Red Rage - Alice Gabathuler - E-Book

Red Rage E-Book

Alice Gabathuler

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Beschreibung

LOST SOULS LTD. - So nennt sich die Untergrundorganisation um den jungen Fotografen Ayden, den Rockstar Nathan, den charmanten Verwandlungskünstler Raix und Kata mit den eisblauen Augen. Sie alle haben als Opfer schwerer Verbrechen überlebt und dabei einen Teil ihrer Seele verloren. Nun verfolgen sie nur ein Ziel: Jugendliche in Gefahr aufspüren und versuchen, sie zu retten. Dabei kämpfen sie gegen Entführer, Mörder, das organisierte Verbrechen und gegen die Dämonen ihrer Vergangenheit. EIN LEERER WAGEN AUF EINER KLIPPE. Aydens Jacke auf dem Rücksitz, Geld und Ausweis in den Taschen. Im CD-Laufwerk das dritte Album von Black Rain, der Lautstärkeregler voll aufgedreht. Das dazugehörige Booklet aufgeschlagen beim Titel Suicide Embrace, wie ein Abschiedsbrief. Kata und Nathan glauben nicht an Selbstmord. Und dann wird in einer Garage ein Toter gefunden. Das ist der Beginn eines Rachefeldzugs. Sein Ziel: Lost Souls Ltd. zu vernichten.

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Seitenzahl: 383

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Für Urs. Danke.

Thanks to Dennis Mungo and Robert Frick

for the Song »Feel the Fire«.

Cause it’s burning in our hearts.

Feel the Fire

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kata hatte sich jede einzelne Kurve und jede einzelne Zahl auf dem Monitor erklären lassen. Sie wusste, dass Joseph stabil war und überleben würde. Bis die Ärzte ihn aus dem künstlichen Koma holten, in das sie ihn versetzt hatten, sprachen jedoch allein die Kurven und Zahlen auf den Monitoren für ihn. Und denen traute Kata nicht. Zu tief saß die Erinnerung an die schrecklichen Augenblicke im Operationssaal der Mountain Clinic Valgronda. Zwischen ihren stundenlangen Besuchen bei Joseph verkroch sie sich im Appartement, das Nathan gemietet hatte, eine in die Jahre gekommene, seelenlose Wohnung in einem mehrstöckigen Gebäude in der Nähe der Klinik. Sie schlief in einem Zimmer, das nicht viel größer war als ein Besenschrank, Nathan und DeeDee teilten sich das andere. Längst roch die Luft abgestanden, stapelten sich leere Kartons von Fertigessen zwischen Flaschen, Tassen und leeren Milchtüten. An den Wänden hingen Notizzettel, Fotos und Ausdrucke von Zeitungsartikeln. Es war die emotionslose Zusammenfassung dessen, was seit dem Brand und Aydens Verschwinden geschehen war. Zahlen und Fakten, wie auf dem Monitor in der Klinik. Was sie in den Herzen und Köpfen auslösten, lag unsichtbar im Raum, zeichnete sich auf den Gesichtern ab und spiegelte sich in den Augen, die stets aufs Neue versuchten, einen Sinn darin zu finden. Allein die Bilder von Aydens altem Honda nahmen eine ganze Wand für sich ein.

Verlassen stand der Wagen auf der Klippe, über die Rose in den Tod gerissen worden war, aufgenommen aus verschiedenen Perspektiven. Ein einsamer Fremdkörper in einer grauen Landschaft, hinter der sich ein graues Meer bis an den Horizont erstreckte. Einige der Fotos waren körnige Vergrößerungen mit herangezoomten Details, was ihre unheimliche Wirkung noch verstärkte. Aydens Jacke auf dem Rücksitz, achtlos hingeworfen, Geld und Ausweise in den Taschen. Eine leere Whiskyflasche auf dem fleckigen Beifahrersitz. Im CD-Fach das dritte Album von Black Rain, der Lautstärkeregler voll aufgedreht. Das dazugehörige Booklet eingeklemmt unter dem Scheibenwischer, aufgeschlagen beim Text von Suicide Embrace. Wie ein Abschiedsbrief. Obwohl die lokale Polizei keine Leiche gefunden hatte, ging sie davon aus, dass Ayden sich das Leben genommen hatte. Kata glaubte keine Sekunde lang an diese Theorie.

Zwei Rosen hatte John ihr geschickt. Zwei Rosen ohne Köpfe. Eine für Ayden, eine für sie. Den Gedanken, John könnte Ayden über die Klippe gestoßen haben, drängte Kata zurück. Aber in der Nacht, da kroch er heraus aus seiner Verbannung und quälte sie mit unsäglichen Bildern. Kata wusste, dass John genau das wollte. Er ließ sie büßen, indem er Angst und Zweifel säte. Ayden war sein Pfand, die Zeit seine Waffe und die Ungewissheit seine Strategie, mit der er Kata zermürbte.

Sam traf einen Tag nach Kata in Plymouth ein und fing sie nach ihrem Besuch bei Joseph ab. »Ayden hat sich nicht umgebracht«, kam er direkt auf den Punkt. »Was läuft hier, Kata? Wo ist er?«

Es war Zeit, Sam die ganze Wahrheit anzuvertrauen. »Ich möchte Nathan dabeihaben, wenn ich dir das erzähle«, sagte sie.

Sams Antwort bestand aus einem tiefen Seufzer, als ahnte er, was auf ihn zukommen würde.

Sie trafen sich in einem Pub, der seine besten Tage längst hinter sich hatte. Kata berichtete Sam von den Rosen. Und sie gestand ihm, was sie in der Nacht von John Owens Verschwinden getan hatte. Er hörte zu, ohne sie zu unterbrechen, doch sie sah ihm an, wie sehr er sich zusammennehmen musste, sie nicht mit Vorwürfen zu überhäufen.

»Ich fasse dann mal zusammen«, sagte er gefährlich leise, nachdem sie fertig geredet hatte. »Du hast Owen mit dir in den Abgrund gerissen und ihn dann in die Tiefe getreten. Du musstest also von der ersten Rose an damit rechnen, dass er leben und sich an dir rächen könnte. Trotzdem hast du Burton nicht benachrichtigt.«

»Mein Leben, meine Entscheidung«, erwiderte Kata.

»Jetzt ist es auch Aydens Leben.«

Jedes einzelne Wort war ein Pfeil mitten in ihr Schuldgefühl. Am meisten weh jedoch tat das, was Sam nicht aussprach, das ihm aber deutlich ins Gesicht geschrieben stand. Warum hast du mir nichts gesagt?

Kata zog sich in ihre innere Kälte zurück, den einzigen Ort, an dem sie ihren Gefühlen entkam. »Du wolltest wissen, was läuft, Sam.«

Er brauchte eine Weile, bis er sich gesammelt hatte. Seine Antwort war so unerbittlich wie ihre. »Ich erwarte, dass ihr Burton einschaltet. Ihr habt einen Tag Zeit.«

»Nein«, widersprach Nathan, der schweigend zugehört hatte.

Sams Augen wurden dunkel vor Zorn. Noch nie hatte Kata ihn so wütend gesehen.

»Was wollt ihr, Nate? Owen im Alleingang erledigen? Du weißt genau, was dabei herauskommt. Oder muss ich dich an Jenkinson erinnern?«

Nathan öffnete den Mund, aber Sam gab ihm keine Gelegenheit zu antworten. »Es geht um Ayden. Und damit habt ihr mich am Hals. Mich und die Polizei!«

»Darf ich jetzt auch was sagen?«, fragte Nathan.

»Wenn es sein muss.«

»Kein Alleingang, kein Privatkrieg, Sam.« Nathan stützte seine Arme auf den Tisch und beugte sich vor. »Wir wissen nicht, was Owen plant. Für Ayden könnte es gefährlich werden, wenn wir uns an die Polizei wenden. Mach du es. Gib Burton die Informationen weiter, die wir dir anvertraut haben. Alles, bis auf das, was Kata getan hat. Und jetzt hau mir eine runter, denn da drüben beim Fenster sitzt seit fünf Minuten ein Typ, der nicht hierher gehört.« Ohne Vorwarnung fegte er Sams Glas vom Tisch, begleitet von einem lauten, gehässigen »Misch dich nicht in unsere privaten Angelegenheiten!«.

Sam starrte ihn fassungslos an. Dann holte er genauso unvermittelt aus wie vorher Nathan und schlug ihm die flache Hand ins Gesicht. Das klatschende Geräusch war im ganzen Pub zu hören. In der darauffolgenden Stille verließ Sam wortlos das Lokal.

Nathan rieb sich die Wange. »Sei froh, dass Sam keine Frauen schlägt!«

Sam hatte sie nicht geschlagen. Das hätte Kata ausgehalten. Den Blick, den er ihr beim Hinausgehen zugeworfen hatte, nicht.

Zwei Tage nach dem Treffen mit Sam fuhr Burton mit einer kleinen Einheit in Plymouth ein. »Wir unterstützen die lokale Polizei in ihren Ermittlungen, weil Ayden Morgans Name immer wieder im Zusammenhang mit verschiedenen Verbrechen aufgetaucht ist und wir deshalb eine lückenlose Aufklärung darüber brauchen, was vor und nach dem Brand passiert ist«, erklärte er in einer kurzfristig einberufenen Pressekonferenz.

Seine Worte fielen bei sämtlichen Medien auf fruchtbaren Boden. Hatten sie anfangs den Grund für Aydens Selbstmord in den schier unerträglichen Schicksalsschlägen gesucht, die ihm widerfahren waren, verlagerten sie nun ihre Spekulationen zu einem möglichen Verschulden des Brandes, bei dem Joseph beinahe umgekommen war. Die Mutmaßungen arteten in wilde Theorien aus.

Immer noch keine Leiche gefunden! Ist Ayden Morgan alias Tyler Carlton überhaupt tot?, titelte die Daily, um in derselben Ausgabe weiteres Öl ins Feuer zu gießen. Rockstar kassiert Prügel von Privatermittler. Besteht ein Zusammenhang mit dem Verschwinden von Tyler Carlton?

Der Mann im Pub war keiner von John Owens Leuten gewesen, sondern ein Journalist der Daily, der Nathan erkannt hatte. In einem gut recherchierten Artikel leuchtete er die gemeinsame Vergangenheit von Nathan, Ayden und Kata aus und brachte damit eine Lawine ins Rollen. Die Medienmeute heftete sich mit der ihr eigenen Hartnäckigkeit an Kata und Nathan und überbot sich gegenseitig auf der Suche nach der verkaufsträchtigsten Schlagzeile. Mitten in dieser aufgeheizten Stimmung orderte Burton die beiden zu sich.

»Sam hat mich informiert. Es hat einige Überzeugungsarbeit gebraucht, meinen Vorgesetzten das Einverständnis abzuringen, wegen eines einfachen Brandes mit anschließendem Suizid eine Spezialeinheit hierher zu schicken.« Er holte tief Luft, die er langsam wieder ausatmete, bevor er weitersprach. »Die Sache läuft gerade gewaltig aus dem Ruder. Ihnen zu befehlen, sich herauszuhalten, wäre absolut sinnlos. Aber wehe, Sie kommen mir in die Quere oder sabotieren meine Arbeit! Und wagen Sie es nicht, mir noch einmal etwas zu verheimlichen! Klar?«

Er legte eine kurze Pause ein, in der Kata und Nathan Gelegenheit gehabt hätten, etwas zu erwidern. Keiner von ihnen ging auf das unausgesprochene Angebot ein. Dass sie kurz nach ihrer Ankunft in Plymouth auf der Suche nach Informationen bei Henry eingebrochen waren, brauchte Burton nicht zu wissen. Es hätte auch nicht geholfen, denn Henrys Büro war völlig leergeräumt gewesen.

»Gut«, fuhr der Ermittler gereizt fort. »Dann kläre ich Sie jetzt über die Konsequenzen auf, die Ihnen drohen, falls Sie sich nicht an die Regeln halten. Wenn Sie oder irgendein anderes Mitglied Ihrer Organisation mit irgendwelchen Aktionen auch nur einen Millimeter gegen die Gesetze verstoßen, verhafte ich Sie. Dasselbe gilt für jegliche Behinderungen meiner Arbeit. Sollte ich Sie dabei erwischen, wie Sie mir etwas vorenthalten, kann ich Sie zwar dafür nicht einsperren, aber ich kann Ihnen die Hölle heißmachen. Verstanden?«

»Gilt das auch umgekehrt?«, fragte Nathan. »Ich meine, das mit dem Informationsaustausch?«

»Strapazieren Sie nicht meine Geduld, MacArran«, blaffte ihn Burton an. »Das ist mein Fall. Wenn Ayden Morgan noch lebt, finde ich ihn. Wenn er umgebracht wurde, finde ich seinen Mörder. Sollten sich John Owen oder Ayden Morgan bei Ihnen melden, kontaktieren Sie mich über eines dieser Mobiltelefone.« Er öffnete seine Schublade und zog zwei Handys heraus. »Die Geräte mögen altmodisch aussehen, aber sie haben Funktionen, die Ihnen Ihren Hintern retten könnten. Sie rufen damit nur mich an. Sonst niemanden. Und ausschließlich von Orten aus, die abhörsicher sind. Ist Ihre Wohnung das?«

»Ja«, antwortete Nathan.

»Ich nehme an, Mr Dalvin Doodrick ist dafür zuständig.«

»Ist er.«

Burton wandte sich an Kata. »Ich habe keine Ahnung, weshalb Sie mir nichts von den Rosen erzählt haben, aber es ist noch nicht zu spät für Personenschutz.«

»Genau deshalb habe ich die Rosen nicht erwähnt«, entgegnete sie kalt. »Weil ich keinen Personenschutz will. Mein Leben gehört mir.«

»Das ist eine seltsame Einstellung, wenn man Todesdrohungen erhält.«

»Was würden Sie denn tun? Mich wegsperren, bis Sie John gefunden haben? Und wenn nie? Was dann?«

Burton wich Katas Blick aus. »Mit dem Verschwinden von Ayden Morgen hat sich die Lage geändert.«

»Das hat sie.«

»Sie werden sich trotzdem …«

»… aus Ihren Ermittlungen heraushalten«, beendete Kata seinen angefangen Satz.

»MacArran?«

»Sie haben Kata gehört. Was sie sagt, gilt auch für mich.«

»Bleibt Sam«, meinte Burton.

Kata wusste, worauf er anspielte. Sam und Burton belieferten sich gegenseitig mit Informationen und waren privat längst zu Freunden geworden. Gleichzeitig verband Sam auch eine tiefe Freundschaft mit Ayden, die er im Laufe der letzten Monate auf Kata und Nathan ausgeweitet hatte.

»Er wird sich entscheiden müssen, auf welche Seite er sich öffentlich stellt«, sagte Nathan.

»Ja.« Über Burtons Gesicht schob sich ein grimmiger Zug. »Was die Öffentlichkeit betrifft: Offiziell sind Sie heute vorgeladen, um über Ayden Morgan und Ihre Beziehung zu ihm Auskunft zu geben. So werden wir das der Presse gegenüber kommunizieren.«

»Arrogantes Arschloch, dieser Typ!«, zischte Nathan Kata auf dem Weg aus dem Gebäude hörbar zu.

Zwei Polizeibeamte drehten sich nach ihnen um.

Rockstar legt sich auch mit der Polizei an, stand am nächsten Tag in der Daily.

»Wir sollten untertauchen«, schlug Nathan vor.

Kata weigerte sich. Ayden wäre nicht von Josephs Seite gewichen. Also blieb sie an seiner Stelle. Um etwas mehr Ruhe zu haben, sorgte Nathan dafür, dass Joseph in eine private Klinik am Rand der Stadt verlegt wurde. Wie es ihm gelang, Kata zu einer Verwandten von Joseph zu machen und ihr damit weitgehende Informationsrechte und freie Besuchszeiten zu verschaffen, blieb sein Geheimnis. DeeDee checkte das Zimmer jeden Tag auf versteckte Kameras und Mikrofone, vor der Tür wachte einer von Burtons Beamten. Klinikeigene Sicherheitsangestellte hielten die Presse draußen. Gegen die Medienleute vor dem Gebäude, die sich an jeden hängten, der etwas mit dem Fall zu tun hatte, konnten weder sie noch die Polizei etwas unternehmen.

Schweigend und äußerlich emotionslos kämpfte sich Kata durch Menschen, die ihr Fragen zuriefen oder sie fotografierten. Sie zwang den Stahl in ihre Augen, die Härte in ihr Gesicht, die Stärke in ihren Körper. Selbst Nathan und DeeDee gegenüber verbarg sie ihre Gefühle. Nur wenn sie alleine war, presste sie ihre Hände gegen die Brust, in der der Schmerz so unvorstellbar stark wütete, dass sie glaubte, er zerreiße sie, wenn sie ihn nicht mit aller Kraft zurückdrängte. Es war derselbe Schmerz, den sie beim Anblick von Raix’ leblosem Körper empfunden hatte, nur löste sich dieser Schmerz nicht auf.

Nach acht Tagen ohne jeden Hinweis und ohne jede Spur auf Aydens Verbleib hielt Kata die Ungewissheit nicht mehr aus. Sie fuhr mit dem Lift ins oberste Stockwerk des Wohnblocks, stieg von dort über die Feuerleiter auf das Dach und stellte sich vor, wie es wäre, sich einfach ins Leere fallen zu lassen. »Damit tötest du nicht nur dich«, hörte sie Nathans raue Stimme hinter sich. »Damit tötest du auch Ayden.«

Kata drehte sich zu ihm um. »Wenn er noch lebt. Es sind jetzt acht Tage vergangen ohne eine Nachricht oder einen Hinweis darauf, wo er sein könnte.«

»Er lebt. Er ist stark.«

»Auch starke Menschen können brechen.«

»Nur wenn sie nichts mehr haben, wofür es sich zu leben lohnt. Ayden hat dich. Er wird kämpfen.«

»Und wenn er das nicht mehr kann?« Kata presste ihre Hand auf den Mund.

»Ayden ist nicht tot.« Nathan trat einen Schritt auf sie zu. »Daran darfst du keine Sekunde glauben! Hörst du? Keine Sekunde!«

»Was macht dich so sicher?«

»Als ich im Eis eingebrochen bin, war ich bereit zu sterben«, antwortete er leise. »Ich wäre unten geblieben, aber Zoe hat mich hochgeschickt. Sie muss gewusst haben, dass ich hier oben noch nicht fertig bin.« Er räusperte sich. »Darum bin ich so sicher.«

Kata war machtlos gegen das Schluchzen, das sie schüttelte. Nathan zog sie an sich und hielt sie fest. Er zitterte genauso heftig wie sie.

Am zehnten Tag nach Aydens Verschwinden klopfte es an die Tür von Josephs Krankenzimmer. Äußerlich ruhig und gefasst betrat Sam den Raum, doch Kata konnte er nicht täuschen. Unter seinen Augen lagen dunkle Ringe, seine Haut wirkte grau und eingefallen. In Kata stieg eine furchtbare Ahnung auf.

»Was ist, Sam«, fragte sie tonlos.

Er griff nach dem zweiten Besucherstuhl und setzte sich. »Die Polizei hat einen Toten gefunden.«

Kata wurde schwindlig. Während Sams Gesicht sich vor ihr auflöste, versuchte sie sich zu erinnern, wie man atmet.

»Es ist nicht Ayden, Kata. Hörst du? Es ist nicht Ayden.«

Kata nickte. Nicht Ayden. Sie rang nach Luft. Nicht Ayden.

Das Wasser sammelte sich in den kleinen Zwischenräumen der steinernen Mauern und rann von dort auf den Boden. Erst nur in dünnen Rinnsalen, doch als das Grollen des Donners näher kam und das Gewitter heftiger wurde, strömte es in das Verlies, weichte den Boden auf, füllte erst die Unebenheiten zu Pfützen auf und verwandelte dann die ganze Zelle in eine stinkende Kloake. Ayden rettete die letzten verbliebenen Essensreste in seine Hosentaschen. Eine halbe Packung Chips. Ein zu zwei Dritteln aufgegessener Schokoriegel. Nach der langen Gefangenschaft kostete ihn die Aktion seine ganze Kraft. Zittrig wie ein alter Mann stützte er sich mit den Händen gegen die Mauer und wartete auf das Nachlassen des Schwindels, der ihn mittlerweile bei jeder Bewegung erfasste. An die zwei angegammelten Brotscheiben erinnerte er sich erst, als es zu spät war. Bestimmt schwammen sie längst aufgeweicht in der Brühe zwischen seinen Füßen. Sehen konnte er sie nicht, nur fühlen und riechen.

Das Verlies hatte keine Fenster. Wände und Decke waren aus Stein, die verriegelte Tür über den zwei Stufen aus hartem, metallbeschlagenem Holz, der Boden aus Lehm. Ayden hatte jeden Quadratzentimeter abgetastet. Es gab keine Pritsche, auf die er sich legen konnte, keine Decke gegen die feuchte Kälte, keinen Eimer, wenn er mal musste. Nur ein paar wenige Nahrungsmittel. Fünf Flaschen mit Wasser. Und Zeit. Sehr viel Zeit.

Anfangs war Ayden hin und her gegangen. Klaubte scharfkantige Steine aus der Mauer und versuchte, das Loch zu vergrößern. Warf sich gegen die Tür. Tastete mit blutig gekratzten Fingern nach Ritzen zwischen Holz und Stein. Er teilte sich das Essen in Kleinstportionen ein, trank das Wasser, das schon nach kurzer Zeit abgestanden schmeckte, nur schluckweise. Um so wenig Kraft und Energie wie möglich zu verbrauchen, hätte er sich hinsetzen sollen, doch er fror. Also ging er wieder bis zur Erschöpfung hin und her. Schlief im Sitzen. Der Boden war hart, eine dünne oberste Schicht aufgeweicht und glitschig. Feuchte Luft drang durch die Hohlräume der Steine. Irgendwann kam der Husten, dann das Fieber. Der Husten schüttelte Ayden durch, das Fieber ließ ihn abwechselnd schwitzen und frieren. Wenn er für eine Weile wegdämmerte, quälten ihn Albträume. Joseph starb in einem flammenden Feuer. Kata stand neben John Owen auf der Klippe. Und ein kleiner Junge verhungerte und verdurstete langsam in einer Zelle.

Fünf kleine Tüten Chips, fünf Schokoriegel, fünf Scheiben Brot und fünf Flaschen Wasser waren alles, was sie hatten, er und der kleine Junge. Zehn Tage lang hatte der Junge ausgehalten. Zehn Tage. Jeder davon eine Ewigkeit, jeder ohne Anfang und Ende, denn im Finsteren gab es keinen Tag und keine Nacht.

Die Bartstoppeln wuchsen, die Jeans wurde lose, die Träume hörten auf. Wenn Ayden jetzt wegdriftete, dann nicht in den Schlaf, sondern in die Bewusstlosigkeit. War er wach, kämpfte er gegen das fiebrige Durcheinander im Kopf. Es gab Menschen, die nach ihm suchten. Zehn Tage hatten sie Zeit, danach würde etwas passieren.

Das Donnergrollen verzog sich. Nicht jedoch das Wasser in der Zelle. Aydens Ellbogen knickten ein, seine Hände, mit denen er sich an die Wand stützte, glitten ab. Die Beine, völlig gefühllos von der Kälte, die von seinen Füßen ausging, trugen ihn nicht länger. Adyen sank in die Knie. Er sammelte alle verbliebenen Kräfte und versuchte aufzustehen. Es gelang ihm nicht. Mit tauben Fingern zog er die Tüte aus der Hosentasche. Essen. Er musste etwas essen. Auch wenn er fast nichts mehr hatte. Die weichen Chips schmeckten nach der schmutzigen Brühe, in der er kniete. Trotzdem würgte Ayden sie hinunter. Nach den ersten paar Bissen wurde ihm schlecht. Sein Magen zog sich zusammen. Die Tüte glitt aus seiner Hand. Er tastete nach der Flasche mit dem Wasser. Der letzten. Er fand sie nicht. Mit der Zunge fing er das Nass auf, das aus den Steinen rann. Das Dunkel um ihn herum begann sich zu drehen. Auf allen vieren kroch er zu den Stufen bei der Tür. Erneut krampfte sich sein Magen zusammen. Bittere Gallenflüssigkeit schoss durch die Speiseröhre nach oben. Ayden spuckte sie aus. Sein Kopf sackte nach vorn. »Fick dich, John«, keuchte er.

Weit hinten, am Ende eines langen Tunnels, hörte er Stimmen. Sie kamen näher. Ihn holen. Panik ergriff Ayden. Sie gab ihm die Kraft, aufzustehen und sich in eine Ecke zu flüchten. Eine sinnlose Aktion. Es gab kein Entkommen. Metallenes Klicken hallte durch Aydens Kopf. Ihm folgte wie ein langes Echo ein unerträgliches Quietschen. Licht fiel in den Raum. Nach einer Ewigkeit im Dunkeln schmerzten Aydens Augen fast so sehr wie der Kopf. Er blinzelte. Unter der offenen Tür stand ein riesiger schwarzer Schatten.

»Scheiße, was für ein Gestank!« Die Stimme gellte in Aydens Ohren. »Steh auf!«

Der Mann hätte Ayden genauso gut befehlen können, die Flügel auszubreiten und zu fliegen. Es war unmöglich.

»Holt ihn raus!«

Der kalte, gefühllose Befehl schnitt sich tief in Aydens Erinnerung. Zurück an den Tag in der Lagerhalle, als zwei Schläger ihn krankenhausreif geprügelt hatten, während ein Mann mit der Ausstrahlung und den Augen eines Wolfs ihm sagte, was er von ihm erwartete. Dieser Mann war hier! Noch konnte Ayden ihn nicht sehen, sondern nur hören, doch der Wolf war da, draußen vor der Tür.

Unter leisem Fluchen betraten zwei Männer das Verlies. Sie zerrten Ayden hoch. Kraftlos hing er zwischen ihnen, Hose und Schuhe durchweicht und mit einer schmierigen Lehmschicht überzogen, auf dem Pullover sein Erbrochenes, die Haare verfilzt, zwischen den Bartstoppeln eine juckende, entzündete Schürfwunde. Die Männer schleppten ihn in den steinernen Flur eines Kellergewölbes und von dort eine Treppe hoch in einen leeren Stall, in dem es nach Heu und Schafen roch. Durch ein Tor schien helles Licht, noch viel heller als vorhin im Verlies. Zuerst sah Ayden nur gleißende Leere. Dann einen stahlblauen Himmel. Und unter dem Himmel eine karge Landschaft, fast so karg wie in Schottland, nur dass auf diesem steinernen Boden bis hin zu dem markanten Felsenhügel am Horizont Olivenbäume wuchsen.

Vor der Scheune wartete der Wolf auf sie. Er musterte Ayden mit einem ausdruckslosen Blick, der nicht verriet, was er dachte.

»Bringt ihn zum Boss.«

»Aber der Typ ist völlig verdreckt.«

Ein belustigtes Grinsen legte sich auf das Gesicht des Wolfs. »Der Boss wartet nicht im Haus, sondern drüben in der Kapelle. Vor Gott sind alle gleich, egal wie sie aussehen und riechen.«

Er winkte die Männer weiter. Die Geste wirkte locker, beinahe beiläufig, und dennoch war sie ein unmissverständlicher Befehl, dem die beiden wortlos nachkamen. Sie führten Ayden über einen Pfad auf die andere Seite des Stalls. Während sich seine Augen an das Licht gewöhnten, schaute er gebannt auf das, was sich vor ihm auftat. Auf einer Anhöhe stand eine kleine weiße Kapelle mit einem grauen Steindach. Sie war beinahe ein Ebenbild der Kapelle, die er auf unzähligen Fotos gesehen hatte. Nur die Landschaft dahinter war die falsche. Von der Anhöhe bis zum Meer erstreckte sich ein wildes, unberührtes Tal. An der schönsten Stelle lag ein steinerner Bau mit riesigen Fensterfronten, der sich in Form und Farbe nahtlos in die Landschaft einfügte. John Owen hatte noch immer Geschmack. Denn dass er es war, der in der Kapelle auf ihn wartete, daran hatte Ayden nicht den geringsten Zweifel.

Bis er ihm gegenüberstand.

Der dunkelhaarige Mann mit dem sonnengebräunten Gesicht neben dem Altar konnte unmöglich John Owen sein. Das lag nicht nur an der Haarfarbe. Er hatte weder Owens Nase noch seinen Mund. In den hellen Jeans und dem weißen Hemd mit dem offenen Kragen sah der Fremde aus wie einer dieser verwegenen Aussteiger, die sich nach einer brillanten Karriere mit ihrem Geld ein eigenes Weingut leisteten.

»Lasst ihn los!«, befahl er.

Nicht einmal die Stimme war die von John Owen.

Ayden taumelte und musste sich an einer der wenigen Kirchenbänke festhalten. Fünf Reihen. In jeder Reihe Platz für ungefähr fünf Leute. Mehr nicht. Kein kleiner Junge, der leblos und mit gebrochenen Augen auf einer Bank lag.

Ayden starrte auf die rechte Hand des Mannes. Sie steckte in einem schwarzen Lederhandschuh. Der Mann musste seinen Blick bemerkt haben. Langsam streifte er den Handschuh ab.

»Kata hat ganze Arbeit geleistet.« Er hielt seine Hand in die Höhe. Sie war steif und vernarbt, an zwei Fingern fehlten die Kuppen. »Sämtliche Brüche, sogar die im Rückenbereich, sind verheilt. Ein plastischer Chirurg konnte mein Gesicht verändern, ein Chip sorgt für eine andere Stimme, aber die Hand ist verloren.« Owen zog den Handschuh wieder über. »Willkommen in meiner Welt, Tyler Carlton. Ich hoffe, du hattest genügend Zeit, dir zu überlegen, warum du noch lebst.«

Erneut hob er die Hand. Diesmal, um jemanden in den Raum zu winken. Ayden klammerte sich an die Bank. Mit angehaltenem Atem drehte er sich um, doch die beiden Gestalten, die die Kapelle betraten, waren nicht die, die er erwartet hatte. Obwohl er sich festhielt, geriet er ins Wanken.

John lachte. »Für Laura und Patrick ist es noch zu früh, Tyler.«

Aydens Hände glitten ab. Bevor er umkippen konnte, fingen ihn die zwei Männer auf und brachten ihn unter Johns Gelächter aus der Kapelle.

G eht’s?«, fragte Sam besorgt. »Ja.« Kata räusperte sich die ausgestandene Angst aus der Kehle. »Ein Toter? Wo?«

»In einer Garage in einem sehr üblen Viertel. Der Mann, ein stadtbekannter Hehler, wurde erschossen. Wahrscheinlich am Tag, an dem Ayden verschwand. In einer Mülltonne in der Nähe der Garage lag die Waffe, aus der die Kugel abgefeuert wurde. Der Täter hat versucht, die Fingerabdrücke wegzuwischen, jedoch nicht gründlich genug. Die Polizei konnte sie Ayden zuordnen.«

Die Worte sanken in Kata ein, ohne einen Boden zu finden. Sie verstand sie und verstand sie doch nicht. »Ayden hat den Mann nicht umgebracht.«

»Ich weiß. Aber jemand lässt es so aussehen. Ayden wurde schon einmal verdächtigt, sich mit Hehlern zusammengetan zu haben. Die Garage war voller Diebesgut. Darunter Kameras aus Josephs Besitz. Und derselbe Brandbeschleuniger, der Josephs Haus in Kürze zum Raub der Flammen machte. Alles deutet darauf hin, dass Ayden hinter den Taten steckt und danach seinen Selbstmord inszeniert hat, um untertauchen zu können.«

»Ayden war es nicht«, wiederholte Kata. »Es war John.«

Müde rieb sich Sam über die Bartstoppeln am Kinn. »Da ist noch etwas. Ayden hat zwei Nachrichten hinterlassen.«

»Du meinst, John hat zwei Nachrichten hinterlassen«, korrigierte sie ihn.

»Wer auch immer.«

»Suicide Embrace. Was noch?«, fragte Kata, ohne auf Sams Bemerkung einzugehen. »Was war die zweite Nachricht?«

»Im Booklet sind zwei Wörter markiert. Red und Rage. Red Rage. Heißer, unkontrollierter Zorn. Damit liefert Ayden ein Motiv für den Brand und den Mord.«

»John«, korrigierte Kata Sam erneut. »John liefert der Polizei ein Motiv, das er Ayden unterschiebt. Ayden ist kein zorniger Mensch.«

»Das Booklet war nur der Anfang, Kata. Der Täter hat in der Garage einen Schriftzug auf der Mauer hinterlassen. Dieselbe Botschaft. Red Rage.«

»Red Rage ist nicht Aydens Zorn, Sam! Es ist ein Hinweis, auf das, was passieren wird. Wie die Rosen mit den abgeschnittenen Köpfen.«

»Für die Polizei ist es eine Botschaft von Ayden. Sie geht davon aus, dass er lebt und weitere Taten begehen könnte. Es läuft eine Fahndung nach ihm.«

Schon wieder Worte, die keinen Boden fanden, weil sie keinen Sinn ergaben. Warum sollte John das wollen? Wenn er Ayden in seiner Gewalt hatte, lenkte er damit die Aufmerksamkeit auf sich. Eine nervöse Unruhe erfasste Kata.

»Du sagst, der Mann ist seit zehn Tagen tot. Wieso hat es so lange gedauert, bis man ihn gefunden hat?«

»Es gab einen anonymen Anruf. Heute Morgen.«

Die Unruhe in Kata breitete sich aus. »Weiß Nathan es schon?«, fragte sie.

»Noch nicht.«

»Was glaubt Burton?«

»Er arbeitet daran.« Sam erhob sich ungewohnt schwerfällig. »Ich habe noch einen Termin.« Unter der Tür blieb er stehen. »Du solltest dich ausruhen und etwas essen. Es …«

»Ich warte auf Nathan«, unterbrach sie ihn. »Er hat versprochen, mich abzulösen.«

Kata brauchte keine Belehrungen über ihr Gewicht. Sie wusste, dass sie zu wenig aß und zu wenig trank. Manchmal wurde ihr schwarz vor den Augen, wenn sie zu schnell aufstand. Jeden Tag nahm sie sich vor, besser auf sich aufzupassen, doch dann fehlten der Hunger und der Durst. Sie vergaß schlicht und einfach, ihrem Körper das zu geben, was er brauchte, und er verlangte nicht danach. »Ich hol mir auf dem Weg zur Wohnung was«, log sie.

»Bestimmt?«

»Hau ab, Sam!«, herrschte sie ihn an. »Du verschweigst uns zehn Tage lang einen wichtigen Hinweis und hältst mir dafür Vorträge übers Essen!«

Betreten hob er die Hände zu einer entschuldigenden Geste. Kurz danach war Kata allein mit Joseph.

»Er ist nicht tot«, versicherte sie dem Mann, der Ayden den Vater ersetzte. »Und er hat niemanden umgebracht.«

Nichts deutete darauf hin, dass Joseph sie verstand. Das leblose Gesicht unter dem Kopfverband war fahl, die Augen lagen tief in den Höhlen, der eingefallene Mund und der faltige Hals erinnerten Kata an eine Schildkröte. Joseph wirkte so furchtbar alt und zerbrechlich. Sie lehnte sich vor und berührte sachte seine Fingerkuppen, die als einziger Teil seiner Arme und Hände nicht in Verbänden steckten.

Nachbarn hatten der Polizei geschildert, wie er versucht hatte, die wertvollsten Gegenstände seiner Sammlung zu retten, auch dann noch, als der Laden längst in Flammen stand. Ein herunterstürzender Balken hatte ihm den Schädel gebrochen. Bis man ihn aus dem Gebäude ziehen konnte, hatte er sich nebst der schweren Kopfverletzung starke Verbrennungen und eine Rauchvergiftung zugezogen.

Als sich hinter Kata die Tür öffnete, glaubte sie zunächst, Nathan sei hier, doch es war eine Krankenschwester, die das Zimmer betrat. »Der Polizist vor der Tür möchte Sie kurz sprechen.« Sie warf Kata einen neugierigen Blick zu. »Er lässt ausrichten, es gehe um einen Fund von heute Morgen. Haben Sie etwas verloren?«

»Ja«, antwortete Kata. Ayden. Sie hatte Ayden verloren. Fahrig und unsicher stand sie auf.

»Ich hoffe, es wird schnell gefunden.« Die Schwester lächelte aufmunternd. »Machen Sie sich keine Sorgen, ich passe auf Joseph auf.«

Der uniformierte Beamte saß auf einem der beiden Stühle vor dem Krankenzimmer. An seiner Hemdtasche klemmte ein in Plastik eingeschweißter Ausweis. Kata setzte sich auf den Stuhl neben ihn. »Sie haben nach mir gefragt?« Ihre Stimme zitterte.

»Wie geht es Mr Cole?«

»Er ist stabil«, wiederholte sie die Worte, an die sie sich klammerte, seit sie sie zum ersten Mal gehört hatte.

»Ist Ihnen nicht gut, Miss?« Der Beamte stand auf und kauerte vor sie hin. »Sie sehen blass aus.«

Ihr war schwindlig. Vielleicht hatte der Mann Angst, sie würde zusammenbrechen, denn er kam ihr viel zu nahe.

»Ich bin in Ordnung. Könnten Sie …«

Erstaunt nahm Kata den Stich in ihren Oberschenkel wahr. Sah, wie der Mann seine Hand zurückzog und blitzschnell etwas in seine Hosentasche gleiten ließ, bemerkte die Zufriedenheit, die sich auf seinem Gesicht ausbreitete, bevor sich vor ihr alles aufzulösen begann. Sie kippte nach vorn. Direkt in die Arme des Mannes. »Mr Owen lässt grüßen.« Er drückte sie zurück auf den Stuhl und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Katas Herz flimmerte. Ein dunkler Tunnel verschlang sie. Das Licht entfernte sich. Es wurde schwarz und still.

Die Männer brachten Ayden zu einem schwarzen Pick-up, der vorher noch nicht vor der Kapelle gestanden hatte.

»Wenn du dich aus dem Wagen fallen lässt und abzuhauen versuchst, stirbt deine Freundin. Verstanden?«

Ayden konnte nicht einmal allein stehen. Wie hätte er da abhauen sollen?

»Verstanden?«, wiederholte der Mann laut.

»Ja.«

Die beiden hievten ihn auf die Ladefläche wie ein Tier, das sie auf der Jagd erlegt hatten. Türen knallten. Der Motor röhrte auf und das Gefährt schoss mit einem Ruck los. Ayden wurde durchgerüttelt, in den Kurven drückten ihn die Fliehkräfte gegen die Seitenwände. Kalter Wind drang durch die Kleider. Als die Fahrt genauso abrupt endete, wie sie begonnen hatte, prallte er ein letztes Mal gegen eine Wand.

Über sein Gesicht rann Blut. Metall quietschte. Hände zerrten an seinen Füßen. Er kippte ins Leere und landete hart auf dem Boden. Unscharf sah er Beine auf sich zukommen. Schwarze Strümpfe, darüber die Säume von dunkelbraunen Röcken. Einer der beiden Männer redete in einer Sprache, die Ayden nicht verstand. Es klang nicht wie Spanisch. Vielleicht Portugiesisch. Oder Griechisch. Ein Tritt traf ihn in die Seite. »Immer schön brav bleiben, Kleiner«, sagte der Mann, der schon vorher mit ihm gesprochen hatte. »Die beiden Marias werden sich um dich kümmern. Wir sehen uns später.«

Während die Männer sich entfernten, blieb es gespenstisch ruhig. Ayden stemmte sich auf die Knie. Dann waren plötzlich die Hände da. Sanft, beinahe zögernd griffen sie nach ihm. Leise Stimmen redeten ihm zu, voller Mitgefühl, aber auch Angst. Die Frauen halfen ihm hoch und führten ihn in ein Gebäude aus Holz, Stein und Glas, das zu einem vom Hauptbau getrennten Komplex mit Stallungen und kleinen Werkstätten gehörte. Dort brachten sie ihn in ein karg eingerichtetes Bad mit vergitterten Fenstern. Die ältere der Frauen bedeutete ihm, sich auszuziehen. Ayden geriet schon beim Versuch, den Pullover über den Kopf zu zerren, ins Taumeln. Die Frau schickte ihre jüngere Kollegin weg und half ihm aus seinen Sachen. Irgendwann flüsterte sie kaum hörbar: »Policia?«

Er schüttelte den Kopf.

Sie drehte das Wasser für ihn auf, als hätte es die Frage nie gegeben. Dann hob sie beide Hände in die Höhe. Zehn Finger. Zehn Minuten. Einheiten, die Ayden nichts bedeuteten, da er jedes Gefühl für Zeit verloren hatte.

»Gracias«, bedankte er sich. Für ihren Mut, ihm Hilfe anzubieten, für die Art, wie sie mit ihm umging.

Er klammerte sich an den Armaturen fest. Unter ihm floss braunes Wasser ab. Nach einer Weile hörte sein Körper auf zu schlottern, das Wasser wurde klarer. Ayden fand ein Duschmittel. Weil ihm die Kraft zum Stehen fehlte, setzte er sich hin. So gut es ging, wusch er sich die Haare und seifte seinen Körper ein. Danach blieb er in der behaglichen Wärme sitzen und sammelte seine Kräfte.

Als die Zeit um war, öffnete die Frau die Tür. Sie hielt ihm ein Badetuch hin. Dankbar wickelte er sich darin ein und folgte der Frau in ein Zimmer. Wie im Bad waren die Fenster vergittert. Auf dem Bett lagen ein T-Shirt und Boxershorts. Auch ohne die Gesten der Frau hätte Ayden verstanden, was von ihm erwartet wurde. »Danke, ich schaffe es alleine.«

Sie schien ihn nicht verstanden zu haben, denn sie griff nach dem T-Shirt.

Ayden schüttelte den Kopf. Sie legte das T-Shirt zurück auf das Bett und ging zur Tür.

»Gracias«, wiederholte er seinen Dank von vorhin.

»Obrigado«, korrigierte sie ihn. »Portugues.«

»Obrigado.«

Er schaute zu, wie sie die Tür hinter sich schloss. Egal wie nett die Frau war, er musste auf der Hut sein. Sie arbeitete für John. Ayden zog die bereitgelegten Sachen an und kroch unter die Decke. Die Wärme, die sich unter der Dusche eingestellt hatte, verzog sich. Ihm war eiskalt. Sein Magen spielte verrückt. Bei jedem Husten glaubte Ayden, erbrechen zu müssen, dabei gab es längst nichts mehr, das hochkommen konnte.

Kata öffnete die Augen. Blassblaue Farbtupfer in einem kreideweißen Gesicht. Sie irrten herum und blieben an Nathan hängen, der die ganze Nacht an ihrem Bett gewacht hatte.

»Wo sind wir?«

»In der Klinik. Du hattest einen Schwächeanfall.« Es fiel Nathan schwer, die Sorge aus seiner Stimme zu halten. »Bist im Flur zusammengebrochen.«

»Kein Schwächeanfall.« Kata fuhr mit der Zunge über ihre spröden Lippen. »Wie lange bin ich schon hier?«

»Seit gestern Nachmittag.«

Ohne ein einziges Mal zu erwachen. Die Ärzte hatten von einem besorgniserregenden Erschöpfungszustand gesprochen. Gebrochene Herzen zu diagnostizieren, war nicht ihre Aufgabe. Nathan kannte den Befund auch so.

»Ich will zu Joseph!« Kata richtete sich auf. »Lebt er noch? Oder …«

Ihr Blick ging ins Leere. Sie blinzelte und sank zur Seite. Nathan schlang seine Arme um sie.

»Er lebt. DeeDee ist bei ihm.«

Behutsam hob er ihren Kopf an und führte ein Glas Wasser an ihren Mund. Sie trank gierig ein paar Schlucke.

»Der Polizeibeamte hatte eine Spritze.«

»Eine Spritze?«, fragte er verwirrt.

»Er hat mich betäubt.«

»Sie haben dir eine Infusion gegeben.« Nathan deutete auf den durchsichtigen Beutel über ihr. »Wahrscheinlich ist das der Stich, den du gespürt hast. Die Schwester, die nach Joseph gesehen hat, hat dich im Flur gefunden. Du warst allein und nicht ansprechbar.«

Kata zerrte am Pflaster über ihrem Handrücken. »Nein. Da war ein Polizist. Er hat mich betäubt.«

Nathan streckte seine Hand nach ihren Fingern aus, die nun über die Nadel unter dem Pflaster glitten. »Warum sollte er das tun? Ohne danach zu Joseph vorzudringen oder dich zu verschleppen?«

In einer hastigen Bewegung entzog sich Kata seiner Berührung. »Ich weiß es nicht.«

»Du kannst keinen Polizisten gesehen haben. Burtons Mann war nicht auf seinem Posten, als es passiert ist«, erklärte ihr Nathan. »Kata, du sitzt seit zehn Tagen an Josephs Bett. Wenn nicht, suchst du im Internet oder an den Fotos auf der Wand nach Hinweisen. Du schläfst fast nicht. Du isst viel zu wenig. Da kann man schon …«

»Ich bin nicht zusammengebrochen!«, schrie Kata. »Red nicht mit mir wie mit einem Kind!«

Sie schlug die Decke zurück. Ihr verrutschtes Krankenhaushemd gab frei, was ihre weiten Kleider vor Nathan verborgen hatten. Entsetzt starrte er auf den viel zu dünnen Körper mit den viel zu dünnen Beinen.

»Hier.« Kata legte ihren Zeigefinger auf eine Stelle an ihrem Oberschenkel.

Wenn man wusste, wonach man suchen musste, war der blaue Fleck nicht einfach ein blauer Fleck. In seiner Mitte befand sich kaum sichtbar die Stelle, an der die Nadel der Spritze durch die Haut gedrungen war. Wahrscheinlich hatte sich zu dem Zeitpunkt, an dem die Ärzte Kata untersucht hatten, der Bluterguss noch nicht gebildet gehabt. Sie hatten den Stich übersehen, weil es keinen Grund gegeben hatte, nach einer anderen Ursache für den Zusammenbruch zu suchen. Katas Zustand war zu offensichtlich.

»Es tut mir leid«, entschuldigte sich Nathan. »Ich hätte dir glauben sollen.«

»Ja«, antwortete sie bitter. »Ich möchte hier weg.«

»Du brauchst Hilfe.«

»Ich habe dich.«

Kata drückte die Klingel. Dem Pfleger, der herbeigeeilt kam, erklärte sie, dass sie einen Arzt sprechen wolle. Sofort. »Oder ich ziehe mir die Nadel heraus und entlasse mich selber.«

Knappe drei nervenaufreibende Stunden später zupfte Kata kleine Stücke von dem Brötchen, das Nathan unterwegs gekauft hatte, und kaute jeden Bissen endlos lange, bevor sie ihn schluckte. Das Brötchen war ein Kompromiss. Kata hatte nichts essen wollen, Nathan hatte darauf beharrt und sie an das Versprechen erinnert, das sie dem Arzt im Krankenhaus gegeben hatte. Zwischen den Bissen erzählte sie ihm von den Botschaften und dem Toten in der Garage.

Nathan suchte online nach der Meldung. Die wenigen Informationen, die er fand, stimmten mit denen von Sam überein, der Rest war Spekulation. Wesentlich aussagekräftiger fand Nathan die Bilder. Er drehte den Bildschirm in Katas Richtung. »Man sieht nicht viel, aber genug, um zu wissen, dass kein Mensch je auch nur einen Blick in diese Garage geworfen hätte.«

»Die Leiche wäre also noch lange nicht entdeckt worden?«, stellte sie fest.

»Wenn niemand den Fund gemeldet hätte, nein.«

Nachdenklich trank Kata einen Schluck ihres Tees. »Dann muss einer von Johns Männern angerufen haben.«

»Ich denke, ja.«

»Aber warum?«, fragte sie. »John weiß, was er damit auslöst. Wenn er Ayden bei sich versteckt, riskiert er, von der Polizei gefunden zu werden. Das kann er doch nicht wollen. Es sei denn, Ayden ist tot und liegt irgendwo …«

Katas Hand begann zu zittern. Heißer Tee schwappte über den Rand ihrer Tasse und rann über ihre Finger. Sie schien es nicht einmal zu bemerken. Nathan nahm ihr die Tasse aus der Hand und tupfte ihr mit dem Ärmel seines Pullovers die Flüssigkeit von der Haut.

»Ayden ist nicht tot. Owen legt eine Spur. Kata, was hat der falsche Polizist zu dir gesagt?«

»Er hat mir Grüße von John ausgerichtet.« Ungeduldig streckte Kata ihre Hand nach dem Laptop aus.

»Grüße von Owen?«

»Ja. Eine Warnung, denke ich.«

Das glaubte Nathan auch. »Sonst noch etwas?«

Ohne auf seine Frage einzugehen, zog Kata das Gerät dicht an sich heran. Ihre Nase klebte beinahe am Bildschirm, ihre Finger hämmerten Buchstaben in die Maschine. Zwischendurch wurde es ein paar Sekunden still, in denen ihr Blick über die Wörter irrte. Wenn sie nicht fand, was sie suchte, hämmerten die Finger ungeduldig weiter.

»Wonach suchst du?«, fragte Nathan.

»Nach einer Spur. Der Junge, den Aydens Eltern entführt haben. Der war eingesperrt.« Ihre Antwort war ein ähnliches Stakkato wie ihr ununterbrochenes Tippen. »Im Keller eines verlassenen Gebäudes. Wo war das? Erinnerst du dich?«

»An der Nordostküste von England.« Nathan fiel der Name des Ortes nicht ein. »In der Nähe eines kleinen Dorfs. Der Junge war dort …«

»Zehn Tage lang«, brachte Kata seinen Satz zu Ende. »Dann war er tot. Ausgehungert und verdurstet, weil Aydens Eltern nie nach ihm gesehen hatten. Das ist ein Hinweis, Nathan. Das ist die Spur.« Jetzt erst unterbrach sie ihre hektische Tätigkeit. »Zehn Tage. Die waren gestern um.«

Ohne zu zögern, griff Nathan nach dem Handy, das Burton ihm gegeben hatte, und stellte die abhörsichere Verbindung zur einzigen gespeicherten Nummer her. »Das Haus, in dem der entführte Junge damals gefangen gehalten wurde. Dort könnte Ayden sein.«

»Darauf sind wir auch gekommen«, erwiderte Burton. »Meine Leute sind unterwegs. Wir geben Bescheid, sobald wir dort sind.«

Kata stand auf. Ihre Hände klammerten sich an der Tischplatte fest. Ein paar Sekunden stand sie reglos da. Dann sackte sie ohne einen Laut zusammen. Nathan schnellte hoch und fing sie auf, bevor sie auf dem Boden aufschlagen konnte.

Nachdem Nathan Kata in ihr Bett gelegt hatte, sammelte er Kartons ein, faltete sie zusammen und steckte sie in eine Tüte. Die leeren Flaschen und Getränkedosen brachte er in die Küche, das herumstehende Geschirr stapelte er in die Spüle. Als es nichts mehr zu tun gab, lehnte er sich gegen die Küchenkombination und starrte auf die Flaschen vor ihm. Lauter alkoholfreie Getränke. Sogar DeeDee hatte sich daran gehalten wie an ein ungeschriebenes Gesetz, über das niemand sprach. Nathans Mund wurde trocken, seine Finger trommelten nervös auf die Arbeitsfläche. Das Verlangen nach einem Schluck Whisky wurde übermächtig.

Das schrille Geräusch der Türklingel holte ihn aus seinem inneren Ringen gegen die überwunden geglaubte Sucht. Er schluckte leer und schüttelte den Kopf, um wieder klar denken zu können. DeeDee hatte einen Schlüssel. Wahrscheinlich war es einer der Pressefritzen, der den Knopf nun schon zum zweiten Mal drückte. Nathan rannte in den Flur.

»Verpiss dich!«, zischte er in die Gegensprechanlage.

»Ich bin’s«, antwortete eine vertraute Stimme. »Lass mich rein!«

»Sonst?«

»Keine Spiele, Nate!«

Nathan wischte sich den Schweiß von der Stirn und betätigte den Türöffner. Weniger als eine Minute später stand Sam vor ihm.

»Wo ist sie?«

Mit ausgestreckten Armen hielt Nathan Sam davon ab, die Wohnung zu betreten. »Wenn du jetzt hierbleibst, stehst du für Owen auf unserer Seite«, sagte er leise.

»Schau mich an! Ich sehe grimmig genug aus, um jeden glauben zu lassen, dass ich dir in diesem Moment Feuer unter dem Arsch mache. Böser Ex-Bulle, verstehst du? Burtons Mann fürs Grobe.«

Er schlug Nathans Arme beiseite und versetzte ihm einen kräftigen Stoß. Nathan taumelte rückwärts in die Wohnung, gefolgt von Sam, der die Tür mit einem lauten Knall hinter sich zuschlug. »Grob genug?«, fragte er.

»Was …«

»Wie konntest du sie in ihrem Zustand aus der Klinik holen?«

»Jemand muss sich um sie kümmern. Du hast sie ja einfach allein gelassen.«

Sam stand da, als hätte Nathan einen Kübel voll kaltem Wasser über ihm ausgeleert. »Das war ein Fehler«, gestand er.

»Vor allem, wenn man bedenkt, dass der Feind vor der Tür saß und deinen Besuch mitbekam.«

»Der Feind? Da war kein Feind. Die Klinik ist bewacht, das Zimmer abhörsicher. Dafür sorgt nicht nur dein Freund, sondern auch die Polizei.«

»Nicht gut genug.«

»Wovon redest du?«, fragte Sam entgeistert.

In ein paar knappen Sätzen erzählte Nathan, was geschehen war. Während er redete, rang Sam sichtbar um Fassung.

»Habt ihr Burton informiert?«

Nathan schüttelte den Kopf. »Dein Job. Owens Warnung war ziemlich klar. Du solltest jetzt gehen.«

»Lass mich zu ihr!«

»Kata hat mich«, wiederholte Nathan, was Kata ihm in der Klinik gesagt hatte.

»Hast du in letzter Zeit mal in den Spiegel geschaut?« Sam packte Nathan an den Schultern. »Jeder Penner kommt gepflegter daher als du. Du kannst nicht einmal für dich selber sorgen! Wie willst du da auf Kata aufpassen? Schläfst du überhaupt noch? Wann hast du das letzte Mal geduscht?«

Nathan lag eine wütende Antwort auf der Zunge. Sie blieb unausgesprochen, denn Sams Worte hatten einen Damm durchbrochen. Die aufgestaute Müdigkeit der letzten Tage überrollte ihn. Er schlief tatsächlich kaum und wenn, dann meistens in seinen Kleidern. Er konnte sich nicht erinnern, wann er sie das letzte Mal gewechselt hatte.

»Was willst du, Sam? Mir Vorwürfe machen?«

»Nein. Die Vorwürfe mache ich mir selber. Ich bin hier, weil mich Burton in die Aktion eingeweiht hat, die gerade läuft. Ich will bei euch sein, wenn er anruft und Bescheid gibt.«

Sam trug frische Sachen. Er war rasiert und bestimmt hatte er am Morgen geduscht. Nichts an ihm erinnerte an einen Penner, doch Nathan war sicher, dass er die gleiche Angst und denselben Schmerz verspürte wie er. Ihre Welt brach zusammen. Nicht aufgrund eines Schicksals, das sich gegen sie gewendet hatte, sondern weil Owen diese Welt Stück um Stück einriss und zerstörte.

»Sie ist einfach umgekippt, Sam. Als wolle ihr Körper sie vor dem Fühlen schützen.«

»Und du?«

Der Druck von Sams Händen gab nach. Sie lagen nun beinahe tröstend auf Nathans Schultern.

»Hab sie ins Schlafzimmer getragen.«

»Das meine ich nicht.«

»Ich weiß«, antwortete Nathan heiser. »Erste Tür rechts.«

D er Augenblick, in dem die Angst gewann und die Hoffnung starb, prägte sich tief in Katas Denken und Fühlen ein. Sie hörte, wie Nathan Burton anrief, um ihn auf das Versteck aufmerksam zu machen, aber nicht, was er zu ihm sagte. Wie ein schweres Tuch umschlang sie eine überwältigende, unumstößliche Ahnung, dass Ayden tot war, schnürte sie ein, presste die Luft aus ihr. Tiefes Schwarz löschte alles aus und schenkte ihr für eine Weile die Gnade der Bewusstlosigkeit.

Als sie erwachte, saß Sam an ihrem Bett. Ein paar schreckliche Sekunden lang fürchtete Kata, er bringe ihr schlechte Nachrichten.

»Wir haben noch nichts von Burton gehört«, sagte er.

Tief beschämt darüber, Ayden aufgegeben zu haben, ehe sie überhaupt wusste, was Burtons Leute in dem alten Haus finden würden, schwor sich Kata, dass ihr das nie wieder passieren würde. Nie wieder!

»Erzähl mir von Ayden«, bat sie, bevor Sam ihr Fragen stellen konnte oder, noch schlimmer, sie zu trösten versuchte.

»Was?«

Das Was war nicht so wichtig. Wichtig war nur, dass Sams Stimme Ayden in ihr Leben zurückbrachte.

»Wie hast du ihn kennengelernt?«

»Du möchtest das jetzt wissen?«

»Ja.«

Sam verschränkte die Arme und streckte seine Beine. »Er lebte auf der Straße und war verprügelt worden. Zwei Kollegen griffen ihn auf. Sie brachten ihn erst zum Arzt und dann auf die Wache.«

Kata hatte im Internet über diese Zeit in Aydens Leben gelesen. Es war jene Phase, in der er öfter mit der Polizei zu tun hatte.

»Wie war er?«

»Verschlossen. Schweigsam. Misstrauisch.«

»Du hast ihn bei dir aufgenommen. Warum?«

»Ich wollte nicht, dass er zugrunde geht oder irgendwann im Gefängnis landet. Glaub mir, er war auf bestem Weg dorthin.«

Kata kannte die nackten Fakten. Ausgerissen aus drei Kliniken und zwei Jugendheimen. Hinter diesen Fakten stand ein Mensch, der durch ein Verbrechen aus dem Gleichgewicht gebracht worden war und in die Kriminalität abzudriften drohte. Sam hatte Ayden davor bewahrt. Kata fühlte eine tiefe Dankbarkeit für diesen Mann, der Ayden für eine Weile ein Zuhause gegeben hatte.

»Er mag dich sehr.«

»Ich weiß.« Es klang traurig.