem neuen Fall und hast deshalb sofort zugesagt, als ich dich fragte, ob du mitkommen möchtest?«

»Nein … Im Moment arbeite ich an keinem aktuellen Fall. Du weißt doch, dass ich für meinen Chef …«

»Und Freund …«

»Ja«, Jana grinste. »Dass ich für Clemens arbeite, der neuerdings eine Dozentenstelle an der Landespolizeischule hat. Es geht nur um polizeiliche Ermittlungsarbeit früher und heute, die Entwicklung der Kriminaltechnik. Also nichts Aufregendes.«

»Ach so, dann …« Meike vollendete ihren angefangenen Satz nicht, denn es waren Stimmen zu hören, die sich näherten. Sie sprang auf, drückte Jana Ginis Leine in die Hand und lief am Turmhaus vorbei. Schon nach wenigen Augenblicken war sie aus Janas Blickfeld verschwunden. Es dauerte jedoch nicht lange, bis der hochgewachsene Mann um die Ecke bog, der Jana vorhin an der Burgschänke aufgefallen war. Er führte eine kleine Gruppe an, die unterschiedlicher nicht sein konnte. Die Frauen und Männer schienen zwar etwa gleichaltrig zu sein, lebten jedoch offensichtlich ganz verschiedene Leben.

Noch immer hatte Jana keinen blassen Schimmer, mit wem sie die kommenden Stunden würde verbringen müssen und wie genau ihre Tätigkeit als Fotografin eigentlich auszusehen hatte. Wollte man nur ein paar Gruppenfotos oder sollte sie die gesamte Wanderung dokumentieren? Warum übernahm das Fotografieren eigentlich niemand aus der Gruppe? Und warum hatte man sie nur für den einen Tag engagiert, wo die Wanderung doch für zwei Tage geplant war? In der Rolle der Eventfotografin fühlte sich Jana nicht wirklich wohl. Sie überlegte, dass es eine gute Idee sei, die Gruppenmitglieder bei der Ankunft auf dem Burgplateau abzulichten. Doch dafür benötigte sie beide Hände. Kurzerhand knotete sie die Hundeleinen an der Bank fest, streichelte Gini und Usti sanft über den Kopf, kontrollierte die Kameraeinstellung und begann Fotos zu schießen. Sie fand ihren ersten Eindruck bestätigt: Die Wanderer, die Jana auf ein Alter um oder etwas jenseits der 50 schätzte, umgab eine eigenartige Befangenheit. Jana nahm an, dass sich die meisten von ihnen schon eine Weile nicht mehr gesehen hatten und heute nach vielen Jahren wieder aufeinandertrafen. Je länger sie Interaktionen und die Gestik und Mimik jedes Einzelnen beobachtete, desto mehr kam sie zu der Überzeugung, dass die Gruppe sich zwar von früher kannte, jedoch ohne dass die Beziehungen untereinander enger gewesen waren. Nur zwei oder möglicherweise drei Männer schienen sich näherzustehen als die anderen. Ein Klassentreffen schloss Jana jedenfalls aus, denn sie vermisste das fröhliche Geplapper über Schülerstreiche und jugendliche Eskapaden. Meike, die sich bei der Gruppe aufhielt, winkte Jana herbei und stellte sie als Fotografin und Wanderbegleiterin auf der ersten Tagesetappe vor. Der Mann, den sie als den Organisator des Ganzen ausgemacht hatte, streckte ihr die Hand entgegen.

»Rainer Großmann.«

»Jana Vogt.«

»Ich dachte, Sie hießen Graf?«, fragte Rainer Großmann verwundert. Jana hatte ihr eigenes Pseudonym immer noch nicht verinnerlicht. Zudem hatte sie offensichtlich völlig vergessen, dass sie Meike ausdrücklich darum gebeten hatte, für derlei Aufträge nur noch ihr Pseudonym zu verwenden.

»Mein Künstlername«, entgegnete Jana.

»Welcher denn?«, fragte Rainer Großmann lachend, wartete jedoch gar nicht erst ihre Antwort ab. »Schön, dass Sie für uns die Erinnerungsfotos machen werden.«

»Das hätten wir aber auch selbst gekonnt«, mischte sich ein anderer Mann ein, der dabei Rainer Großmann freundschaftlich auf die Schulter schlug.

»Klar hättet ihr das. Aber meistens vergisst man das dann doch, oder einer macht nur Fotos und ist selbst auf keinem drauf«, sagte Rainer Großmann. Obwohl er lachte, bemerkte Jana eine gewisse Nervosität an ihm. Der andere grummelte etwas, das Jana nicht verstand.

»Möchten Sie vielleicht ein Gruppenfoto als Erinnerung haben, vielleicht eines hier vor dem Turm?«, fragte Jana. Eigentlich hatte sie etwas ganz anderes fragen wollen, nämlich woher sie kamen und was sie miteinander verband. Aber sie würde das noch herausbekommen. Ihr Vorschlag fand Anklang und so versammelte sich die kleine Gruppe vor dem Turmhaus auf dem Aremberg. Jana entging weder wer neben wem Aufstellung nahm noch in welcher Gemütsverfassung die einzelnen Wanderer sich befanden.

»Wie ich gehört habe, haben Sie sich vor 30 Jahren einige Male in unserem schönen Ahrtal aufgehalten und auch Aremberg öfter einmal besucht …«, sagte Meike, nachdem Jana signalisiert hatte, dass sie fertig war.

Während Meike mit ihrer Begrüßungsrede fortfuhr, beobachtete Jana die Zuhörer. Eine Frau, die als Einzige Funktionskleidung trug, lauschte sehr aufmerksam Meikes Ausführungen und schien das Ganze als Freizeitveranstaltung zu sehen. Zwei Frauen, die eine mit einer unmodernen halblangen Frisur mit mehr grauen als braunen Haaren, die andere mit einem dunkelblonden, glanzlosen Pagenschnitt, wirkten gedankenversunken. Ein wenig abseits stand eine auffallend gut gekleidete Frau, deren enge Markenjeans ihr hervorragend stand. Irgendwo hatte Jana dieses Gesicht schon einmal gesehen, sie konnte sich jedoch nicht erklären, wo. Bei den Männern waren alle Typen vertreten, vom Politiker über den Lebemann und den Sportbesessenen bis zum ewigen Studenten. Jana machte noch ein paar Aufnahmen und hörte dabei Meike zu, die gerade Gottfried Kinkel zitierte, den Bonner Gelehrten aus dem 19. Jahrhundert. Er hatte, so führte Meike aus, das Ahrtal in den 1840er-Jahren durchwandert und dabei auch in Aremberg Station gemacht. Wehklagend hätten seine Bemerkungen zu dem erbärmlichen Zustand der einstigen prächtigen Burganlage geklungen. Hier musste es nach seinen Worten in besseren Zeiten sogar angelegte Gärten, eine imposante Lindenallee und mächtige Gebäude einschließlich eines Rokokosaales gegeben haben.

»Alles ist vergänglich«, sagte einer der Männer. Jana hatte nicht mitbekommen, wer es war.

Meike war offensichtlich mit ihren Erklärungen fertig und ermunterte die Anwesenden, Fragen zu stellen.

»Dieses Wappen über der Tür«, sagte die Frau in Funktionskleidung. »Können Sie das bitte näher erklären?« Sie sprach ruhig und mit warmer Stimme.

»Auf dem Sandsteinwappen kann man die drei Mispeln der Herzöge von Arenberg erkennen«, antwortete Meike.

»Ah, danke schön.«

»Und wie geht es nun weiter?«, fragte der Mann, den Jana als ewigen Studenten eingeordnet hatte. Unter seinem Poloshirt zeichnete sich ein leichtes Bäuchlein ab.

»Wir werden nun aufbrechen, vorausgesetzt, Herr Großmann hat nichts anderes vor. Vielleicht noch ein Wort zu der Beschilderung. Der Ahrsteig hat hier im oberen Ahrtal ein blaues Signet, daran sollten Sie sich orientieren. Später deckt sich der Ahrsteig mit einem Teilstück des Fürstin-Margaretha-Weges. Der erste Ort, den wir erreichen, ist Eichenbach, ein wirklich entzückender Ort. Sie werden ihn mögen. Dort ist eine kleine Rast eingeplant, wir können uns noch einmal stärken und laufen dann weiter bis Schuld. Kleine Pausen, sofern Bedarf besteht, können wir natürlich jederzeit machen. Ich hoffe, Sie haben genügend zu trinken dabei?«

Die meisten nickten – bis auf eine der Teilnehmerinnen mit blassblondem Haar, die die Chance ergriff und wissen wollte: »Wer ist denn diese Fürstin Margaretha?«

»Margaretha von der Marck war eine tiefreligiöse Frau, die im 16. Jahrhundert lebte«, antwortete Meike. Sie wollte gerade weiter ausholen, da fiel ihr der Organisator der Wanderung ins Wort: »Ihr erinnert euch, Hexenprozesse und so?«

»Ja, sie war im Hexenglauben fest verwurzelt, verordnete den Kindern ihrer Untertanen Lesen, Schreiben und Katechismusunterricht, denn für sie war der Unglaube Ursache des Hexenwesens.«

»Können wir bitte von etwas anderem reden als von Hexenprozessen?«, mischte sich die Frau mit dem Pagenschnitt ein.

»Dann hättest du vielleicht nicht mitkommen sollen, Antje. Du warst schon immer so empfindlich«, sagte einer der Männer. Er kraulte sein Kinnbärtchen und wartete auf eine Reaktion.

»Nun lass sie doch in Ruhe, Jörg. Musst du immer so auf ihr rumhacken? Das hast du damals schon«, sprang die gut gekleidete Frau, die sich bislang eher abseits gehalten hatte, Antje bei.

»Ach, die berühmte Frau Daus spielt wieder die Streitschlichterin«, sagte Jörg mit einem süffisanten Unterton. Jana vermutete, dass seine Sticheleien nicht wirklich ernst gemeint waren, sondern dass er gern provozierte und sich wichtigmachte. Der Name Daus ließ bei Jana eine Ahnung anklingen, aber sie kam nicht drauf, wen sie vor sich hatte.

»Lasst uns endlich losgehen«, sagte die Angesprochene und ließ sich nicht reizen. Ihre gesamte Körperhaltung verdeutlichte, dass sie über den Dingen stand.

Während Jana weitergrübelte, woher sie die Frau kannte, hatte Rainer Großmann die Rose entdeckt.

»Ist das ein Zeichen?«, fragte er und ging sie holen. »Schaut mal«, sagte er beim Betrachten des Schildchens. ›In Erinnerung an A.‹, steht drauf. Wer dieser oder diese ›A.‹ wohl ist? Oder war?«

Niemand schien sich für die Rose und das damit verbundene Schicksal zu interessieren, lediglich Antje blickte wie gebannt auf die Blume, dann wandte auch sie sich zum Gehen. Jana verständigte sich mit Meike darauf, dass sie beide Hunde nahm. Sie lief zur Bank, hängte ihren Rucksack um und knotete die Leinen auf. Usti und Gini ließen sich diesmal nicht zweimal bitten, sodass Jana der Gruppe direkt auf dem Fuße folgte. Gewohnheitsmäßig blickte sie sich noch einmal um. Ihr Blick streifte die Rose, die wieder an der Stelle lag, an der sie diese entdeckt hatte. Während sie den anderen nachging, hörte sie Meikes Warnung, dass alle auf dem steileren Wegstück besonders auf die eigenen Tritte zu achten hätten. Sie war gerade um die Ecke gebogen und lief auf die verwunschene Lindenallee zu, als ein Aufschrei erklang. Offensichtlich war einer der Mitwanderer auf dem Pflaster ausgerutscht. Nur wenige Meter weiter fand sie die Frau auf dem Steinpflaster kauernd vor, die als Antje angesprochen worden war. Meike stand neben ihr.

»Haben Sie sich verletzt?«, fragte Jana. Usti ließ es sich nicht nehmen, nach dem Rechten zu sehen. Vorsichtig näherte er sich der auf dem Boden sitzenden Frau, schnupperte an ihrem Handrücken und legte sich schließlich neben sie auf das Pflaster, um sie nicht aus den Augen zu lassen.

»Ich glaube nicht«, sagte sie und ergriff Meikes hingehaltene Hand. Im Aufstehen rieb sie sich die Hüfte. »Der Schreck war größer, denke ich.«

»Damit ist nicht zu spaßen«, stellte Jana fest. »Sollen wir einen Notruf absetzen?« Angesichts des nahen Ortskernes würde die Anfahrt eines Rettungswagens kein wirkliches Problem darstellen. Wenn es nicht zu schlimm war, könnte Jana vielleicht die verunfallte Person ins nächste Krankenhaus bringen, doch sie hatte kein eigenes Auto dabei. Würde Meike, die bei der Gruppe bleiben musste, Jana ihr Auto leihen?

»Das habe ich gerade auch vorgeschlagen«, gab Meike zu bedenken. »Und die Gruppe läuft einfach weiter. Ich müsste sie eigentlich einfangen, nicht dass sie noch in die falsche Richtung laufen. Ich weiß nämlich nicht, ob sie eben wirklich auf den Ahrsteig abgebogen sind.«

»Ich übernehme das hier«, sagte Jana. »Aber nimm du bitte Gini, sonst habe ich gar keine Hand frei.« Sie überlegte, wie sie die Verletzte ansprechen sollte.

»Ich bin Antje Haak«, sagte diese, so als könne sie Gedanken lesen. »Wir können uns gerne duzen.«

»Jana«, sagte sie und gab ihr die Hand. »Gerne, unter Wanderern ist das doch üblich.«

Antje nickte mit schmerzverzerrtem Gesicht. Dann lächelte sie.

»Ihr kommt ohne mich klar?«, fragte Meike.

»Ja, lauf du nur. Ich rufe dich per Handy an, falls wir hier abbrechen müssen …«

»Was, nie im Leben …«, lachte Antje.

»Ich bin in Erster Hilfe ausgebildet, wir können gerne zurück zur Burgschänke gehen und ich schaue mir deine Hüfte genauer an.«

»Das brauchst du nicht, danke, es ist wirklich nicht schlimm.«

»Sicher? Auch keine Handverletzung, weil du den Sturz abfangen musstest?«

»Ja. Ich meine, nein.« Sie ließ ihre Hände kreisen. »Nein, nichts tut weh.«

»Meinst du, du kannst weitergehen?«

Antje nickte.

»Wenn es schmerzen sollte, ich habe eine Sportsalbe dabei«, sagte Jana, die sich nicht sicher war, ob Antje sich nur tapfer gab. Sie gingen zunächst eine Weile schweigend nebeneinanderher. Am Wegweiser angekommen bogen sie nach links ab und folgten dem Ahrsteig in nördlicher Richtung. Immer wieder warf Jana einen verstohlenen Blick auf ihre Mitwanderin, um herauszufinden, ob sie nicht doch Schmerzen verspürte, aber das schien nicht der Fall zu sein. Jedenfalls verzog sie keine Miene und ein Humpeln war ebenfalls nicht zu erkennen. Der frische Laubwald, den sie durchstreiften, wirkte außerordentlich beruhigend. Vorhin hatte sie einmal kurz mit dem Gedanken gespielt, die Wanderung abzubrechen, weil ihr die Leute nicht allzu sympathisch waren und es um die Stimmung untereinander nicht zum Besten stand. Aber was ging sie das an. Außerdem hatte man sie engagiert und wie würde Meike dastehen, die sie schließlich vermittelt hatte? Sie beschloss, ein wenig mehr über den alten Fall in Erfahrung zu bringen, und empfand es als glückliche Fügung, dass sie ausgerechnet jetzt an Antjes Seite lief, die ihr als die bodenständigste Person der ganzen Gruppe erschien.

»Darf ich …?«, fragte sie.

»Bist du …?«, fragte Antje im selben Augenblick.

Jana lachte auf. Nachdem sie, bislang ohne ein Wort zu reden, gelaufen waren, fiel ihnen genau gleichzeitig eine Frage ein.

»Du zuerst«, sagte Jana schnell.

Antje zögerte, bevor sie weitersprach. »Bist du hauptberuflich Fotografin?«

Ob sie ahnte, dass Janas eigentlicher Beruf ein ganz anderer war? »Ja, schon, aber als freie Fotografin arbeite ich nur nebenbei.«