Blackbox Psychotherapie - Christian Rupp - E-Book

Blackbox Psychotherapie E-Book

Christian Rupp

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Beschreibung

Rund um die Psychotherapie existieren zahlreiche Irrtümer, die zu falschen Vorstellungen auf PatientInnenseite und Fehlvermittlungen durch z. B. HausärztInnen führen. In seinem Buch nimmt der Autor die Lesenden mit auf eine informative und unterhaltsame Reise durch diese den meisten Menschen unbekannte "Blackbox". Dabei klärt er nicht nur über typische Missverständnisse und falsche mediale Darstellungen von Psychotherapie auf, sondern erläutert auch die gesetzliche Basis der Psychotherapie und geht der kontroversen Frage nach den Ursachen der schlechten Versorgungslage auf den Grund - Lösungsansätze inklusive. Zudem erwartet die Lesenden eine anschauliche und humorvolle Beschreibung der verschiedenen Therapieverfahren sowie eine spannende Analyse der Faktoren, durch die eine Psychotherapie eigentlich wirksam wird - einschließlich der zentralen Frage, für wen sie somit gedacht ist und für wen nicht. Das Buch schließt mit einer lebendigen Innensicht des Autors auf den Beruf des Psychotherapeuten, welche Schattenseiten ebenso beleuchtet wie Vorzüge und Privilegien.

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Der Autor

Dr. rer. nat. Christian Rupp ist Psychologe und Psychologischer Psychotherapeut mit Fachkunde Verhaltenstherapie. Als solcher ist er niedergelassen in eigener Praxis mit vollem Versorgungsauftrag in einer ländlichen Region Schleswig-Holsteins. Auf seinem Blog »psycholography« verfasst er seit 2013 Artikel zu psychologischen und psychotherapeutischen Themen für interessierte Laien.

Christian Rupp

Blackbox Psychotherapie

Von Irrtümern, Missständen und Lösungsansätzen

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Umschlagabbildung: kichigin19 – stock.adobe.com

Print:ISBN 978-3-17-043244-4

E-Book-Formate:pdf:ISBN 978-3-17-043245-1epub:ISBN 978-3-17-043246-8

Abkürzungsverzeichnis

AP

Analytische Psychotherapie (Richtlinienverfahren)

ÄP

Ärztliche:r Psychotherapeut:in

BGB

Bürgerliches Gesetzbuch

BPtK

Bundespsychotherapeutenkammer

et al.

Lat. »et alii«, wissenschaftliche Schreibweise für »und andere (Autor:innen)«

G-BA

Gemeinsamer Bundesausschuss

GdB

Grad der Behinderung

GKV

Gesetzliche Krankenversicherung

GT

Gesprächspsychotherapie (nach Rogers)

HeilprG

Heilpraktikergesetz

IRRT

Imagery Rescripting and Reprocessing (traumatherapeutische Methode)

KBV

Kassenärztliche Bundesvereinigung

KJP

Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut:in

KT

Kognitive Therapie

KV (Pl. KVen)

Kassenärztliche Vereinigung‍(en)

KVT

Kognitive Verhaltenstherapie

MDK

Medizinischer Dienst der Krankenkassen

o. D.

Wissenschaftliche Schreibweise für »ohne Datum«

PKV

Private Krankenversicherung

PP

Psychologische:r Psychotherapeut:in

PsychThG

Psychotherapeutengesetz

SGB V

Fünftes Sozialgesetzbuch

ST

Systemische Therapie (Richtlinienverfahren)

StGB

Strafgesetzbuch

TI

Telematikinfrastruktur

TP

Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (Richtlinienverfahren)

TSS (Pl. TSSen)

Terminservicestelle‍(n)

vdek

Verband der Ersatzkassen

VT

Verhaltenstherapie (Richtlinienverfahren)

WBP

Wissenschaftlicher Beirat Psychotherapie

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

es freut mich, dass Sie sich offenbar für dieses Buch interessieren, und bedanke mich für Ihre Neugier. Ich denke, dass dieses Buch für Sie eine Vielzahl an interessanten Informationen, Erkenntnissen und Antworten bereithalten wird, ganz gleich ob Sie selbst Laie, angehende Psychotherapeutin, schon praktizierender Psychotherapeut, Ärztin oder Mitglied eines anderen Gesundheitsberufs oder aber ein Mensch sind, der entweder schon einmal eine Psychotherapie gemacht hat oder der künftig diesen Schritt gehen möchte. Mein Anspruch ist, dass dieses Buch für all diese Zielgruppen aufschlussreich und zugleich verständlich sein soll. Je nachdem zu welcher Gruppe Sie gehören, werden unterschiedliche Kapitel für Sie am interessantesten sein.

Den Anlass für dieses Buch stellte der Umstand dar, dass ich sowohl im privaten Umfeld als auch bei meiner täglichen Arbeit als niedergelassener Psychotherapeut in einem kleinen Dorf im Zentrum Schleswig-Holsteins immer und immer wieder mit denselben Fehlannahmen, Irrtümern und falschen Vorstellungen über meinen Beruf konfrontiert werde und in mir der Wunsch wuchs, in gut verständlicher Sprache darüber aufzuklären, wie dieser Beruf tatsächlich funktioniert – und Ihnen somit einen Einblick in die »Blackbox« zu gewähren, deren Inneres der Öffentlichkeit meist verborgen bleibt. Das bedeutet, Sie erfahren in diesem Buch als allererstes, warum Menschen, die zur Psychotherapie gehen, alles andere als »bekloppt« sind, um danach zu lernen, warum ein Hausarzt Ihnen keine Überweisung zu einer Psychologin ausstellen kann, was der Unterschied zwischen Psychologe, Psychiater und Psychotherapeut ist und was für eine Rolle in diesem Sammelsurium Heilpraktikerinnen zukommt.

Anschließend führe ich Sie durch die verschiedenen Formen von Psychotherapie, erkläre Ihnen, warum Psychotherapie selten auf einer Couch stattfindet, und beschreibe, welche Antworten die Wissenschaft auf die Frage gibt, ob, warum und wodurch Psychotherapie eigentlich wirkt. In Kapitel 4 widme ich mich dann den zahlreichen Regeln und Geboten, an die Psychotherapeuten sich zu halten haben, und erkläre Ihnen, warum Psychotherapie, wenn man diese Prinzipien ernst nimmt, entgegen der landläufigen Annahme bei Weitem nicht für alle Menschen gedacht ist, denen es schlecht geht. Weiter geht es dann mit einem heißen Eisen: Im ausführlichsten Kapitel setze ich mich mit der kontroversen Frage auseinander, warum die Versorgungslage im Bereich der Psychotherapie in Deutschland so schlecht ist und die Wartezeiten so lang sind, gebe eine möglichst faire und differenzierte Antwort auf die Frage, wer oder was dafür verantwortlich ist, und schlage selbst mögliche Lösungen für die Misere vor. Im letzten Kapitel lasse ich Sie dann noch an der Innensicht eines Psychotherapeuten auf seinen Beruf teilhaben und erzähle Ihnen ehrlich und transparent, was den Beruf häufig anstrengend und frustrierend macht (Disclaimer: Die Patienten sind es überwiegend nicht!) – um Ihnen dann aber auch die Vorzüge des Berufs zu beschreiben und Ihnen zu erklären, warum ich keinen anderen Beruf ausüben wollen würde.

Was Sie erwartet, ist eine Fülle von Informationen, die hier und da mit einer Portion Humor, einer Dosis Selbstironie und manchmal auch mit einer Prise Sarkasmus angereichert sind, da ich der festen Auffassung bin, dass man Wissen am besten so vermittelt, dass der Leser auch schmunzeln darf, u. a. weil der Autor sich selbst nicht zu ernst nimmt. Was Sie derweil nicht erwartet, sind Abbildungen und Tabellen, wobei ich mich umso mehr einer anschaulichen Sprache bemüht habe, die diese auch überflüssig macht. Wo Inhalte nicht nur meinem über die Jahre gesammelten oder aus Gesprächen mit Experten gezogenen und für Sie zusammengefassten Wissen entspringen, erwarten Sie hingegen nach jedem Kapitel nach Themen gruppierte Quellenverzeichnisse, da es mir wichtig war, Sie tatsächlich in die Lage zu versetzen, bei Interesse selbst nachzulesen, wo ich die präsentierten Daten und Informationen hergenommen habe. Um Platz für die wirklich wichtigen Informationen zu schaffen, habe ich mich derweil entschieden, viel mit Abkürzungen für immer wiederkehrende Bandwurmvokabeln zu arbeiten. Damit Sie sich diese nicht das gesamte Buch über merken müssen, finden Sie ganz vorne im Buch auch ein Abkürzungsverzeichnis zum Nachschlagen.

Mein Ziel ist somit, Sie alle als Lesende zu informieren, aufzuklären und klarzustellen, was klargestellt werden muss. Falls Sie selbst eine Psychotherapie machen möchten, ist es mein Ziel, dass Sie dies in einem mündigen und aufgeklärten Zustand tun können. Falls Sie angehende Psychotherapeutin sind, möchte ich, dass Sie einen realistischen Eindruck Ihres künftigen Berufs erhalten, der etwas repräsentativer ist als die Käseglocke, die Sie in einer typischen Ausbildungsambulanz kennenlernen. Und falls Sie Angehörige eines anderen Gesundheitsberufs sind, ist mein Bestreben, dass Sie meinen Beruf besser verstehen und Patientinnen gezielter eine Psychotherapie empfehlen (oder es noch gezielter unterlassen) können. In letzterem Fall möchte ich Sie allerdings auch vorwarnen, dass es für Sie, falls Sie Ärztin oder schon lange praktizierender Psychotherapeut sind, in diesem Buch sowohl Stellen geben wird, an denen Sie sich auf den Schlips getreten fühlen könnten, als auch solche, an denen ich Sie verteidige und Partei für Sie ergreife. Ich denke, die Ausgewogenheit wird spätestens dann deutlich, wenn Sie bis zum Ende lesen. Wie es einer differenzierten Betrachtungsweise innewohnt, tut sie manchmal weh, ist aber unter dem Strich ausgewogen und so nah an der Wahrheit dran wie nur möglich. Um letzteres geht es mir – nicht darum, irgendwen zu verletzen oder bloßzustellen.

Die Frage des Genderns hat mich derweil nicht nur allgemein, sondern speziell auch deshalb beschäftigt, weil der überwiegende Teil der psychotherapeutisch Tätigen in Deutschland Frauen sind. Daher verbat es sich aus meiner Sicht, das generische Maskulinum zu verwenden. Da eine Form des Genderns mit Sternchen, Doppelpunkt oder Binnen-I jedoch gravierend zulasten der Lesbarkeit gegangen wäre, haben der Verlag und ich uns für die Lösung entschieden, jeweils über ein gesamtes Kapitel hinweg entweder das generische Femininum (Kapitel 1, 3, 4 und 6) oder das generische Maskulinum (Kapitel 2 und 5) zu verwenden. Die Doppelpunkt-Variante findet sich aus praktischen Gründen lediglich im Abkürzungsverzeichnis. Grundsätzlich gilt selbstverständlich, dass jeweils immer alle Menschen gemeint sind, egal welchem Geschlecht oder welcher Stelle zwischen den binären Geschlechtern sie sich zuordnen. Und nun wünsche ich Ihnen viel Freude beim Lesen!

1 Warum Menschen, die zur Psychotherapie gehen, nicht »bekloppt« sind

Als Psychotherapeut, dessen Praxis sich in einem 800-Seelen-Dorf auf halbem Weg zwischen Nord- und Ostsee im ländlichen Schleswig-Holstein befindet, bin ich durchaus hier und da noch mit der Fehlannahme konfrontiert, zum Psychotherapeuten gingen nur »Bekloppte«, wenngleich ich sehr viel seltener hiermit konfrontiert bin, als ich erwartete, als ich im Jahr 2018 Nordrhein-Westfalen verließ und meine Praxis als »Landpsychotherapeut« eröffnete. Jedoch existiert diese Annahme immer noch in den Köpfen vieler Personen, und natürlich führt diese Annahme zu einer Stigmatisierung von Menschen, die mich oder meine Kolleginnen aufsuchen. Warum diese Annahme eine Fehlannahme ist und was dies mit der These zu tun hat, dass meine Kolleginnen und ich eigentlich die Falschen behandeln, werde ich in diesem ersten kurzen Kapitel beschreiben.

Es bietet sich bei diesem Punkt an, mit einer Statistik zur Häufigkeit psychischer Störungen einzusteigen, die klassischerweise von Laien massiv unterschätzt wird. Tatsächlich ist es so, dass nach einer repräsentativen, methodisch gut gemachten Untersuchung (Jacobi et al., 2004) in Deutschland 42 von 100 Menschen im Laufe ihres Lebens irgendeine psychische Störung entwickeln (man spricht hierbei von der so genannten »Lebenszeitprävalenz«). Mit am häufigsten vertreten sind dabei depressive Störungen, woran rund 17 % der Deutschen zwischen dem 18. und 65. Lebensjahr irgendwann mindestens einmal erkranken. Zum Vergleich: Einen Herzinfarkt erleiden in einem ähnlichen Zeitraum durchschnittlich 4,7 % der Menschen (Gößwald et al., 2013) und einen Schlaganfall 2,9 % (Busch et al., 2013). Wahrscheinlich gehen Sie beim Lesen jetzt auch im Kopf ihren Bekanntenkreis durch und kommen zu dem Ergebnis, dass das nicht sein kann, weil »die doch alle ganz normal sind«. Hiermit liegen Sie leider falsch, und zwar aus zwei Gründen, die miteinander verbunden sind: Erstens, weil man psychische Störungen den meisten Menschen nicht anmerkt, und zweitens, weil im privaten Umfeld noch zu wenige Menschen hiervon (sowie davon, dass sie eine Behandlung beginnen) erzählen.

Diese beiden Gründe sind deshalb miteinander verbunden, weil der Grund für das Nicht-Anmerken und das Nicht-Erzählen in der Regel derselbe ist: Scham. Scham, die bedingt ist durch eben solche gesellschaftlichen Stigmata wie »Nur Bekloppte gehen zur Psychotherapie« – und die dazu führt, dass Menschen sich verstellen, eine »fröhliche Maske« aufsetzen und somit gar nicht erst den Verdacht aufkommen lassen, dass sie vielleicht unter Depressionen oder übermäßigen Ängsten leiden. Bei den meisten Betroffenen sind diese Gedanken ihrerseits verbunden mit der Fehlannahme, ihr Problem sei sehr selten und sie mit diesem somit allein, weil ja auch »alle anderen total normal« wirken und anscheinend mühelos mit dem Leben klarkommen. In der Folge begeben sich diese Menschen dann nicht oder »nur heimlich« in Behandlung. Dieses Handeln im Geheimen wiederum verstärkt, dass Menschen mit psychischen Störungen nicht sichtbar werden und sich an der verbreiteten Annahme, sie seien selten, nichts ändert. Wie Sie erkennen (auch ohne Abbildung): ein klassischer Teufelskreis.

Nun lohnt es sich aber natürlich auch, sich zu fragen, was denn nun eigentlich mit »bekloppt« gemeint sein soll. Wenn ich Menschen dies frage (sowohl solche, die bei mir eine Behandlung suchen, als auch jene in meinem privaten Umfeld), kommen meist zunächst weitere Adjektive wie »gaga«, »nicht mehr ganz dicht« und »verrückt« als Antwort. Wenn ich dann weiter nachfrage, inwieweit eine »verrückte« Person denn anders als eine »normale« sei, kommt entweder gar nichts mehr – oder es werden nach längerem Nachdenken bestimmte Verhaltensweisen genannt. Mir gegenüber wurden hier u. a. scheinbar grundloses Schreien, ein »komischer Blick«, das »Reden von wirrem Zeug«, »seltsame Bewegungen«, »unheimliche Zuckungen« oder das Erzeugen von unangenehmen Geräuschen genannt. All das gibt es sicherlich im breiten Spektrum psychischer Störungen, jedoch eher in Bereichen wie den psychotischen Erkrankungen, vor allem der Schizophrenie, den verschiedenen Arten von Demenz oder, allgemein gesagt, als Folge von Hirnschädigungen jeglicher Art. Menschen mit solchen Problematiken wird man jedoch in der Regel nicht in einer psychotherapeutischen Praxis antreffen, weil Psychotherapie hierfür überwiegend nicht das Behandlungsverfahren der ersten Wahl, sondern höchstens begleitend zu anderen Behandlungsformen sinnvoll ist, wenngleich es in den letzten Jahrzehnten viele Bemühungen gab, psychotherapeutische Verfahren für diese Menschen anzupassen. Eher wird man Betroffene mit einer dieser Problematiken jedoch bei einer Neurologin oder Psychiaterin antreffen. Zudem benötigen sie meist noch weitergehende Behandlung und praktische Alltagsunterstützung, z. B. in Form von Soziotherapie, Ergotherapie oder ambulanter psychiatrischer Pflege.

In einer psychotherapeutischen Praxis wiederum überwiegen sehr deutlich Behandlungsanlässe, die man den Betroffenen von Natur aus kaum anmerken kann – so, wie Sie auch nicht bei jemandem, den Sie auf der Straße treffen, sagen können, ob er Nierensteine hat. Das ist deshalb so, weil die psychischen Funktionen, die es erfordert, sich »nach außen hin unter Kontrolle zu haben«, bei diesen Menschen meist noch gut funktionieren – und dennoch haben sie ein behandlungsbedürftiges Problem (mehr dazu, was das bedeutet, in ▸ Kap. 4). Störungsbilder, die bei mir wie auch in den meisten anderen psychotherapeutischen Praxen den größten Anteil ausmachen, sind leichte bis mittelgradige depressive Episoden, Belastungsreaktionen, Angststörungen und somatoforme Störungen. Objektive, deutschlandweite Daten, die dies bestätigen, finden sich z. B. bei Böker und Hentschel (2023, S. 104, Grafik 1). All jenen Störungsbildern ist gemeinsam, dass man sie von außen nicht einfach so sieht, sondern man die Betroffenen genau fragen muss, um die Diagnose stellen zu können.

An dieser Stelle möchte ich jedoch noch einen weiteren Aspekt ergänzen und dabei den Titel des Buchs von Manfred Lütz aus dem Jahr 2011 aufgreifen, der bereits die Kernthese aufstellt, dass wir im Bereich der Psychiatrie und Psychotherapie eigentlich »die Falschen behandeln«. Ich gebe Herrn Lütz insofern Recht, als ich es tagtäglich (wenngleich nicht ausschließlich) erlebe, dass eben nicht die Person vor mir sitzt, die das »primäre« Problem hat, sondern die Person, die zum Opfer ersterer Person geworden ist. Dies gilt insbesondere für die Angehörigen von Menschen mit Suchterkrankungen oder mit schweren (z. B. narzisstischen oder histrionischen) Persönlichkeitsstörungen, denen oft eine Einsicht dahingehend, dass sie ein Problem haben (und nicht ihr Umfeld) fehlt, und die infolgedessen durch ihr Verhalten ihrem Umfeld bewusst oder unbewusst Schaden zufügen, z. B. durch Abwertung, Missachtung oder emotionale Manipulation. Ein bisschen zugespitzt bedeutet das: An mich wendet sich in der Regel nicht der alkoholabhängige Ehemann, der betrunken seine Frau schlägt, sondern die co-abhängige Ehefrau, die nicht mehr weiterweiß, und es kommt auch eher nicht die histrionisch persönlichkeitsgestörte Mutter zur Therapie, sondern deren Tochter, die sich aus einer hochgradig ungesunden Abhängigkeitsbeziehung zu ihrer Mutter lösen möchte. Diese Beispiele beinhalten in der Tat zugespitzte Stereotype. Diese Stereotype sind jedoch real. Natürlich haben die »Opfer« in diesen Beispielen auch teilweise ihren eigenen Anteil am Geschehen, z. B. weil sie es zu lange zulassen, so behandelt zu werden, aber ich denke, es ist offensichtlich, wo jeweils das ursächliche Problem liegt. Genau wie Lütz sehe auch ich es daher so, dass unser »Problem« in der Gesellschaft nicht diejenigen sind, die sich psychotherapeutische oder psychiatrische Hilfe suchen. Im Gegenteil: Diese Menschen sind in der Regel sehr reflektiert, haben ein Problembewusstsein, sind (da sie entgegen einem Stigma handeln müssen) ziemlich mutig und übernehmen dadurch Verantwortung für sich und andere. All diese Aspekte unterscheiden diese Menschen von jenen, die uns gesellschaftlich wirklich Sorgen bereiten sollten: Menschen, oft ohne diagnostizierte Störung, die keine Verantwortung für ihr Leben und Handeln übernehmen, in der Vorstellung leben, dass ihr Umfeld an allem schuld ist, dadurch nicht selten tiefen Hass entwickeln und deshalb u. a. anfällig für Gewaltdelikte und Radikalisierung jeglicher Couleur werden – mit all den Folgen, die wir leider kennenlernen mussten. Jetzt werden Sie verstehen, warum ich z. B. vor einiger Zeit sehr beeindruckt und auch berührt von einer Person war, die eben diese Einsicht aufwies und im Erstgespräch das Therapieziel formulierte, »kein Arschloch mehr« sein zu wollen. Davor würde ich meinen Hut ziehen, wenn ich einen trüge.

Sollten Sie also demnächst wieder einmal jemanden in eine psychotherapeutische Praxis gehen sehen, so sollten Sie sich bewusst machen, dass dieser Mensch nicht »bekloppt« ist, sondern Verantwortung übernimmt und mutiger ist als die meisten anderen. Übrigens hat es einen Grund, warum ich bei meiner Landpsychotherapeuten-Praxis nie darauf aus war, einen versteckten Praxiseingang in irgendeinem Hinterhof zu haben, wo die Menschen, die zu mir kommen, »nicht so gesehen werden«. Der Grund ist derselbe wie der, aus dem ich im letzten Jahr einer Patientin widersprochen habe, die sich wünschte, dass ich ihr einen Brief mit Unterlagen ohne Absenderangaben schicke, und er ergibt sich aus dem oben beschriebenen Teufelskreis. Wenn ich einen versteckten Hinterhofeingang hätte und den Absender auf Briefen weglassen würde, würde ich jenen Teufelskreis nur weiter befeuern, weil ich erstens dadurch vermitteln würde, dass man sich zu schämen hat, wenn man zum Psychotherapeuten geht, und zweitens dazu beitragen würde, dass Menschen mit psychotherapeutischem Anliegen weiter ungesehen bleiben und sich dadurch die Fehlannahme zementiert, psychische Störungen seien »selten« (denken Sie an die 42 %). Beides würde gewaltig dem entgegenstehen, was mein erklärtes Ziel ist, nämlich den Besuch bei mir genauso »normal« zu machen wie den bei der Zahnärztin, Gastroenterologin, der Fußpflege oder der Physiotherapie. Und es würde auch dem Ziel widersprechen, das ich mit genau diesem Buch verfolge – nämlich anschaulich und verständlich zu beschreiben, wie das Innere der »Blackbox« Psychotherapie ausschaut. Fangen wir also damit an, wie Sie sich im Irrgarten der Berufsbezeichnungen auf dem Gesundheitsmarkt zurechtfinden und widmen uns der Frage, warum eine Hausärztin Sie nicht zur einer Psychologin überweisen kann.

Literatur

Böker, U. & Hentschel, G. (2023). Ambulante psychotherapeutische Versorgung: Hohe Krankheitslast – bedarfsgerechte Versorgung. Deutsches Ärzteblatt für Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, 22‍(3) 103 – 106.

Busch, M. A., Schienkiewitz, A., Nowossadeck, E. & Gößwald, A. (2013). Prävalenz des Schlaganfalls bei Erwachsenen im Alter von 40 bis 79 Jahren in Deutschland. Bundesgesundheitsblatt-Gesundheitsforschung-Gesundheitsschutz, 5(56), 656 – 660.

Gößwald, A., Schienkiewitz, A., Nowossadeck, E. & Busch, M. A. (2013). Prävalenz von Herzinfarkt und koronarer Herzkrankheit bei Erwachsenen im Alter von 40 bis 79 Jahren in Deutschland. Bundesgesundheitsblatt-Gesundheitsforschung-Gesundheitsschutz, 5, 650 – 655.

Jacobi, F., Wittchen, H. U., Hölting, C., Höfler, M., Pfister, H., Müller, N. & Lieb, R. (2004). Prevalence, co-morbidity and correlates of mental disorders in the general population: results from the German Health Interview and Examination Survey (GHS). Psychological medicine, 34‍(4), 597 – 611.

Lütz, M. (2011). Irre! Wir behandeln die Falschen: Unser Problem sind die Normalen. Goldmann Verlag.

2 »Ich hab' ne Überweisung zum Psychologen«: Was an diesem Satz falsch ist und was sich wirklich hinter den verschiedenen Berufsbezeichnungen verbirgt

Nachdem wir uns im ersten Kapitel mit dem großen Stigma der Psychotherapie beschäftigt haben, tauchen wir nun in den Dschungel der verschiedenen Berufsbezeichnungen ein, die (das muss man zugeben) in meinem Fachgebiet stets für viel Verwirrung sorgen, aber deswegen eben auch zu Fehlvermittlungen, falschen Hoffnungen oder sogar zu Behandlungsfehlern führen. Als Aufhänger für diesen Teil habe ich im Titel bereits den mir beinahe täglich begegnenden Satz von Patienten gewählt, die sich mit der Aussage in meiner Praxis melden, sie hätten, in der Regel vom Hausarzt, eine »Überweisung zum Psychologen« bekommen. Da mir tatsächlich schon von Patienten durch Ärzte ausgefüllte Überweisungen überreicht wurden, auf denen im Feld für die Fachrichtung »Psychologe« oder sogar »Psychologie« stand, ist es mir wichtig zu beschreiben, warum das absolut falsch ist.

Zum einen benötigen Patienten, um einen Psychotherapeuten aufzusuchen, gar keine Überweisung (das war einmal so, wurde aber vor rund 10 Jahren abgeschafft). Doch der wichtige Punkt ist ein anderer. Überweisungen erfolgen im Gesundheitssystem nur zwischen Angehörigen akademischer Heilberufe, und zwar (im Bereich der Humanmedizin) in der Regel von einem weniger spezialisierten Arzt (z. B. einem als Hausarzt tätigen Facharzt für Allgemeinmedizin) zu einem spezialisierteren Facharzt, z. B. einem Gastroenterologen, einem Neurologen – oder einem Psychotherapeuten. Nun könnte man meinen, die Sache sei eigentlich ganz einfach, weil Psychotherapeuten Ärzte sind und deshalb nicht »Psychologe« auf der Überweisung stehen darf. Dies wäre aber falsch, und leider ist es bei Weitem nicht so einfach, sondern in der Tat ziemlich kompliziert. Aber ich führe Sie dadurch, keine Sorge – ich muss nur leider ein bisschen weiter ausholen, um die Sache wirklich verständlich zu machen. Am Ende werden Sie aber wissen, warum »Psychologe« kein Heilberuf ist, »Psychotherapeut« aber schon, warum die meisten Psychotherapeuten auch Psychologen sind (manchmal aber auch Ärzte), und warum Psychotherapeuten zwar meist keine Ärzte sind, aber zu den Fachärzten zählen. Zu Genüge verwirrt? Gut, also los geht's.

Was ist ein Heilberuf?

Zum Einstieg möchte ich zunächst kurz beschreiben, was es mit den so genannten Heilberufen auf sich hat. Da es sich hier um nationale Gesetzgebung handelt, gilt das Folgende nur für die Bundesrepublik Deutschland (BRD); in anderen Ländern sind diese Unterscheidungen teilweise völlig anders geregelt. Nun zur Sache.

Artikel 74 Absatz 1 Nummer 19 des Grundgesetzes besagt, dass der Bund die Zulassung zu den Heilberufen regeln darf. D. h., es gibt eine ganze Reihe von Heilberufen, deren Verwendung als Berufsbezeichnung rechtlich geschützt ist und die staatlich geregelt werden, was im Allgemeinen bedeutet, dass die Ausbildung in diesen Berufen hinsichtlich der Ausbildungsinhalte und der staatlichen Prüfung (Staatsexamen) gesetzlich festgelegt und vor allem einheitlich ist. Es gibt in der Regel klar formulierte Zugangsvoraussetzungen, Prüfungsordnungen und zuständige Aufsichtsinstanzen. Bei Ärzten gibt es als Selbstverwaltungsorgan, das u. a. eine Aufsichtsfunktion erfüllt, z. B. die jeweiligen Landesärztekammern, an die man sich wenden kann, wenn man als Patient eine (sachlich begründete) Beschwerde gegen einen Arzt vorbringen möchte. Diese von Bundesgesetzen geregelten Heilberufe werden dementsprechend »Geregelte Berufe« genannt und teilen sich grob in zwei Gruppen ein: die akademischen Heilberufe und die nicht-akademischen Heilberufe. Erstere umfassen sechs Berufe, die alle ein Universitätsstudium als Basis erfordern:

1)

Ärzte,

2)

Apotheker,

3)

Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (KJP),

4)

Psychologische Psychotherapeuten (PP),

5)

Tierärzte und

6)

Zahnärzte.

Angehörigen dieser sechs Berufe ist gemeinsam, dass sie über eine Approbation verfügen, d. h. über die staatliche Zulassung zur eigenständigen Ausübung der Heilkunde, die allerdings auf bestimmte Gebiete beschränkt sein kann (z. B. bei Tierärzten auf die Behandlung von Tieren, bei Psychotherapeuten auf die Behandlung psychischer Erkrankungen). Wer sich jetzt schon fragt, wie die Ausbildung zu den psychotherapeutischen Berufen (PP und KJP) aussieht, muss nicht mehr lange warten – das werde ich auch noch in diesem Kapitel beschreiben.

Zunächst komme ich jedoch zu den nicht-akademischen geregelten Heilberufen, die auch als Heilhilfsberufe oder, zeitgemäßer und weniger abschätzig, Gesundheitsfachberufe bezeichnet werden. Zu dieser Gruppe zählen sehr viel mehr Berufe. Die Gemeinsamkeiten bestehen darin, dass alle ebenso gesetzlich geregelt sind wie die akademischen Heilberufe, man jedoch kein Hochschulstudium zu deren Ausübung benötigt. Allgemein gilt, dass die Leistungen aller geregelten Heilberufe, egal ob akademisch oder nicht, im Gegensatz zu den nicht geregelten Heilberufen in der Regel von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden. Typischerweise handelt es sich bei den Gesundheitsfachberufen um Ausbildungsberufe, die jedoch zahlreiche Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten beinhalten. Beispiele für diese Berufe sind u. a. alle Pflegeberufe, der Beruf des Notfallsanitäters, des Ergotherapeuten, des Logopäden, des Physiotherapeuten und des medizinisch-technischen Angestellten. Das Nicht-Verfügen über eine Approbation bedeutet allerdings, dass die Angehörigen dieser Berufe nach offizieller Lesart in der Regel keine eigenständigen Heilbehandlungen durchführen und auch keine Diagnosen stellen dürfen. Eine teilweise Ausnahme hiervon ist der Notfallsanitäter, dem die Durchführung invasiver Maßnahmen bei bestehender Lebensgefahr des Patienten erlaubt ist, solange noch kein Notarzt vor Ort ist. Das ist der Grund dafür, dass man als Psychotherapeut oder Arzt den Patienten z. B. nicht zur Ergotherapie überweist (wir erinnern uns: Das geht nur zwischen den Berufen mit Approbation), sondern ihm eine Verordnung erstellt. Das Verständnis dahinter ist also hierarchisch geprägt und bedeutet: Der Arzt oder Psychotherapeut ordnet an, und der Angehörige des Gesundheitsfachberufs setzt die Verordnung um. Das ist übrigens der Grund, warum es z. B. beim Physiotherapeuten so oft Probleme gibt: Wenn der Arzt das Falsche in die Verordnung schreibt, darf der Physiotherapeut bestimmte Behandlungen am Patienten offiziell nicht durchführen.

Ist »Heilpraktiker« ein Heilberuf?

Vielleicht ist es Ihnen aufgefallen, dass ich einen Beruf bisher nicht erwähnt habe, und zwar den des Heilpraktikers. Dabei ist es unerheblich, ob es sich um die Bezeichnung »Heilpraktiker« oder z. B. die Unterform »Heilpraktiker für Psychotherapie« (früher auch »kleiner Heilpraktiker« genannt) handelt. Beim Heilpraktikerberuf handelt es sich um keinen auf die oben beschriebene Weise geregelten Heilberuf (weder akademisch noch nicht-akademisch), d. h. es gibt keine einheitlich geregelte Ausbildung und auch kein Staatsexamen. Ebenso gibt es, anders als in der Medizin und der Psychotherapie, keine enge Verzahnung mit der empirischen Wissenschaft und keine Repräsentation an Universitäten. Zwar gibt es thematisch verwandte Studiengänge an privaten Hochschulen, wie z. B. das »Fernstudium Naturheilkunde und komplementäre Heilverfahren« an der Fernhochschule Diploma, das mit einem Bachelor of Science abschließt, jedoch darf dies nicht mit einem Studium verwechselt werden, das zur Qualifikation als Heilpraktiker führt, wie dies bei geregelten akademischen Heilberufen der Fall wäre.

Die Basis des Heilpraktikerberufs, den es außerhalb von Deutschland kaum gibt, ist das Heilpraktikergesetz (HeilprG) aus dem Jahr 1939, das ursprünglich als »Aussterbegesetz« konzipiert war und mit dem lediglich das Ziel verfolgt wurde, für einen vorübergehenden Zeitraum eine Quasi-Legitimation für die Ausübung von Heilkunde durch Nicht-Ärzte zu schaffen, nachdem in Deutschland bis zu diesem Zeitpunkt die sogenannte Kurierfreiheit gegolten hatte, die im Grunde bedeutete, dass jeder Mensch sich völlig unabhängig vom Vorliegen einer bestimmten Ausbildung oder Qualifikation heilkundlich betätigen konnte. Ursprünglich war in § 4 des HeilprG sogar deswegen geregelt, dass die Ausbildung von Nachwuchs verboten ist. Auf diese Hintergründe stößt man in den damaligen Begründungen der nationalsozialistischen Reichsregierung, die im »Reichs- und Staatsanzeiger« vom 28. Februar 1939 veröffentlicht wurden (zitiert nach Scholz, 2019). Was man dem HeilprG somit zugutehalten kann, ist also, dass es eigentlich dem Bestreben entsprungen ist, die Kurierfreiheit zu beenden und Heilberufe staatlich zu regeln, wenngleich vielerorts auch angeführt wird, dass es dem Hitler-Regime darum ging, den Mangel an Ärzten zu kompensieren, nachdem jüdischen Ärzten ihre Approbation entzogen worden war (Scholz, 2019). Wie Scholz ebenfalls beschreibt, ist der Umstand, dass das HeilprG bis heute existiert, es sehr wohl Nachwuchs gibt und der Beruf alles andere als ausgestorben ist, u. a. auf Konflikte mit Teilen des neuen Grundgesetzes der BRD zurückzuführen. Sehr detailliert beschreibt zudem auch Stock (2021) die Verfassungswidrigkeiten von Änderungen am HeilprG und den dazugehörigen Durchführungsverordnungen, die in Summe zum Ergebnis haben, dass das Gesetz bis heute in Kraft ist.

Bitte machen Sie sich jedoch klar: Dieses Gesetz regelt keine Prüfungsinhalte oder Qualitätsstandards, wie es die Gesetze für die geregelten Heilberufe, z. B. das Psychotherapeutengesetz (PsychThG) aus dem Jahr 1999, tun. Als wesentliche Voraussetzungen, um die Erlaubnis zur Ausübung der Heilkunde erteilt zu bekommen, werden in der ersten Durchführungsverordnung zum Heilpraktikergesetz (§ 2 HeilprGDV 1) aus dem Jahr 1939 ein Mindestalter von 25 Jahren, ein Volksschulabschluss, die gesundheitliche Eignung, die »sittliche Zuverlässigkeit« (sprich, keine Vorstrafen) sowie der sichere Ausschluss dessen festgelegt, »dass die Ausübung der Heilkunde durch den Betreffenden eine Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung« darstellt. Mit anderen Worten bedeutete die damalige Regelung: Wenn man davon ausgehen kann, dass der Heilpraktiker zumindest keinen Schaden anrichtet, darf er loslegen, aber Qualifikationen oder eine bestandene Prüfung muss er nicht vorweisen. Die Durchführungsverordnungen zum HeilprG wurden seit 1939 (zum Glück) überarbeitet, jedoch kocht hier jedes Bundesland sein eigenes Süppchen. Im Literaturverzeichnis zu diesem Kapitel finden Sie beispielhaft die Durchführungsverordnung des Bundeslands Bayern aus dem Jahr 2010, in der unter Punkt 3.2 die Voraussetzungen aus dem Jahr 1939 in die Neuzeit übersetzt, aber nicht wesentlich verändert wurden: Geburtsurkunde, Lebenslauf, mindestens ein Hauptschulabschluss, behördliches Führungszeugnis, ärztliches Zeugnis bzgl. gesundheitlicher Eignung und eine Erklärung des Antragsstellers, dass gegen ihn kein Strafverfahren läuft – mehr bedarf es nicht zur Antragsstellung bei der zuständigen Kreisverwaltungsbehörde. Punkt 4 der bayerischen Durchführungsverordnung regelt die Prüfung, bestehend aus einem mündlichen und einem schriftlichen Teil, in der Kenntnisse von Anatomie über Krankheitslehre bis hin zu Injektionstechniken und Untersuchungsverfahren abgefragt werden. Machen Sie sich hierbei nur bitte klar: Wie die Prüfungskandidaten sich dieses Wissen angeeignet haben, ist dabei egal – und ob jemand praktisch in der Lage ist, eine Spritze zu setzen, wird nach meinem Verständnis der Durchführungsverordnung auch nicht geprüft.

Sicherlich ist das Ablegen einer Prüfung gegenüber der Durchführungsverordnung von 1939 (da gab es nicht einmal eine Prüfung) ein Zugewinn bzgl. der Qualität, aber in Anbetracht dessen, dass derweil die Vermittlung des relevanten Wissens weiterhin nicht staatlich geregelt ist und es wohl kaum möglich ist, in einer 120-minütigen schriftlichen und einer maximal 45-minütigen mündlichen Prüfung herauszufinden, ob jemand den gleichen umfassenden Kenntnisstand wie ein Arzt nach fünf Jahren Medizinstudium hat, bleibt das HeilprG auch in seiner jetzigen Form nach meinem Urteil problematisch. Denn es bedeutet im Klartext, dass Menschen ohne akademische und auch ohne sonstige Ausbildung (man muss zwar die Zulassungsprüfung bestehen, aber wie man sich das Wissen aneignet, bleibt einem selbst überlassen) und ohne Approbation (!) die staatliche Erlaubnis erhalten, uneingeschränkt Heilkunde auszuüben – bzw. beim Heilpraktiker für Psychotherapie nur auf dem Gebiet der Psychotherapie (dort ist übrigens auch die Zulassungsprüfung entsprechend »abgespeckt«). Wenn ich Ihnen im weiteren Verlauf dieses Kapitels beschrieben habe, wie aufwändig und langwierig die Ausbildung zum Psychotherapeuten ist, werden Sie verstehen, warum ich es mehr als kritisch finde, dass die Bezeichnung »Heilpraktiker für Psychotherapie« überhaupt existiert.

Vorab sei aber noch gesagt, dass die aus meiner Sicht irrsinnigen Verhältnisse, die das HeilprG vor fast 85 Jahren geschaffen hat (Beispiel: Ein Heilpraktiker ohne geregelte Ausbildung darf eigenständig Heilkunde ausüben, ein Physiotherapeut mit geregelter Ausbildung und staatlicher Prüfung darf aber nur auf Verordnung arbeiten), letztlich nicht nur ein Ärgernis für die Angehörigen der geregelten Heilberufe ist, sondern vor allem eine Gefahr für Patienten. Diese werden, z. B. durch Bezeichnungen wie »Heilpraktiker für Psychotherapie«, die eine Ebenbürtigkeit zu Psychotherapeuten suggerieren, potenziell in die Irre geführt. Aufgrund der vielfach diskutierten und zurecht immer wieder angemerkten Missstände rund um das HeilprG hat das Bundesgesundheitsministerium ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben (Stock, 2021), das u. a. Vorschläge dafür formuliert, wie der Heilpraktikerberuf zu einem geregelten Gesundheitsberuf werden könnte, aber auch beleuchtet, wie eine Abschaffung des Heilpraktikerberufs erfolgen könnte. Dabei betont Stock interessanterweise ziemlich deutlich den Aspekt der Autonomie der Patienten, denen bei einer Abschaffung die Möglichkeit genommen würde, sich alternativmedizinisch durch einen nicht-ärztlichen Behandler behandeln zu lassen (vgl. Stock, S. 265 u. 274).

Um die Ausgangsfrage zu beantworten: »Heilpraktiker« kann wohl als Heilberuf bezeichnet werden, ist aber kein geregelter Heilberuf, was auch der Grund dafür ist, dass Heilpraktikerbehandlungen in aller Regel nicht von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden. In diesem Kontext ist eine Sache noch wichtig zu verstehen: Viele Angehörige von einerseits nicht-geregelten Heilberufen (z. B. Kunsttherapeuten, Näheres dazu im Verlauf dieses Kapitels) und andererseits geregelten, aber nicht-akademischen Heilberufen (z. B. Physiotherapeuten) absolvieren die Prüfung zum Heilpraktiker, um selbstständig Heilkunde ausüben zu können. D. h., eigentlich gut ausgebildete Menschen mussten und müssen teilweise bis heute eine Zulassungsprüfung in einem überhaupt nicht geregelten Beruf ablegen, um dann eine Legitimation für die Ausübung dessen zu erhalten, was sie schon vorher bestens beherrschten. Dies trifft übrigens auch für die in Deutschland nicht geregelten alternativmedizinischen Gebiete Osteopathie und Chiropraktik zu, für deren Ausübung man entweder Arzt sein oder eine Erlaubnis als Heilpraktiker haben muss. Auch für Psychologen mit klinisch-psychotherapeutischer Spezialisierung im Rahmen des Psychologiestudiums galt dieser kuriose und zutiefst absurde Umstand, bis 1999 durch das PsychThG die neuen akademischen Heilberufe des PP und des KJP erstmals geregelt wurden und dadurch der geradezu revolutionäre Umstand eintrat, dass Menschen eine Approbation erlangen konnten, die ein nicht-medizinisches Fach studiert hatten. Denn bis 1999 wurden in der Tat Menschen mit Universitätsabschluss, z. B. in Psychologie, durch die unsinnige Gesetzgebung aus der Zeit des Dritten Reichs dazu genötigt, sich als Heilpraktiker zur Ausübung der heilkundlichen Psychotherapie legimitieren zu lassen.

Was sind und tun denn jetzt eigentlich Psychologen?

»Psychologe« ist zwar ein akademischer Beruf, aber kein Heilberuf und auch, entgegen der öffentlichen und medialen Darstellung, grundsätzlich erst einmal kein helfender oder sozialer Beruf. Der Titel »Psychologe« ist geschützt und darf nur von Menschen geführt werden, die das in der Regel mindestens 10 Semester dauernde naturwissenschaftliche Studium der Psychologie absolviert und mit einem Masterabschluss, in der Regel einem Master of Science (M. Sc.), oder früher mit dem inzwischen abgeschafften Diplom (daher kommt die Bezeichnung »Diplom-Psychologe« oder kurz »Dipl.-Psych.«) abgeschlossen haben. Ob Menschen, die das Psychologiestudium nach dem Bachelorabschluss beenden, sich bereits »Psychologen« nennen dürfen, ist umstritten; ich würde hiervon eher abraten, da es der Master- und nicht der Bachelorabschluss ist, der gegenüber dem alten Diplomabschluss gleichwertig ist. Und mit einer kleinen Einschränkung, die ich gleich erklären werde, gilt grundsätzlich: Psychologen, die nicht im Anschluss noch eine Ausbildung zum Psychotherapeuten gemacht haben (das beschreibe ich noch in diesem Kapitel) verfügen daher über keine Approbation, weshalb es (wir erinnern uns an den Kapitelaufhänger) keinen Sinn ergibt und schlicht nicht möglich ist, einem Patienten eine Überweisung zum Psychologen auszustellen. Die kleine Einschränkung betrifft die 2020 in Kraft getretene Reform des PsychThG, durch welche der Weg zum Beruf des Psychotherapeuten umfassend neu geregelt wurde. Hierdurch ergeben sich einige wichtige Änderungen, die jedoch für die aktuelle Psychotherapie-Realität in Deutschland noch weitgehend gegenstandslos sind. Aus diesem Grund beschreibe ich im Folgenden zunächst die zwar auf der alten Gesetzesregelung basierende, aber in der Gegenwart nach wie vor relevante Situation, mit der man im Jahr 2024 immer noch überwiegend konfrontiert ist, schildere aber danach natürlich auch, was sich in Zukunft an dieser Situation mehr und mehr verändern wird. Kleiner Spoiler: Auch nach der Neufassung des PsychThG gilt weiterhin, dass der akademische Heilberuf, d. h. der mit Approbation, der des Psychotherapeuten – und nicht der des Psychologen ist.

Natürlich kann man sich im späteren Verlauf des Psychologiestudiums, gerade im Masterstudium, auf die Klinische Psychologie, d. h. die Lehre von der Erforschung psychischer Störungen und deren Behandlung, spezialisieren. Jedoch ist die Klinische Psychologie nur ein Teilgebiet der Psychologie, was ich insbesondere daher betonen möchte, weil die Klinische Psychologie maßgeblich das Bild der gesamten Psychologie in der gesellschaftlichen und medialen Wahrnehmung dominiert. Tatsächlich befasst sich die Psychologie, grob gesagt, mit der Erforschung allen menschlichen Erlebens und Verhaltens und hat eine riesige Breite von Untergebieten. Im Kern bedient sie sich dabei klassischer naturwissenschaftlicher Forschungsmethoden, was insbesondere auf die komplexen statistischen Auswertungsmethoden und die dahinterstehende Mathematik zutrifft, die einen großen Teil des Studiums ausmacht. Tatsächlich hat Psychologie zu studieren weitaus mehr mit dem Verstehen von Mathematik und wissenschaftlichem Denken zu tun als damit, auf der Couch liegende Menschen zu analysieren (mehr dazu in ▸ Kap. 3). Und was auf den ersten Blick überraschend wirken mag, ist, dass genau hier auch die Parallele zu anderen klassischen Naturwissenschaften wie der Physik liegt. Als 2012 verkündet wurde, dass die Teilchenphysik das sogenannte Higgs-Boson gefunden hat, hatte das nichts damit zu tun, dass man dieses bisher nur theoretisch postulierte Elementarteilchen gesehen hatte. Nein, man hat durch Messungen, die statistisch signifikant (d. h. kaum durch Zufall erklärbar) waren, indirekt auf dieses Teilchen geschlossen. Wenngleich Psychologen Menschen und keine Elementarteilchen erforschen und dafür Verhaltensbeobachtungen oder speziell konstruierte Fragebögen anstelle von Teilchenbeschleunigern verwenden: Am Ende ist es fast dieselbe Statistik, die in der Auswertung zur Anwendung kommt, z. B. irgendeine Form von sogenannter Regressionsanalyse.

Die Forschungs- und Anwendungsgebiete der Psychologie sind sehr viel breiter gefächert, als den meisten Menschen bewusst ist, und reichen von der Sozialpsychologie (die z. B. Gruppendynamiken und deren Einfluss auf das Individuum untersucht) über die Arbeits- und Organisations- bzw. Wirtschaftspsychologie (hier geht es z. B. um die Optimierung der Bewerberauswahl oder die effektive Gestaltung von Teams) bis hin zur Pädagogischen Psychologie, die z. B. untersucht, unter welchen Bedingungen Menschen gut Neues lernen können. Die Neurowissenschaften ergänzen die Psychologie um wichtige moderne Methoden und helfen, bestimmte Denk- oder Gefühlsprozesse besser auf Ebene des Gehirns zu verstehen. Klassische Felder der sogenannten Allgemeinen Psychologie sind derweil die Erforschung von Lernen, Gedächtnis, Wahrnehmung, Emotion, Motivation und Sprache. Und ein riesiges Anwendungsgebiet besteht in der Psychologischen Diagnostik, deren traditionelles Flaggschiff die Intelligenzmessung ist und die aber auch eine große Bewandtnis für die Verkehrspsychologie, vor allem die Fahrtauglichkeitsprüfung im Rahmen der als »MPU« bekannten Medizinisch-Psychologischen Untersuchung, hat, in der es u. a. um die Messung der Aufmerksamkeitsleistung geht.

Was hätte nun also korrekterweise auf der eingangs erwähnten Überweisung stehen müssen? Nun, aus den genannten Gründen definitiv nicht »Psychologe«. Tatsächlich wäre »Psychotherapeut« schon ziemlich gut und völlig richtig gewesen. Widmen wir uns nun also den Definitionen der verschiedenen akademischen Heilberufe im Bereich der Psychotherapie, die man als Haus- oder Facharzt auf eine Überweisung schreiben könnte.

Die drei Arten von Psychotherapeuten

Die Berufsbezeichnung »Psychotherapeut« ist aktuell (in Zukunft wird es komplizierter, aber dazu gleich mehr) genau drei Berufsgruppen vorbehalten und darf von allen drei Gruppen als Kurzform verwendet werden. Ich z. B. darf mich selbst sowohl als Psychotherapeut als auch als Psychologischer Psychotherapeut bezeichnen. Laut offizieller Statistik der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV, 2022) waren in Deutschland zum Stichtag 31. 12. 2022 zuletzt 38.609 Personen als Psychotherapeuten an der vertragsärztlichen Versorgung beteiligt – davon die überwältigende Mehrheit (34.135) mit einem eigenen Versorgungsauftrag, d. h. einer eigenen Kassenzulassung. Der übrige Teil war im Rahmen einer Berufsausübungsgemeinschaft (d. h., in der Regel einer Gemeinschaftspraxis mit geteiltem Versorgungsauftrag, genannt »Jobsharing«) oder im Angestelltenverhältnis tätig. Gut 65 % hiervon waren Psychologische Psychotherapeuten (PP), rund 19 % Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (KJP) und die restlichen 15,5 % Ärztliche Psychotherapeuten (ÄP), was die Fachärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie miteinschließt. In allen drei Berufsgruppen sind Männer in der Unterzahl, wobei sie mit rund einem Drittel bei den ÄP noch den größten Anteil ausmachen, bei den PP knapp ein Viertel und bei den KJP knapp ein Fünftel (KBV, 2022, S. 3 – 5). Doch was meinen nun diese drei Berufsbezeichnungen?

Ärztlicher Psychotherapeut

»Ärztlicher Psychotherapeut« ist ein Sammelbegriff für Ärzte (die also Medizin studiert haben) mit psychotherapeutischer Weiterbildung. Diese ist automatisch Bestandteil bei den folgenden drei Facharztgruppen: dem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, dem Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und dem Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie. Für andere Arztgruppen besteht seit 2008 nur noch die Möglichkeit, durch eine Weiterbildung, die jedoch vom Umfang weit unterhalb derer liegt, die PP und KJP durchlaufen müssen, die Zusatzbezeichnung »Fachgebundene Psychotherapie« zu erwerben, d. h. eine stark reduzierte, auf den jeweiligen Facharztbereich beschränkte psychotherapeutische Qualifikation. So kann ein Urologe mit dieser Zusatzbezeichnung z. B. psychotherapeutisch an Erektionsstörungen arbeiten oder ein Kardiologe an Panikattacken mit dominanter Herzsymptomatik, ist jedoch nicht befugt, andere psychische Störungen zu behandeln. Für Ärzte mit dieser Zusatzbezeichnung ist auch die Bezeichnung »Fachgebundener Psychotherapeut« gebräuchlich. Die neue Zusatzbezeichnung ersetzte die bis 2008 in der Weiterbildungsordnung der Ärzte geregelte Zusatzbezeichnung »Psychotherapie«, die Ärzten aller Fachrichtungen offenstand und im Gegensatz zur neuen Regelung, jedoch bei ähnlichem Umfang der Weiterbildung, zur Behandlung aller psychischen Störungen qualifizierte (nachzulesen bei Linden et al., 2008). Aufgrund von historischen Umständen, die ich im nächsten Kapitel (▸ Kap. 3) noch näher beschreiben werde, sind psychotherapeutisch tätige Ärzte überzufällig häufig in tiefenpsychologischer oder analytischer Psychotherapie ausgebildet und eher selten in Verhaltenstherapie oder systemischer Therapie.

Die ÄP stellen insofern eine (eher kleine) »Sondergruppe« unter den Psychotherapeuten dar, als sie berufsrechtlich zu den Ärzten gehören und nicht zu den beiden Berufen, die das Psychotherapeutengesetz (PsychThG) seit 1999 regelt – dem des PP und dem des KJP.

Psychologischer Psychotherapeut – und wie man zu einem wird

Psychologische Psychotherapeuten (PP) sind bezogen auf die Zahl die in der psychotherapeutischen Versorgung am stärksten vertretene Berufsgruppe. PP wurde man lange Zeit und wird man teilweise (trotz der Reform des PsychThG, siehe unten) noch heute dadurch, dass man nach dem universitären Master- oder Diplomabschluss in Psychologie eine drei bis fünf Jahre dauernde und sehr umfangreiche Ausbildung absolviert und mit einem Staatsexamen abschließt. Dabei kann man zwischen verschiedenen Verfahren wählen und sich z. B. wie ich für die Verhaltenstherapie entscheiden (mehr zu den verschiedenen Verfahren im nächsten Kapitel). Am Ende dieser Ausbildung, die mit der Facharztausbildung in der Medizin vergleichbar ist, erhält man als PP dann sowohl die Approbation als auch den sogenannten Fachkundenachweis, also den Nachweis über die vertiefte Ausbildung in einem bestimmten Psychotherapieverfahren.

Die Ausbildung findet in der Regel an privaten Instituten statt, muss von den angehenden Psychotherapeuten selbst bezahlt werden (Kosten: meist 12.000 – 20.000 Euro) und gliedert sich in einen theoretischen Unterrichtsteil (600 Stunden) sowie 1800 Stunden praktische Tätigkeit, von denen in der Regel 1200 Stunden in einer psychiatrischen Klinik abgeleistet werden müssen (typischerweise arbeitet man ein Jahr dort) und zusätzlich mindestens 600 ambulante psychotherapeutische Behandlungsstunden, die in weiteren mindestens 150 Stunden Supervision von Fachkollegen engmaschig überwacht (»supervidiert«) werden. Hinzu kommen übrigens noch 120 Stunden sogenannte Selbsterfahrung, d. h. Stunden, in denen man alleine mit einem Fachkollegen oder in einer Gruppe mit anderen angehenden PPs das tut, was man später mit Patienten tut: Sich mit Problemen und ihrer Lösung auseinandersetzen, nur eben mit den eigenen und nicht mit denen des Gegenübers. Weil man während der Ausbildung zum PP noch keine Approbation hat und Dinge wie die o. g. praktische Tätigkeit im Rahmen der Ausbildung oftmals als Praktikum definiert werden, befindet man sich in dieser Zeit leider in einer äußerst prekären Situation. Dies führte in der Vergangenheit regelhaft dazu, dass angehende Psychotherapeuten während ihrer Kliniktätigkeit unterhalb des Mindestlohns oder auch gar nicht entlohnt wurden – obwohl sie in der jeweiligen Einrichtung meist als volle Arbeitskraft mit hoher zugeteilter Verantwortung eingesetzt wurden. Daher rührt auch das Ihnen vielleicht schon einmal begegnete Wortspiel »Psychotherapeut in Ausbeutung« (statt »Psychotherapeut in Ausbildung«). Auch an den Ausbildungsinstituten und den oft dort angegliederten Ausbildungsambulanzen, an denen man die ambulanten Behandlungsstunden durchführt, war es lange üblich, dass angehende Psychotherapeuten nur einen kleinen Anteil der Vergütung erhalten, die die Krankenkasse für die Behandlung zahlt, z. B. 30 %. Ich nutze hier das Präteritum, weil die Lage sich seit 2020 durch die damals in Kraft getretene Reform des PsychThG, die ich weiter unten beschreibe, ein Stück weit verbessert hat.

An dieser Stelle lohnt sich, bevor wir die Zukunft beleuchten, hinsichtlich des Erlangens der Approbation auch noch ein Blick zurück, und zwar auf die Zeit des Inkrafttretens des PsychThG. Denn es ist nicht so, dass ab 1999 die ersten Kandidaten zur oben beschriebenen, mindestens dreijährigen Ausbildung zum Psychotherapeuten zugelassen wurden und es PP und KJP somit erst ab frühestens 2002 gab. Nein, es gab beide Berufe quasi mit Inkrafttreten des PsychThG im Jahr 1999 – und zwar deshalb, weil es die in § 12 des alten, bis 2020 geltenden PsychThG beschriebenen Übergangsregelungen gab. Diese sind sehr umfangreich und erlauben für recht viele Konstellationen die Erteilung einer Approbation als PP oder KJP, ohne die neu geregelte Ausbildung zu durchlaufen. U. a. ist dies darauf zurückzuführen, dass viele Psychologen schon vor 1999 berechtigt heilkundlich tätig waren, und zwar im so genannten Delegationsverfahren, durch welches ein Arzt eine Psychotherapie an einen Psychologen (der damals noch nicht Psychotherapeut war) delegieren konnte. So regelt Absatz 3 z. B., dass die Approbation als PP Menschen mit abgeschlossenem Psychologiestudium erteilt werden kann, die darüber hinaus sieben Jahre psychotherapeutische Erfahrung im Umfang von 4000 Stunden (alternativ: 60 dokumentierte Behandlungsfälle) und 140 Stunden theoretischer Ausbildung in einem der wissenschaftlich anerkannten Verfahren (welche das sind, erfahren Sie in ▸ Kap. 3) nachweisen können. Vorgaben zu Supervision und Selbsterfahrung, wie sie für Ausbildungsteilnehmende ab 1999 galten, fehlen hier aber beispielsweise.