Ich, Onkel Mike und Plan A - Alice Gabathuler - E-Book

Ich, Onkel Mike und Plan A E-Book

Alice Gabathuler

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Beschreibung

Das kann doch nicht wahr sein: Leons Vater lässt den lang ersehnten Abenteuerurlaub platzen! Schwer enttäuscht haut Leon ab zu Onkel Mike aka Rapper Gängsta X, der gerade tief in den Bergen seinen nächsten Hit schreibt. Und Leon wird ihm dabei helfen! So steht es zumindest auf seinem Plan. Natürlich auf Plan A, denn einen Plan B brauchen echte Kerle nicht. Denkt Leon. Bis er neben Onkel Mike auf der Kante eines Wasserfalls steht und springen soll ...

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Für Michaela Hanauer meine witzige und kluge Agentin

Herzlichen Dank an

Chris Schwarz, Roger Köppel, Ronny Benz und Thomas Frei von Crossedfür den Song Reborn

und

die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia für ihre großzügige Unterstützung dieses Projekts

Inhaltsverzeichnis

Die Monster-Wurmkolonie

Die letzten beiden echten richtigen Kerle

Wie man ein Tiger-Schwein ausweidet

Bauchgrummeln

Der frühe Vogel trifft Frankenstein

Die Leiche in der Hütte

Das Schweigen der toten Geranien

Drei Minuten und zwei Sekunden

Wir sind Hardcore

Hunger ist ein fieses Schicksal

Der Krieger und seine Beute

Es brennt!

In der Höhle des Löwen

Die Schlacht im Frohsinn

Toni Toast auf Mission

Reborn

Voll was drauf

Eine ziemlich verrückte Beerdigung

Keine Panik!

Alpenrap-Mike und Plan-A-Leon

Edgar kommt

Der Geist aus der Vergangenheit

Der beste Sommer meines Lebens

Die Monster- Wurmkolonie

Paps steuerte mit einer riesigen Schüssel durch die Küche. Nicht mit irgendeiner Schüssel, sondern der Super-Spezial-Spaghetti-Schüssel, die ich ihm letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte. Er zwinkerte mir verschwörerisch zu. »Na, hast du auch ordentlich Hunger?«

Und wie! Mein Magen knurrte wie ein Wachhund im Dienst. Mein Mund schaltete in den Verschlingmodus. Voller Vorfreude griff ich zum Besteck.

»Neues Rezept«, sagte Paps fröhlich und stellte das Essen auf den Tisch.

Mein Mund blockierte. Mein Magen zog sich auf Schrumpelgröße zusammen und gab keinen Laut mehr von sich. Ich auch nicht. Ich starrte in die Super-Spezial-Spaghetti-Schüssel und mir wurde schlecht. In einem ekligen Matsch kringelten sich dicke braune Regenwürmer.

»Vollkornspaghetti!«, verkündete Paps stolz. »An Gemüsesauce.«

Er schöpfte mir eine Riesenladung von diesem Gruselessen auf den Teller. »Hau rein, Indianer!«

Alles klar. Paps hatte sich eine Überdosis Dschungelcamp im Fernsehen angeguckt und testete mich auf meine Abenteuer-Tauglichkeit. Da musste ich durch! Richtige Kerle kennen keinen Schmerz. Sie stellen sich den Herausforderungen. Also drehte ich eine gehörige Portion Würmer auf die Gabel, schloss die Augen und stopfte mir das Zeug in den Mund. Dabei stellte ich mir vor, wie mir Paps nach bestandenem Test auf die Schulter klopfte und sagte: »Ich habe uns ein Zelt gekauft, Indianer. Nur für dich und mich.«

Der Gedanke an all die Dinge, die wir zusammen unternehmen würden, verlieh mir Superkräfte.

Während ich von verwegenen Ritten auf wilden Gewässern und waghalsigen Klettereien im Hochseilpark träumte, verschlang ich mehr Würmer als ein schwarzes Loch im Weltall.

»... Kinderhotel...«

»Hä?«, fragte ich.

»Wie bitte?«, korrigierte mich Paps.

Weil er vor lauter Wie bitte vergaß, seine Gabel zum Mund zu führen, hing sie planlos in der Luft. Ein verzweifelter Glibberwurm klammerte sich mit letzter Kraft an einer Zinke fest.

»Hä?«, wiederholte ich meine Frage und guckte fasziniert zu, wie der Wurm um sein Leben kämpfte.

»Das sagt man nicht«, belehrte mich Paps.

Seine Gabel hing noch immer in der Luft. Der Wurm gab auf. Er löste sich vom Zinken und stürzte in die Wurmkolonie auf Paps' Teller, wo er sich zum Sterben zusammenrollte. Paps bemerkte es nicht. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, mich streng anzugucken.

»Es ist unhöflich, Hä zu sagen«, erklärte er mir. »Man sagt Wie bitte.«

Was sollten denn diese pädagogischen Anwandlungen? Bis jetzt war's bei Paps immer genau deswegen so lustig gewesen, weil er keine hatte. Ich meine, pädagogische Anwandlungen. Die waren für Mama reserviert. Sie hatte jede Menge davon. So viele, dass ich unter meinen Lehrern den Ruf eines pädagogisch geschädigten Kindes hatte. Ich war nie so richtig dahintergekommen, was das genau bedeutete, aber etwas Gutes konnte es nicht sein.

Gut war jedoch, wie Paps mir diese Schädigungen auszutreiben versuchte. Im Winter rodelten wir in einem Höllenzahn steile Hänge hinunter. Im Sommer bretterten wir auf unseren Bikes mit Maximalkaracho über den Steg am Baggersee, hoben am Ende ab und flogen im hohen Bogen ins Wasser.

Wir taten all das, was richtige Kerle so tun. Natürlich durfte Mama nichts davon wissen. Wegen der pädagogischen Anwandlungen und ihren Folgen.

Kinderhotels und Vollkornspaghetti an Gemüsesauce passten nicht zu richtigen Kerlen. Irgendetwas stimmte hier nicht. Ganz und gar nicht.

Das letzte Mal, als etwas nicht stimmte, ließen sich meine Eltern scheiden. Zum Glück nicht so, wie Harrys Eltern.

Harrys Mutter hatte die Klamotten von Harrys Vater aus dem Fenster auf die Straße geworfen, und alle konnten sehen, dass er rote Boxershorts mit weißen Punkten trug. Allein deswegen wäre Harry vor Scham beinahe gestorben. Aber es kam noch dicker. Harrys Vater rächte sich. Er nagelte einen ausgeleierten BH von Harrys Mutter an ihre Eingangstür. Ein paar von Harrys Kumpeln sahen das Monsterding. Einer fotografierte es und stellte das Foto ins Internet. Ich glaube, alle, wirklich alle an meiner Schule haben es sich angeguckt. Seither bekam Harry immer rote Ohren, wenn man von seinen Eltern sprach.

Meine Eltern hatten es sehr viel besser gemacht als Harrys Eltern.

Fanden sie.

So richtig locker-prima-cool.

Fanden sie.

Für alle Beteiligten.

Fanden sie.

Ich fand's weder locker-prima noch cool und schon gar nicht für alle Beteiligten. Man trennte sich nicht, ohne die wichtigste Person in der Familie zu fragen.

Mich.

Ich hätte nämlich Nein gesagt.

Solche Erfahrungen machen vorsichtig.

Man entwickelt so was wie einen Spezialsensor für Dinge, die nicht stimmen. Deshalb bohrte ich diesmal lieber früh genug nach. Bevor wieder etwas passierte, das mir nicht gefiel.

»Was bitte meinst du mit Kinderhotel?«, fragte ich höflich, so wie Mama es mir beigebracht hatte.

Paps seufzte. »Das habe ich dir doch gerade erklärt. Hast du mir nicht zugehört?«

»Irgendwie schon«, antwortete ich. »Aber irgendwie auch nicht.«

Daran war die Monster-Wurmkolonie schuld, aber das sagte ich Paps nicht.

»Deine Mutter hat recht«, meinte er. »Du bist manchmal ganz schön unkonzentriert.«

Das sagte genau der Richtige! Wem rutschten denn hier die Würmer von der Gabel?

»So ein Kinderhotel ist eine gute Sache«, sagte Paps.

Ja, dachte ich. Wenn man ein kleines Kind ist.

Ich war kein kleines Kind mehr. Ich war zwölf. Na ja, erst in ein paar Wochen, aber in so wenigen, dass ich schon mal großzügig aufrundete.

»Denk doch nur, wie lustig ihr es haben werdet.«

Ihr? Was meinte er damit?

Der Wachhund in meinem Magen knurrte wieder. Diesmal nicht vor Hunger. Er wollte mich vor etwas warnen. Vor etwas furchtbar Schrecklichem. Ich hielt die Luft an.

Paps drehte ein paar neue Würmer auf die Gabel. »Die beiden Kleinen freuen sich auch schon riesig auf dich.«

Ach, so! Erleichtert atmete ich auf. Meine Sensoren gaben Entwarnung, der Wachhund in meinem Magen hörte auf zu knurren. Paps sprach vom Urlaub auf Menorca! Dort sollte ich nämlich im Sommer für zwei Wochen hin. Mit Mama, Johannes und den Zwillingen Laura und Anni. Den Nervensägen. Also mit den Leuten, die gerade dabei waren, sich in meine Familie zu drängen. Zum Glück ging's danach mit Paps ab in die Wildnis. Auf Abenteuerurlaub.

»Wir gehen nicht ins Kinderhotel«, klärte ich Paps auf. »Laura und Anni wollen ein Ferienhaus mit Pool und einem Zimmer ganz für sich alleine.«

Für sich alleine hieß vor allem: ohne mich. Was mich überhaupt nicht traurig machte.

Verwirrt schaute Paps mich an. »Ich spreche nicht von Menorca. Ich spreche von unserem Urlaub.«

Jetzt war ich verwirrt. »Wir fahren doch zum Campen«, sagte ich. »Was soll das dann mit dem Kinderhotel?«

Paps legte die Gabel auf den Teller und seufzte schon wieder. »Ach Leon!«

Geduldig erklärte er mir, was ich vor lauter Wür-mer-Reinschaufeln nicht gehört hatte. Das Campen war gestrichen. Das Schlauchbootfahren und der Hochseilpark auch. Genau wie das Biken, das Goldsuchen, die Höhlenexkursion und all die anderen coolen Dinge. Paps hatte sich nämlich verknallt. In irgendeine Birgit mit irgendwelchen kleinen Rotzlöffelkindern. Diese Birgit fand, es wäre eine wunderbare Idee, wenn wir alle zusammen ins Kinderhotel fahren würden, wo wir uns kennenlernen konnten. Paps fand das auch.

Ich nicht.

Nur: Mich hatte ja mal wieder keiner gefragt!

»In solchen Hotels haben sie tolle Spielplätze«, sagte Paps.

Ja. Für kleine Kinder. Ich war zwölf!

Mir war zum Heulen. Aber ich heulte nicht. Ich nahm es wie ein richtiger Kerl. Und dann fällte ich eine Entscheidung.

Ich würde weder nach Menorca fliegen noch ins Kinderhotel fahren. Ich war zu alt für Rotzlöffel-Nervensägen und doofen Kinderkram. Ich würde ...

Ich würde...

Also, ich würde...

Mir fiel nichts ein.

Gar nichts.

Ich dachte an all die Würmer in meinem Magen, die ich nur gegessen hatte, weil ich diesen dämlichen Abenteuertest bestehen wollte, der gar keiner war. Am liebsten hätte ich sie wieder ausgespuckt. Dass ich es nicht tat, verdankte Paps den pädagogischen Anwandlungen von Mama. Ich war einfach zu anständig dafür. Aber den Film, den er extra für uns auf DVD gekauft hatte, den guckte ich mir nicht an. Ich verzog mich in mein Zimmer. Total würdevoll. Das heißt, dass ich die Tür nicht hinter mir zuknallte und erst weinte, als ich allein war.

Die letzten beiden echten richtigen Kerle

Ich kroch in mein Schlaftipi mit den Tiermotiven an den Wänden. Stampfende Büffel, wilde Pferde, elegante Adler, die gesamte Tierwelt der Indianer. Sie verschwamm in einer Gewitterfront. Auf mein Kissen tropfte Wasser. Es kam nicht vom Himmel runter, sondern aus meinen Augen. Mann, ich flennte wie ein kleines Kind! Schnell zog ich mir die Decke über den Kopf, damit Paps mich nicht hören konnte.

Coole Typen weinen nicht. Richtige Kerle sowieso nicht. Nur ich weinte und weinte und weinte, bis ich in meinem Kissen schwimmen konnte. Ich meine, nicht in echt. Nur theoretisch. So theoretisch wie das Campen mit Paps. Auf jeden Fall war das Kissen ziemlich nass. Ich warf es aus dem Tipi, zog den Rotz hoch und schaute mich um.

Paps hatte sein Gästezimmer für mich zu einem Indianerlager gemacht. Mit Zelt, Marterpfahl und allem, was dazugehörte. Als ich klein war, hatte ich das toll gefunden. Viel besser als das Zimmer bei Mama, wo ich in einem normalen Bett mit bunter Elefantenbettwäsche schlafen musste. Jetzt kam es mir nur noch kindisch und albern vor. Sogar Elefantenbettwäsche war besser als dieser Kinderhotelkram hier.

Jawohl! Kinderhotelkram!

»Es reicht!«, sagte ich zu mir. Ich zerlegte das Tipi und schob den Marterpfahl hinter den Schrank.

Bestimmt hatte Paps die ganze Zeit gewusst, dass wir nie campen gehen würden! Und ich hatte geglaubt, er sei ein richtiger Kerl, der seine Versprechen hält. Aber das war er nicht! Richtige Kerle waren anders. Sie waren wie ... wie ... wie ... Onkel Mike! Mamas Bruder. Der coolste Typ, den ich kannte.

Onkel Mike wäre nie in ein Kinderhotel gefahren. Nicht einmal, als er noch ein Kind war. Manchmal fragte ich mich, ob er wohl adoptiert war. Er war viel jünger als Mama, und er tat lauter Dinge, die sie nie tun würde. Er zog Klamotten an, die sie mich nicht anziehen lassen würde. Er machte Musik, die sie nicht leiden konnte. Mit Texten, die sie mir am liebsten verboten hätte. Und er redete so, wie ich nicht reden durfte. Richtig abgefahren. Onkel Mike war nämlich ein Gängsta-Rapper. Zumindest war er das gewesen. Vor ein paar Jahren. Er hatte die Charts gestürmt und war im Fernsehen aufgetreten. Bis sein zweites Album floppte. Was er jetzt tat, darüber waren sich Mama und Paps nicht einig. Mama redete von einer kreativen Auszeit. Ging es nach Paps, war Onkel Mike ein arbeitsloser Träumer, der nicht gemerkt hatte, dass seine Zeit abgelaufen war. Es hörte sich bei beiden nicht besonders ehrlich an. Ich glaube, Mama hoffte, dass Onkel Mike sich endlich einen vernünftigen Job suchte. Und ich verdächtigte Paps, neidisch auf Onkel Mikes freies Leben zu sein.

Auf ihrer letzten Geburtstagsfeier hatte sich Mama Onkel Mike geschnappt und in die Küche gezogen. Sie dachte, sie wäre alleine mit ihm. Aber ich war auch dort, weil ich heimlich schon mal von der Geburtstagstorte genascht hatte. Jetzt versteckte ich mich zwischen der offenen Tür und der Wand und hoffte, dass sie mich nicht sehen konnten.

»Du gehst zu weit, Michi«, zischte sie.

Er steckte seinen Finger in die Schokocreme, zog ihn raus und leckte ihn genüsslich ab. »Nun bleib doch mal locker, Schwesterherz!«

»Locker?« Mama quietschte wie eine Fahrradkette, die man dringend ölen sollte. »Du hast gerade Großonkel Hubert einen reichen alten Sack genannt.«

Onkel Mike tunkte den Finger erneut in die Creme. »Und?«, fragte er. »Genau das ist er doch!«

Mama holte tief Luft, um ihre pädagogischen Anwandlungen auch an Onkel Mike auszulassen. Bevor sie etwas sagen konnte, war sein Finger samt Schokocreme in ihrem Mund.

»mimm ofot en iner a ...«

Onkel Mike lachte.

Und dann geschah etwas total Verrücktes. Mama leckte die Creme von seinem Finger. Danach tauchte sie ihren Finger auch in die Schüssel und strich ihn über Onkel Mikes Nase. Er rächte sich mit einem Tupfer auf ihre Wange. Dabei grinste er die ganze Zeit. Mama gluckste und gackerte. Ich brauchte eine Weile, bis ich begriff, warum sie so komische Geräusche machte. Es war ihre Art, laut zu lachen.

Wenn ich mir so was geleistet hätte, von wegen Finger in die Schüssel und Creme herumschmieren, hätte es doppelten Hausarrest mit viermal Staubsaugen gegeben. Mindestens. Aber das fiel mir erst viel später ein. In dem Moment, als Mama gackerte, hörte sie sich einfach nur glücklich an. Das war ein richtig gutes Gefühl, nach all den Streitereien mit Paps.

»Muss ich noch lange warten?«, rief Großonkel Hubert aus dem Wohnzimmer.

Mama hörte sofort auf zu gackern. »Komme gleich!«, rief sie und wischte sich den Tupfer von der Wange. Schade. Sie hatte damit ein wenig wie eine Indianerin auf Kriegspfad ausgesehen. Hätte mir gefallen, wenn sie Großonkel Hubert skalpiert hätte. Oder ihm wenigstens seine schmierigen Haarsträhnen abgeschnitten hätte. Großonkel Hubert war nämlich nicht nur ein reicher alter Sack. Er war ein reicher alter Kotzbrocken-Sack, der meinte, man müsse nett zu ihm sein, bloß weil er reich war.

Mama wurde wieder zu Mama. Sie huschte zurück ins Wohnzimmer und bot Großonkel Hubert einen Nachschlag an.

Das Grinsen verschwand aus Onkel Mikes Gesicht. Als hätte es jemand ausgeknipst. Er schloss die Küchentür, setzte sich an den Tisch und starrte ins Leere.

Und genau da war ich. In diesem unendlich Leeren, in das Onkel Mike starrte.

»Was tust du denn hier?«, fragte er.

Wie Mama vorhin kam ich nicht dazu, etwas zu sagen. Er war schneller. »Du hast von der Torte genascht, stimmt's?«

»Nö«, log ich automatisch. Ich meine, wer gibt schon freiwillig zu, heimlich genascht zu haben.

Andererseits ... Mama und Onkel Mike hatten es auch getan. Wieso sollte ich also lügen?

»Klar doch«, korrigierte ich mich.

Das Grinsen klebte wieder in Onkel Mikes Gesicht. Ein bisschen schief, was ihn ziemlich verwegen aussehen ließ.

»Bist ein cooler Typ«, sagte er. »Genau wie deine Mutter früher.«

Irgendwie musste er auf eine falsche Erinnerungs-Umlaufbahn geraten sein. Wie eine Rakete, die statt um den Mond um einen Haufen Satellitenschrott kreist.

»Mama war noch nie cool«, klärte ich ihn auf. »Mama ist vernünftig. Und organisiert. Und ...«

»Und?«

»Pädagogisch drauf.«

Ich konnte sehen, wie die Umlaufbahn Onkel Mike ausspuckte und seine Erinnerungen beim Eintritt in die Wirklichkeit verglühten. Ich konnte auch sehen, wie traurig ihn das machte.

Schon mal einen traurigen Gängsta-Rapper gesehen? Ist kein schöner Anblick, echt nicht. Schlimmer als Geranien, die man zehn Wochen nicht gegossen hat. Ich weiß, wie das aussieht, weil Oma das mal passiert ist. War nichts mehr zu retten.

Onkel Mike war natürlich keine tote Geranie, er sah nur so aus. Hätte ihn seine Konkurrenz in diesem Zustand vor die Augen bekommen, wäre auf der Stelle das große Dissen losgegangen.

»Bist du okay?«, fragte ich.

Zugegeben, das war eine selten dämliche Frage, aber ich versuchte, erwachsen zu klingen, und Erwachsene stellen in solchen Situationen nun mal solche dämlichen Fragen.

»Nein!« Aus Onkel Mikes Mund kam ein trauriger Seufzer. »Mir geht's beschissen.«

Ich war tief beeindruckt, denn ich hatte gelernt, Fragen dieser Art mit einem Ja zu beantworten. Weil bei einem Nein das große Nachbohren begann. Sämtliche W-Fragen wurden ausgepackt. Was? Warum? Wieso? Wer .... Bis einem der Schädel brummte und man zu allem Elend auch noch Kopfweh bekam. Wer will schon Kopfweh, wenn es ihm sowieso schon beschissen geht? Ich nicht. Onkel Mike bestimmt auch nicht. Er war nicht okay. Das konnte ich sehen und er hatte es mir soeben bestätigt. Damit war alles gesagt. Dachte ich.

»Glaub mir. Sie war mal cool.« Onkel Mike seufzte schon wieder. »Vielleicht hat sie ja recht, und sie ist vernünftig geworden und ich sollte das auch werden.«

NEIN, wollte ich schreien, kam aber nicht dazu. Denn Onkel Mike ist Rapper, und Rapper geben Gas, wenn sie erst mal losgelegt haben. Auch traurige, geranientote Rapper. Die ganz besonders. Ich hatte keine Zeit, mich anzuschnallen, nicht mal in Gedanken, um einigermaßen gesichert durch den Wortschwall zu kommen, der sich über mich ergoss.

»Weißt du, sie hat immer alles im Griff. Deine Mutter. Meine große Schwester. Gut, das mit deinem Vater vielleicht nicht, das ist schiefgegangen. Aber schau dich an, du bist richtig toll, vielleicht etwas zu anständig, dafür schwer in Ordnung. Du wirst einen guten Schulabschluss hinlegen und was Interessantes studieren. Ich hab geschmissen. Wie alle immer gesagt haben. Okay, ich war ein Star. Ich war im Fernsehen. Hatte die heißesten Chicks. Mann, ich war echt wer. Gängsta-X. Nummer eins der Charts. Und jetzt? Ist der verdammte Gängsta-Rap out, so was von out, mein Label will ein neues Album, keinen Gängsta-Rap, was Neues, eine Nummer eins, irgendwas genial Abgefahrenes. Bis Herbst. Verdammt. Ich habe keinen Plan, was die wollen. Schon gar keinen, was ich machen soll. Verstehst du? Null Plan. Ich weiß nur, dass die mir im Nacken sitzen. Und dass ich weg vom Fenster bin, wenn ich nicht liefere. Kein Erfolg, keine Kohle, keine heißen Frauen.«

Endlich holte er Luft.

»Gängsta-Rap ist voll out«, fasste ich zusammen, was ich von all dem Geschwallten verstanden hatte. Das war das Falsche. Onkel Mike sah noch toter aus als eine tote Geranie.

»Ich habe mir ein Haus in den Bergen gemietet«, sagte er. »Weit weg von allem.«

In den Bergen? Weit weg von allem?

Es gab nur einen Grund, warum ein Gängsta-Rapper so etwas tun sollte. »Um dich umzubringen?«, fragte ich.

Onkel Mike schaute mich an, als sei ich ein grünes Männchen von einem anderen Planeten. Dann lachte er schallend los. Von wegen tote Geranie! Den Typ hatte gerade jemand gedüngt. Mit Super-Spezial-Dünger. »Umbringen? Wie kommst du denn darauf?«

Ich wollte ihm etwas über gestorbene Geranien erzählen, aber er war schneller.

»Ich werde einen neuen Trend setzen. Die Musik neu erfinden! In der Abgeschiedenheit der Berge, wo der Mann auf sein wahres Ich zurückgeworfen ist.«

Also, das verstand ich. Alles. Das mit dem neuen Trend. Noch mehr das mit dem wahren Ich. Denn das ist es, was einen wirklich richtigen Kerl ausmacht. Beinahe hätte ich Onkel Mike umarmt. Einmal dafür, dass er sich nicht umbringen wollte, und einmal dafür, dass er so war, wie ich sein wollte.

»Du bist ein echter richtiger Kerl«, sagte ich.

»Ich bin ein echter richtiger Kerl«, antwortete Onkel Mike. Er klang dabei wie unser Religionslehrer, wenn er von der Erleuchtung spricht. »Das ist es! Wir beide sind die letzten echten richtigen Kerle! Leon, lass uns Blutsbruderschaft schließen.«

Exakt das taten wir. Wir schnitten uns in die Finger. Natürlich kam Mama ausgerechnet in dem Moment in die Küche zurück, als sich unser Blut vermischte und ein Teil davon auf den Tisch tropfte. Sie warf Onkel Mike auf der Stelle raus und schickte mich ins Zimmer. Ohne Geburtstagstorte. Mit der Androhung auf doppelten Hausarrest und vierfaches Staubsaugen.

Zwei Wochen später erhielt ich einen Brief. In einem dünnen Umschlag. Mit einem blau-weiß-roten Rand. Innen drin war eine Postkarte mit Bergen und einem kleinen See. Fast wie bei Heidi, nur noch ein bisschen kitschiger. Vorne drauf stand Grüße aus dem Alpenkaff. In einer Handschrift, für die mich meine Deutschlehrerin dazu verdonnert hätte, hundertmal den Satz Ich muss schöner schreiben zu schreiben. Ich hatte keine Ahnung, wer mir so was Abgefahrenes schickte. Bis ich die Karte umdrehte. Der Text bestand nur aus einer Adresse. Ohne Namen. Das war nicht nötig. Der blutige Fingerabdruck konnte nur von einem stammen: Onkel Mike.