Eine Nacht im Juli - Karin Joachim - E-Book

Eine Nacht im Juli E-Book

Karin Joachim

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Beschreibung

Nach der verheerenden Flutkatastrophe im Ahrtal zieht Tatortfotografin Jana Vogt vorübergehend in ein Ferienhaus in der Eifel. Auf einem Spaziergang mit Hund Usti kommt sie an einem verlassenen Anwesen vorbei, das einmal Ort eines Verbrechens war. Jana liest sich in die Akte ein und bekommt es schon bald mit einem aktuellen Todesfall zu tun. Die Lage ist verwirrend, aber die Fälle stehen offensichtlich miteinander in Verbindung. Plötzlich überschlagen sich die Ereignisse, denn schon wieder gibt es einen Toten. Jana muss dafür wenige Wochen nach der Katastrophe im zerstörten Ahrtal ermitteln.

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Karin Joachim

Eine Nacht im Juli

Kriminalroman

Zum Buch

Tödliche Erinnerungen Die Tatortfotografin Jana Vogt hat die Nacht der verheerenden Flutkatastrophe in der Polizeidienststelle in Koblenz und später bei Hauptkommissar Clemens Wieland verbracht. Ihre Wohnung in der Ahrweiler Altstadt ist zwar unversehrt geblieben, doch das Haus ist vorerst unbewohnbar. Dankend nimmt sie das Angebot eines Bekannten an, der ihr sein Ferienhaus in der Eifel nördlich von Mayen überlässt. Auf einem ihrer Spaziergänge mit Hund Usti kommt sie an einem verlassenen Anwesen am Rand der Wacholderheide vorbei. Während sie zum Eingang blickt, erinnert sie sich an einen ungeklärten Fall. Vor beinahe zwanzig Jahren wurde hier der Kölner Kunsthändler Konstantin Winkler ermordet. Jana kommt mit einigen Alteingesessenen des Dorfes ins Gespräch. Eine Frau erzählt ihr, dass in Winklers Haus ein kleiner Junge ums Leben kam. Man nennt es „das Unglückhaus“. Jana lassen die beiden Fälle nicht mehr los. Als ein weiterer Mord geschieht, führen sie die Ermittlungen bereits wenige Wochen nach der Flut zurück ins Ahrtal.

Karin Joachim wurde in Bonn-Bad Godesberg geboren und lebt heute im Ahrtal, wo sie im Juli 2021 die Flut miterlebte. Sie studierte Germanistik und Anglistik an der Universität Bonn und leitete ein archäologisches Museum. Heute ist sie freiberufliche Autorin, widmet sich der Malerei und verbringt ihre Freizeit mit ihrem Border Terrier, mit dem sie historische Orte und die Natur erkundet.

Homepage der Autorin: www.karinjoachim.de

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Adrian72 / AdobeStock

ISBN 978-3-8392-7376-0

Vorbemerkung zu den Ereignissen im Ahrtal

An den Tagen vor dem vierzehnten Juli hatte es im Einzugsgebiet der Ahr stark geregnet. Über zweihundert Milliliter Regen hatten die Wettervorhersagen angekündigt. Die zahlreichen Bäche, die auf dem kurzen Weg der Ahr von ihrer Quelle bis zur Mündung in den Rhein in diese entwässerten, waren zu reißenden Flüssen angeschwollen. Ab dem Nachmittag des vierzehnten Juli nahm das Unglück seinen Lauf. Doch niemand ahnte, dass es zu einer derartigen Flutwelle kommen würde, die Ortschaften und Straßen, Bahnlinien, Brücken sowie die gesamte Infrastruktur zerstören würde. Als in Altenahr der Pegel immer weiter stieg, glaubte man dennoch, dass es sich lediglich um ein starkes Hochwasser handeln würde, dass allenfalls mit überfluteten Kellern und Tiefgaragen zu rechnen sei. Unverständlich bis heute, dass offenbar niemand mitbekam, dass vom Pegel gar keine Meldungen mehr gesendet werden konnten, weil er bereits von den Wassermassen hinweggerissen wurde.

Während in Orten wie Schuld und Insul bereits Menschen auf ihren Hausdächern ausharrten, wurde im mittleren Ahrtal weiterhin keine Warnmeldung abgesetzt, um die Anwohner davon zu unterrichten, dass ihr Leben akut bedroht war. Dass sie sich in Sicherheit bringen mussten. Immer weiter staute sich die Ahr auf. Das Wasser bahnte sich seinen Weg durch die Ortschaften. Während im Laufe des späten Nachmittags nun auch in Altenburg und Altenahr Keller vollliefen, Häuser zerstört und sogar mitgerissen wurden, wähnte man sich an den weiter flussabwärts gelegenen Orten noch in Sicherheit. Unvorstellbar in Zeiten moderner Kommunikationsmedien. Allenfalls einige Menschen begannen, gewarnt von Berichten aus den sozialen Netzwerken, Sandsäcke vor ihren Hauseingängen aufzuschichten. Allerdings auch nur in den Straßen unmittelbar an der Ahr. »Es ist doch immer gut gegangen!«; »Mach dich nicht verrückt!«; »Abwarten, das wird schon nicht so schlimm!«, raunte man einander zu. Später würde man bereuen, nicht aufmerksamer gewesen zu sein und sich auf die offiziellen Behörden verlassen zu haben: Sie würden die Bevölkerung sicher warnen! Ein Trugschluss. Erst spät am Abend fuhren Feuerwehrwagen durch die Straßen von Bad Neuenahr-Ahrweiler und wiesen an, Kellerräume zu verlassen, Autos in höhere Ortslagen zu fahren und sich nicht in tiefer gelegenen Wohnungen aufzuhalten. Zu diesem Zeitpunkt legte sich bereits die Dunkelheit über das Tal. Viele Menschen gingen zu Bett, im guten Glauben daran, dass man sie richtig informiert hatte. Und dann rollte die Flutwelle durch die Straßen. Die Ahr hatte rasch ihr Bett verlassen, und blitzschnell türmten sich die Wassermassen meterhoch auf. Autos schwammen mit blinkenden Lichtern in der Höhe der Baumwipfel vorbei. Die Flut bahnte sich ihren Weg durch Straßen, die weitab vom Ahrufer lagen. Sie floss durch Häuser und stieg vielerorts bis zur zweiten Geschossdecke an. Viele Menschen wurden aus ihren Häusern gespült oder bei dem Versuch mitgerissen, letzte Habseligkeiten zu retten. Sie ertranken in der sonst so lieblichen Ahr.

In nur wenigen Stunden verwandelte sich das Ahrtal von einer idyllischen Urlaubsregion zu einem Krisengebiet.

In Gedenken an hundertvierunddreißig Verstorbene und viele verletzte und traumatisierte Menschen, aber auch an die Tiere, die von der Flut betroffen waren. Zum Zeitpunkt, an dem dieses Manuskript entstand, wurden immer noch zwei Menschen vermisst (Stand Dezember 2021).

Mittwoch, 14. Juli 2021

Jana war an diesem Morgen sehr früh aufgestanden. Ihr Vorgesetzter, Hauptkommissar Clemens Wieland, hatte sie telefonisch vor Dienstbeginn zu Hause in Ahrweiler erreicht, um sie zu einem Tatort in Weißenthurm zu bestellen. So musste sie nicht erst einen Umweg über Koblenz fahren, wo sie im Archiv der Kriminalpolizei arbeitete und alte Fälle, sogenannte Cold Cases, auswertete. Nachdem sie sich in Windeseile fertig gemacht hatte, brachte sie ihren Airedale Terrier Usti zu ihrer Freundin Meike Jacob, die weit oberhalb der Altstadt am Waldrand wohnte. Bei ihr verbrachte der Hund mittlerweile mehr Zeit als mit seinem Frauchen. Usti war alt geworden und ertrug das lange Alleinsein schon lange nicht mehr. Bei der Stadtführerin und Reporterin und deren Hündin Gini jedoch fühlte er sich wohl. Wenn Meike ihrer Arbeit nachging, passte Karl Wingwood, ihr Lebenspartner, auf die Hunde auf.

Nachdem Jana ihre Aufgaben am Tatort in Rheinnähe erledigt hatte, erreichte sie um die Mittagszeit die Koblenzer Dienststelle, wo sie bis zum Nachmittag mit Besprechungen und der Aufbereitung der Tatortfotos beschäftigt war. Gegen achtzehn Uhr checkte sie zum ersten Mal ihre privaten Nachrichten, während sie in ein labbriges Käsebrötchen biss. Dann warf sie einen Blick in die sozialen Netzwerke und fand einige Fotos, die am Oberlauf der Ahr entstanden waren. Der Fluss hatte mächtig zugelegt, was daran lag, dass es bereits seit Tagen ununterbrochen regnete. Tief Bernd hatte sich seit geraumer Zeit nicht von der Stelle bewegt und brachte Regenmengen historischen Ausmaßes mit sich. Alle rechneten damit, dass die Ahr über die Ufer treten würde. Im Internet wurde dazu aufgerufen, ebenerdige Türen und Fenster mit Sandsäcken abzudichten. Auf Jana wirkten die Meldungen nicht besorgniserregend. Als gebürtige Kölnerin war sie mit den ständigen Rheinhochwassern vertraut. Man konnte sich immer rechtzeitig vorbereiten und Häuser absichern, wichtige Dokumente und Geräte in höher gelegene Stockwerke räumen, da der Pegel kontinuierlich unter Beobachtung stand. Dass sich die sonst so friedliche Ahr zu einem alles mit sich reißenden Strom entwickeln würde, glaubte sie nicht.

Jana wollte nun nach Hause fahren, da stand Melanie Siemer, eine der Kommissarinnen, in der Tür und bat sie, im Archiv nach einem Fall zu suchen, der Ähnlichkeiten mit dem aktuellen vom heutigen Morgen aufwies. Zum Glück konnte die Kommissarin ihr relativ genaue Angaben machen, und so dauerte es nicht allzu lange, bis Jana die erforderlichen Akten zusammengestellt hatte. Ihr war mittlerweile das Archiv sehr vertraut. Ja, sie fand es sogar äußerst spannend, sich mit alten ungeklärten Fällen zu befassen.

Als sie wieder in ihrem Büro stand, war es schon halb acht. Sie rief Meike von ihrem Festnetzapparat an, um ihr mitzuteilen, dass sie gleich aufbrechen und gegen halb neun bei ihr eintreffen würde, um Usti abzuholen. Meike klang besorgt.

»Was ist los?«, fragte Jana.

»Ich weiß nicht. Irgendetwas braut sich zusammen.«

»Wie meinst du das? Wieder ein Gewitter?«

»Nein. Ich war bis eben in der Altstadt mit einer Führung unterwegs. Durch die Straßen direkt an der Ahr fuhren Feuerwehrautos und riefen per Lautsprecherdurchsage dazu auf, Keller und tiefer gelegene Räumlichkeiten zu verlassen und Autos aus den Tiefgaragen in höher gelegene Ortsteile zu bringen.«

»Wirklich? Rechnet man mit einem schlimmeren Hochwasser?«, fragte Jana.

»Du hast schon davon gehört?«, fragte Meike.

»Ja«, antwortete Jana. »Wann denn?« Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es irgendeinen Grund zur Eile gab.

»Das sagten sie nicht.«

»Merkwürdig.« In Köln wurde immer genau mitgeteilt, wann welche Hochwassermarke erreicht werden würde und was das für die einzelnen Ortsteile und Straßenzüge bedeutete.

»Jana, ich habe Bilder aus Altenahr gesehen. Auf Facebook. Da stehen Hotels unter Wasser, aber so richtig.«

»In Altenahr passiert das doch ab und zu, oder?«

»Aber nicht in der Höhe, Jana. Ich schlage vor, du bleibst heute in Koblenz und kommst morgen wieder. Ich passe auf Usti auf.«

»Wieso das denn? Die Altstadt und meine Wohnung liegen doch weit genug vom Ahrufer entfernt«, gab Jana zu bedenken. Sie freute sich so sehr auf ihr eigenes Bett und darauf, Usti zu knuddeln.

In diesem Moment betrat Melanie Siemer den Raum.

»Ich muss Schluss machen«, sagte Jana hastig und beendete das Gespräch.

Die Kommissarin benötigte noch einmal Janas Hilfe in dem Fall, und so vergingen weitere Stunden, bis plötzlich Clemens Wieland die Räumlichkeiten des Kommissariats betrat und laut vernehmbar nach Jana suchte.

»Gott sei Dank, du bist noch hier«, sagte er außer Atem.

»Was ist los?«, wollte Jana wissen. So besorgt hatte sie ihn selten erlebt.

»Warum gehst du nicht an dein Handy?«

Erst jetzt bemerkte Jana, dass sie es auf ihrem Schreibtisch im Archiv liegen gelassen hatte.

»Durch das Ahrtal rollt eine Flutwelle, Jana.«

Jana zuckte zusammen. Auch Melanie Siemer blickte betroffen von den Unterlagen auf, über denen sie bereits so lange brüteten.

»Was für eine Flutwelle?«, fragte Jana.

»Du wirst heute sicherlich nicht zurück in deine Wohnung können, so viel steht fest. Wo ist Usti?«

»Bei Meike«, stotterte Jana.

»Gut«, seufzte Clemens.

Jana blickte instinktiv auf die Uhr. Es war nach dreiundzwanzig Uhr.

»Willst du bei mir übernachten?«, fragte Clemens, als Melanie Siemer den Raum verlassen hatte.

Jana wollte eigentlich lieber nach Hause. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass es ein Problem darstellen würde, ihre Wohnung zu erreichen. Außerdem hatte sie schon seit Längerem keine Nacht mehr bei Clemens verbracht. Die beiden hatten sich nie wirklich getrennt, aber ein Paar waren sie irgendwie auch nicht mehr. Es hatte keinen Streit gegeben, keine Aussprache, nichts dergleichen. Sie arbeiteten zusammen wie früher. Sie hatten sich irgendwie nur voneinander entfernt. Jana mochte Clemens, aber sie würde ihre Gefühle für ihn nicht mehr als Liebe bezeichnen. Und er war beruflich derart eingespannt, dass es ihn nicht zu stören schien, dass sie immer weniger Zeit miteinander verbrachten. Jedenfalls existierten keinerlei Spannungen zwischen ihnen. Während sie ihren Gedanken nachhing, hatte Clemens einen Stuhl herangezogen und sich neben sie gesetzt. Er blickte mit sorgenvoller Miene auf sein Handydisplay. Immer wieder schüttelte er den Kopf. Im Hof des Präsidiums waren Sirenen zu hören. Fahrzeuge rückten aus.

»Großeinsatz?«, murmelte Jana.

»Die sind auf dem Weg ins Ahrtal«, sagte Clemens.

Melanie Siemer kehrte mit einem Tablett in der Hand zurück. Sie bot Jana und Clemens Tee an. Jana nahm die Tasse zögerlich entgegen.

Melanie lehnte sich gegen die Wand hinter dem Schreibtisch und begann zu berichten, was sie soeben erfahren hatte. Dass viele Orte entlang der Ahr von den Wassermassen überrollt worden und von der Außenwelt abgeschlossen waren. Dass bereits erste Tote gemeldet wurden. Dass großflächig der Strom ausgefallen sei. Dass auch die Ahrweiler Altstadt betroffen sei, selbst die Polizeidienststelle in Ahrweiler.

»Das kann nicht sein«, murmelte Jana. »Die Polizei ist Hunderte Meter vom Ahrufer entfernt.«

Clemens hielt ihr sein Handy entgegen. Auf einem Video, das offensichtlich von einem oberen Stockwerk aus gefilmt worden war, erkannte sie, wie sich dunkle Wassermassen durch eine Straße wälzten. Sie konnte beim besten Willen nicht zuordnen, wo sich das Gesehene abspielte.

»Das ist Ahrweiler«, sagte Clemens.

»Man erkennt aber kaum was«, sagte Jana.

»Kein Wunder, der Strom ist ausgefallen.«

Plötzlich tauchten auf dem Bildschirm blinkende Lichter auf, die sich mit der Strömung fortbewegten.

»Was ist das?«, fragte Jana, obwohl sie die Antwort bereits kannte.

»Autos. Jede Menge Autos, Jana.«

Donnerstag 15. Juli 2021

Es hatte Clemens einiges an Überredungskunst gekostet, Jana dazu zu bewegen, in seiner Koblenzer Wohnung zu übernachten. Sie war noch im Besitz eines Ersatzschlüssels und fuhr allein dorthin, während er als Leitender Kripobeamter im Kommissariat die Stellung hielt. Es bestand Alarmbereitschaft. Sollte wirklich eine Tatortfotografin benötigt werden, würden sie Jana informieren. In einem von Clemens’ Schränken befanden sich noch einige ihrer Hygieneartikel sowie Kleidungsstücke, die sie dort einmal deponiert hatte. Sie hätte allerdings ebenso gut in der Dienststelle bleiben können, denn in dieser Nacht tat sie kein Auge zu, zu verstörend waren die Bilder im Internet, die vor dem Zusammenbrechen des Funknetzes hochgeladen worden waren. Vor allem der Liveticker des Südwestrundfunks vermittelte ihr einen guten Überblick über den Fortgang der katastrophalen Ereignisse. Doch wie sich die Flut im Detail auf Ahrweiler ausgewirkt hatte, war nicht wirklich ersichtlich, weshalb sich Jana mit dem Anbruch des neuen Morgens dazu entschloss, noch vor Dienstbeginn nach Ahrweiler zu fahren und nach Usti zu sehen. Auch wenn es früh war und Meike sicherlich nicht mit ihrem Kommen rechnete, so stand ihr Plan fest. Sie schickte Clemens eine Nachricht, damit er als ihr Vorgesetzter wusste, wo sie sich während der nächsten Stunden aufhielt. Als sie gegen sechs Uhr Clemens’ Wohnung verließ, erreichte sie seine Antwort, in der er ihr riet, in Koblenz zu bleiben. Da sie davon ausging, dass sie rasch wieder zurück sei, ließ sie sich von ihrem Vorhaben nicht abbringen. Ein kurzer Abstecher in ihre Wohnung in der Ahrweiler Altstadt sollte drin sein, um rechtzeitig zum Dienstbeginn im Präsidium einzutreffen. Auf der Autobahn überholten sie etliche Einsatzfahrzeuge von Feuerwehr, Polizei und THW. Mit einem solchen Aufgebot hatte Jana nicht gerechnet, doch allmählich dämmerte ihr, dass das, was sich nicht nur im Norden von Rheinland-Pfalz, sondern auch im äußersten Süden von Nordrhein-Westfalen abgespielt hatte, Katastrophenstatus erreicht hatte. Im Autoradio wurden wieder und wieder Sperrungen von Autobahnausfahrten und Bundes- und Landesstraßen durchgegeben, und man warnte eindringlich davor, ins Ahrtal zu fahren. Da sie mittlerweile wusste, dass die gewohnte Ausfahrt unbenutzbar war, verließ sie die Autobahn bereits in Niederzissen und nahm die Landstraße nach Ramersbach. Ein Polizeiposten hielt sie an und wollte ihr die Weiterfahrt untersagen. Sie gab als Ziel die Wohnsiedlung am Waldrand oberhalb von Ahrweiler an. Aber auch das bewegte den Polizisten, der offensichtlich von auswärts kam, nicht dazu, sie durchzulassen. Erst als sie sich als Mitarbeiterin der Kriminalpolizei auswies, hatte dieser ein Einsehen. Nun musste sie nur noch durch den Wald fahren, um zu Meikes Haus zu gelangen. Obwohl sie ihre Freundin über ihr Kommen informiert hatte, hatte diese die Nachricht noch nicht erhalten. Jana fühlte sich übernächtigt und angespannt. Sie parkte ihr Auto in der schmalen Straße, öffnete das Gartentörchen und klingelte an der Tür, doch es war kein Ton zu hören. Sie klopfte, worauf Usti und Gini zu bellen begannen. Nur wenige Sekunden später stand Meike angezogen in der Tür.

»Oh, Jana. Es ist alles so furchtbar«, sagte sie unter Tränen.

Jana konnte nicht gleich antworten, denn ihr Hund Usti nahm sie erst einmal in Beschlag. Es war für ihn nicht neu, dass Jana über Nacht fortblieb. Aber heute schien er regelrecht erleichtert über ihre Rückkehr zu sein.

»Weißt du schon Genaueres?«, fragte Jana und trat ein.

»Ich dachte, du könntest uns mehr sagen«, antwortete Meike.

Durch die offen stehende Tür sah Jana Meikes Freund Karl in der Küche.

Jana berichtete von ihrer Herfahrt.

»Wir trauen uns gar nicht, runter in den Ort zu gehen.«

»Aber ich werde jetzt fahren«, sagte Jana entschlossen. »Ich muss in meine Wohnung.«

Karl hatte sich zu ihnen gesellt. »Ich glaube nicht, dass du von hier aus hinkommst«, sagte er ruhig.

»Wir werden sehen«, entgegnete Jana.

»Dann lass wenigstens Usti hier«, mahnte Meike.

Jana war einverstanden. »Ich schaue, wie weit ich komme«, sagte sie beim Hinausgehen.

Nachdem sie ihren Wagen gewendet hatte, fuhr sie zurück zur Landstraße. Es dauerte sehr lange, bis sie hinunter nach Ahrweiler abbiegen konnte, denn eine endlos scheinende Kolonne von Einsatzfahrzeugen fuhr ebenfalls in ihre Richtung. Doch weit kam sie nicht. Der Verkehr staute sich zurück. Es ging nur im Schneckentempo voran. Nach der nächsten Kurve erhaschte sie einen ersten Blick auf die Stadt, die im Dunst lag. Bald schon stockte es. Sie parkte ihr Auto in einer Nebenstraße, die bereits voller Autos war. Schließlich machte sie sich zu Fuß auf den Weg zur Ahr. Die Straße war mit einer braunen Schlammschicht überzogen, die immer dicker wurde, je mehr sie sich dem Ufer näherte. In Höhe des Sportplatzes stoppte sie ein Polizist, der vor seinem Streifenwagen stand. .

»Ich will nur rüber zu meiner Wohnung«, sagte sie zu ihm.

»Sie kommen nicht hin«, sagte er.

»Zu Fuß ja wohl schon«, sagte Jana trotzig.

»Die Brücke ist zerstört.«

»Die Ahrtorbrücke?« Jana konnte es nicht glauben. Diese solide Brücke, die den Ahrweiler Süden mit der Altstadt verband. Über die sie so viele Male gefahren war. Täglich eigentlich.

Der Polizist ließ sie wortlos stehen.

Jana spürte plötzlich die eigenartige Stimmung, die wie eine schwere Last über dem ganzen Tal lag. Die Situation wirkte unwirklich. Normalerweise ging um diese Zeit alles seinen gewohnten Gang: Schulbusse und Autos verstopften die Straße, Schüler liefen zu den Schulen auf dem Kalvarienberg, Eltern brachten ihre Kinder zum Kindergarten unterhalb des Klosterberges. Jana ließ ihren Blick schweifen. Die Tiefgarage eines mehrstöckigen Hauses stand unter Wasser. In den Nebenstraßen waberte es kniehoch. Nein, es war kein Wasser, sondern eine schlammige Brühe. Sie erkannte Häuser mit zerstörten Fenstern und Türen. In einem Vorgarten lag ein verbeultes Auto, das dort nicht hingehörte. Vor dem Nebenhaus ein weiteres, das sich über ein drittes geschoben hatte. Die Zäune des Sportplatzes waren heruntergedrückt worden und der freie Blick auf die andere Ahrseite ließ sie schaudern. Alles sah derart verändert aus, dass sie zweifelte, ob sie sich überhaupt im richtigen Ort und nicht an einem Kriegsschauplatz aufhielt. Oder war das gar ein Albtraum, aus dem sie gleich erwachen würde?

Hinter ihr rief jemand ihren Vornamen. Sie drehte sich um und erkannte ihren Bekannten Jörg Menden. Der Anwalt, der ganz in der Nähe wohnte, hatte sich aus einem Pulk von Anwohnern gelöst, die dort an der Kreuzung zusammenstanden.

»Ich habe mir schon Sorgen um dich gemacht«, sagte Jörg.

»Wieso?« Jana fand es merkwürdig, dass er offensichtlich Veranlassung dazu gehabt hatte. »Weil die ganze Innenstadt überflutet ist. Und ich habe befürchtet, dass du vielleicht noch mit Usti spazieren gegangen bist, als die Flutwelle heranrollte.«

»Usti geht es gut. Der ist bei meiner Freundin Meike«, hörte sie sich sagen.

»Wo kommst du jetzt her?«

»Ich war die ganze Nacht im Präsidium«, log sie. Warum sie das tat, wusste sie selbst nicht. »Wie steht es um dein Haus und die Oldtimer?«, hörte sie sich fragen.

»Unsere Straße ist verschont geblieben. Aber die Nachbarstraßen nicht. Da sind sogar Menschen in ihren Wohnungen ums Leben gekommen.«

»Wie bitte?« Jana begriff noch immer nicht, was in dieser Nacht geschehen war. Sie war einiges gewohnt, hatte viele Leichen gesehen. Aber dass Menschen in der Ahr ertranken, die durch ihre eigenen Wohnungen floss, das war etwas ganz anderes.

»Manche haben noch ihre Autos in höher gelegene Straßen gefahren und kamen dann nicht mehr zurück, weil das Wasser so schnell anstieg.«

Jana blickte in Jörgs Gesicht, ohne etwas zu sagen. Derart bekümmert hatte sie ihn noch nie erlebt.

»Ich weiß noch gar nicht, wie es in meinem Büro in Bad Neuenahr aussieht. Ich kann den Hausmeister nicht erreichen.«

»Die ganzen Akten …«, murmelte Jana. Sie blickte auf einen imaginären Punkt in der Ferne, um das Elend um sie herum für eine Weile auszublenden, und überlegte, ob ihre Dachgeschosswohnung auch zerstört war, auch wenn sie sich das beim besten Willen nicht vorstellen konnte.

»Wie hoch stand das Wasser denn in der Altstadt?«

Ein Mann hatte sich zu ihnen gesellt und sprach mit Jörg Menden. Niemand hatte offensichtlich ihre Frage gehört. Ein anderer Polizist als der von eben trat zu ihnen.

»Wir kennen uns doch«, sagte er.

Jana kam sein Gesicht zunächst nicht bekannt vor. Vermutlich waren sie sich auf einem Revier über den Weg gelaufen oder hatten sich bei irgendwelchen Ermittlungen gesehen.

»Sie arbeiten bei der Kripo Koblenz, nicht wahr?«

Jana bestätigte seine Annahme.

»Sind Sie auch betroffen?«, fragte er fürsorglich.

Jana erklärte ihm in kurzen Sätzen, wo sie die Nacht verbracht hatte und wo sich ihre Wohnung befand.

»Im Dachgeschoss, sagen Sie?«

Jana nickte.

»Ich kenne die genaue Höhe des Hochwasserstandes nicht, aber ich wäre an Ihrer Stelle erst einmal unbesorgt, was Ihre Wohnung angeht. Wie der Zustand des Hauses ist, wie die Statik, das muss erst ermittelt werden, denke ich.«

»Wie, die Statik?«, fragte Jana. Konnte es angehen, dass es Häuser gab, die nun einsturzgefährdet waren? Doch dann musste sie an die Brücke denken.

»Soweit ich weiß, sind einige Häuser schwer in Mitleidenschaft gezogen worden. Auch hier im Stadtgebiet. In der Schützenstraße sieht es wohl ganz übel aus. Da ist die Ahr mit voller Wucht hindurchgerauscht. Aber auch gleich drüben, am gegenüberliegenden Ufer. Man kann es von hier aus sehen. Den Friedhof hat es auch schlimm erwischt.«

Jana hatte also eben doch der Realität ins Auge geblickt. Sie bedankte sich bei dem Kollegen für dessen Ausführungen und wandte sich wieder an Jörg Menden, der allein dastand und auf sein Handy schaute. Immer wieder schüttelte er den Kopf.

»Ich erreiche niemanden. Das Netz ist zusammengebrochen. Und nun ist der Akku bald leer. Strom haben wir auch nicht.«

»Keinen Strom?«, fragte Jana.

Ohne funktionierende Kommunikationsmittel würde es unmöglich sein, sich mit Freunden und Verwandten auszutauschen und offizielle Hilfe anzufordern.

»Kein Gas, kein Frischwasser«, ergänzte Jörg.

Jana blieb noch eine Weile bei ihm stehen, wortlos, sprachlos, bevor sie sich entschied, wieder zurück zu Meike zu fahren. Sie fühlte sich wie eine Komparsin in einem Katastrophenfilm.

Und drei Wochen später: August 2021 Sonntag

Wenn Jana über die blühenden Heidebüsche hinwegsah, eröffnete sich dahinter ein weitläufiges Panorama von nacheinander gestaffelten Hügeln. In der Ferne erblickte sie eine Straße, auf der nur ab und zu ein Auto unterwegs war. Wiesen und Getreidefelder wechselten sich mit kleineren und größeren Waldstücken ab, in denen zahlreiche abgestorbene Fichten Zeugnis von den klimatischen Veränderungen der letzten Jahre ablegten. Nur langsam drehten sich die am Horizont stehenden Windräder. Jedes folgte einem anderen Takt. Manche verharrten auch gänzlich und wirkten so, als würden sie den anderen bei ihrer Arbeit zusehen. Janas Hund Usti lag zu ihren Füßen. Sie hatte sich auf einer zwar augenscheinlich verwitterten, aber immer noch soliden Bank niedergelassen, hinter der ein alter Wacholderbusch einen würzigen Duft verströmte. Die Abendsonne tauchte die Landschaft in ein warmes, rot-goldenes Licht. Es hatte schon eine Weile nicht mehr geregnet. Ustis Fell war mit einer dünnen Staubschicht bedeckt, nachdem er sich mehrmals auf dem Heideboden gewälzt hatte. Bis zu ihrem Umzug in die Eifel hatte Jana keine Ahnung davon gehabt, dass es hier ausgedehnte Heideflächen gab. Vermutlich, weil sie sich immer nur mit dem Ahrtal beschäftigt hatte. Ja, das Ahrtal. Es wies große Wunden auf, Wunden, an deren Heilung gerade kaum jemand ernsthaft glaubte. Es war laut und staubig im Tal. Erst nach Tagen hatte sie Zugang zu ihrer Wohnung gewährt bekommen. Allein der Weg dorthin gestaltete sich mühsam, denn sie musste einen großen Umweg fahren, da die meisten Brücken und Straßen zerstört waren. Nach und nach hatte sie mehrere Umzugskartons besorgt, sie gefüllt und mit der Hilfe einiger freiwilliger Helfer durch das verschlammte und verwüstete Erdgeschoss zu ihrem Auto getragen. Die Fahrt zu Meike, die sonst nicht einmal fünf Minuten dauerte, wurde zu einer regelrechten Odyssee, denn sie gelangte nur über Umwege durch die zerstörte Stadt und über die einzige befahrbare Brücke in Heimersheim auf die südliche Ahrseite. Wenigstens hatte sie bei Meike einen Ort außerhalb des unmittelbar betroffenen Gebietes, wo sie diese Kisten unterstellen durfte. In den ersten Tagen nach der Katastrophe hatte sie vorübergehend bei ihr und Karl gewohnt. Doch das Leben zu dritt war nicht ganz unproblematisch gewesen, was weniger an den beteiligten Personen gelegen hatte, sondern an den Begleitumständen: Die Stromversorgung war lückenhaft. An manchen Tagen fiel sie auch hier oberhalb der Stadt völlig aus – in den direkt vom Hochwasser betroffenen Ortsteilen seit der Flutnacht sogar gänzlich. Brauchwasser gab es nur aus Kanistern, später aus größeren Behältern, die die Bundeswehr befüllt hatte. Trinkwasser ebenfalls nur aus Flaschen, mit der Folge, dass der ökologisch bedenkliche Verbrauch von Plexiglasflaschen rapide anstieg. In den Genuss einer warmen Dusche kam Jana nur im Koblenzer Polizeipräsidium. Clemens hatte ihr mehrfach angeboten, für eine unbestimmte Zeit zu ihr zu ziehen. Doch sie fühlte sich für diesen Schritt nicht bereit. Irgendwie kam es ihr vor, als würde sie mit dieser Entscheidung auch eine Entscheidung bezüglich ihrer Beziehung treffen, die sich gerade in einem Schwebezustand befand. Sie erinnerte sich an ihr unkompliziertes Zusammenleben, als Clemens immer wieder einmal für mehrere Tage bei ihr in Ahrweiler gewohnt hatte, wenn es ein aktueller Fall erforderlich machte. Auch an die Nächte in seiner Wohnung musste sie denken, aber wenn sie ehrlich war, fühlte sie sich bei ihm nie wirklich zu Hause, sondern immer nur Gast, obwohl seine Wohnung durchaus geschmackvoll eingerichtet war. Dennoch war sie kurz davor, sein Angebot aus jener Notlage heraus anzunehmen, als sich Jörg Menden per Whats­App meldete. Sie war seit dem Morgen nach der Flut im losen Kontakt mit ihm geblieben. So war er über ihre aktuelle Lage mehr oder weniger im Bilde.

»Möchtest du in mein Ferienhaus in der Eifel ziehen?«, lautete die Nachricht.

Vor einer Weile, als die Welt im Ahrtal noch in Ordnung war, waren sie mit seinem Mercedes 170 S Cabriolet aus der Baureihe 1949–1951 auf einer Spritztour auch an seinem Ferienhaus vorbeigekommen. Sie hatten dort kurz angehalten, weil Jörg nach dem Rechten schauen wollte.

Jana war zunächst Feuer und Flamme für seinen Vorschlag gewesen, bis ihr einfiel, dass sie Usti unmöglich stundenlang allein lassen konnte, während sie arbeitete. Jana rief Jörg an, bedankte sich für seine Einladung und schilderte ihm dann unumwunden den Grund für ihre Absage.

»Das ist kein Problem«, sagte er. »Ich habe mit den Nachbarn gesprochen, die dauerhaft in Hellenberg wohnen. Sie würden Usti beaufsichtigen. Sie lieben Hunde, sind aber in einem Alter, in dem sie selbst kein Tier mehr aufnehmen möchten.«

Er hatte an alles gedacht. Jana war gerührt. Dennoch plagte sie gegenüber Usti das schlechte Gewissen. Konnte sie ihm auf seine alten Tage zumuten, erneut seine gewohnte Umgebung zu verlassen? Und damit auch Gini, seine Hundefreundin? Doch dann wurde ihr gewahr, dass Usti sich in der letzten Zeit immer öfter bereits nach einigen Minuten dem Spiel mit Gini entzog und ein ruhigeres Plätzchen im Haus oder im Garten aufsuchte, wo er für Stunden vor sich hin döste.

Vor vier Tagen hatte Jana dann die liebenswerten Nachbarn kennengelernt, das ältere Ehepaar Gärtner, zu denen Usti sofort Zutrauen gefasst hatte.

Am Tag darauf hatte Jana ihrer Freundin Meike von ihrem Umzugsplan berichtet. »Für mich ist es näher an Koblenz«, hatte sie ihre Entscheidung begründet. Meike äußerte ihr Bedauern, fügte aber auch hinzu, dass sie alle aufgrund der Umstände etwas gereizt seien und es vielleicht besser sei, wenn Jana das Angebot annahm und in die Eifel zog, damit ihre Freundschaft auf Dauer keinen Schaden nahm. Jana hatte bemerkt, dass insbesondere Karl unleidlich geworden war, und befürchtet, es läge an ihrer Anwesenheit. Als habe Meike ihre Gedanken gelesen, sagte sie: »Karl leidet ziemlich, er ist im Moment nicht er selbst. Diese ständigen Stromausfälle machen ihn wahnsinnig.« Kein Wunder, dachte Jana. Schließlich arbeitete er als IT-Fachmann. Bald würde er viel im Ahrtal zu tun bekommen, aber im Moment lag alles auf Eis. Zunächst mussten die Häuser vom Schlamm befreit, Leitungen getrocknet werden, das Internet wieder bereitgestellt werden. Das konnte dauern.

Vorgestern hatte Jana aus den vielen Kartons, die sie bei Meike untergestellt hatte, eine Auswahl getroffen, so als plane sie einen mehrwöchigen Urlaub. Sie hoffte, alles, was sie in den kommenden Wochen benötigen würde, in ihren beiden Koffern verstaut zu haben. Es würde ihr das Leben erleichtern, wenn sie nicht wegen jeder Kleinigkeit zurückfahren musste, um danach zu suchen.

Vor einem Tag hatte sie sich mit ihren Habseligkeiten auf den Weg in die Eifel in den kleinen Ort Hellenberg gemacht, der wenige Kilometer vom Nürburgring entfernt mitten in der Natur lag. Jörg hatte ihr zuvor den Schlüssel übergeben. Er selbst war zu sehr mit dem Sichten der Schäden in seinen Büroräumen in Bad Neuenahr und der anwaltlichen Akuthilfe für seine von der Flut unmittelbar betroffenen Mandanten beschäftigt, weshalb er sie nicht begleiten konnte.

Und nun saß Jana hier in einer idyllischen Landschaft. Nur dreißig Kilometer von Ahrweiler entfernt gelang es ihr, abzuschalten und die katastrophalen Zustände im Ahrtal für eine Weile auszublenden. Heute war Sonntag. Morgen würde sie Usti zum ersten Mal für einige Stunden bei den Nachbarn lassen. Sie hatte mit Clemens vereinbart, nur den Vormittag zu arbeiten und den Rest des Tages Überstunden abzubauen. So wurde Usti die Zeit bei seinen neuen Betreuern nicht zu lang und er konnte sich allmählich eingewöhnen. Sie hoffte, dass dieser Plan nicht durch einen aktuellen Fall durchkreuzt wurde. Denn Usti tat ihr wirklich leid. Sein Leben war ziemlich in Unordnung geraten. Sie hatte das Gefühl, sich ein Jahr Pause nehmen zu müssen, um sich in dieser Zeit ganz ihm widmen zu können. Aber sie permanent zu sehen, würde sein Leben wahrscheinlich auch wieder in Unordnung bringen. Jana ahnte, dass es eines nicht mehr allzu fernen Tages mit ihm zu Ende gehen könnte, denn keines seiner Geschwister lebte mehr. Er war der einzige lebende Airedale Terrier aus dem U-Wurf, wie ihr der Hundezüchter vor einigen Wochen mitgeteilt hatte. Während sie Usti betrachtete, wurde ihr ganz schwer ums Herz. Der letzte Check-up hatte zwar nichts Besorgniserregendes ergeben, doch Jana hatte gemerkt, dass er immer ruhiger wurde, immer schneller ermüdete.

Erst vor wenigen Jahren hatte Jana ihrer Heimat Köln den Rücken gekehrt, was ihrer Mutter nicht behagt hatte, da sie einander nun kaum noch sahen. Dies wiederum bedauerte Jana weniger, wie sie sich ohne Groll oder schlechtes Gewissen eingestehen musste. Simone Maxrath, ihre ehemalige Arbeitskollegin im Kölner Polizeipräsidium, und sie hatten sich während des letzten Falles wieder langsam angenähert. Davor führten Missverständnisse aufgrund unschöner Verstrickungen anderer Kollegen in einem Fall dazu, dass sie sich etwas voneinander entfernt hatten. Mittlerweile konnten Simone und sie wieder genauso unbekümmert miteinander umgehen wie zuvor. Sie hatten während der letzten Tage regelmäßig telefoniert, und Simone hatte ihr dabei die Möglichkeit eröffnet, dass sie jederzeit ins Kölner Präsidium zurückkehren könne. Seit der verheerenden Flut hatte Jana einige Male darüber nachgedacht, konnte sich allerdings zu keinem Entschluss durchringen. Vielleicht würde ein persönliches Gespräch mit Simone helfen, Klarheit darüber zu erlangen, wie es beruflich für sie weiterging. Jörg Menden hatte bestimmt nichts dagegen, wenn sie Simone und ihren Patensohn Julius einmal in das Haus in der Eifel einlud. Wolken zogen vor die Sonne und ein kühler Wind frischte auf. Jana entschied sich, weiterzulaufen, schon allein damit Usti nicht gänzlich einrostete, wenn er allzu lange auf dem Boden lag, selbst wenn dieser aufgrund seiner Beschaffenheit aus Moosen und wärmespeicherndem Sand ideal für den alten Rüden war.

Jana atmete die würzige Luft tief ein und spazierte mit Usti weiter. Sie verließen die Hochebene und schlugen den Weg entlang eines Waldstückchens ein. Gleich dahinter strahlte eine bunte Wiese im Licht der Sonne, die die Wolken gerade wieder freigegeben hatten. Rund um sie herum brummte es. Grillen und Heuschrecken zirpten und hüpften neben ihnen vom Feldrain auf den Weg. Usti sprang auf den Bewegungsreiz an und versuchte, die Insekten zu erhaschen. Jana erinnerte sich an seine zahlreichen Bemühungen, die Mauereidechsen in den Weinbergen an der Ahr zu fangen. Es war stets bei dem Versuch geblieben, was auch an Jana gelegen hatte, die immer dafür gesorgt hatte, dass den Reptilien nichts passierte, jedenfalls nichts, was in ihrer Verantwortung lag und dazugehörte, Ustis Jagdtrieb zu kontrollieren. Im Fall der Insekten verhielt es sich jedoch ein wenig anders, denn diese sprangen Usti mitunter genau vor seine Schnauze, zu flink für ihn, weshalb es vorerst beim folgenlosen reflexhaften Schnappen blieb. Als schließlich eine in sein geöffnetes Maul gelangte, erschrak er dermaßen, dass er diese begleitet von einem niesenden Geräusch unverzüglich wieder ausspuckte. Wer sich mehr erschrocken hatte, die Heuschrecke oder Usti, konnte Jana nicht beurteilen. Sie lachte laut auf, da Usti nun mit seiner Pfote hektisch über seine Schnauze rieb und dabei beinahe das Gleichgewicht verlor. Offensichtlich hatte das Insekt nicht gut geschmeckt oder sogar in seiner empfindlichen Schleimhaut ein Kratzen verursacht. Während Jana sich noch über ihren Hund amüsierte, näherten sie sich einem Gebäude am Rand der Heide. Den Zugang konnte sie kaum erkennen, da allerlei Gestrüpp und kleinere Bäume die Sicht versperrten. Jana fühlte sich veranlasst, sich näher damit zu befassen, nicht aus Neugier, sondern weil sie in ihrem Hinterkopf ein Bild abgespeichert hatte, das sich jetzt in ihr Bewusstsein drängte. Bereits die Landschaft ringsum hatte eine diffuse Erinnerung ausgelöst. Sie konnte mit Sicherheit sagen, dass sie nie zuvor persönlich an diesem Ort gewesen war. Aber was war es dann? Jana blieb stehen und massierte mit der einen Hand ihre Stirn, während sie mit der anderen Ustis Leine festhielt. Suchend bahnten sich ihre Augen einen Weg durch das Gestrüpp. Was sie zunächst als Wochenendhütte angesehen hatte, entpuppte sich bei näherem Betrachten als ein durchaus solides Haus. Vermutlich ein Ferienhaus, dem jedoch der Zahn der Zeit arg zugesetzt hatte – oder die Ignoranz seiner Besitzer. Jedenfalls hatte sich schon seit Jahren niemand mehr um das Gebäude gekümmert. Warum ließ jemand ein so idyllisch gelegenes Haus derart verwahrlosen? Manchmal passierte das, wenn der Besitzer starb und keine Erben vorhanden waren, oder die Erben interessierten sich nicht für den Besitz. Möglich erschien Jana auch die Tatsache, dass das Haus einst illegal errichtet worden war und nicht genutzt werden durfte. Wenn sie sich umschaute, fand Jana den Gedanken durchaus plausibel, denn weit und breit stand kein weiteres Gebäude. Nirgends konnte sie ein Schild entdecken, das das Betreten des Grundstücks untersagte, und so entschied sie sich, ein wenig herumzuschnüffeln. Denn das Bild in ihrem Kopf wurde immer klarer. Sie drückte einige Äste beiseite und setzte ihre Füße auf einen sandigen Untergrund, unter dem sie feste Gehwegplatten bemerkte. Usti folgte ihr, ohne dass sie etwas zu ihm sagen musste. Mit jedem Schritt, den sie sich dem Eingang näherte, kehrte eine Erinnerung zurück. Die Erinnerung an ein ganz spezielles Foto, das sie vor einer Weile in einer Ermittlungsakte entdeckt hatte. Nun hatte sie den Eingang erreicht. Einige Treppenstufen führten zu ihm hinauf. Jana blieb stehen und schloss die Augen. Deutlich erkannte sie ihn vor sich, den einstigen Bewohner. Er kauerte zusammengesunken vor seiner Haustür. Es war dunkel, sein Körper wurde durch den Blitz eines polizeilichen Fotoapparates erhellt. Jana erklomm die Treppe und blieb vor dem obersten Absatz stehen. Beinahe konnte sie die Anwesenheit des Toten spüren. Sie versuchte sich den genauen Hergang der Tat, so wie sie in den Akten beschrieben worden war, ins Gedächtnis zu rufen. Doch es war einfach zu lange her, dass sie die Seiten gelesen hatte. Was sie allerdings wusste: Hier war ein Mann getötet worden. Allmählich konnte sie das Geschehen auch zeitlich einordnen. Es musste sich in den frühen 2000er-Jahren ereignet haben. Stand seitdem das Haus leer? Jana suchte auf dem Klingelschild neben der Eingangstür nach einem Namen. Die Schrift unter dem Plexiglasschutz war kaum zu entziffern. Doch die Buchstaben, die sie lesen konnte, reichten ihr, um sich wieder zu erinnern. Der Mann hatte Winkler geheißen. Mehr Details gab ihr Gedächtnis vorerst nicht preis. Dass der Fall bislang nicht hatte aufgeklärt werden können, beschäftigte Jana und stachelte ihren Ermittlersinn an. Es wäre nicht das erste Mal, dass es ihr gelingen würde, einen Cold Case zum Abschluss zu bringen.

Montagvormittag

Mit einem durchaus mulmigen Gefühl in der Magengegend hatte Jana Usti bei den Nachbarn zurückgelassen. Dieses Unbehagen lag nicht in einem etwaigen Misstrauen dem Ehepaar Gärtner gegenüber begründet, sondern beruhte auf ihren ureigenen Schuldgefühlen. Konnte sie Usti erneut neue Bezugspersonen zumuten? Doch sie tröstete sich mit der Gewissheit, dass sie die bestmögliche Lösung gesucht und hoffentlich auch gefunden hatte. Früher hatte sie ihn hin und wieder ins Kommissariat mitnehmen dürfen, was so lange gut gegangen war, bis Melanie Siemer sich beschwert hatte, weil sie anmerkte, dass Clemens Wieland Jana aus persönlichen Gründen bevorzugte. Ein Hund, der kein Polizeihund war, hatte in ihren Augen dort nichts zu suchen. Und es konnte nicht angehen, dass sich Kollegen um ihn kümmerten, während Jana ihrer Arbeit an einem der Tatorte nachging.