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LOST SOULS LTD. - So nennt sich die Untergrundorganisation um den jungen Fotografen Ayden, den Rockstar Nathan, den charmanten Verwandlungskünstler Raix und Kata mit den eisblauen Augen. Sie alle haben als Opfer schwerer Verbrechen überlebt und dabei einen Teil ihrer Seele verloren. Nun verfolgen sie nur ein Ziel: Jugendliche in Gefahr aufspüren und versuchen, sie zu retten. Dabei kämpfen sie gegen Entführer, Mörder, das organisierte Verbrechen und gegen die Dämonen ihrer Vergangenheit. ICH WERDE IHN TÖTEN. Das schwor Nathan beim Grab seiner ermordeten Schwester. Jetzt ist der Tag der Abrechnung nahe und nichts ist so, wie Nathan es sich vorgestellt hat. Denn da ist Gemma, seine grosse Liebe, und mit ihr das Versprechen auf eine glückliche Zukunft. Nathan muss sich entscheiden: Tödliche Rache oder Liebe. Er wählt die Liebe. Aber dann sterben junge Frauen auf die gleiche Art wie damals seine Schwester. Nathan gerät ins Visier der Ermittler und verfängt sich im Netz, das der Mörder um ihn spinnt. Als er alles zu verlieren droht, hat er keine Wahl mehr. Nur noch seine Freunde von den Lost Souls Ltd.
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Seitenzahl: 367
For Dominic und Ljuba. With Love.
Special Thanks to Michael Sele and The Beauty of Gemina for their inspiring Music and the Song »Into Black«.
In the promise of your shelter In the promise of your love In the promise of you Every night I’m burning
Into Black
www.thebeautyofgemina.com
Kapitel
Kapitel
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Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
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Du denkst, du jagst ihn? Es ist andersherum. Schau sie dir genau an, die schwarze Meute, die an deinen Lippen hängt und sich von deinen Qualen nährt. Er ist unter ihnen. Er ist vor dir. Er ist hinter dir. Er ist dein Schatten. Er ist bereit für dich. Und du? Bist du bereit für ihn?
Das war sie also, die Nachricht, auf die er so lange gewartet hatte. Nathan starrte auf die Buchstaben auf seinem Bildschirm. Kein Name, kein Ort, keine Details, nur Andeutungen, die wahr sein konnten oder auch nicht. Alles und nichts. Nichts und alles. Müde fuhr sich Nathan über die Augen. Er konnte die Mail löschen und sie vergessen. Zurück ins Schlafzimmer gehen, sich an Gemma schmiegen und auf die Liebe hoffen.
Er ist vor dir. Er ist hinter dir. Er ist dein Schatten.
In Nathans Schläfen pochte es. Er drückte seine Hände dagegen und fühlte, wie das Blut durch die Adern pulsierte. Was bedeutete das? War das Phantom, das er jagte, die ganze Zeit da gewesen? Direkt vor seinen Augen?
Er ist unter ihnen.
Hatte er ihn gesehen, als die Scheinwerfer über die Köpfe der Zuschauer geglitten waren? Hatte er dem Mörder seiner Schwester ins Gesicht geschaut? Hatten sich ihre Blicke getroffen?
… und sich von deinen Qualen nährt?
Die Vorstellung war unerträglich.
Du denkst, du jagst ihn. Es ist andersherum.
»Nein«, flüsterte Nathan. Es war nicht andersherum. Weder die Polizei, noch die Sonderkommission, noch seine privat engagierten Leute hatten auch nur die geringste Spur zu Zoes Mörder gefunden. Wie konnte er da mitten unter ihnen sein?
Bist du bereit für ihn?
Nebenan schlief die Hoffnung auf ein neues Leben. Es war Zeit, mit der Vergangenheit abzuschließen. Die Mail zu löschen und in den Armen von Gemma zu vergessen. Aber wie konnte Nathan ein neues Leben beginnen, wenn ein vergangenes nicht gesühnt war?
Er ist unter ihnen.
Was, wenn das stimmte? Nathan stieß einen tiefen Seufzer aus. Er hatte keine Wahl.
Ja.
Zwei Buchstaben. Die Erneuerung eines fünf Jahre alten Versprechens. Nathan drückte auf Senden.
Dann löschte er beide Mails. Die des unbekannten Absenders und seine. Er brauchte sie nicht. Die Worte hatten sich hinter seiner Netzhaut eingebrannt.
Immer und immer wieder hatte Nathan sich vorgestellt, was er tun würde, wenn er die Witterung aufgenommen hatte. Ein einsamer Jäger, ein Wolf ohne Rudel, das wollte er sein. Nur er und der Feind. Er würde ihn hetzen, bis zum bitteren Ende, auch wenn das seinen Tod bedeutete. Aber die Dinge hatten sich geändert. In seinem Bett lag Gemma, das rote Haar auf dem Kissen, den Körper in die wärmende Decke gehüllt. Er hatte sie nicht gesucht. Das Schicksal hatte sie ihm geschickt, einfach so, ohne Vorwarnung, wie es das Schicksal immer tut. Es gibt und nimmt. Bis jetzt hatte es Nathan mehr genommen, als ein Mensch ertragen konnte. Nach Jahren, in denen er in jedem einzelnen Abgrund gewesen war, den man sich vorstellen konnte, gab Nathan nichts mehr auf das Hinhalten der anderen Wange. Wenn er den Mann fand, der seine Schwester umgebracht hatte, dann ging es Auge um Auge, Zahn um Zahn, Leben um Leben.
Zumindest hatte er das die vergangenen fünf Jahre geglaubt. Bis Ayden nach dem Konzert in London Luke und seine Schwester Gemma in die Garderobe mitgebracht hatte. Beim Gedanken an Luke, den Heavy-Metal-Freak, der das Gute in den Augen hatte und vom Bösen singen wollte, glitt ein Lächeln über Nathans Gesicht. Er hatte den Kerl auf Anhieb gemocht. Noch mehr als Luke jedoch hatte ihm Lukes Schwester gefallen. Gemma. Gemma Storm.
Wenn die fünf Jahre nach Zoes Tod irgendetwas Gutes hervorgebracht hatten, dann war es Nathans Instinkt für andere Menschen. An jenem Abend nach dem Konzert ruhte dieser Instinkt in einer wohlig warmen Blase, denn dieses eine Mal war Nathan vor nichts auf der Hut. Er hatte die einzigen Menschen eingeladen, denen er wirklich nahestand, und mit denen ihn etwas verband, das er nicht erklären konnte, aber er wusste, er war bereit, für jeden einzelnen von ihnen zu sterben: für Ayden, für Raix, für DeeDee.
Zusammen bildeten sie den harten Kern der Lost Souls Ltd., einer Organisation, die junge Menschen davor bewahren wollte, Opfer von Verbrechen zu werden. Bei ihrem letzten Einsatz waren sie beinahe gescheitert. Kata hatte überlebt; die körperlichen Verletzungen waren beinahe verheilt, nur ein Hinken erinnerte an die Hölle, durch die sie gegangen war, aber dort, wo ihre Seele gewesen war, befand sich jetzt ein dunkles Loch. Ihre Augen waren dieselben, die Nathan all die vergangenen Jahre aus seinem Spiegel entgegengeblickt hatten, und er konnte die unsichtbare Schicht fühlen, die sie um sich gelegt hatte wie einen Eispanzer.
Nicht nur Kata, auch Ayden und Raix hatten bei diesem Einsatz einen zu hohen Preis bezahlt. Deshalb gab es die Lost Souls Ltd. nicht mehr. Das Konzert war ein Abschied. Von der Vergangenheit, von Raix, von den Lost Souls. Gleichzeitig versprach es, ein Anfang zu werden. Deshalb hatten sie Kata eingeladen. Und Ayden hatte Nathan gefragt, ob er noch zwei Freunde mitbringen könne. Ohne zu zögern hatte Nathan zugesagt.
Als dann die Tür aufging und hinter Ayden ein spindeldürrer nervöser Kerl mit einem Heavy-Metal-T-Shirt auftauchte, konnte Nathan sich ein Grinsen nicht verkneifen. Es hielt nicht lange an, denn gleich nach dem Heavy-Metal-Freak schob sich eine wilde rote Haarmähne in sein Blickfeld. Sie umrahmte das offenste Gesicht, das Nathan je gesehen hatte. Etwas, von dem er gedacht hatte, er hätte es für immer verloren, regte sich in ihm und sendete heftige und klare Signale. Längst vergessene Gefühle trafen ihn wie der sprichwörtliche Blitzschlag. Er versuchte, das Chaos in seinem Innern in den Griff zu bekommen, während der Heavy-Metal-Freak direkt auf ihn zusteuerte, sich als Luke vorstellte und ihn sofort in Beschlag nahm. Nach wenigen Minuten steckten sie in einer Fachsimpelei über Musik, bei der Nathan nur mit halber Aufmerksamkeit dabei war. Äußerlich hatte er sich unter Kontrolle, doch in ihm drin tobte ein Orkan. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie Gemma sich erst mit Ayden und dann mit Eric, dem Drummer von Black Rain, unterhielt.
»Deine Freundin?«, fragte er Luke.
»Meine Schwester.« Luke hob den Arm. »Hey, Gemma!«, rief er und winkte sie heran. »Darf ich dir Nathan vorstellen?«
Den Rest des Abends wich Nathan nicht mehr von ihrer Seite. Am Ende bat er sie nicht, bei ihm zu bleiben, obwohl sich sein Körper nach ihr verzehrte, aber er erfuhr, dass sie und Luke ein paar Tage in London verbringen würden, und bot an, ihnen am nächsten Tag die Stadt zu zeigen. Zum ersten Mal nach einer sehr langen Zeit lag Nathan nach einem Konzert allein im Bett und es fühlte sich richtig an, obwohl er die ganze Nacht nicht schlafen konnte.
In den drei Tagen in London begann er, daran zu glauben, dass er eine Seele hatte. Nichts davon verriet er Gemma. Beim Abschied fragte er sie, ob er sie wiedersehen dürfe, ganz altmodisch, so, wie er es noch nie getan hatte.
»Besuch mich«, antwortete sie.
»Wann?«, fragte er.
»Nächstes Wochenende.«
Vier Tage, von denen Nathan jede einzelne Stunde zählte. Nach zwei Tagen hielt er es nicht mehr aus und fuhr nach Plymouth zu Ayden.
Ayden bot ihm sein Bett in der Lagerhalle an.
»Habt ihr sie wieder hingekriegt?«, fragte Nathan.
Ayden nickte. »War ziemlich viel Arbeit. Die Typen haben ganz schön heftig gewütet.«
Nathan sah seinen Freund von der Seite an. Nur eine Narbe am Kinn erinnerte an den brutalen Überall von Owens Schlägertrupp auf Ayden. »Dein Bild ist immer noch bei mir auf der Insel«, sagte er. »Wenn du willst, bringe ich es dir beim nächsten Mal mit.«
Ayden nickte. »Ich … Ich habe mir gedacht, bei dir ist es gut aufgehoben.«
»Ist es«, antwortete Nathan ernst.
Ayden schien sich Schritt für Schritt in eine neue Gegenwart voranzutasten. Er hatte nicht nur mit Josephs Hilfe die Lagerhalle aufgeräumt, er hatte auch sein Leben entrümpelt, denn er besaß jetzt ein ganz normales Smartphone, von dem er ganz normale Gespräche führte. Er lebte in einer Welt ohne Passwörter und verschlüsselte Nachrichten und seinen Computer benutzte er nur noch, um die Webseite von Josephs Fotoladen und den dazugehörigen Online-Shop zu betreuen. Mit Lost Souls Ltd. hatte er abgeschlossen.
Nathan verstand Ayden. Auch er sehnte sich danach, in eine lebenswerte Zukunft aufzubrechen, aber die Erinnerung und ein Versprechen hielten ihn in der Vergangenheit.
»Vielleicht gehe ich Kata besuchen«, sagte er. »Oder nennt sie sich jetzt bei ihrem richtigen Namen? Caitlin?«
»Kata.«
Es klang gequält. Nathan entschied, nicht weiter nachzubohren.
»Lass uns zum Chesil Beach fahren«, schlug Ayden vor.
Es war ein kühler Tag. Regenwolken hingen tief am Himmel.
»Jetzt?«, fragte Nathan. »Bei diesem Wetter? Du weißt, dass das eine ziemliche Strecke ist.«
»Ja.«
»Es könnte regnen.«
»Seit wann kümmert dich das?«
Nathan sah die Bitte in Aydens Augen. »Es kümmert mich nicht«, antwortete er. »Und Raix ist ja nicht hier.«
Raix mochte den Regen nicht, weder den schottischen noch den englischen. »Kommt aufs Gleiche heraus«, behauptete er. »Regen ist Regen.«
Nathan hatte versucht, ihm zu erklären, dass Regen nicht einfach Regen ist, aber Raix blieb bei seiner Meinung. Regen tropfte einem ins Gemüt. Deshalb und aus anderen Gründen nahm er eine Auszeit an einem warmen Strand im Süden.
»Vermisst du ihn?«, fragte Ayden.
»Nein.«
Sie lachten, denn beide wussten, dass dies eine Lüge war. Raix, der Liebenswerte, der Unbekümmerte, fehlte ihnen.
Nathan parkte seinen Range Rover an einem der Aussichtspunkte für Touristen. Wortlos stiegen sie aus und schauten über den Strand.
»Hier war ich oft mit Rose«, brach Ayden nach einer Weile sein Schweigen. »Weißt du, was das Schlimmste ist?«
Nathan schüttelte den Kopf und wartete darauf, dass Ayden es ihm verraten würde.
»Ich träume noch von ihr, aber nicht mehr jede Nacht.«
Etwas schwang in seinen Worten mit, etwas, das Nathan nur zu gut kannte. Es war das Gefühl des Verrats an einem Menschen, den man mehr als alles andere liebte.
»Ich bin damals nicht nur wegen Lost Souls Ltd. in die Lagerhalle gezogen«, redete Ayden stockend weiter. »Ich meine, ich hätte dort auch einfach eine Art Arbeitszimmer einrichten können …«
Ein erster Regentropfen fiel auf Nathans Gesicht. Er griff in seine Jackentasche und angelte die Blechdose heraus, in der er seine geschnorrten Zigaretten aufbewahrte. Mit klammen Fingern entnahm er ihr eine Kippe und steckte sie in den Mund. Wenn es Ayden half, hier im Regen zu stehen und über den Strand zu schauen, dann würde er neben ihm warten bis ans Ende der Zeit.
»Aber ich konnte dort nicht bleiben«, sagte Ayden. »Alles erinnerte mich an Rose. Das Bild, das bei dir hängt, das mit der Klippe … Eine Frau hat mir 20.000 Pfund dafür geboten. Ich habe es ihr nicht verkauft. Es ging nicht. Dabei brauchen Joseph und ich dringend ein neues Dach.«
»20.000 Pfund?« Nathan nestelte das Feuerzeug hervor. »Und du hast es ihr nicht verkauft?«
»Nein.« Ayden wischte sich den Regen aus dem Gesicht. »Dann sind all die Dinge mit John Owen passiert. Irgendwann war Kata in meinen Träumen. Manchmal zusammen mit Rose. Und es … es …«
»Es hat sich falsch angefühlt«, beendete Nathan den Satz für ihn.
Mit zusammengepressten Lippen starrte Ayden auf die Wellen, die an den Strand rollten und die Kieselsteine zum Singen brachten. Nathan zündete seine Zigarette an. Während er kräftig daran zog, fühlte er, wie ihm der Regen aus den Haaren in seinen Nacken lief.
»Ich weiß nicht, ob es falsch ist«, sagte Ayden nach einer ziemlich langen Weile. »Vielleicht ist es doch wahr, dass die Zeit die Wunden heilt. Dass man mit den Narben leben lernt. Dass man die Toten ruhen lassen kann und sie im Herzen trägt.« Wieder wischte er sich die Nässe aus dem Gesicht, und diesmal war es nicht nur der Regen. »Ich konnte zurück ins Zimmer unterm Dach. Rose ist immer noch dort, aber es tut nicht mehr so weh. Verstehst du?«
»Ja«, antwortete Nathan heiser. Er verstand. Er hatte es immer verstanden, nur hatte es für ihn nie gegolten. Weil Zoe eine offene Wunde bleiben würde, bis hin zu dem Tag, an dem er ihren Mörder umbrachte. Es gab einen Weg, ein Ziel. Rache. Und nun stand er plötzlich und unerwartet an einer Kreuzung. Gemma war die Verheißung auf ein neues Leben. Sie konnte die Wunde schließen. Ein Teil von Nathan sehnte sich so sehr nach ihr, dass es wehtat. Doch dann gab es noch diesen anderen Teil in ihm. Jenen, der Verrat schrie. Denn sich für Gemma zu entscheiden, würde bedeuten, seine Rachepläne aufgeben zu müssen, den Eid zu brechen, den er am Grab seiner Schwester abgelegt hatte. Zoe würde es wollen, das wusste er. Sie würde ihm Liebe und ein gutes Leben wünschen. Ganz bestimmt. Aber darum ging es nicht. Es ging um ihn und seinen Schwur.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Ayden.
Nathan warf seine erloschene Kippe weg. Ihm war eiskalt, nicht nur vom Regen. »Ja«, log er. Er würde Ayden ein anderes Mal von Gemma erzählen. »Und mit dir?«
»Ich weiß es nicht«, gestand Ayden. »Lass uns zurückfahren. Raix hat recht. Dieser verdammte Regen tropft einem ins Gemüt.«
Nach seinem Besuch bei Ayden trieb es Nathan weiter zu Kata. Sie verriet ihm, was sie in jener Nacht getan hatte, als sie entführt und John Owen ums Leben gekommen war.
»Weiß Ayden das?«, fragte Nathan.
»Er hat es gesehen.«
Die Worte klangen hart und schneidend. Nathan wurde so kalt wie am Chesil Beach. Er hatte geglaubt, dass Kata nur Zeit brauchte. Viel Zeit. Genau wie Ayden. Nun, da er ihr Geheimnis kannte, war Nathan nicht mehr sicher, ob es Hoffnung für sie gab. Vielleicht war sie so verloren wie er.
Er überlegte sich, nicht zu Gemma zu fahren, aber seine Sehnsucht war stärker als die Vernunft, die ihm sagte, dass er sie mit sich in den Abgrund reißen würde. Die zwei Tage, die sie gemeinsam verbrachten, waren wunderschön. Es konnte gut werden. Nathan begann daran zu glauben. »Nächstes Wochenende bei mir«, sagte er beim Abschied. »Ich hol dich ab. Keine Widerrede.«
»Das hatte ich auch nicht vor.«
Jetzt war Gemma hier, auf der Insel, bei ihm. Es konnte immer noch gut werden. Nathan saß vor seinem Computer und versuchte, die Buchstaben hinter seiner Netzhaut zu löschen, die Nachricht zu vergessen, die ihn auf die Spur des Mörders bringen konnte.
Er schaffte es nicht.
Im Nebenzimmer lag Gemma. Obwohl es unmöglich war, glaubte Nathan, ihre regelmäßigen Atemzüge zu hören. Der Schmerz über das Unerreichbare, das so nah war, zerriss ihn beinahe. Es war zu spät, sich zu wünschen, er hätte die Mail nie geöffnet. Aber Nathan wollte, dass es gut wurde! Auch wenn es bedeutete, sein Versprechen an Zoe auf eine andere Art einzulösen. Er konnte den Hinweis der Polizei melden oder Sam darauf ansetzen, den Ex-Polizisten, der sie aus der John-Owen-Sache herausgehauen hatte. Oder er konnte den Mörder finden und ihn dann der Justiz überlassen. Was immer er tat, er musste die Kraft finden, einen anderen Weg zu gehen, als den, der ihm bestimmt zu sein schien.
Ayden stand in der Dunkelkammer und schaute einem Bild zu, das sich langsam auf dem Fotopapier abzuzeichnen begann. Genauso wie sein Leben. Einmal mehr lag es unscharf vor ihm. Er hatte keine Ahnung, ob man, wie bei den Fotos, die er entwickelte, unzählige Male neu und anders anfangen konnte, oder ob das Schicksal irgendwann entschied, es reiche jetzt. Falls es überhaupt so etwas wie Schicksal gab.
Manche Menschen waren überzeugt, dass einem der Lebensweg vorgegeben war. Ayden mochte diese Vorstellung nicht. Gerne hätte er geglaubt, jeder habe sein Leben selbst in der Hand, doch zu oft hatte er es anders erlebt. Zum ersten Mal nach den schrecklichen Dingen, die seine Eltern getan hatten, dann beim Tod von Rose und später bei seinen Missionen mit Lost Souls Ltd. Nie würde er die Sorge in Josephs Gesicht vergessen. Nie die Augen von Kata, einst tiefblau, warm und gleichzeitig unsicher und ein wenig trotzig, jetzt leer und manchmal eisig kalt. Bei ihrer letzten Begegnung in Nathans Garderobe nach dem Black-Rain-Konzert hatte Ayden ihren Blick kaum ertragen. Geh weg, hatte er gesagt, lass mich in Ruhe, du kannst mir nicht helfen. Das Schlimmste war, dass das stimmte. Die Dinge nahmen ihren Lauf, und selbst wenn man ihn ändern konnte, endete längst nicht alles gut.
Gestochen scharf lag das Bild jetzt vor Ayden in der Schale mit dem Entwickler. Wehmütig legte er es in das Fixierbad. Wenn nur alles so einfach wäre wie das Entwickeln von Fotos!
»Ich dachte schon, du willst da drin Wurzeln schlagen«, empfing ihn Joseph, als er aus der Dunkelkammer kam.
Ayden schreckte zusammen.
»Schlechtes Gewissen?«, scherzte Joseph. »Tust du etwa heimlich unanständige Dinge, von denen ich nichts wissen darf?«
»Das würde dir wohl gefallen.«
Joseph grinste. »Kommt darauf an.« Dann wurde er ernst.
»Hast du der Kundin, die vor ein paar Wochen da war, das Bild etwa doch noch verkaufen können?«
»Nein. Wieso?«, fragte Ayden verwirrt.
»Weil uns jemand 20.000 Pfund überwiesen hat. Das war doch der Preis, den die Lady geboten hat.«
»20.000 Pfund?«, wiederholte Ayden.
»Ganz genau.« Joseph nickte. »Ziemlich verrückt, nicht wahr?«
Verrückt? Es war mehr als verrückt. Vor allem, wenn man bedachte, dass sich die unbekannte Frau nicht mehr bei Ayden gemeldet hatte, und das Bild in Nathans Haus auf der Insel hing.
»Auf unser Konto?«, bohrte Ayden nach.
»Ja, auf unser Konto.« Joseph klang unsicher. »Ist daran etwas faul?«
»Darauf kannst du wetten!«
»Aber es ist auf dem Konto. Jemand hat es eingezahlt.«
Ayden hatte eine ziemlich klare Vorstellung davon, wer dieser Jemand war. »Ich gehe der Sache nach«, sagte er knapp.
»Wir könnten es wirklich gut gebrauchen.« Joseph fuhr sich über das Kinn. »Das Dach …«
»Ich weiß«, unterbrach ihn Ayden. »Ich checke das und gebe dir Bescheid.«
»In Ordnung«, murmelte Joseph.
»Die Bilder sind übrigens gut geworden«, meinte Ayden. »Wenn du sie dir ansehen willst: Sie hängen an der Leine. Alle höchst anständig.«
»Mach ich«, versprach Joseph. »Es sind ein paar Mails mit Aufträgen reingekommen. Kannst du das erledigen?«
»Klar.«
Nachdenklich verzog sich Ayden ins winzig kleine Büro, gleich neben Josephs Reparaturwerkstatt. Bevor er die Kundenanfragen bearbeitete, griff er nach seinem Handy. Er musste mit Nathan sprechen! Doch er landete nur auf der Mailbox. Beim dritten Versuch gab Ayden auf und hinterließ eine Nachricht. »Ruf mich zurück«, bat er. »Ich glaube, du weißt, wieso.«
Ziemlich unkonzentriert las er sich durch die Mails. Die Bestellungen erledigte er sofort, die Anfragen verschob er. Er musste raus an die frische Luft. Mit einer Tasche voller Pakete machte er sich auf den Weg zur Post.
Auf dem Rückweg ging er am Hafen vorbei, um zu schauen, ob es Neuigkeiten zur Flogging Molly gab. Letzte Woche hatte der Kahn plötzlich Schieflage bekommen. Sein Besitzer, der alte Toni, hatte sie in die Werft der Hampton Brüder bringen lassen. Ayden hegte den Verdacht, dass die Flogging Molly nur noch von Möwenschiss und uraltem, brüchig gewordenem Teer zusammengehalten wurde. Trotzdem hoffte er auf ein Wunder. Die Flogging Molly war sein Lieblingsboot. Keins hatte er so oft fotografiert wie dieses.
Seine Hoffnungen erfüllten sich nicht. Dort, wo die Flogging Molly sonst immer lag, dümpelte ein anderes Boot, irgendein charakterloses Ding mit einem noch charakterloseren Namen. Moderner, neuer, besser ausgestattet. Auf einem der Poller, an denen er sonst seine Molly festmachte, saß Toni, in einer Hand ein Bier, in der anderen eine selbst gedrehte Zigarette. Als er Ayden kommen sah, hob er kurz die Hand. Diese eine kleine, verlorene Geste genügte, um Aydens Herz in den Keller sinken zu lassen. Langsam ging er zu Toni hinüber und stellte sich neben ihn.
»Schlechte Nachrichten?«, fragte er.
»Schlechte Nachrichten«, bestätigte Toni. »Das alte Mädchen ist ziemlich übel beisammen.«
»Eine Chance, sie wieder hinzubekommen?«
»Wenn ich Millionär wäre.« Toni seufzte. »Ich habe diesen tollen Anlegeplatz doch nur behalten können, weil deine Bilder meine Molly berühmt gemacht haben. Sonst könnte ich mir nicht mal den leisten. Woher soll ich denn das Geld für die Reparatur nehmen?« Er zog an seiner Kippe und behielt den Rauch eine ganze Weile in der Lunge, bevor er ihn wieder ausblies.
Nicht zum ersten Mal fragte sich Ayden, wo es wohl mehr Teer haben mochte: an der Flogging Molly oder in Tonis Lunge. »Das tut mir leid«, sagte er.
»Und mir bricht es das Herz.« Tonis Stimme krächzte so jämmerlich wie die Möwen, die sich schreiend auf den Booten niederließen.
»Ich weiß. Mir auch.«
»Bist ein netter Kerl«, murmelte Toni.
»Wir könnten Bilder der Flogging Molly versteigern«, schlug Ayden vor. »Vielleicht bekommen wir so ein bisschen was für die Reparatur zusammen.«
»Das würdest du tun?«, fragte Toni.
»Sicher. Schließlich brauche ich sie auch noch.« Ayden zeigte auf das Boot, das den Platz der Flogging Molly eingenommen hatte. »Von dem Ding kauft mir keiner ein Bild ab.«
Toni strahlte wie an einem Tag, an dem der Fang besonders gut gewesen war.
»Muss weiter«, verabschiedete sich Ayden. »Bis später.«
»Ja. Und hey, danke.«
Beim Haus von Henry und Moira schaute Ayden zum Fenster im ersten Stockwerk hoch. Er hob seine Hand, doch mitten in der Bewegung stockte er. Henry war nicht da!
Seit der Sache mit John Owen wusste Ayden, dass die Dinge nicht so waren, wie sie schienen. Henry saß nicht da und wartete auf den Tod, wie er alle glauben ließ. Henry lebte ein sehr geheimnisvolles Leben, dem Ayden nicht einmal ansatzweise auf die Spur gekommen war. Aber wenn weder Henry noch sein künstliches Double am Fenster saßen, war etwas nicht in Ordnung!
Schon bevor Ayden den Klingelknopf drückte, wusste er, dass es sinnlos war. Henry und Moira waren nicht da. Trotzdem klingelte er Sturm, mindestens zwei Minuten lang. Dann drückte er die Klinke. Die Tür war abgeschlossen. Vielleicht machten die beiden Ferien. Der Gedanke war so unsinnig wie das Klingeln. Henry und Moira machten keine Ferien.
Die Unruhe, die Ayden aus dem Laden getrieben hatte, breitete sich weiter aus, doch ihm fiel nichts ein, das er tun konnte. Außer Igor anrufen, und ihn fragen, ob irgendwo auf der dunklen Seite des World Wide Web ein Phantom unterwegs war. Denn wenn Ayden eins kapiert hatte, dann, dass Henry ein Phantom war.
Tief in Gedanken versunken ging er zurück zum Laden. Ausgerechnet jetzt, wo er versuchte, ein ganz normales Leben zu führen, geriet die Welt um ihn herum ins Rutschen. Bei seiner Rückkehr musste Ayden feststellen, dass das Rutschen immer noch im vollen Gange war. Neben der Kasse hatte ein Kunde die aktuelle Daily liegen gelassen.
Multimillionär John Owen bleibt verschwunden, lautete die Schlagzeile auf der Titelseite. In Aydens Ohren klang einer der letzten Sätze von Henry nach. Die Frage ist: Wo zum Teufel ist John Owens Leiche?
Ayden musste mit Nathan sprechen. Dringend. Längst nicht mehr nur wegen der 20.000 Pfund. Doch Nathan hatte immer noch seine Mailbox eingeschaltet.
Bleib«, bat Nathan. »Ich habe einen Job.« Gemma strich eine ihrer roten Locken aus dem Gesicht. »War ziemlich schwierig, ihn zu bekommen und ich brauche das Geld.«
»Ich …«
Sie legte ihm ihren Zeigefinger auf den Mund. »Sag’s nicht.«
Genau deswegen mochte er sie so sehr. Weil es ihr schlicht egal war, womit er sein Geld verdiente und wie unverschämt viel das war. Gemma wollte nichts davon. Sie nahm ein Jahr Auszeit, um sich bei einer kleinen Allrounder-Handwerksfirma Geld für ihr Studium zu verdienen. Ihre Arbeit umfasste vom Bürokram über Gartenarbeiten bis zu Hausräumungen so ziemlich alles.
»Dann bist du wohl recht stark?«, hatte Nathan im Scherz gefragt.
»Darauf kannst du wetten«, war wie aus der Pistole geschossen ihre Antwort gekommen.
Es war verrückt. Keiner der jungen Frauen, die ihn als Trittbrett für den Einstieg in die Welt der Reichen und Berühmten benutzen wollten, hatte er die Tür dazu auch nur einen kleinen Spalt geöffnet. Gemma hätte er das ganze Tor aufgestoßen, doch er wusste, er würde sie verlieren, wenn er das tat. Sie brauchte ihn nicht, um ihren Lebensweg zu gehen. Sie mochte nicht den Star, sondern ihn, Nathan MacArran.
»Nicht für immer«, sagte er. »Nur für ein paar Tage.«
»Ich möchte ja bleiben, aber es geht einfach nicht. Larry und seine Truppe brauchen mich.«
»Und wenn ich mit dir komme?«
»Du hast mich doch eben erst besucht.«
»Nicht zu Besuch.«
Für einen Moment verschloss sich ihr Gesichtsausdruck. Nathans Herz begann wie wild zu pochen. Er war zu weit gegangen! Verzweifelt suchte er nach den richtigen Worten. Aber wie konnte er Gemma erklären, was in ihm vorging, ohne sie zu verlieren?
Er wollte in ihrer Nähe sein. Immer. Dann würde er vielleicht die Mail des unbekannten Informanten vergessen. Dann würde er vielleicht dem Drang widerstehen können, die falschen Dinge zu tun.
Vielleicht.
Ohne Gemma gab es nicht einmal ein Vielleicht. Ohne sie würde er Grenzen überschreiten und in Abgründe tauchen, aus denen es kein Zurück mehr gab. All das konnte er ihr nicht sagen. Er durfte nicht von ihr verlangen, ihn zu retten.
»Ich besuche dich am Wochenende«, sagte er heiser. »Natürlich nur, wenn du willst.«
»Ja, das will ich.«
Er räusperte sich. »Ich kenne da einen Helikopterpiloten, der dich nach Hause fliegen könnte.«
»Nathan!«
Abwehrend hob er die Hände. »Vergiss es. Aber ich darf dich doch fahren, oder?«
»Weil’s mehr oder weniger gleich um die Ecke liegt?«, zog sie ihn auf.
»Du kannst ja nichts dafür, dass ich am anderen Ende der Welt wohne.«
»Am anderen Ende unseres Königsreichs. An einem der schönsten Orte, an dem ich je war.«
»Das sagst du nur, um mich zu trösten.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, es ist wunderschön hier, und wenn ich könnte, würde ich sehr gerne bleiben.«
Wieder fühlte Nathan sein Herz hart und schnell schlagen. Gemma gefiel es hier und sie wollte ihn wiedersehen. Also mochte sie ihn. Oder sie sagte all die Dinge einfach, weil sie irgendetwas sagen musste, bevor sie für immer ging.
Gemma lachte. »Ich dachte, du bist cool.«
Nathan verstand nicht, was sie damit meinte.
»Du solltest dein Gesicht sehen.« Sie legte ihm ihre Hand auf die Wange. »Nathan MacArran, ich mag dich, es gefällt mir hier wirklich und ich will auch Ende der Woche noch, dass du mich besuchen kommst. Aber jetzt muss ich gehen.«
»Ich fahr dich.«
»Bis zur nächsten Busstation gerne«, erwiderte sie.
»Nein. Nach Hause. Mit dem Bus und der Bahn dauert das ewig.« Er sah, wie sie ihren Mund öffnete, um etwas zu sagen, doch er kam ihr zuvor. »Ich muss sowieso nach London«, log er. »Hab ein Treffen mit meiner Managerin wegen der Tour.«
Gemma zögerte.
»Ich kann dich auch an der nächsten Busstation absetzen und dann alleine in den Süden fahren.«
»Also gut«, gab sie nach. »Dieses eine Mal.«
Auf der Fahrt über die Insel sprachen sie nicht viel. Erst als sie die Brücke zum Festland passierten, sagte Gemma: »Ich bin achtzehn.«
Nathan warf einen Blick zu ihr hinüber. »Und?«
»Bist du wirklich neunzehn, oder ist das eine dieser PR-Geschichten?«
»Kein PR-Ding.«
Sie drehte den Kopf weg und sah aus dem Seitenfenster.
»Ich bin mit vierzehn erwachsen geworden«, antwortete er, obwohl sie nicht gefragt hatte. »An dem Tag, an dem die Polizei meine Schwester gefunden hat. Als ich fünfzehn war, verließ meine Mutter meinen Dad und mich. Ein paar Monate später versuchte Dad, sich umzubringen. Hat sich in seinen Wagen gesetzt, Gas gegeben und dann das Steuerrad losgelassen. Alles, was mich zusammenhielt, war meine Musik und der Gedanke an Rache.«
»Das tut er immer noch, nicht wahr?«, fragte Gemma.
Wenn er jetzt die Wahrheit sagte, riskierte er, sie zu verlieren. Aber wenn er log, verlor er sie sowieso. »Ja.« Er zögerte. »Bis vor Kurzem.«
»Ich weiß nicht, ob ich damit klarkomme«, sagte sie leise.
Nathan wusste, was sie meinte. Sie war achtzehn, ganz normale achtzehn, in einem ganz normalen Leben. Er war neunzehn, seit gefühlten hundert Jahren unterwegs in einem Leben, in dem nichts normal war. Zwischen ihnen lag eine Ewigkeit, aber für ihn hatte es sich nicht so angefühlt. »Es ist in Ordnung«, versicherte er ihr. »Ich verstehe es.« Nur half das nicht gegen das, was in seinem Herzen vorging. Einen Augenblick lang verschwamm die Straße vor ihm. Er blinzelte sich die Tränen aus den Augen.
»Nathan?«
»Es ist okay«, sagte er hart.
»Halt an!«
»Willst du aussteigen?«, fragte er, den Blick auf die Straße gerichtet, damit er sie nicht ansehen musste.
»Nein. Ich will bloß nicht, dass du uns umbringst.«
Erst jetzt bemerkte Nathan, wie sein Fuß das Gaspedal durchdrückte, sah die Tachonadel im roten Bereich. Sofort ging er vom Gas. Seine Hände umklammerten das Lenkrad, als fürchtete er, er könnte es loslassen, genauso, wie sein Vater es getan hatte. Er durfte das nicht! Neben ihm saß Gemma. Vorsichtig ließ er den Wagen ausrollen und brachte ihn am Straßenrand zum Stehen.
Gemma öffnete die Tür und stieg aus. Nathan schloss die Augen. Er wünschte sich, er könnte auch sein Herz ausschalten, so, wie er den Motor ausgeschaltet hatte, denn jeder einzelne Schlag tat unendlich weh.
Viele schmerzhafte Herzschläge später kam Gemma zurück. »Du hast mich erschreckt«, sagte sie. »Ich brauchte etwas frische Luft.«
»Um klarer sehen zu können?«
»Auch.«
Gemma setzte sich wieder in den Wagen. Sie legte ihre Hand auf seine. »Wolltest du ohne mich fahren?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich konnte das Lenkrad nicht loslassen. Es ging einfach nicht.«
»Und ich wollte alleine zurück nach Hause. Es ging einfach nicht.«
»Weil du mich retten willst?« Die Frage brach aus Nathan heraus und schob sich zwischen sie wie eine unsichtbare Wand.
»Nein.« Gemmas Stimme war klar und fest. »Das musst du selber tun.«
»Und wenn ich das nicht kann?«
»Wirst du es versuchen?«, wollte sie wissen.
»Ja.«
Selbst wenn es bedeutete, den Eid zu brechen, und er nie mehr die Musik machen konnte, die er machte, denn sie war untrennbar damit verbunden, was er tat und fühlte. Ein heiseres Lachen stieg aus Nathans Kehle.
»Was ist?«, fragte Gemma.
»Dann werde ich wohl in Zukunft die Welt mit sentimentalen Liebesliedern beglücken.«
»Na ja, so weit muss es ja nicht gehen.«
Nein, so weit musste es nicht gehen. Es reichte, wenn er diese Lieder Gemma vorsang. Nathan lachte und weinte gleichzeitig. So fühlte es sich also an, glücklich zu sein.
Gemma erlaubte ihm, sie die ganze Strecke nach Hause zu fahren. Als sie ankamen, war es später Abend. Trotzdem blieb Gemma hart, als es ums Bleiben ging.
»Du kannst mich doch nicht mitten in der Nacht vor die Tür setzen«, beschwerte sich Nathan.
»Doch. Genau das war die Abmachung.«
Nathan hielt sich daran, obwohl er sich nichts sehnlicher wünschte, als den Rest der Nacht wach neben Gemma zu liegen und ihr beim Schlafen zuzusehen. Aber er wollte sie nicht bedrängen. Dazu war alles viel zu kostbar und zu zerbrechlich. Erst musste er Gemma beweisen, dass es ihm wirklich ernst war. Deshalb verabschiedeten sie sich mit einer innigen Umarmung und einem Kuss, so, als hätte er sie nur von einem Kinobesuch nach Hause gebracht und nicht, als ob sie zusammen durch mehr als fast ganz Großbritannien gefahren waren.
Eigentlich hatte Nathan vorgehabt, wieder auf die Insel zurückzukehren, doch wenn er schon im Süden war, konnte er tatsächlich bei Grace vorbeischauen, die er bei Gemma als Vorwand für die Fahrt benutzt hatte. Die Tour rückte näher und es konnte nicht schaden, mit Grace und den Jungs der Band zusammenzukommen, ein paar Dinge zu besprechen und mit den Proben zu beginnen. Nathan schaltete sein Handy ein, um Grace eine Nachricht zu hinterlassen. Nach vier Tagen, in denen er es nicht angerührt hatte, war seine Mailbox voll. Er hörte sie ab, während er in Richtung London fuhr. Es war das Übliche. Grace suchte ihn. Dringend, wie immer. Die Jungs der Band fragten, wann die Proben losgehen würden. Und dann hatte er plötzlich Aydens wütende Stimme im Ohr. Nathan hatte keine Ahnung, womit er ihn so sehr verärgert hatte.
Der ersten Nachricht von Ayden folgten bestimmt noch fünf weitere. Am Anfang klangen sie verärgert, dann änderte sich der Ton. Es war offensichtlich, dass sich Ayden um irgendetwas große Sorgen machte. Nathan wollte zurückrufen, aber sein Instinkt sagte ihm, dass das nicht reichte. Bei der nächstmöglichen Gelegenheit wendete er den Wagen. Was auch immer so dringend war, Ayden konnte es ihm morgen früh selber sagen.
Ayden fand Nathan schlafend in seinem Range Rover auf dem Kundenparkplatz, die schwarze Wollmütze tief in die Stirn gezogen, auf dem Gesicht ein etwas dümmliches Lächeln. Er riss die Tür auf. Nathan schreckte hoch und schaute ihn verwirrt an.
»Süß geträumt?«, fragte Ayden.
»Bis gerade eben schon.« Nathan gähnte herzhaft. »Ich habe meine Mailbox abgehört. Was ist los?«
»Lass uns zum Hafen runtergehen.« Ayden rückte Nathans Mütze zurecht. »Ich spendier dir einen Kaffee, du Penner, und dann reden wir.«
»Selber Penner.« Nathan hangelte sich aus dem Wagen und streckte die Arme in die Luft. »Luxusschlaf fühlt sich echt anders an.«
»Ein Rückruf hätte genügt«, sagte Ayden. »Hättest nicht gleich den ganzen langen Weg auf dich nehmen müssen. Oder verschlägt dich etwa die Liebe in unseren schönen Süden?«
Nathan lachte nicht und widersprach auch nicht.
»Echt?«, fragte Ayden. »Gemma?«
Zu seiner Überraschung lief Nathans Gesicht rot an, etwas, das noch nie zuvor passiert war, zumindest konnte sich Ayden nicht daran erinnern.
»Warum bist du dann bei mir und nicht bei ihr?«
»Ist so ein richtig altmodisches Ding«, klärte Nathan ihn auf. »Mit Hof machen und Respekt zeigen und warten.«
»Sag bloß, du hast noch nicht mit ihr geschlafen!«, scherzte Ayden.
Das Gesicht von Nathan färbte sich noch ein paar Stufen dunkler. »Wir haben die Reihenfolge nicht ganz eingehalten«, antwortete er, immer noch todernst, aber auch etwas verlegen.
Nathan war noch nie verlegen gewesen, wenn es um Sex ging. Wenn er jetzt wie ein ertappter Schuljunge neben Ayden hertrottete, dann hatte es ihn mit voller Wucht erwischt.
»Ich habe keinen Tropfen getrunken, seit ich sie kenne«, gestand er.
Das bedeutete in etwa so viel wie Ich liebe sie.
Ayden entschied, keine weiteren Fragen zu stellen, auch nicht die nach den 20.000 Pfund. Die konnten warten.
»Bei dir und Rose hat es doch auch eine Weile gedauert, oder?«, fragte Nathan beinahe scheu.
Noch vor gar nicht so langer Zeit hätte diese Frage Ayden mitten ins Herz getroffen. Er hätte furchtbare Bilder im Kopf gehabt, aber an diesem Morgen war alles anders. Er sah Rose über den Schulhof gehen, am ersten Schultag seines neuen Lebens in seiner neuen Schule. Sie war in ein Gespräch mit ihrer Freundin vertieft, doch dann rollte ihr ein Ball vor die Füße. Als sie ihn aufhob und sich wieder aufrichtete, entdeckte sie Ayden, schaute ihn kurz an und blickte wieder weg. Das war der Moment gewesen, in dem er sich in sie verliebt hatte.
»Eine Weile?« Er drückte in Gedanken die Repeat-Taste und rief den magischen Augenblick nochmals ab. »Eine Ewigkeit!«
Zwei Jahre hatte ihnen das Schicksal nach dieser Ewigkeit geschenkt, dann hatte es ihm Rose genommen.
»Warst du … Warst du auch so verdammt unsicher?«, fragte Nathan.
Beinahe hätte Ayden gelacht. Nathan und unsicher ging nicht zusammen. Aber dann sah er, wie ernst es seinem Freund war. »Ist normal«, sagte er.
Wenn man bedachte, dass in Nathans Leben nichts normal war, und er wahrscheinlich längst nicht mehr wusste, wie sich normal anfühlte, musste ihn dieser neue, unbekannte Zustand, in dem er sich befand, ganz schön verwirren. Ayden grinste. Sein Freund war verliebt!
»Ich glaube, ich fange ganz neu an.« Nathan fingerte nervös an seiner Mütze herum. »Weißt du, so richtig.«
Ayden blieb stehen.
»Was ist?«, fragte Nathan. »Traust du mir das nicht zu?«
»Doch.« Ayden traute Nathan alles zu. Auch das. »Doch«, wiederholte er erleichtert. Vielleicht bekam das Leben Nathan zurück. Und umgekehrt. Beides war gut.
Ayden entschied, die 20.000 Pfund erst mal auf dem Konto geparkt zu lassen. Er konnte Nathan später erklären, warum er sie nicht wollte.
»Die Anrufe«, begann Nathan.
»Vergiss sie«, antwortete Ayden. »Hat sich alles wieder eingerenkt.«
Am Hafen unten holten sie sich in der kleinen Bude von Claudette einen Kaffee und stellten sich an einen der beiden Tische vor dem Eingang. Ayden ließ seinen Blick zum Hafenbecken schweifen. Das Wunder war nicht geschehen. Am Anlegeplatz der Flogging Molly machte sich immer noch dieses unmögliche Ding von Boot breit. Ayden kniff die Augen zusammen, bis das Bild vor ihm verschwamm und er die Flogging Molly sehen konnte.
Heiße Flüssigkeit schwappte gegen seine Hand und holte ihn schmerzhaft zurück in die Realität. Ein Pappbecher rollte über den Rand des Tisches und landete mit einem leisen Plopp auf dem Boden, während Nathans Kaffee über den Tisch lief und in einem dünnen Rinnsal dem Pappbecher hinterher plätscherte. Nathan bemerkte es nicht. Mit leicht geöffnetem Mund, als könne er nicht glauben, was er sah, starrte er auf den Zeitungsaushang neben Claudettes Bude. Ayden folgte seinem Blick. Auf der Titelseite der Daily prangte ein riesiges Foto von Nathan, zusammen mit einem etwas kleineren Bild einer jungen Frau. Die Schlagzeile nahm einen großen Teil der unteren Hälfte der Zeitung ein.
Vermisste junge Frau brutal ermordet. War es der MacArran-Killer?
»Nate?«, fragte Ayden.
Nathan reagierte nicht. Ayden wischte sich den Kaffee von der Hand und ging zurück zu Claudette. »Einmal die Daily«, sagte er. »Und einen Lappen.«
»Seit wann liest du denn die …« Claudette stoppte mitten im Satz.
»Nimm sie dir.«
»Wie viel?«
»Falte sie nach dem Lesen einfach wieder ordentlich zusammen.« Claudette hielt ihm einen Lappen hin. »Und pass auf, dass dein Freund nicht zusammenklappt.«
Ayden holte sich die Zeitung. Als er zurückkam, stand Nathan noch genauso da wie vorher. Aus seinem Gesicht war alle Farbe gewichen. Er sagte kein Wort. Schweigend schaute er zu, wie Ayden den Tisch sauber wischte, die Zeitung darauf legte und den Text las, der unter der Schlagzeile stand.
Fünf Jahre nach dem brutalen Mord an Zoe MacArran, der Schwester von Rockstar Nathan MacArran, könnte ihr Killer zurück sein. Gestern wurde in der Nähe von Zürich (Schweiz) die Leiche einer jungen Frau gefunden, die nach dem Konzert von Black Rain spurlos verschwunden war. Gerüchten zufolge wurde sie gefoltert, bevor der Killer sie umbrachte. (Mehr auf den Seiten 2 und 3).
Ayden schlug die Zeitung auf. Er hörte Nathan leise stöhnen, als er die Fotos seiner Schwester sah. Es waren die gleichen wie damals. Das Bild von der Vermisstenanzeige und der Schnappschuss, den irgendein besonders rücksichtsloser Medientyp mit einer rührseligen Geschichte einer ihrer Freundinnen abgeschwatzt hatte. Zoe war damals sechzehn gewesen, zwei Jahre älter als Nathan.
Ayden wollte die Zeitung wieder zuklappen, doch Nathan packte ihn am Handgelenk. »Lies!«, befahl er tonlos.
Hat der umstrittene Sänger Nathan MacArran mit seiner Musik schlafende Hunde geweckt? Die Ermittlungsbehörden schweigen sich noch aus zu den Details, bestätigen jedoch, dass die junge Frau nach ihrem Verschwinden noch mindestens zwei Wochen gelebt haben muss – genau wie Zoe MacArran vor fünf Jahren. Wie Zoe MacArran wurde sie in einem Waldstück gefunden, und Gerüchten zufolge scheint sie wie Zoe MacArran vor ihrem Tod ausgehungert worden zu sein. Erste Kritiker der Band Black Rain haben sich bereits zu Wort gemeldet. »Wir sollten nichts verschreien, aber MacArran hat den Mörder mit seiner Musik geradezu herausgefordert«, erklärte Warren Jenkinson, Autor des Bestsellers »Warum sie es immer wieder tun«, in einer ersten Stellungnahme gegenüber der Daily.
Nathan umklammerte noch immer Aydens Handgelenk. »Er war da. Zoes Mörder war auf dem Konzert und hat sie mitgenommen. Stimmt’s? Sag’s mir.«
»Das steht da nicht drin. Da steht …«
»Er war da!«
»Sie verschwand nach eurem Schweizer Konzert. Das bedeutet noch gar nichts«, versuchte Ayden, Nathan zu beruhigen. »Es könnte ein Zufall sein.«
»Nein. Er ist wieder da.« Nathan ließ Ayden los. »Ich habe ihn herausgefordert. Aber das wollte ich nicht. Er sollte es auf mich absehen. Nur auf mich.« Er drehte sich um und wankte davon.
»Ich bezahl dir die Zeitung später!«, rief Ayden Claudette zu und eilte Nathan hinterher.
»Was stand da drin?«, fragte Nathan. Seine Stimme war wieder fester, sein Gang weniger unsicher.
Ayden erzählte es ihm. Etwas auszulassen hätte keinen Zweck gehabt.
»Hab das Buch von diesem Jenkinson gelesen«, sagte Nathan, als Ayden bei dem Bestsellerautor angelangt war. »Mindestens ein Dutzend Mal. Der Typ ist gut. Hab eine Menge von ihm gelernt.«
Ayden schwieg. Ein Buch allein erklärte noch nicht, warum Nathan sich auf beinahe unheimliche Weise in kranke Hirne hineinversetzen konnte, bis er im Gleichtakt mit ihnen dachte und tickte. John Owen war nur einer von ihnen gewesen. Vor ihm hatte es andere gegeben. Nathan hatte mit Lost Souls Ltd. ein paar von ihnen ausgetrickst. Nur Zoes Mörder war er bis heute nicht auf die Spur gekommen.
Kurz bevor sie Josephs Laden erreichten, blieb Nathan stehen. Sein Blick ging ins Leere. Auf seinem Gesicht machte sich Trauer breit. Ayden dachte, es wäre die Trauer um Zoe. Sogar als Nathan stockend zu sprechen begann, glaubte er, es ginge um sie.
»Ich werde sie nicht wiedersehen.« Nathan wischte sich mit der Hand über die Augen. »Er wird sie töten, wenn er herausfindet, was sie für mich bedeutet.«
Erst jetzt begriff Ayden, dass Nathan von Gemma redete. Er wollte widersprechen, seinen Freund trösten, ihm zureden. Es hatte keinen Sinn, denn Nathan hatte recht.
»Ich habe am Abend nach dem Konzert nicht mit ihr geschlafen«, sagte Nathan unsicher. »Erst viel später. Das könnte gut für sie sein. Oder?«
Ayden gelang es nicht, Nathans traurige Hoffnung zu teilen. Voller Bitterkeit und Zorn haderte er mit dem Schicksal, das so furchtbar hart und so furchtbar ungerecht zuschlug.
Das Klingeln von Nathans Handy riss beide aus ihren Gedanken. Nathan warf einen Blick auf das Display und nahm den Anruf an. Seine Antworten waren kurz und knapp und bestanden hauptsächlich aus den Wörtern Ja und Nein.
»Das war Grace«, erklärte er. »Ein paar Typen von Scotland Yard wollen mit mir sprechen.« Er schaute Ayden an. »Ich melde mich besser, bevor die mich suchen und womöglich mitten auf der Straße anhalten und festnehmen.« In einer heftigen Bewegung steckte er das Handy zurück in seine Hosentasche. »Die werden ihre Nase überall reinstecken.«
Ayden wusste, was das bedeutete. Früher oder später würden die Ermittlungen zu dem Abend nach dem Konzert in London führen.
»Wir müssen uns überlegen, wie wir Raix da raushalten«, sagte Nathan. »Und wir müssen Kata vorwarnen. Das machst du. Ich … Ich rede mit Gemma und Luke.« Er presste die Hände gegen seinen Kopf und atmete tief aus. »Was habe ich getan? Was habe ich bloß getan?«
Wann hast du das Grundstück zum letzten Mal verlassen?«, fragte Ronan.
Kata legte den Pinsel weg. »Ich weiß es nicht, aber du wirst es mir bestimmt gleich sagen.«
»Zwei Wochen.« Ronan strich bedächtig und konzentriert weiter. »Du bist zu jung, um dich einzuigeln.«
»Ich war in London. Ich habe ein Konzert besucht und mich mit Menschen getroffen. Schon vergessen?«
»Nein.«
»Aber?«
»Die Einsamkeit tut dir nicht gut.«
»Sie ist alles, was ich will und brauche.«
»Die Einsamkeit?« Ronan trat einen Schritt zurück und betrachtete sein Werk. »Das hier ist das letzte Zimmer. Schon mal überlegt, was du danach tun willst?«
Das hatte sie. Stundenlang. Ronan hatte recht. Es war nicht wirklich ein Leben, das sie führte, doch es war das, was sie bewältigen konnte. Mehr ging nicht, obwohl Kata zumindest finanziell die Welt offen stand. Ihre Großmutter Olivia hatte das Bankkonto ihrer Eltern nie auch nur angerührt, und so war der ziemlich hohe Kontostand zum Zeitpunkt ihres Todes im Laufe der Jahre noch einmal stark angestiegen.
»Es ist dein Geld«, hatte Olivia gesagt. »Du kannst darüber verfügen.« Es gab auch Dinge, die Olivia nicht gesagt hatte, aber sie standen bei jedem ihrer seltenen Besuche zwischen ihnen. Was ist passiert?, fragte Olivias Blick. Warum bist du so kalt und so hart?